Retter statt Retterin

Ein Chrismon-Artikel zeigt, was meine Kirche jetzt dringend braucht

Ich liebe meine Kirche. Ich liebe ihr reiches reformatorisches, theologisches und geistliches Erbe. Ganz besonders liebe ich meine Kirchengemeinde. Ich investiere einen großen Teil meiner Freizeit für sie, für unseren Jugendkreis, unseren Hauskreis, unseren jährlichen Glaubenskurs, für die modern gestalteten Gottesdienste, die Kirchengemeinderatssitzungen und manches mehr.

Umso mehr schmerzt mich der jüngst erschienene Chrismon-Artikel über eine Abtreibungsärztin, die schon in der Überschrift als „Die Retterin“ bezeichnet wird, während im Artikel Lebensschützer durchweg massiv abwertend dargestellt werden. Der Artikel führt mir erneut schmerzlich vor Augen, wie abgrundtief und unüberbrückbar der Riss ist, der mitten durch meine Kirche geht.

Bislang hat sich die Kirchenleitung meines Wissens nicht dazu geäußert. Aber im Zusammenhang mit dem Votum der Chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott für eine Legalisierung von Abtreibungswerbung hatte der EKD-Ratsvorsitzende und Mitherausgeber von Chrismon Heinrich Bedford-Strohm bereits im Januar diesen Jahres deutlich gemacht, dass er die Position von Frau Ott zwar nicht teilt, dass ihre Meinung aber „innerhalb der möglichen Meinungsäußerungen im Bereich des Protestantismus“ liegen würde. Frau Ott hat sich deshalb nicht beirren lassen sondern noch einmal kräftig nachgelegt und jetzt genau die Frau öffentlich gefeiert, die wegen eines Verstoßes gegen das Verbot von Abtreibungswerbung rechtskräftig verurteilt wurde.

Nun halte ich Gottes Gebot in dieser Frage für eindeutig: Du sollst nicht töten. Mir ist daher nicht klar, wie die Chrismon-Kampagne für Abtreibungswerbung mit dem eindeutigen Gebot des Herrn der Kirche vereinbar und somit als mögliche protestantische Meinungsäußerung tolerierbar sein könnte. Ich werde niemals den Stab über Frauen brechen, die sich in einer schweren Konfliktsituation befinden. Aber so viel ist sicher: Die Tötung eines ungeborenen Kindes kann nur eine von zwei furchtbaren Alternativen sein. Eine „Rettung“ ist sie in keinem Fall. Wer die Tötung Ungeborener mit einer solchen Vokabel in Verbindung bringt steht weit jenseits des Konsenses der weltweiten Kirche Jesu. Und die teils scharfe Kritik an dem Chrismon Artikel bis hin zu einer Online-Petition belegt: Für nicht wenige evangelische Christen ist es fast unerträglich, dass Millionen Euro aus ihren Kirchensteuernmitteln dafür verwendet werden, um eine Kampagne für Abtreibungswerbung in 1,6 Millionen Haushalte zu tragen.

Wie konnte es so weit kommen?

Bei einer Podiumsdiskussion am 6.11.2017 in Passau hat Herr Bedford-Strohm etwas sehr Schönes gesagt: „Der Kern aller Reformationsprozesse muss sein, dass wir Christus neu entdecken. … Unser eigentliches Problem ist, dass wir eine geistliche Erneuerung brauchen.“ (ab 1:27:52) Diese Ansicht teile ich voll und ganz. Genau dafür bete und arbeite ich. Allerdings würde ich Herrn Bedford-Strohm gerne eine wichtige Frage dazu stellen:

1999 hat der einflussreiche Theologieprofessor Lindemann in einem Spiegel-Interview erklärt: „Dass es sich bei den Evangelien um Lebensbeschreibungen Jesu handelt […] wird seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet.“ Dass ein erheblicher Teil der Jesus-Zitate im Neuen Testament nicht von Jesus selbst stammt sondern ihm erst durch nachträglich in den Mund gelegt wurde, scheint in der universitären Theologie und somit auch in der Pfarrerausbildung weitgehender Konsens zu sein. Wenn aber die Evangelien weder das Leben noch die Lehre Jesu verlässlich beschreiben, woher wissen wir dann, wer und wie Jesus Christus ist? Wie können wir ihn dann neu entdecken? Hielt sich Jesus selbst für den Messias? Ist er leiblich auferstanden? War sein Grab leer? Ist er wirklich in den Himmel aufgestiegen? Wird er so auch wiederkommen? Wird er die Welt richten? Ist er allein der Weg zum himmlischen Vater? Oder ist er auch in anderen Religionen zu finden? Wovor rettet uns Christus überhaupt? Starb er am blutigen Stamm als Opfer für unsere Sünden? Oder hat er sich als ein Justizopfer mit den Unterdrückten der Welt solidarisiert?

Wohin ich auch schaue in meiner Kirche: Ich sehe bei keiner dieser allerzentralsten Fragen Einigkeit. Selbst wenn noch die gleichen Begriffe verwendet werden – die Inhalte sind grundverschieden. Nur so ist erklärbar, warum es in meiner Kirche immer öfter Äußerungen gibt, die mit traditionellen christlichen Standpunkten grundlegend unvereinbar sind. Das sehe ich zum Beispiel, wenn die Synode der evangelischen Kirche im Rheinland den Missionsbefehl unseres Herrn in Bezug auf Muslime offen verwirft. Und nun wird es mir wieder schmerzhaft deutlich, wenn Chrismon eine Abtreibungsärztin als Retterin bejubelt. Beide Positionen hätte ich bis vor kurzem noch für völlig undenkbar in meiner Kirche gehalten.

Der frühere Beauftragte der deutschen evangelischen Allianz im deutschen Bundestag Wolfgang Baake hat nun aufgrund des Chrismon-Artikels dazu aufgerufen, „in Scharen“ aus der evangelischen Kirche auszutreten. Ich respektiere, dass für viele Mitchristen die Grenze des Erträglichen überschritten ist. Aber ich trete nicht aus. Weil ich meine Gemeinde liebe und ihre großen missionarischen Möglichkeiten nutzen möchte. Und weil ich finde, dass doch konsequenterweise eigentlich die austreten sollten, die den Boden unserer kirchlichen Bekenntnisse verlassen haben.

Aber auftreten muss ich.

Lieber Herr Bedford-Strohm, falls Sie diese Zeilen lesen sollten würde ich gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen zu genau dieser Frage: Wer ist dieser Christus, den wir neu entdecken müssen und auf dessen Basis die Kirche erneuert werden soll? Welche seiner Lehren sind für die Kirche verbindlich? Auf welcher Grundlage können wir uns über diese Frage überhaupt verbindlich auseinandersetzen, da die EKD doch gemäß ihrem Papier „Rechtfertigung und Freiheit“ die Bibel ausdrücklich nicht mehr so wie zur Zeit der Reformatoren als »Wort Gottes« versteht? Ist diese Frage nur noch subjektiv und individuell zu beantworten? Gibt es keine gemeinsame Wahrheit mehr, die wir der Welt verkünden können?

Ich glaube genau wie Sie: Die Kirche braucht eine geistliche Erneuerung. Dafür muss sie Christus neu entdecken. Nur Christus als Haupt kann die Glieder der Kirche verbinden (Eph. 4, 15-16). Die offene Frage nach Christus ist deshalb der innerste Kern der Probleme, die wir in unserer Kirche haben. Wenn wir diese Frage nicht klären finden wir keine innere Einheit, keine gemeinsame Botschaft und damit auch kein gemeinsames Zeugnis in unsere Gesellschaft hinein. Dann haben wir die Zukunft unserer verfassten evangelischen Kirche verloren.

Es ist höchste Zeit für diese Debatte. Eine Kirche, in der eine Abtreibungsärztin als Retterin bejubelt wird, braucht Christus, den Retter – mehr und dringender denn je.

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