Die verlorene Heiligkeit wieder entdecken

Eindrücke aus dem Buch „Majestät“ von Rainer Harter

„Gott ist Liebe.“ (1. Johannes 4, 8+16)

Nur zweimal finden wir diese enorm wichtige Aussage in der Bibel. Sie hat sie unsere heutige Theologie stark geprägt – zurecht. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Heißt das, dass Gott immer nett und entgegenkommend ist? Geht er jederzeit nachsichtig und großzügig mit uns um? Hat er immer nur mutmachende und aufrichtende Worte für uns? In seinem Buch „Majestät“ macht der Autor Rainer Harter deutlich: Man kann die Liebe Gottes nur dann richtig verstehen, wenn man zugleich eine weitere zentrale Eigenschaft Gottes im Blick behält:

„Heilig, heilig, heilig ist der HERR.“ (Jesaja 6,3; Offb. 4,8)

Meine Wahrnehmung ist: Diese Eigenschaft Gottes kommt in vielen Predigten heute eher selten vor. Rainer Harter schreibt sogar: „Die postmoderne Kirche hat die Erkenntnis und Erfahrung von Gottes Heiligkeit in weiten Teilen verloren. Dadurch ist der unfassbare, geheimnisvolle, unbezähmbare und majestätische Gott zu einer diffusen „Macht“ für die einen und zu einer Art spirituellem Übervater für die anderen geworden. Dem Begriff „Gott“ wurde die ihm innewohnende Herrlichkeit, Gewalt, Wildheit und Kraft genommen, die uns die Bibel beschreibt. Damit wurde uns der Weg zu einem „hausgemachten Gottesbild“ gebahnt, welches zum Verlust des Staunens, der Ehrfurcht und der Dankbarkeit geführt hat.“ (S. 19) Harter untermauert diese Einschätzung durch eine US-amerikanische Studie, die im Ergebnis das Bild eines Leibes Christi zeichnet, „dessen Glieder zu einer Gemeinde gehören und die Bibel lesen, das Konzept oder die Bedeutung der Heiligkeit jedoch nicht verstehen, sich persönlich nicht nach Heiligkeit ausstrecken und deshalb wenig oder nichts dafür tun, um ihr nachzujagen.“ (S. 25)

Die Heiligkeit Gottes: Eine zentrale Botschaft der Bibel

Neu ist dieses Problem nicht. Auch Billy Graham fiel schon auf: „Wir haben den Blick für die Heiligkeit und Reinheit Gottes heute weitestgehend verloren. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir Sünde so leicht tolerieren.“ (S. 54) Eigentlich ist das erstaunlich. Denn in der Bibel ist die Heiligkeit Gottes ein enorm wichtiges Thema: „Die Aussage, dass Gott heilig ist, ist zentral und unersetzlich für den christlichen Glauben. Es ist die Grundbotschaft der Heiligen Schrift. … Eine weitere die Heiligkeit betreffende biblische Grundaussage, … die sich durch die gesamte biblische Geschichte zieht, ist die Feststellung, dass der Mensch seit dem Sündenfall nicht mehr heilig ist.“ (S. 54/56) „Die Bibel lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Gedanke der göttlichen Heiligkeit eines ihrer wichtigsten Grundkonzepte ist. Wäre Gott nicht heilig und wäre er nicht in der Lage zu heiligen, gäbe es keine Schuld, weil ohne einen klaren Maßstab auch nichts als Abweichung gelten könnte. Aber es gäbe auch keine Vergebung und schon gar keine Möglichkeit für den Menschen, Jesus ähnlicher zu werden. Dies alles steht und fällt mit der Frage nach Gottes Heiligkeit. Würden wir Gott in unserem Denken und Handeln seiner Heiligkeit berauben, würden wir zugleich dem christlichen Glauben eine seiner zentralen Grundlagen nehmen. Dann ergäbe unser Glaube keinen Sinn mehr.“ (S. 52) Harter tritt zudem dem Gerücht entgegen, dass die Heiligkeit Gottes vor allem ein Thema des Alten Testaments sei: „Nirgendwo im Neuen Testament gibt es einen Hinweis darauf, dass Jesus die Heiligkeit des Vaters oder den Aufruf Gottes an seine Kinder, ein heiliges Leben zu führen, in irgendeiner Form abgemildert hätte.“ (S. 30)

Der Verlust der Heiligkeit hat Konsequenzen

Es ist angesichts dieses beeindruckenden biblischen Befunds kein Wunder, dass der Verlust der Heiligkeit Gottes weitreichende Konsequenzen für viele Aspekte unseres Glaubens hat: „Selbst die Gnade Gottes wirkt billig und seine Liebe bekommt den Anschein, selbstverständlich zu sein, wenn wir sie nicht aus dem Blickwinkel seiner Heiligkeit betrachten. Alles wird schal und im schlimmsten Fall empfinden wir sogar Langeweile bei einem so wunderbaren Satz wie „Gott liebt dich“, wenn wir nicht eine Ahnung davon haben, wer und wie er ist.“ (S. 20) Harter sieht zudem einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust der Heiligkeit und der Lauheit in unserem christlichen Leben: „Ein … ausschließlich zum „lieben Vater“ degradierter Gott weckt kaum Leidenschaft in uns.“ (S. 34) Deshalb ist es aus der Sicht von Harter „unklug, die Ehrfurcht vor Gottes Heiligkeit zugunsten einer falsch verstandenen Niederschwelligkeit in unseren Gottesdiensten abzuschaffen. Spätestens wenn wir damit anfangen, diejenigen Eigenschaften und Worte Gottes, die in unseren Augen nicht mehr zeitgemäß oder für uns schwer verständlich sind, bewusst zu verschweigen oder gar zu verleugnen, sind wir der Versuchung erlegen, uns einen Gott nach unserem Bilde zu schaffen. … Mit guten Absichten laden wir Menschen zu uns ein und präsentieren ihnen ein unrealistisches Gottesbild, das aus einer Mischung von „gutem Onkel“ und „Kumpel im Alltag“ besteht. Das Credo lautet nicht mehr: „Wir glauben an einen heiligen Gott“, sondern „Gott will, dass es uns gut geht“. Der Verlust der Heiligkeit macht Kirche letztlich zu einer fantasievoll ausgestalteten Umkreisung des Menschen um sich selbst.“ (S. 29)

Der Verlust der Heiligkeit hat auch für unsere Gottesdienste weitreichende Konsequenzen: „Ohne die Realität des Heiligen in unserer Mitte müssen wir Wege finden, um Kirche durch andere Dinge attraktiv zu machen. … Verlieren wir die Realität der Heiligkeit aus dem Blick, werden unsere Gottesdienste bald zu „Menschendiensten“, in denen ein „Evangelium light“ präsentiert wird und das Empfangen im Vordergrund steht, während die Verehrung Gottes und das Geheimnisvolle ausgeblendet werden.“ (S. 27/28) Harter stellt sogar in Frage, ob ein Gottesdienst, in dem die Heiligkeit Gottes keine zentrale Rolle spielt, überhaupt noch etwas mit dem wahren Gott zu tun hat: „Alle Engel und die seltsamen Wesen sowie die geheimnisvollen Ältesten reagieren in Gottes Nähe ausschließlich mit Ehrfurcht und Anbetung. Denken Sie jetzt im Vergleich dazu noch einmal an unsere Gottesdienste. Wir behaupten zwar, dass wir Gott dort begegnen, doch scheint diese Begegnung wenig Ehrfurcht, Kapitulation oder echte Herzensanbetung in uns zu wecken. Das Staunen über die Heiligkeit Gottes ist uns verloren gegangen. Gott ist uns zum Gewohnten geworden. Oder ist es vielleicht gar nicht Gott, an den wir uns da gewöhnt haben? … Eine traurige Armut und Hilflosigkeit liegen über so manchen Kirchengemeinden. Programme und Aktivitäten können das staunende Erleben der Heiligkeit Gottes einfach nicht ersetzen.“ (S. 95)

Ein falsches Konzept von Heiligung

Aber woran liegt es eigentlich, dass die Heiligkeit Gottes und der Ruf zur Heiligung derart aus der Mode gekommen ist? Rainer Harter schreibt: „Es gibt durchaus die Angst, unsere über Jahre erworbene Freiheit der Gnade wieder zu verlieren und zurück in alte Systeme zu fallen, die uns eher geknechtet als frei gemacht haben. Tatsächlich beanspruchten manche der alten Formen vordergründig, zur Heiligkeit zu führen, in der Realität hatten sie aber viel mehr mit einem leistungsorientierten oder sogar unterdrückenden Glauben zu tun als mit der Heiligkeit, die Gott meint.“ (S. 42) Diese Beobachtung kann ich nur bestätigen. Leider geschieht es immer wieder, dass Christen und Gemeinden die Notwendigkeit zur Heiligung auf einen moralischen Appell reduzieren, der uns unter Druck bringt und uns überfordert. Dabei ist der Prozess der Heiligung in der Bibel nicht das Ergebnis menschlicher Anstrengung sondern ein Wirken und ein Geschenk Gottes: „Alles Verändernde kommt von Gott alleine.“ (S. 191) Diese Veränderung beginnt nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit einer Kapitulation: „Lassen Sie uns damit aufhören, nach außen heiliger wirken zu wollen, als wir es sind. In der Regel sind wir nämlich nicht so heilig, wie wir uns gerne sehen möchten oder wie andere uns wahrnehmen. Einige Ausdrucksformen unserer Heiligkeit sind nichts anderes als Scheinheiligkeit. Lassen wir das lieber gleich. Stattdessen steht am Beginn des Weges eine Kapitulation; wir geben zu, dass wir aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, wie Jesus zu werden. Wir sind völlig von Gott und seiner Hilfe abhängig. … Im Neuen Testament wird deutlich, dass nur Gott selbst durch das vollkommene Opfer seines eigenen Sohnes ein neues Leben für uns möglich machen und uns heiligen kann.“ (S. 168)

Diese Kapitulation beinhaltet auch die Erkenntnis: Nicht wir ändern unser Leben aus eigener Kraft, sondern ER verwandelt unser Leben in sein Bild, wenn wir im Aufschauen zu ihm unser Leben führen: „Verabschieden Sie sich also besser gleich vom ungesunden Unterdrücken und starten Sie mit einer Strategie, die wesentlich besser funktioniert: Vertrauen Sie sich Gottes Hilfe an. Tun Sie, was die Bibel Ihnen rät, um wie Jesus zu werden: Schauen Sie ihn an. Beim Lesen der Bibel, im stillen Gebet, im Nachdenken über seine Worte, indem Sie sich in eine biblische Person hineinversetzen und nachspüren, wie deren Begegnung mit Jesus war. … Anstatt sich anzustrengen, nutzen Sie Ihre Zeit und Energie lieber dafür, Gott besser kennenzulernen. Nehmen Sie sich Zeit, um ihn in seiner Schönheit zu betrachten. Wenn Sie erst einmal gesehen haben, wie schön er ist, und gespürt haben, wie sehr er Sie liebt, werden Sie sich nicht mehr so leicht mit Ersatzlösungen zufriedengeben. In der Nähe Gottes wird in Ihnen eine geheimnisvolle Kraft aufsteigen, die Sie nach und nach entdecken lässt: Ich habe mich wirklich verändert.“ (S. 166/167) Wenn Gott uns beschenkt, können wir sehr viel leichter die sündigen Dinge loslassen, die uns selbst und Anderen schaden: „Wer gelernt hat, durch Gottes Liebe in seiner Seele satt zu werden, wird in die Lage versetzt, plötzlich Dinge loslassen zu können, die zuvor sehr bedeutend für sein Leben waren, die aber vielleicht zur Sammlung seiner Ersatzlösungen gehört haben oder schlicht Sünde sind.“ (S.186)

Ein weitere Grundlage für einen gesunden Prozess der Heiligung ist die Entscheidung, dass Jesus der Herr unseres Lebens sein soll: „Es ist Zeit für eine Palastrevolution. Anstatt weiter den König „ICH“ unseren Herrn sein zu lassen, sollten wir den König der Heiligkeit wählen, der uns heil machen kann und durch uns seine Heiligkeit in diese Welt bringen möchte.“ (S. 204)

Die Heiligkeit Gottes: Ein Schlüssel für gesunden Glauben und eine attraktive Kirche

Heiligung ist also möglich. Und die Bibel macht immer wieder deutlich: Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens als Nachfolger Jesu:

„Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin.“ (3. Mose 11,44; 19,2; 1.Petr. 1,16)

Rainer Harter schreibt dazu: „Eine Kirche ohne Heiligkeit kann nicht Kirche Jesu sein. Wenn die Menschen draußen die verändernde Kraft der Gnade Gottes nicht an uns sehen können, werden sie auch nicht auf die Idee kommen, dass Gott mit uns ist, und nicht nach ihm fragen. Kirche muss „anders“ sein, um attraktiv für Menschen zu sein, die Gott noch nicht kennen. Kirche muss Anleitung dafür geben, wie ihre Mitglieder ein Leben der Heiligung führen können, um so von Jesus zu zeugen. Wir sind schlechte Botschafter, wenn wir unsere Botschaft vergessen haben und denjenigen, der uns gesandt hat, nur aus der Ferne kennen. Vielfach stehen wir als Kirche heute vor den Menschen dieser Welt und versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Doch wenn die grundlegende und lebensverändernde Wahrheit über Gottes Wesen und die daraus resultierenden Handlungen Gottes nicht mehr verstanden und gepredigt werden und deshalb unser eigenes Leben nicht von ihm zeugt, wird das auf Dauer nicht funktionieren. Was wir wirklich brauchen, ist die Gegenwart des heiligen Gottes. Wir brauchen sie in unseren Familien und an unserem Arbeitsplatz, in unseren Versammlungen und Gottesdiensten. Wenn Menschen dann in Berührung mit dem Geheimnis seines Wesens und seiner Kraft kommen, werden Gemeinden wieder wachsen, und das Evangelium wird unsere Städte durchdringen.“ (S. 208/209)

Wie wahr! Ich kann deshalb das neu aufgelegte Buch „Majestät“ von Rainer Harter nur von Herzen empfehlen und hoffe, dass dieser wichtige Impuls weite Verbreitung findet.

Das Buch „Majestät“ von Rainer Harter kann hier direkt vom Gebetshaus Freiburg bezogen werden:
https://www.gebetshaus-freiburg.org/product-page/buch

8 Die Kirche muss die Heiligkeit Gottes widerspiegeln!

1. Petrus 1, 14b-16: „Fallt nicht in eure alten, schlechten Gewohnheiten zurück. Damals wusstet ihr es nicht besser. Aber jetzt sollt ihr in allem, was ihr tut, heilig sein, genauso wie Gott, der euch berufen hat, heilig ist.  Denn er hat selbst gesagt: »Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin!«“

Anfang der 90er-Jahre war das „Tagebuch eines frommen Chaoten“ DER Hit im christlichen Büchermarkt. Die humorvollen Schilderungen der schrulligen Macken christlicher Gemeindemitglieder führte letztlich zu der These: Christen sind halt nun mal nicht besser als Andere. Sie sind nur besser dran.

Das hört sich demütig, entwaffnend ehrlich und entkrampfend an. Kein Wunder, dass dieser Spruch weit verbreitet ist. Das ändert aber nichts daran, dass er theologisch falsch und mit dem Neuen Testament nicht vereinbar ist. Die unendliche Gnade Gottes ist kein Freibrief dafür, dass Christen wie alle Anderen leben können. Das Neue Testament geht davon aus, dass dem Evangelium eine transformierende Kraft innewohnt. Wahrer Glaube führt dazu, dass sich das Denken und der Lebensstil grundlegend wandeln (Eph. 4, 23-24). Ein Glaube, der keine praktischen Folgen in Wort und Tat hat, ist kein Glaube im biblischen Sinn (Jakobus 2, 17).

Zwar warnt uns das Neue Testament intensiv vor Gesetzlichkeit und vor dem Versuch, Gottes Gebote aus eigener Kraft zu halten (was definitiv nie funktionieren kann, Röm. 7, 15-24!). Aber es ruft uns in einen Erneuerungsprozess hinein, in dem unser „alter Mensch“ am Kreuz mit Christus stirbt (Römer 6, 6-7) und durch den Heiligen Geist ein neues Leben in uns geboren wird (Röm. 8, 11-14). So werden wir befreit vom Gesetz, das uns zur Sünde verführt (Röm. 7, 5) und dürfen hineinwachsen in die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“, die aber nicht bedeutet, dass wir tun und lassen, was wir wollen. Vielmehr geht es um die Freiheit von der Macht der Sünde (Röm. 8, 2), die unser Leben zerstört.

Gott hat die Latte hoch gelegt mit seiner Aufforderung, so heilig zu leben, wie er heilig ist. Wir werden diesen Zustand in diesem Leben nicht erreichen. Aber es bleibt trotzdem unsere Aufgabe, nach diesem Ziel zu streben (2. Kor. 7, 1) und unserer „Heiligung nachzujagen“, ohne die laut dem Schreiber des Hebräerbriefs „niemand den Herrn sehen wird“ (Hebr. 12, 14).

Wenn der Lebensstil der Christen sich nicht unterscheidet vom Rest der Welt hat die Kirche auch keine Botschaft. Denn das Leben spricht lauter als Worte. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Kirche sich neu aufmacht, die transformierende Kraft des Evangeliums zu entdecken und Menschen in einen erneuerten Lebensstil hineinzuführen, der nicht von Druck, Enge und Gesetzlichkeit sondern von der befreienden Kraft des Heiligen Geistes getragen wird.