Der große Graben

In Matthäus 28, 20 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe.“ In diesem kurzen Satz stecken einige Aussagen, die zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehören:

  • Gott hat zu uns Menschen gesprochen und uns Gebote gegeben.
  • Gottes Worte sind so klar und verständlich, dass sie durch Lehre und Predigt weitergegeben werden können.
  • Dadurch werden wir Menschen vor die Entscheidung gestellt, ob wir tun wollen, was Gott sagt.

Soweit, so selbstverständlich – hätte ich bis vor einigen Jahren gedacht. Das ist es aber nicht. Eher im Gegenteil. Es erschüttert mich immer wieder, in welchem Umfang heutige Theologie diese zentrale christlich / jüdische Grundlage eines sich offenbarenden, redenden und sich verständlich machenden Gottes in den Wind schlägt. Das ging mir zuletzt so beim Studium des Buchs „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“, das der Theologieprofessor Jörg Lauster im Jahr 2008 verfasst hat. Ich habe dabei nicht den Eindruck, dass Prof. Lauster eine Randposition in der heutigen universitären Theologie einnimmt. Jedenfalls betont er selbst immer wieder, dass viele seiner Annahmen allgemeiner Konsens in der heutigen Theologie seien. Und er spricht selbst davon, dass es zwischen diesem Konsens und dem traditionellen reformatorischen Bibelverständnis einen großen, “garstigen Graben” gibt.

Dieser Diagnose kann ich mich nach der Lektüre des Buchs nur anschließen. Ich musste mich teilweise wirklich fragen: Kann man eine Theologie, die die oben genannten jüdisch/christlichen Grundlagen derart grundlegend verwirft, eigentlich noch als „christlich“ bezeichnen? Jedenfalls ärgert es mich zunehmend, wenn auch Evangelikale immer wieder äußern, konservative Christen würden durch ihre Debatten über theologische Fragen die Einheit zerstören. Tatsache ist: Die Einheit ist längst zerstört. Das liegt aber nicht daran, dass irgendwelche Konservative so dickköpfig und streitsüchtig sind. Das liegt vielmehr an einer Theologie, die nach eigener Selbstbekundung unüberbrückbare Gräben aufgerissen hat und die zugleich gegenüber Konservativen teils äußerst intolerant und herablassend auftritt – wie dieses Buch mir wieder gezeigt hat.

Ich bin mehr denn je überzeugt: Dieser große Graben verschwindet nicht, indem man ihn verharmlost, vernebelt oder totschweigt. Im Gegenteil: Wir Evangelikalen holen uns diesen großen Graben mitten in unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Werke, wenn wir ihn nicht offen ansprechen.

Ich empfehle deshalb, das Buch von Jörg Lauster zu lesen, um einen Einblick in die Denkwelt vieler heutiger Theologen zu bekommen. Es hat nur 112 Seiten und ist auch für Laien weitgehend gut lesbar. Für alle, die nicht an das Buch herankommen (es ist aktuell leider nicht erhältlich) oder die sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, habe ich nachfolgend einige Zitate herausgeschrieben. Die farbig dargestellten kommentierenden Zwischenüberschriften stammen von mir.

Zitate aus Jörg Lauster: „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“

Es gibt ein durchgängiges biblisches Zeugnis darüber, dass Gott zu den Menschen spricht und dass die biblischen Texte gemäß dem reformatorischen Verständnis das Reden Gottes wiedergeben:

S. 10: „Die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen ist nach alttestamentlicher Vorstellung maßgeblich davon bestimmt, dass Gott zu den Menschen und zu seinem Volk spricht. … Auf der Grundlage dieses biblischen Fundamentes ist in der christlichen Theologie die Vorstellung ausgebildet worden, dass Gott durch die Worte der Bibel zu Menschen spricht. Bei den Reformatoren tritt der Zusammenhang zwischen Wort Gottes und Bibel in besonderer Weise hervor.“

S. 31: „Die Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes und als heilige Schrift ist für das Christentum eine essentielle Aussage.“

S. 70: „Die eingangs erörterte Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes und die Bezeichnung ihrer Bücher als heilige Schriften sind Bestandteil dieses protestantischen Bibeldogmas.“

S. 72: „Festzuhalten ist jedenfalls, dass das protestantische Bibeldogma fort lebt und dazu gehört entscheidend die Auffassung, dass die inhaltliche Ausrichtung der christlichen Religion und die begriffliche Ausgestaltung der Lehre in den biblischen Schriften ihren originären Ursprung und ihren gegenwärtigen Maßstab habe. … Die Bibel ist als göttliches Wort die letzte Lehrautorität.“

Nach der “Entzauberung” der Bibel ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Bibel nicht mehr als Gotteswort sondern als Menschenwort anzusehen:

S. 9: „»Wie bitte?« – So lautet die vermeintlich überrascht indignierte Antwort eines Journalisten auf die theologische Feststellung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist. Zugetragen hat sich dies bei einem Interview des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, mit der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘. … Die Bestreitung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, vermag noch immer für Aufsehen zu sorgen’. Das ist theologisch erstaunlich, denn Steinacker kann sich in seinen Bemerkungen zum Schriftverständnis auf einen großen Konsens innerhalb der akademischen Theologie berufen. Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes gleichzusetzen.“
(Vgl. dazu das zitierte Interview in: Zeitzeichen 11/2005, 39-42. Das Interview ist überschrieben mit »Die Bibel ist nicht Gottes Wort«.)

S. 13: „Die Bibelkritik macht auf Fehler und innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam, welche die Vorstellung, Gott habe den Verfassern die biblischen Texte diktiert, zusammenbrechen lassen. … Es ist aber keineswegs allein das Aufkommen einer historischen Bibelkritik, die über die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Bibel die Identität von Bibel und Gotteswort auflöst. Schwerer wiegt, dass in wesentlichen Teilen biblische Auffassungen mit dem modernen Weltbild in Konflikt geraten. … Die Entzauberung der Bibel als Wort Gottes ist ein Faktum der europäischen Religionsgeschichte in der Moderne. … Der Neuprotestantismus bricht mit der altprotestantischen Vorstellung, die Bibel mit dem Wort Gottes gleichzusetzen und versucht, die Bedeutung der Bibel auf dem Boden historischer Einsichten zu begründen. Das Wort Gottes wird so zum Wort von Menschen.“

Auch die Barth’sche Wort-Gottes-Theologie trennt zwischen Bibeltext und Wort Gottes, traut der Bibel aber zu, dass Gott durch sie zum Menschen spricht:

S. 16/17: „Die Bibel ist ein ganz und gar „menschliches Dokument“ und es sei, so hält Barth ausdrücklich fest, nicht nötig, „diese offene Türe […] immer wieder einzurennen“. … Die Schrift ist daher nicht Gottes Wort im Sinne eines Zustands, sie kann jedoch zum Wort Gottes werden. Diese Wortwerdung fasst Barth als das Ereignis einer Inspiration. … Darum ist das Wort Gottes ein Ereignis und nicht eine den biblischen Texten an sich schon zukommende Eigenschaft. … Barths Wort-Gottes-Theologie gründet darum in einem Gottesbegriff, der eine fulminante Remythisierung der Vorstellung vom redenden Gott darstellt. Gott spricht – und die Bibel ist die ‚Fortsetzung‘ dieses göttlichen Sprechens. … Die Wort-Gottes-Theologie bewahrt in diesem Sinne ein wichtiges Moment des biblischen Gottesbildes.“

Aber auch die Wort-Gottes-Theologie wird hart kritisiert als eitler, autoritärer Biblizismus und „infantile“, „abschreckende“, „mythologisch-magische Vorstellung eines redenden Gottes“, die mit modernem Denken nicht kompatibel ist und große Flurschäden hinterlassen hat:

S. 19: „Seit den 6oer Jahren schwindet der Einfluss der Wort-Gottes-Theologie. … Paul Tillich witterte … in Barths Theologie einen „neuorthodoxen Biblizismus“ … Diese argumentative Selbstabschließung trage, so Tillich, fundamentalistische Züge in sich.“

S. 20: „Wort-Gottes-Theologie kann so ein religiöses Herrschaftsinstrument werden, und die im Umgang mit der Bibel bisweilen unerträglich gekünstelten Eingeständnisse, man wolle allein dem Wort des Herrn dienen, gleichen Unterwerfungsgesten, hinter denen sich ein ungeheures Maß an Eitelkeit verbirgt.“

S. 21: „Identifiziert man so das göttliche Offenbarungshandeln mit dem Begriff des Wortes Gottes, so steht dahinter letztlich eine »mythologisch-magische« Vorstellung eines redenden Gottes.“

S. 22: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Die methodische Haltung, im wissenschaftlichen Argumentationsgang mit Gründen zu operieren, über deren Plausibilität dann selbst keine Rechenschaft mehr abgelegt werden darf und kann, ist jedoch wissenschaftlichem Denken ganz und gar fremd. … Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält und darüber hinaus theologisch weit hinter das zurückfällt, was die christliche Tradition über Gott lehrt und bekennt.“

Die Bibel ist gemäß dem heutigen „Grundkonsens“ „durch und durch Menschenwerk“ und „Propaganda“ ohne Interesse für die tatsächliche Geschichte:

S. 23: „Überblickt man diese Folgeschäden der Wort-Gottes-Theologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. Besonders deutlich wird dies in der Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes. Sie im wörtlichen Sinne als Wort Gottes zu bezeichnen, hat von ihren nachweislichen Entstehungsbedingungen und ihrer religionsgeschichtlichen Verankerung her keinen Anhaltspunkt.“

S. 24: „Unabweisbar stellt sich heraus, dass die biblischen Schriften nicht die aufgezeichneten Worte eines redenden Gottes sind, sondern von Menschen erdachte, verfasste, überarbeitete Texte. … Doch von diesen Einzelfragen zu unterscheiden ist das, was sich in den alttestamentlichen und neutestamentlichen Einleitungswissenschaften als Grundkonsens etabliert hat. Demnach sind die biblischen Texte durch und durch Menschenwerk. Sie sind ganz eingebunden in ihre Zeit und werden in einem komplexen Überlieferungsprozess bei ihrer Weitergabe umgestaltet und fortgeschrieben. Die historisch-kritische Exegese … hat … damit unbestreitbar religiöse Gewissheiten und das Vertrauen in die Bibel erschüttert. … Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments sind über Jahrhunderte fortgeschrieben worden, hinter den Prophetenbüchern lassen sich kaum noch konkrete Persönlichkeiten ausmachen, die Evangelien sind nicht von Augenzeugen des Lebens Jesu geschrieben, sondern mindestens eine Generation später und obendrein im Dienste einer Missionspropaganda, die an einer ‚historischen‘ Biographie Jesu gar kein Interesse hatte.“

S. 26: „Doch eines lässt die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel ganz außer Zweifel: Sie ist nicht übernatürlich auf geheimnisvolle Weise entstanden. … Heilig kann kein Attribut sein, dass ihr als inhärente Eigenschaft anhaftet.“

An die Stelle der biblischen Heilsgeschichte tritt „Mythos“ und „Fiktion“:

S. 41: „Die biblischen Texte – das ist die unaufgebbare Einsicht der modernen Exegese – sind nicht in einem modernen Sinne als historische Quelle zu gebrauchen.“

S. 44: „Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen biblischen Texten nicht um historische Erzählungen, sondern um Mythen. … Der Mythos ‚antwortet‘ durch eine narrative und fiktive Verarbeitungsleistung darauf, wie Menschen die Wirklichkeit erfahren.“

S. 47: „Die Texte bilden daher nicht einfach historische Ereignisse der Vergangenheit fotografisch ab, sie malen vielmehr ein eigenes Bild der Person Jesu, aus dem seine Bedeutung für die Tradenten hervorgeht. … Es sind nicht die Ereignisse selbst, sondern die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse, die aus den Texten spricht. Dabei kommen wie schon im Alten Testament der Mythos und die Semiotisierung von Ereignissen zur Anwendung.“

S. 51: „Selbst der Mythos ist keine ‚Erfindung‘ ohne Anhaltspunkt, sondern eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen mit den Mitteln der Fiktion.“

Die biblischen Texte sind vielfältige „Deutungen religiöser Erfahrung“, „Dichtung“, „religiöse Literatur“, „existentiale Selbstauslegungen“, die das Lebensgefühl von Menschen widerspiegeln:

S. 38: „Die biblischen Texte sind ihrem Wesen nach Deutungen religiöser Erfahrung. In produktiver Anknüpfung an die kulturell vorgegebenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Zeit interpretieren sie den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt der Menschen konkret als Gottesbegegnungen.“

S. 54: „Der als Gottesbegegnung gedeutete Einbruch von Transzendenz setzt eine Vielzahl von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten frei. … Daraus ergibt sich notwendigerweise ihre Vielfalt. Es ist zudem damit zu rechnen, dass sich in der menschlichen Ausdrucksbildung Verzerrungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen einstellen.“

S. 40/41: „Die biblischen Texte räsonieren nicht über die Gottesbegegnung, sie erzählen sie. … Die Art der Erlebnisdeutung ist in den biblischen Texten eher mit der Dichtung als etwa mit einem philosophischen Zugang zu vergleichen. Mit gutem Recht lässt sich daher die deutende Wirklichkeitsverarbeitung der Bibel in ihrem ganzen Facettenreichtum als religiöse Literatur beschreiben.“

S. 41: „Die biblischen Schriften sind – um es fundamentaltheologisch zu formulieren – nicht Offenbarung an sich, sondern Deutungen von Ereignissen als Offenbarung.“

S. 87: „Die biblischen Sprachbilder symbolisieren Transzendenzerfahrungen, genauer, sie symbolisieren Gottesbegegnungen.“

S. 89: „Die biblischen Schriften artikulieren … sprachliche Deutungsmuster der Erfahrung von Transzendenz. Dabei interpretieren sie Transzendenz präziser als Gottesbegegnung. … In den biblischen Schriften spiegelt sich das Lebensgefühl von Menschen wider, die ihr Leben im Lichte der Begegnung mit Gott deuten und interpretieren. In diesem Sinne ist die Bibel als literarisches Aus- drucksuniversum religiöser Erfahrung zu verstehen, das religiöse Deutungsmuster für den Umgang mit Transzendenz bereitstellt.“

S. 105/106: „In diesem Sinne sind die biblischen Deutungen immer auch – darin Iiegt die bleibende Bedeutung Rudolf Bultmanns – existentiale Selbstauslegungen. In ihnen artikuliert sich, wie sich Menschen vor dem Einbruch und der Wirksamkeit göttlicher Präsenz verstehen.“

Die Gestalt des Kanons ist bis heute fraglich:

S. 56: „In diesem Prozess nehmen allerdings zeit- und kontextabhängige Erinnerungsinteressen Einfluss, deren Plausibilität schon damals fraglich war und vor allem dann späteren Generationen nicht immer als zwingend erscheinen muss. Die Grenzen zwischen den kanonischen und den apokryphen Schriften, die nicht in den Kanon gelangten, sind daher fließend.“

Die biblischen Texte sind als widersprüchliche „literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten“ gar nicht geeignet, um aus ihnen theologische Lehren zu begründen:

S. 76/77: „Die biblischen Schriften erfüllen … von ihrem Wesen her nicht die Funktion, theologische Lehrbildungen zu begründen. … Als literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten sind die neutestamentlichen Texte im Grunde nicht geeignet, aus ihnen Lehrgehalte zu erheben. … Die biblischen Texte geben das spezifische ‚Lebensgefühl‘ der ersten Christen in seinem ganzen Facettenreichtum wieder, sie fangen religiöse Stimmungen ein und bringen diese literarisch zum Ausdruck.“

S. 79/80/81: „Die Bibel ist in der Breite ihrer Aussagen und Ausdrucksformen nicht auf Lehren zu reduzieren, und schon gar nicht auf eine Lehraussage, sie thematisiert und artikuliert vielmehr ein Universum religiöser Gestimmtheiten. … Der Versuch, eine der Bibel gemäße Theologie zu konstruieren, wirft ein gravierendes Problem auf. Welche Theologie soll dies sein? Es ist ein theologisch sattsam bekanntes Faktum, dass der neutestamentliche Kanon eine Vielfalt von Theologien enthält. … Dieser plurale Charakter der biblischen Schriften ist in der Exegese weitgehend unstrittig: »Die Vorstellung einer Einheit im Sinn einer sich durchhaltenden einheitlichen Dogmatik im Neuen Testament ist eine Fiktion«.“*

*: Seltsam nur, dass auch Lauster selbst von einem durchgängigen “biblischen Gottesbild” eines redenden Gottes spricht (siehe oben), während er hier meint, so etwas wie ein biblisches Gottesbild gäbe es gar nicht.

S. 104: „Von der Exegese führt kein unmittelbarer Weg zum Dogma und auch nicht zur Predigt. Sie zielt vielmehr auf die historische Rekonstruktion vergangener religiöser Sinnbildungs- und Deutungsprozesse im Kontext der Erfahrungszusammenhänge, aus denen sie entstehen.“

Strohmänner und Diffamierung: “Fundamentalismus” ist Bibelvergötzung und vernunftfeindliche „Propaganda“:

S. 15: „Der gesamte vormoderne Vorstellungskomplex vom redenden Gott, der die Bibel diktiert und so zu den Menschen spricht … ist gegenwärtig ein erfolgreiches Modell protestantischer Missionspropaganda.“

S. 30: „Entscheidend daran ist, dass es nach christlichem Verständnis um die Vergegenwärtigung einer Person, Jesus Christus, geht und nicht um die Anbetung eines Buches. … Der Fundamentalismus ignoriert die Unterscheidung zwischen Buch und Person ganz und vergöttert so die Schrift an sich.“*

*: Zum verbreiteten Strohmannargument der Bibelvergötzung siehe der Artikel “Die 5 häufigsten Strohmannargumente gegen ein konservatives Bibelverständnis”

S. 31: „Die Verleugnung oder Ignorierung einer historischen Betrachtung* der Bibel erhöht deren Glaubwürdigkeit keineswegs, sondern untergräbt sie in tragischen Ausmaßen. … Man muss an dieser Stelle Kant bemühen dürfen: »Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“. … Eine tragende Bedeutung der Bibel ist in der Gegenwart nicht an der modernen Entzauberung vorbei oder gar gegen sie, sondern nur durch sie hindurch zu entfalten.“

*: Zum verbreiteten Strohmannargument, konservative Theologie würde das historische Umfeld und den historischen Abstand der biblischen Texte “verleugnen oder ignorieren” siehe der Artikel: “Streit um das biblische Geschichtsverständnis”

Zwischen der „neuprotestantischen“ Theologie und dem “Fundamentalismus” bzw. der Wort-Gottes-Theologie „klafft ein garstiger Graben“:

S. 72/73: „Für das ‚Dogma‘ der Bibel, oder anders formuliert, für eine systematisch-theologische Schriftlehre ergibt sich daraus gegenwärtig eine eigenwillige, ja eine fast skurrile Ausgangssituation. Einerseits finden sich vornehmlich im Fundamentalismus und in der Wort-Gottes-Theologie moderne Restaurierungs- und Reparaturversuche des altprotestantischen Schriftverständnisses. … Dagegen richtet sich andererseits das Verständnis der Bibel in dem weiten Feld des liberalen Neuprotestantismus. … Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“

S. 96: „Historische und dogmatische Methode sind vielmehr zwei grundverschiedene Stile, Theologie zu treiben, die sich durch alle theologischen Disziplinen ziehen. Die dogmatische Methode erhebt die eigene religiöse Überzeugung zur unhintergehbaren Voraussetzung, während die historische Methode die eigene Religion einer methodisch ausweisbaren, Wissenschaftlichen Überprüfung unterzieht.* … unaufgebbar entscheidend bleibt folgender Grundgedanke: Eine auf Plausibilität zielende Beschreibung des Christentums kann im Kontext der Neuzeit nur eine Beschreibung in rationaler, wissenschaftlicher Durchführung sein. Die historisch-kritische Methode der Exegese ist daher eine konkrete Erscheinungsform dessen, was Troeltsch historische Methode nennt. Sie ist der den neuzeitlichen Rationalitätsstandards sich verdankende Umgang mit den biblischen Texten.“

* Zum verbreiteten Strohmannargument der Vernunftfeindlichkeit konservativer Theologie und der angeblichen Unvoreingenommenheit der universitären Theologie siehe der Artikel „Das wunderkritische Paradigma“: Die traditionelle protestantische Theologie erhebt ja gerade nicht die „eigene religiöse Überzeugung“ zum Dogma, sondern sie nimmt im Gegensatz zur modernen universitären Theologie den Forschungsgegenstand Bibel samt dem bibeleigenen Selbstanspruch zum Wesen der Texte und zu ihrem Offenbarungscharakter ernst gemäß dem Prinzip: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Gerade dadurch wird die Bibel vor menschlichen Übergriffen und „Eisegese“ (also das Hineininterpretieren bibelfremder Annahmen in die Texte) geschützt. Die neue Theologie ist hingegen keineswegs methodisch neutral, sondern sie basiert mit ihrem Wissenschaftsbegriff auf einem philosophischen Unterbau, der vom Rationalismus (hier als „neuzeitliche Rationalitätsstandards“ bezeichnet), Naturalismus und Wunderkritik geprägt ist.

Bibelkritik ist heute institutionalisierter Mainstream:

S. 103: „Historische Kritik, die einstmals Rebellion war, ist zur Institution geworden.“

Zwei abschließende Bemerkungen:

  • Es wirkt auf mich angesichts der Dominanz dieser theologischen Sichtweisen seltsam, wenn manche Postevangelikale sich immer noch als Rebellen inszenieren. Sie sind einfach nur auf den Weg des großen Mainstreams volkskirchlicher Theologie abgebogen.
  • Ganz wichtig: Auch in diesem Artikel geht es natürlich in keiner Weise um persönliche Kritik an Prof. Lauster. Es geht schlicht darum, nüchtern die grundlegenden Differenzen im Bibelverständnis transparent zu machen, die Prof. Lauster ja selbst offen anspricht.

Alle Zitate stammen aus Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung, Forum theologische Literaturzeitung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2008

5 Wenden, welche die Landeskirche einleiten muss

von Pfarrer David Brunner

Dieser Artikel ist zuerst am 4.2.2019 im Blog von David Brunner (https://david-brunner.de/blog/) erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors wiedergegeben.

Ich gebe es zu: Ich bin nicht immer “amused” über den Zustand unserer Volkskirche. Da ich mich im Süden Deutschlands befinde, sind meine Überlegungen und Gedanken natürlich besonders geprägt von “meiner” Landeskirche – die evangelische Landeskirche in Baden (www.ekiba.de). Ich liebe und schätze es, in dieser Kirche zu arbeiten und zu wirken – gleichwohl muss ich nicht zu allem “Ja und Amen” sagen und sind kritische Töne erlaubt. Aber weil ich es liebe, in dieser evangelischen Landeskirche in Baden zu arbeiten, ist mir ihr “Zustand” alles andere als egal. Sie hat ein riesengroßes Potenzial, das sie noch mehr ausschöpfen könnte, wenn ihr diese fünf Wenden gelingen.

Ich schreibe bewusst von Wenden und nicht von Krisen oder Abgründen, weil ich glaube, dass Wenden immer etwas Positives beinhalten – nämlich den Turnaround, die Umkehr, den Blick auf das Bessere. Und ich bin der festen Überzeugung: Wenn die Volkskirche (ich werde den Begriff “Landeskirche” in diesem Artikel synonym verwenden) diesen Turnaround schafft, wird sie zurückfinden in die Fülle göttlicher Verheißungen. Sie kann es – wenn sie will.

Ebenso will ich den Blick nach vorne richten. Ich hoffe und bete, dass die Landeskirche diese Wenden wirklich packt. Es wäre mein großer Wunsch! Ja, ich höre viele Menschen rufen, dass die Landeskirche doch böse sei und dass sie ohnehin keine Zukunft hat. Schreit weiter, liebe Leute – ihr habt Unrecht! Ich kann euch verstehen, dass euch Dinge auf die Nerven gehen und dass ihr gerne eine veränderte Kirche sehen wollt. Ja. Das will ich auch. Ich will aber nicht nur motzen und jammern.

Ich möchte nicht beim Negativen stehenbleiben, ich möchte nach vorne schauen. Ich möchte nicht “draufhauen”, sondern bei aller Kritik auch Handlungsoptionen zeigen, welche die Wende einleiten oder bedeuten könnten. Ich möchte selbst Teil sein einer großen Veränderung innerhalb der Landeskirche – und sehe sie hier und da schon klein aber fein aufblitzen.

1 Von liberaler Intoleranz zu wirklicher Toleranz

Wer meinen Blog verfolgt, wer meine Predigten hört, wer mich kennt, der weiß: Ich bin nicht liberal. Ich bin theologisch recht konservativ, bemühe mich aber, keine Kampfbegriffe zu verwenden oder Schubladendenken zu forcieren. Ich habe das jahrelang (noch im Studium beginnend) getan und dabei rückblickend festgestellt: Das bringt nichts.

Wenn ich meinen Blick so über die kirchliche Landschaft schweifen lasse, stelle ich eine zunehmende Liberalität fest. Allerdings ist es keine gesunde Liberalität im Sinne einer pluralistischen Weltoffenheit, sondern eher eine liberale Intoleranz. Was ich meine, will ich dir an einer konkreten Begebenheit verdeutlichen, das sinnbildlich für mich für das steht, was ich mit “liberaler Intoleranz” meine:

Als sich die Synode meiner Landeskirche dafür aussprach, die “Ehe für alle” auch kirchlich zu vollziehen, wurden die Pfarrkonvente (Zusammenkunft aller Pfarrerinnen und Pfarrer eines Kirchenbezirks) unserer Landeskirche von Vertretern des Oberkirchenrates besucht. In diesen Gesprächen ging es um die Konsequenzen dieses Beschlusses auf unterschiedlichen Ebenen: liturgisch, pastoraltheologisch und kirchenrechtlich. Was ich feststellte: Wer eine theologisch konservative Meinung einnahm und diesem Synodal-Beschluss nicht positiv gegenüberstand, wurde als “ewiggestrig” und “fortschrittsfeindlich”, ja sogar als “menschenfeindlich” bezeichnet.

Ich gab dem Vertreter des Oberkirchenrats auf seine Bitte, was er denn mitnehmen solle, meine Wahrnehmung mit auf den Weg: Wer theologisch konservativ ist, kann sachlich ausgewogen argumentieren – er wird sehr oft unsachlich in eine Ecke gedrängt, die nicht wirklich angenehm ist. Er wird abgestempelt und spürt recht wenig vom “toleranten Geist” unserer Gesellschaft. Er wird belächelt, verachtet und abgestempelt.

Ich weiß nicht, was der Vertreter des Oberkirchenrates aus meiner Wortmeldung gemacht hat und ob er meine Meinung an irgendeiner Stelle eingespielt hat.

Die Landeskirche gibt sich immer sehr tolerant – ist es aber bei weitem nicht so sehr, wie sie es sich selbst auf die Fahnen schreibt. Ja, ich weiß, es gibt “theologisch Konservative” in unserer Kirche, die es auch nicht gelernt haben, sich sachlich auszudrücken und Diskussionen anständig zu führen. Das gibt Kirche aber noch lange nicht das Recht, mit theologisch Konservativen generell intolerant umzugehen. Wenn die Landeskirche es nicht lernt, wirklich tolerant zu sein, dann wird sie nicht zukunftsfähig sein, weil sie selbst immer wieder auf Menschen stoßen wird, die anderer Meinung sind als sie.

Die oft postulierte Toleranz muss allen theologischen Richtungen gelten – oder sie ist eine Schein-Toleranz. Da der postmoderne Mensch jedoch eine sehr feinfühlige Wahrnehmung dafür hat, ob es seinem Gegenüber wirklich ernst ist mit der Toleranz oder nicht, wird Kirche nur dazu gewinnen, wenn sie eine wirkliche Toleranz lebt. Eine Toleranz, die den anderen ohne Geringschätzung stehen lässt – mag seine Meinung noch so anders sein als die eigene.

Mir fällt das manchmal selbst sehr schwer. Ist doch klar, dass das keiner von Geburt an hervorragend beherrscht. Aber es wäre ein Versuch wert, sich darin zu üben, den anderen stehen zu lassen, in meinem Gegenüber einen wunderbaren Menschen zu sehen, den Gott nicht weniger liebt als mich – und der nicht zwangsläufig falsch liegen muss, nur weil er eine andere Meinung hat als ich.

Eine gesunde Streit- und Debattenkultur beginnt doch dort, wo ich den anderen nicht von vornherein wegen seiner “andersartigen Meinung” ablehne, sondern ihn annehme, stehen lasse, diskutiere und wir Gemeinsamkeiten suchen. Immer dann, wenn das in “kirchlichen Gremien” geschieht, freue ich mich. Und ich habe schon in unterschiedlichsten Konstellationen mit anderen zusammengearbeitet. Immer dann, wo eine wirkliche Toleranz gelebt wird, ist es bereichernd. Für alle.

2 Von historisch-kritischer Engführung zu hermeneutischer Vielfalt

Wenn Kirche nicht versteht, dass es mehr Auslegungsmöglichkeiten gibt, als die historisch-kritische Methode, die unsäglichen Schaden angerichtet hat, wird sie nicht zukunftsfähig sein. Zu viele Theologinnen und Theologen unterschiedlichster theologischer Ausrichtung kommen zu vielen relevanten theologischen Aussagen – ohne die historisch-kritische Methode zu verwenden. Und jetzt? Sind sie schlechte Theologen? Sind ihre Aussagen nicht gültig?

Leider erlebe ich es sehr oft, dass andere hermeneutische Konzepte als das der historisch-kritischen Methode mit einem Lächeln abgetan werden, als sei es ansteckend wie eine Krankheit oder gar tödlich.

Dabei reicht doch ein Blick in unsere kirchliche Landschaft: Landauf landab gibt es unzählige Gemeinden und Gottesdienste innerhalb der evangelischen Landeskirche. Würde die historisch-kritische Methode einen solchen Ertrag bringen, wie ihre Vertreter immer meinen, hätten wir nicht unbedingt volle Kirchen, müssten aber mit Mitglieder- und Gottesdienstbesucherwachstum rechnen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit Jahren schrumpfen die Mitgliederzahlen der Landeskirchen und die Zahl der Gottesdienstbesucher hält sich penetrant bei 3 bis 4 Prozent ihrer Mitglieder, die ja zurückgehen – weswegen auch der absolute Gottesdienstbesuch zurückgeht.

Nein, die historisch-kritische Methode hat nicht das Zeug dazu, für eine Erweckung in unserer Kirche zu sorgen. Vielmehr hat sie dazu geführt, dass Sonntag für Sonntag noch jede Menge leere Plätze in den Kirchen zu finden sind, die gefüllt werden könnten. Klar: Kaum ein Theologe vertritt die historisch-kritische Methode in Reinform und gleichzeitig gibt es Arbeitsschritte innerhalb dieser Methode, die einen großen Wert haben. Mir geht es um die Vorherrschaft dieser Methode in der Ausbildung und im Schriftverständnis.

Eine Hermeneutik muss dem unverfügbaren Wirken des Heiligen Geistes offen gegenüber stehen und mit wirklichen Wundern rechnen, wenn sie der Kirche einen Weg in die Zukunft ebnen will. Eine Hermeneutik, die dem Diktat der Rationalität unterworfen ist, wird dem Menschen auch nur so viel Gewinn bringen, wie der menschliche Verstand zu fassen vermag. Gottes Wirken jedoch wird dann beim besten Willen kaum damit verbunden sein, da dieses sich unserem menschlichen Verstand oft entzieht und diesen bei weitem übersteigt.

Darüber hinaus wird es die Kirche wieder dorthin bringen, wo alles begann und was – besser: wer – immer Zentrum von Kirche ist: Jesus Christus selbst. Ich glaube, dass eine hermeneutische Vielfalt uns nicht nur aus der Enge der historisch-kritischen Methode befreit sondern auch aus der Vergessenheit darüber, dass Jesus Christus Anfänger und Vollender ist (Hebräer 12,2), der selbe gestern, heute und in alle Ewigkeit (Hebräer 13,8) und dass es um ihn geht als dem einzigen Weg zum Vater im Himmel (Johannes 14,6).

Konkret niederschlagen würde sich diese Wende in der Anerkennung anderer theologischer Abschlüsse als die, die an einer Universität oder “evangelischen Hochschule” erworben wurden. An vielen theologischen Seminaren und “Bibelschulen” wird (inzwischen) so sauber theologisch gearbeitet, dass es nicht intolerant ist, solche Abschlüsse nicht anzuerkennen, sondern schlicht und einfach arrogant. Im besten Fall geschieht dies aus Unwissenheit darüber, was an diesen theologischen Hochschulen gelehrt wird. Dauerhaft ist dieses Verhalten jedoch nicht förderlich und schon gar nicht zukunftsfähig. Denn auch der evangelischen Kirche geht das Personal aus – und obendrein noch das Geld. Da ist es schon rein strukturell nur gut, wenn sie sich anderen hermeneutischen Konzepten öffnet. Wobei ich es vor allem aus inhaltlicher Sicht natürlich einen maximalen Gewinn finde, wenn sich die Landeskirche dahingehend weiterentwickelt und eine Wende einleitet, dass sie auch Absolventen von theologischen Seminaren und Bibelschulen als kirchliche Mitarbeiter anerkennt.

3 Von liturgischen Absurditäten zu gottesdienstlicher Relevanz

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ihr nun eure Fingernägel wetzt, um mir an die Gurgel zu springen, gebt mir die Chance, zu erklären, was ich meine – und was nicht.

Ich sage nicht, dass die liturgische Form an sich weltfremd wäre. Ich will damit auch nicht sagen, dass eine traditionell-liturgische Form für den Gottesdienst keine Daseinsberechtigung mehr hat.

Ich glaube, das Problem liegt viel tiefer: Ein Großteil meiner Kolleginnen und Kollegen hat in ihrer Ausbildung nie gelernt, wie man Gottesdienste auch anders als mit Orgel, Wechselgesang und jahrhundertealten Ausdrucksweisen feiern kann. Auch das wäre noch nicht ganz so tragisch, wenn nicht obendrauf dann etwas viel Schlimmeres geschieht: Die Ansicht, neue Gottesdienstformen seien nicht nötig, sie seien eine Zeiterscheinung und man müsse die Gemeinde nur so weit erziehen und das ein oder andere liturgische Element erklären, so dass die liturgische Form des Gottesdienstes als Alleinstellungsmerkmal akzeptiert wird.

Ja, liebe Leserin, lieber Leser, falls du dir nun die Augen verwundert reibst: Diese Auffassung von Gottesdienstgestaltung gibt es – leider. Und sie hat überhaupt nichts damit zu tun, dass die Landeskirche gemeinhin auch “Volkskirche” genannt wird, da sie mit dieser klassischen Form Untersuchungen zu Folge nur zwei, maximal drei Milieus von zehn innerhalb unserer Gesellschaft erreicht. Aber wie soll sie auch zur Volkskirche werden, wenn ihre Mitarbeitenden niemals darin geschult und unterrichtet werden, das gesamte Volk im Blick zu haben, sondern lediglich die zwei bis drei Milieus, zu denen Kirche ohnehin schon einen relativ positiven Kontakt hat? Ein Teufelskreis – wenn dieses Wort im kirchlichen Kontext nicht so unangebracht erschiene.

Wieso um alles in der Welt lernen Theologinnen und Theologen in ihrer Ausbildung (Vikariat) nicht auch, wie man Gottesdienste in zeitgemäßer Form feiert mit zeitgemäßen Instrumenten und einer zeitgemäßen Sprache? Mit Elementen und Medien, die der Mensch von heute kennt und (ge-)braucht? Und damit meine ich nicht, dass man sich “die Sache mal anschaut” und das gleiche als ein nettes “Add-On” dargestellt wird, sondern dass in gleicher Intensität auch das Feiern von Gottesdiensten in anderer als in klassisch-liturgischer Form eine Rolle spielt.

Wieso diese Vorrangstellung des traditionell-liturgischen Gottesdienstes? Für mich gibt es auf diese Frage nur zwei Antworten, die mich aber nicht zufriedenstellen. Die eine Antwort ist der Satz, der bei Kirchen-Bingo dir den Sieg sichert: “Das war schon immer so!” Die zweite Antwort ist noch beunruhigender: Es fehlt schlicht und einfach an entsprechender Kompetenz auf Seiten der Lehrenden und Lernenden.

Also begnügt man sich damit, den Gottesdienst in seiner liturgischen Form weiterzufeiern, hier und da ein bisschen zu pimpen und für die Unverbesserlichen installiert man dann ein “zweites Programm”, einen “anderen Gottesdienst”, etwas “für Gäste” – als ob es weniger Wert wäre als das “erste Programm” – zumindest ist es hierarchisch abgestuft und nur das zweite, nicht das erste Programm.

“Aber die Bibel ist doch auch ein uraltes Buch und dennoch zeitgemäß”, höre ich dann immer wieder andere sagen. Das stimmt. Aber ich bin nicht so vermessen, meine Form des Gottesdienstes mit dem ewig gültigen Wort Gottes gleichzusetzen.

Ich komme beim letzten Punkt noch ausführlicher darauf zu sprechen. Aber wieder treibt mich eine Frage um: Wieso lernt man nicht von Freikirchen? Wieso schaut man nicht in die FEGs, in die ICFs und in andere freie Gemeinden? Ist man sich selbst genug? Hält man die anderen für zu fromm, abgefahren oder modern?

Und wieso müssen Pfarrerinnen und Pfarrer dabei selbst auf die Idee kommen, mal über den eigenen Tellerrand zu schauen, anstatt dass dies auch “von oben” gefördert und gewünscht wird und man so wirkliche Ökumene (und nicht nur evangelisch-katholische Ko-Existenz) feiert?

Oh wie schön wäre das doch, wenn kreative und innovative Theologinnen und Theologen, Pastorinnen und Pastoren mehr Gehör finden würden und nicht immer als Exoten dastünden.

Unsere Gesellschaft respiritualisiert sich gerade selbst und auch die “Generation Y” hat nur bedingt Vorbehalte gegen das (institutionelle) Religiöse. Der Mensch fragt nicht unbedingt nach dem großen Ganzen und dem letzten Sinn – aber erstaunlicherweise ist eine Sehnsucht in unserer Gesellschaft wahrzunehmen, welche die Moderne versucht hat, zu unterdrücken: eine Sehnsucht nach “Mehr”. Eine Sehnsucht danach, dass es noch mehr geben muss als das, was wir mit unseren Technologien und unserem Know-How selbst erschaffen können. Etwas, das sich unserem rationalisierten Weltbild entzieht, ein Stück weit mystisch und mythisch bleibt – et voilà: Willkommen in der geistlichen Realität.

Die Ampeln stehen nicht mehr auf Rot und der postmoderne Mensch bekommt nicht gleich die Krätze, wenn er von “Religion” liest oder hört. Nein. Er findet darin selbst etwas Heilsames und Sehnsuchtsstillendes. Bitte, bitte, liebe Kirche, lass dich auf die Wende ein und gib diesen Menschen ein Zuhause, ihrer Sehnsucht einen Ort und ihrer Spiritualität etwas, das sie wirklich erfüllt: das lebendige Wort Gottes in einem zeitgemäßen Gewand – nicht als Ergänzung, sondern als gleichberechtigte Form neben den klassischen und traditionellen Formen von Kirche.

4 Von einem fragwürdigen Taufverständnis zu einer Vielfalt der Mitgliedschaftsmöglichkeiten

Ich glaube, die Säuglingstaufe ist maximal die zweitbeste Form, wie man mit der Taufe umgehen kann. Biblisch betrachtet gibt es keine einzige explizite Erwähnung der Taufe von Säuglingen. “Er und sein ganzes Haus ließen sich taufen”, wie es im Neuen Testament immer wieder heißt, reichen für eine Legitimierung der Säuglingstaufe nicht aus. Nur weil etwas nicht negativ genannt wird, können wir nicht davon ausgehen, dass es positiv konnotiert ist. Jesus, Paulus oder andere großartige Personen und Verfasser neutestamentlicher Schriften haben sich auch über andere Dinge nicht negativ geäußert, die wir dann plötzlich positiv bewerten.

Also braucht es eine theologische Legitimierung der Säuglingstaufe, die volkskirchlich meist dadurch geschieht, dass sie die “gratia praeveniens”, also die “vorauseilende Gnade” Gottes zum Ausdruck bringen soll oder sie soll zum Ausdruck bringen, dass Gott durch die Taufe den Menschen annimmt.

Beides greift jedoch viel zu kurz – dazu reicht schon die Lektüre von Psalm 139, in dem König David Gott dafür dankt, dass er ihn wunderbar gemacht hat und ihn schon kannte und alle Tage seines Lebens schon aufgeschrieben wurden bei Gott, ehe auch nur der erste Tag schon begann. Ich weiß, dass diese wenigen Zeilen einer profunden Auseinandersetzung mit der Frage nach der Säuglingstaufe nicht gerecht wird – wer mehr wissen will, dem empfehle ich gerne meine ausführlichen Gedanken zu “Taufe in der Apostelgeschichte“.

Zurück zur Wende: Ich bin der festen Überzeugung, dass alternative Modelle der Mitgliedschaft, wie sie beispielsweise in der anglikanischen Kirche schon gelebt werden, nur förderlich und nicht hinderlich sein könnten – auch wenn man über das Problem der Taufe hinwegsieht. Konkretes Beispiel: Da wir im Normalfall in der evangelischen Landeskirche die so genannten parochiale Struktur haben (kurz gesagt: dort, wo ich wohne, gehöre ich der Gemeinde an), ist es für uns als “Grenzgemeinde” unmöglich, dass Personen aus der Schweiz Mitglied unserer Kirchengemeinde werden können, auch wenn sie jeden Sonntag zu uns kommen, unsere Hauskreise besuchen und in der Gemeinde mitarbeiten.

Aber auch was die Praxis der Taufe betrifft, muss sich die Volkskirche einer Wende öffnen, denn immer weniger Eltern lassen ihr Kind überhaupt noch Taufen im Alter von wenigen Monaten (oder Jahren). Der im kirchlichen Sprachgebrauch so unsäglich klingende “Taufaufschub” kommt immer mehr in der Praxis vor, was bedeutet: Immer weniger Menschen werden als Säuglinge getauft. Da aber das gesamte Kirchensteuersystem darauf aufbaut, dass Menschen schon Mitglied sind, bevor sie Kirchensteuer bezahlen, da es unwahrscheinlicher ist, auszutreten, wenn man schon dabei ist, als einzutreten, um seine Mitgliedschaft kundzutun, wird die Volkskirche mittelfristig große finanzielle Probleme bekommen.

Paradox an sich ist es ohnehin, Taufe und Kirchensteuer miteinander zu verknüpfen – aber meine Idee war es nicht… Im Ernst: Taufe soll und muss Ausdruck meines Bekenntnisses zu Jesus Christus bleiben. Finanzierung der kirchlichen Arbeit jedoch darf nicht mit der Taufe verknüpft werden. Hier brauchen wir eine komplette Veränderung und Öffnung zu alternativen Konzepten – oder kurz: eine Wende.

Wieso nicht ein ergänzendes Modell wählen, bei dem aus “dem großen Topf” alle Gemeinden bedacht werden, gleichzeitig die Menschen jedoch nicht allgemeine Kirchensteuer bezahlen, sondern einen Beitrag, das ihrer Kirchengemeinde direkt zugute kommt. Natürlich – das wäre für manche Gemeinden zwar nicht das Aus, aber sie müssten sich nach der Decke strecken. Leider. Bedeutet aber wiederum, dass sie zur Zeit ohnehin auf einer Scheinsicherheit ihre Finanzen aufbauen.

Dann wäre es auch nicht mehr von Bedeutung, ob ein Baby getauft oder gesegnet wird – im Blick auf die Mitgliedschaft.

5 Von einer trägen Inspirationslosigkeit zu einem leidenschaftlichen Verständnis von Kirche

Ja, ok. Ein wenig pointiert formuliert, ich weiß. Aber ganz ehrlich: Vieles, was in unserer Landeskirche geschieht, inspiriert mich nicht. Das ist so “old school” und für mich (für andere mag das anders sein) lebensfremd, dass mir schlicht und einfach die Leidenschaft und Lebendigkeit fehlt und fast schon abhanden kommt, wenn ich mich zu sehr damit auseinandersetze.

Ich glaube, dass es manchmal stimmt: Die Theologie will Antworten auf Fragen geben, die kein Mensch gestellt hat. Aber auf die wirklichen Fragen der Menschen, findet die Theologie oft keine Antwort oder auch nur einen Ansatz dazu. Das finde ich extrem schade, denn Theologie kann so was von inspirierend und leidenschaftlich betrieben werden, dass sie gar nicht anders kann, als die Glaubens- und Lebensfragen der Menschen aufzunehmen. Hier finde ich immer wieder Inspiration bei Theologen wie Tim Keller, Carey Nieuwhof oder Johannes Hartl.

Und hier fällt dir auf: Das sind keine klassischen landeskirchlichen Theologen, wo wir bei dem oben schon erwähnten Punkt der Inspiration durch andere Kirchen, dem Blick über den Tellerrand oder das Netzwerken im besten Sinne der Ökumene angekommen sind.

Ich lasse mich liebend gerne von anderen Kirchen und Gemeinden, von Theologinnen und Theologen, von Leiterinnen und Leitern, Pastorinnen und Pastoren anderer Gemeinden inspirieren. Dabei ist mir nicht wichtig, welches “Label” sie tragen, sprich: Zu welcher Kirche sie gehören. Ich will lernen. Schlicht und einfach lernen. Lernen, wie wir noch besser, noch zeitgemäßer, noch ansprechender das Evangelium verkündigen und Gemeinde leiten können, damit Menschen, die Gott noch nicht kennen, zu leidenschaftlichen Nachfolgern Jesu werden.

Diese Haltung benötigt die Volkskirche im großen Stil, um zukunftsfähig zu bleiben. Über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen bewahrt nicht nur davor, nur den Blick auf sich selbst zu richten, sondern lässt mich andere Perspektiven einnehmen, Inspiration empfangen und mit neuer Leidenschaft an die wunderbare Aufgabe der Gemeindeleitung herangehen.

Die Zukunft der Kirche wird kooperativ im besten Sinn sein: Ko-Operare, miteinander/gemeinsam agieren. Nicht jeder für sich in seinem Sumpf und Umfeld, sondern in einer großen Freundschaft und Verbundenheit mit anderen Gemeinden und Kirchen, die jenseits der eigenen Kirchengrenzen zu finden sind. Ich selbst profitiere sehr, sehr viel vom ICF Network oder auch von Willow Creek. Genauso ist “Der Leiterblog” ein wunderbarer Fundus, über den eigenen Tellerrand hinaus Inspiration und Leidenschaft zu bekommen. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an Lothar Krauss, der diesen Blog initiiert hat und betreibt.

Die Zukunft der Kirche wird nicht nur kooperativ sein – sie wird leidenschaftlich sein, oder sie wird gar nicht sein.

Ich spreche niemandem seine Leidenschaft ab. Im Gegenteil. Ich sage es sehr deutlich und mit großer Freude, weil es die Pluralität und Vielfältigkeit unserer Kirche deutlich macht: Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die von Herzen gerne, mit großer Leidenschaft und ausgezeichneter Kompetenz liturgisch-traditionelle Gottesdienste feiern. Dabei predigen sie Gottes Wort voller Liebe und Vollmacht und Menschen wachsen im Glauben. Ja, ja, liebe Freikirchler: Es gibt Wachstum auch innerhalb der Landeskirche!

Aber noch nicht genug. Und hier wünsche ich mir mehr Leidenschaft, mehr Begeisterung. Ich bin Fußballfan. Ich war früher viel im Stadion. Die Menschen dort leben ihre Begeisterung, ihre Leidenschaft. Diese beiden Gefühlsäußerungen sind an sich nichts Negatives. Aber bei Kirchens sind sie leider oft außen vor. Das ist schade. Ich wünsche mir mehr Unkonventionelles und Unvorhersehbares, mehr Innovation und Mut zum Risiko.

Kooperation mit dem Heiligen Geist

Ich habe Hoffnung für die Landeskirche und schaue selbst voller Leidenschaft und Freude in die Zukunft. Warum? Weil nicht ich, nicht ein Oberkirchenrat, Landeskirchenamt oder sonst jemand der Boss ist – sondern Jesus selbst. Er ist und bleibt der Herr der Kirche. In Kooperation mit seinem, dem Heiligen Geist, wird unabhängig von unseren Fähigkeiten und unserem Können Gott selbst seine Güte und Größe zeigen.

In der Homiletik ist mir Rudolf Bohrens Aussage von der “theonomen Reziprozität” begegnet, die aber nicht nur auf die Predigtlehre, sondern generell für das Tun und Lassen bei Kirchens anzuwenden ist. Theonome Reziprozität bedeutet: eine von Gott gesetzte Wechselseitigkeit.

Gott selbst ist der Ursprung allen kirchlichen Handelns, damit es nicht in menschlichem Aktivismus verfällt. Dies aber bedeutet, konkret nach seinem Willen zu fragen und mit dem Heiligen Geist zu kooperieren. Das heißt: Ihn bitten, sich zu offenbaren, zu zeigen, in Situationen hineinzuwirken, wie wir Menschen es nicht tun können. Das heißt auch: Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist übernatürlich und unseren Verstand übersteigend wirken kann zum Aufbau des Reiches Gottes. Ich glaube, wenn wir das verstärkt tun, werden wir Aufbrüche und Erneuerung in der Landeskirche erleben. Let’s go!

Der Kampf ums Bibelverständnis

Wegweisende Erkenntnisse aus dem Buch „Biblische Hermeneutik“ von Prof. Gerhard Maier

„Biblische Hermeneutik“: Dieses Buch von Prof. Gerhard Maier hätte ich am liebsten jedem Theologen zu Weihnachten unter den Baum gelegt. Der Autor ist mir schon lange ein Begriff, schließlich war er 4 Jahre lang Landesbischof meiner württembergischen Landeskirche. Dass er zugleich ein herausragender Theologe ist, war mir auch schon zu Ohren gekommen. Tatsächlich ist sein Buch „Biblische Hermeneutik“ nichts weniger als ein grundlegender Ruf zur Umkehr in der Theologie. Maier setzt sich intensiv mit der sogenannten „historisch kritischen Methode“ (HKM) auseinander, die aktuell eine fast uneingeschränkte Dominanz besitzt:

„Die Meinung, „dahinter können wir nicht mehr zurück“, ist eine der am weitesten verbreiteten, auch im Kreise sog. „evangelikaler“ Theologen. … Noch 1971 konnte Richter schreiben: „Das Recht, die historisch-kritische Methode anzuwenden, ist heute … in der Theologie unbestritten“. Dabei ist allen klar, dass die „Kritik“ nicht nur die (selbstverständliche!) Aufgabe des Unterscheidens wahrnimmt, sondern ein „kritisches“ Beurteilen der biblischen Aussagen, ihre Bejahung oder Verwerfung, kurz: die Sachkritik an der Bibel, einschließt.“ (S. 214)

Eben diese Sachkritik ist für Maier das entscheidende Problem bei der HKM, denn: „Jede Sachkritik an der Bibel gibt … Teile ihres Inhalts preis. … Die zahllosen Schwankungen, denen innerhalb der letzten 300 Jahre die Sachkritik unterworfen war, widerlegen eindrucksvoll die Behauptung, die Schrift ermögliche aus sich selbst heraus eine solche Sachkritik.“ (S. 266)

Sachkritik bedingt immer, dass es einen menschlichen Kritiker geben muss: „Was sich … durch die ganze Geschichte der historischen Kritik hindurchzieht, das ist die Anschauung, dass der Mensch über den Wahrheitsgehalt der Offenbarung zu entscheiden habe.“ (S. 259) Der Bibel wird damit eine zweite Autoritätsinstanz beigestellt: „Das katholische Lehramt ist evangelischerseits im Laufe der Zeit durch Vernunft und Wissenschaftlichkeit, deren Inhalte umstritten blieben, ersetzt worden. … Wahrhaftigkeit und modernes Weltverständnis sind hier ethische und intellektuelle Verstehensvoraussetzungen, die in ihrer Kombination zu einer zweiten Instanz neben der Schrift führen.“ (S. 142) Somit ist die reformatorische Formel „Sola scriptura“ preisgegeben, die bis zum Pietismus noch galt. (S. 302)

Die zentrale Weichenstellung: Trennung von Text und Offenbarung

Grundsätzlich möglich wird die Bibelkritik der HKM durch folgende zentrale Weichenstellung: „Grundlegend für die historisch-kritische Arbeitsweise ist die Trennung von Schrift und Offenbarung bzw. von Bibel und Wort Gottes. Keinesfalls besteht hier eine Identität.“ (S. 262) Beispielhaft zeigt Maier das an der „dreifachen Gestalt des Wortes Gottes“ von Karl Barth, in der u.a. zwischen dem schriftlichen und dem offenbarten Wort Gottes unterschieden wird, wobei das schriftliche Wort (die Bibel) nicht die eigentliche Offenbarung ist. Die Bibel bezeugt sie nur. Maier begründet, warum er sich mit dieser Lehre nicht befreunden kann: „Sie zerbricht die Theopneustie („göttliche Eingebung“, „Durchhauchtsein mit dem Geist“, 2. Tim. 3, 16) an der entscheidenden Stelle, nämlich dort, wo gerade die Schrift als das final gemeinte Wort des Heiligen Geistes Gestalt gewinnen soll … indem sie uns letztlich an ein unkonkretes, zeitloses „Dahinter“ bindet. Und sie widerspricht auch der Position Luthers und der Reformatoren, für die das biblische Wort der eigentliche Wille Gottes war.“ (S. 104)

Erst durch diese Trennung zwischen biblischem Wort und Offenbarung ist es möglich, kritisch an das biblische Wort mit dem Prinzip des wissenschaftlichen Zweifels heranzutreten. Das ist für ihn die eigentliche „Innovation“ der historisch kritischen Methode: „Nicht die Entdeckung neuer, bisher unbekannter Arbeitsschritte oder methodischer Einzelverfahren war das Entscheidende. Sondern der prinzipiell vom Zweifel geprägte Umgang mit der Heiligen Schrift.“ (S. 221)

Deutlich wird dieser Zweifel zum Beispiel im Umgang mit den geschichtlichen Aussagen der Bibel. Das ist aus seiner Sicht besonders tragisch, denn: „Der biblische Glaube hängt tatsächlich aufs engste mit der wirklichen Geschichte zusammen. … Entzieht man ihm die geschichtliche Basis, auf die er aufgebaut ist, dann hat man ihn prinzipiell widerlegt. … Der Glaube hängt an seiner Geschichtlichkeit.“ (S. 181)

Hinzu kommt in der HKM die bis heute nicht überwundene allgemeine Skepsis gegen Wunder und Prophetie: „Im Grunde teilt das ganze 19. Jh., soweit es die historisch-kritische Forschung in Deutschland betrifft, das Urteil, dass wir heute an Wunder nicht mehr glauben können. … Ja selbst in unserem Jahrhundert noch wird die historische Kritik von dem Gedanken beherrscht, dass Wunder ungeschichtlich seien.“ (S. 196)

Daran zeigt sich, wie wenig die historisch kritische Methode ihren eigenen Anspruch einlöst, „wissenschaftlich“ und „objektiv“ zu sein: „Es besteht … unter den Anhängern der historischen Kritik eine erstaunliche Übereinstimmung darüber, dass sie „ein Kind der Aufklärung“ darstellt. … Damit ist die dominierende Rolle der Vernunft ausgesagt. … Hier erhält also … der Mensch einen absoluten Vorrang. … Auf der anderen Seite wird deutlich, dass diese „Vernunft“ keine weltanschauliche Neutralität besitzt. Im Gegenteil, sie ist eine religiös determinierte Größe. Um noch einmal Picht zu zitieren: „Die Vernunft des europäischen Denkens ist als Projektion des Gottes der griechischen Philosophie bis in ihre innersten Elemente vom Mythos durchtränkt. Es ist ein Zeichen mangelnder Aufklärung, wenn wir das nicht wissen. Von hier aus fällt ein neues Licht auf die Spannung zwischen Glauben und Vernunft, aber auch auf die unglückliche Liebe der Theologen zu dieser selben Vernunft.“ Das heißt, die Berührung der Theologie mit der Philosophie der Aufklärung und die Entwicklung einer vernunftverantwortlichen Bibelwissenschaft war eben kein Methodenproblem im neutralen Sinne, sondern eine religiöse Kontamination. … Die neue Situation, die durch eine solche Anwendung von Kritik entstand, muss eindeutig als ein Bruch mit der vorangehenden christlichen Geschichte bezeichnet werden.“ (S. 236/237)

Das Bibelverständnis muss aus der Bibel kommen!

Angesichts dieser grundsätzlichen Dramatik stellt sich nun umso drängender die Frage: Wie begegnet Gerhard Maier nun der HKM? Im ganzen Buch findet sich dazu immer das gleiche Prinzip: Maier setzt den Sichtweisen der HKM nicht einfach seinen eigenen Ansatz gegenüber. Zwar ist er sich zwar bewusst, dass „eine voraussetzungslose Auslegung ein Phantom, eine Selbsttäuschung darstellt. Doch gerade unsere Voraussetzungen will die Bibel in Frage stellen, korrigieren und teilweise zerstören.“ (S. 15) Prof. Maier betont also: Wir können unsere Denkvoraussetzungen beim Auslegen der Bibel nicht beliebig wählen. Die Bibel hat eine Meinung dazu, wie sie korrekt gelesen und ausgelegt werden will! Deshalb befragt Maier immer wieder den biblischen Text, den er durchweg als „Offenbarung“ bezeichnet. Er will sich sein Schriftverständnis von der Bibel selbst vorgeben lassen, denn: „Wahrscheinlich ist die wichtigste hermeneutische Entscheidung diejenige, ob wir den Ausgangspunkt bei der Offenbarung selbst oder beim Menschen nehmen.“ (S. 19) Er wendet damit vorbildlich das reformatorische Prinzip an, dass die Schrift sich selbst auslegen muss. Im Zentrum steht für Prof. Maier deshalb die Frage:

Welches Bibelverständnis gibt uns die Bibel vor?

Maier stellt zum einen fest, dass die Bibel die menschliche Vernunft als oberste Autoritätsinstanz für vollkommen ungeeignet hält: „Die Offenbarung kennt den „autonomen“ Menschen nur als den „verlorenen“ Menschen. … Seine Autonomie war von Anfang an eine Utopie und ein Weg in die Sklaverei, ja zum Rande des Untergangs.“ (S. 242/243)

Das biblische Bibelverständnis stellt sich für Maier nach ausführlicher Analyse der biblischen Aussagen wie folgt dar: „Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität. An dieses Wort hat sich Gott gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Er wird dieses Wort bis ins letzte hinein wahr machen und erfüllen. Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ (S. 151)

Wichtig ist Prof. Maier dabei der Begriff der „Inspiration“. Nicht nur die biblischen Autoren waren von Gottes Geist inspiriert („Personalinspiration“), nein: Der Text selbst ist von Gottes Geist inspiriert („Verbalinspiration“), und zwar der vollständige Bibeltext aller kanonischer Bücher im endgültig vorliegenden Urtext („Ganzinspiration“). Genau das nimmt laut Maier auch der biblische Text für sich selbst in Anspruch: „Die weitaus meisten Schriften des Neuen Testaments sind nach der Selbstaussage des NT inspiriert … oder lassen den indirekten Anspruch erkennen, inspirierte Schrift zu sein. … Wenn später die Kirche … die Inspiration aller neutestamentlichen Schriften anerkannte, dann stand sie auf einem guten historischen Boden und darüber hinaus im Einklang mit der Offenbarung selbst.“ (S. 88)

Darüber hinaus beansprucht der Bibeltext noch folgende Eigenschaften für sich: „Die Offenbarung schreibt dem Worte Gottes vor allem vier Eigenschaften zu: Erstens: Es ist verlässlich. … Zweitens: Es ist wirksam. … Drittens: Es zeigt den Willen Gottes auf und damit den Weg zum Heil. … Viertens: Es ist verbindlich. … Man kann also beobachten, dass Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ in der Bibel nicht gebraucht werden. Aber noch weniger spricht die Bibel von „Fehlern“ oder dergleichen.“ Ein bibelnaher Begriff für den Selbstanspruch der Bibel ist aus der Sicht von Maier: „Vollkommene Verlässlichkeit.“ (S. 122). Dazu erläutert er: „Das zur Schrift gewordene Wort Gottes ist vollkommen verlässlich und fehlerlos im Sinne seiner göttlichen Zwecke, also von Gott her betrachtet.“ (S. 125)

Mit Jesus die Bibel kritisieren? Die Einheit und Klarheit der Schrift

Aus der Urheberschaft Gottes folgt für Maier auch die Einheit der Schrift: „Die Einheit der Schrift wird am stärksten begründet durch den einen Urheber, den sie hat, Gott. … In der Tat ist die Behauptung einer Widersprüchlichkeit davon abhängig, dass man die menschlichen Glaubenszeugen zu den maßgeblichen Autoren der Schrift ernennt und den göttlichen Autor verdrängt.“ (S. 164) „Erst seit der Aufklärung ging die Überzeugung von der Einheit der Schrift in weiten christlichen Kreisen verloren.“ (S. 160) Das ist dramatisch, denn: „Wo man die Einheit der Schrift verliert, verliert man auch das Mittel, gegen die Häresie zu kämpfen. … Bezeichnenderweise gab es seit der Aufklärung zwar noch eine Kirchenzucht, aber im Grunde keine Lehrzucht mehr. … Damit wird jedoch das NT auf den Kopf gestellt.“ (S. 165)

Aber widerspricht sich die Bibel nicht selbst? Können bzw. müssen wir nicht mit Jesus andere Teile der Bibel kritisieren? Diesen Ansatz verwirft Maier aufs Schärfste: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz. … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm „Kritik“ am AT finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ (S. 149) „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der „Sachkritik“ impliziert), gibt es nirgends.“ (S. 265)

Kritisch sieht Maier deshalb auch den Versuch, eine „Mitte der Schrift“ zu konstruieren: „Die „Mitte der Schrift“ wurde praktisch zum Ersatz für die verlorengegangene „Einheit der Schrift“. … Wird aus der Christusmitte ein Christusprinzip, dann wird die Schrift entleert und ihrer Fülle beraubt. … Es kann sich nur um eine personale Mitte handeln. … Jeder Versuch, diese Mitte als ein isolierbares Etwas herauszulösen oder in Form eines Lehrgesetzes zu formulieren, zersprengt die Kontinuität der heilsgeschichtlichen Offenbarung.“ (S. 174-176).

Dazu verteidigt Maier die „Klarheit der Schrift“: „Die Autorität der Schrift kann sich praktisch nur durchsetzen, wenn jeder schlichte Christ in der Lage ist, einen klaren Begriff vom Inhalt der Schrift zu gewinnen. … Jesus konnte die wiederholte Frage: „Habt ihr nicht gelesen?“ nur stellen, wenn er von der Klarheit der Heiligen Schrift überzeugt war. … Die schriftgewordene Offenbarung behauptet, für jedermann zugänglich und eindeutig genug zu sein.“ (S. 155/156)

Konsequenzen der HKM: Ethisierung, Subjektivierung, Individualisierung, Erfahrungstheologie

Gerhard Maier ist als ehemaliger Landesbischof nicht nur Theologe sondern auch Gemeindepraktiker. Vor diesem Hintergrund sollte man umso aufmerksamer hinhören, wenn er die negativen Folgen der historisch kritischen Methode wie folgt beschreibt: „Der Inhalt, von dem die Neologie (d.h. die aus der Aufklärung resultierende Lehre) den Offenbarungsbegriff entleert, ist der historische; der Inhalt, den sie neu einfüllt, ein rationaler. Sobald aber die Geschichte durch das Rationale ersetzt wird, wird die Bibel zum Lehrgesetz. Deshalb ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass in der Aufklärung die sittliche Vernunft zum dogmatischen Kriterium wird, … und eine „Ethisierung des Christentums“ eintritt.“ (S. 170) Außerdem wächst für Maier „den subjektiven Faktoren eine beherrschende Rolle zu.“ (S. 9)  Und: „Mit dem Vernunftglauben ist der Individualismus einer der stärksten Motive der historischen Kritik.“ (S. 240) „Wir entdecken, dass die Trennung von Schrift und Offenbarung … einen ganz andersartigen Raum schaffen kann: dem Empfinden … Wie will die gemäßigte Kritik, gefangen im Zwei-Instanzen- und im Widersprüchlichkeits-Denken, den Umschlag in eine solche Erfahrungstheologie verhindern?“ (S. 331)

Ist „gemäßigte Kritik“ die Lösung?

Mit „gemäßigter Kritik“ meint Maier den theologischen Versuch, die historisch-kritische Herangehensweise mit konservativen theologischen Positionen zu verbinden. Diesem Versuch erteilt Maier eine Absage, denn: „Sie begnügt sich als Vermittlungstheologie … wo ein grundsätzlicher Neuanfang erforderlich wäre. Statt die Schrift als inspiriert zu betrachten lässt sie nur eine Inspiration der biblischen Schriftsteller gelten. Sie bleibt darin der Aufklärung verhaftet, dass sie neben die Schrift eine zweite Instanz stellen muss, vor der sich der Ausleger zu verantworten hat. Sie kann infolgedessen die reformatorische Sicht von der Bibel als der einzigen norma normans nicht durchhalten. Sie fordert die Sachkritik an der Bibel. Ohne Sachkritik gibt es für sie keine Theologie als Wissenschaft. Die Einheit der Schrift wird von ihr preisgegeben. Schrift und Offenbarung bleiben bei ihr verschiedene, sich nur teilweise deckende Größen. Deshalb folgt sie dem Trend, das Eigentliche jenseits der Schrift zu suchen. Indem sie Schrift und Offenbarung voneinander trennt und nur bestimmte Aussagedimensionen als Gottes Wort anerkennt, fördert sie den Hang zur Erfahrungstheologie.“ (S. 331)

Vertrauen und Offenheit statt „wissenschaftlicher Zweifel“

Grundsätzlich notwendig ist für Maier eine klare Absage an das Prinzip des „wissenschaftlichen Zweifels“, denn: „Eine Begegnung mit der Offenbarung, die Skepsis und Zweifel zum Prinzip macht, bedeutet ein brüskes Nein zu ihrer Vertrauensbemühung. Man kann den Ausleger psychologisch und existenziell in keine schroffere Gegenposition versetzen, als indem man ihm den Zweifel vorschreibt.“ (S. 247). Stattdessen fordert er einen theologischen Wissenschaftlichkeitsbegriff, der dem Forschungsgegenstand gerecht wird: „Ein prinzipieller Zweifel ist … das unangemessenste Verfahren für den Umgang mit der Bibel.“ (S. 14) „Jede Wissenschaft richtet sich nach ihrem Gegenstand. Biblische Wissenschaft müsste sich demnach aus dem Reden Gottes aufbauen. Sie müsste bereit sein, sich ihre Erkenntnisse und Positionen aus der Offenbarung selbst geben zu lassen.“ (S. 268) „Unter dieser Voraussetzung ist die Theologie samt ihrer Hermeneutik eine Wissenschaft. Allerdings eine Wissenschaft sui generis (eigener Art), die sich von allen anderen durch ihre Offenbarungsgebundenheit und ihren Glaubensbezug unterscheidet.“ (S. 34)

Entsprechend charakterisiert Maier die angemessene Haltung des Auslegers gegenüber dem biblischen Text wie folgt: „Nirgends ist uns die Unfehlbarkeit des Verständnisses versprochen (vgl. 1 Kor 13,9). Doch wird den Ausleger … ein Urvertrauen zur Bibel als der schriftgewordenen Offenbarung begleiten. … Dieses Urvertrauen schlägt sich nieder in dem Vertrauensvorschuss, der der Bibel gewährt wird.“ (S. 49) „Seine Grundhaltung ist das erwartungsvolle Gebet und die demütige Offenheit.“ (S. 339)

Ich kann meiner Kirche mit ihren theologischen Fakultäten nur von Herzen wünschen, dass sie auf Prof. Maier hört. Längst ist sein Ruf zur Umkehr auch in den Freikirchen und in der evangelikalen Bewegung insgesamt dringend notwendig, denn die Trennung zwischen Schrift und Offenbarung ist auch dort weit verbreitet.


Das Buch ist 1990 im SCM R.Brockhaus-Verlag erschienen (zuletzt 2017 in der 13. Auflage) und kann hier bestellt werden.

Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?

Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen. Eine Analyse der Worthaus-Vorträge zeigt: Die evangelikale Bewegung steht vor einer grundlegenden Entscheidung, wenn sie nicht in den Abwärtsstrudel der liberal geprägten Kirchen mit hineingezogen werden möchte.

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Warum dieser Artikel?

Ich mag es nicht, wenn selbsternannte „Irrlehrenjäger“ in jeder christlichen Initiative die Haare in der Suppe suchen. Niemand ist fehlerlos. Wir leben alle aus Gottes unverdienter Gnade. Wir sollten unser Hauptaugenmerk auf das Original richten und nicht auf Fälschungen. Seit ich eine Zeit lang unter einigen gesetzlich-tradi­tionellen Christen ziemlich zu leiden hatte, ist mir Weite und Liebe zur Vielfalt wichtig geworden. Ich gehöre zur Leitung einer evangelisch-landeskirchlichen Gemeinde, in der wir sehr verschieden geprägt sind. Aber gemeinsam teilen wir die Liebe zu Jesus und das Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Bibel. Auf diesem gemeinsamen Fundament können wir Differenzen in einzelnen Lehrinhalten und im Frömmigkeitsstil fröhlich aushalten und gemeinsam erfolgreich Gemeinde bauen.

Aber was mir wirklich das Herz bricht ist, dass ich sonst in meiner Landeskirche so viel trostlosen Zerfall sehen muss. Mit Schmerzen höre ich, wie der theologische Pluralismus so oft genau das Fundament der Einheit zerstört, das meiner Gemeinde so viel Segen bringt. Christen wandern ab, weil sie bei Pfarrern keine verständliche und keine tröstliche Botschaft mehr hören und weil sie ihrer Kirchenleitung nicht mehr vertrauen, die sich scheinbar mehr um Politik als um das Evangelium kümmert. Nicht einmal mehr in den allerzentralsten Glaubensfragen gibt es Einheit. Selbst der Jubel über die Auferstehung Jesu ist keine selbstverständliche gemeinsame Grundlage mehr. Kein Wunder, dass es überall Spaltungstendenzen gibt und Gemeinden eingehen, weil man nicht mehr gemeinsam an einem Strang ziehen kann.

Angesichts dieser Not macht es mich traurig, wenn ich sehe, dass offenbar auch immer mehr evangelikale Hoffnungsprojekte in ein Fahrwasser hineingeraten, das nach meiner Überzeugung zwangsläufig schrittweise ihre Ausstrahlung und Einheit untergraben wird. Genau deshalb müssen wir über Worthaus reden. Dringend.

Worthaus – Was ist das?

Worthaus ist eine frei zugängliche, sich ständig erweiternde Mediathek mit theologischen Vorträgen. Im Juni 2019 waren bereits 128 Vorträge von 19 verschiedenen Theologinnen und Theologen abrufbar. Etwa zwei Drittel der Vorträge werden vom emeritierten Professor für evangelische Theologie Siegfried Zimmer gehalten, der in Württemberg bereits durch die GospelHaus– und Nachteulengottesdienste bekannt geworden war.

Fast alle Referenten bei Worthaus kommen aus der universitären evangelischen oder katholischen Theologie. Eine Ausnahme ist der zweithäufigste Worthaus-Sprecher Prof. Thorsten Dietz. Er lehrt an der evangelischen Hochschule Tabor, die sich dem Pietismus verpflichtet fühlt, zum Gnadauer Gemeinschaftsverband gehört und sich bis zum Jahr 2018 noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten zählte. Dietz wirbt leidenschaftlich für Worthaus: „Es ist ja nicht nur himmlische Fügung, dass Menschen durch Träume und ähnliches zu Worthaus finden – daher liken, posten, teilen.”

Worthaus-Referenten sind auch auf evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. dem „Freak­stock“ anzutreffen. Schon die Gründung von Worthaus ist auf Vorträge von Prof. Zimmer auf dem evangelikalen Spring-Ferienfestival zurückzuführen. Prof. Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Sein Eindruck ist: „Die Pastorenfortbildung läuft eigentlich über Worthaus.“ 1 Worthaus ist also auch unter Evangelikalen angekommen – obwohl Prof. Zimmer selbst ausdrücklich warnt: „Auf keinen Fall evangelikal“ 2. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Gibt es eine “Worthaus-Theologie”?

Eine einheitliche Worthaus-Theo­logie gibt es nicht. Die verschiedenen Referenten sind unterschiedlich geprägt. Allerdings fällt das erst auf den zweiten Blick auf. Denn Debatten um Meinungsverschiedenheiten gibt es bei Worthaus ebenfalls nicht. Alle Vorträge werden in der Mediathek gleichermaßen beworben. Da Siegfried Zimmer die große Mehrheit der Vorträge hält, prägt er das Portal natürlich auch insgesamt. Allen Vorträgen gemeinsam ist zudem die insgesamt positive Grundeinstellung zu universitärer Theologie. Gerade bei Siegfried Zimmer steht diese Wertschätzung in scharfem Kontrast zur immer wieder formulierten Abwertung konservativer bzw. „fundamentalistischer“ Frömmigkeit.

Gleichwohl wollte Worthaus in einem gewissen Sinn von Beginn an sehr „bibeltreu“ sein. Durch die Berücksichtigung moderner bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse sollte gar ein „unverstellter Blick“ auf die Bibel gewonnen werden. Biblische Textgattungen sollten sauber unterschieden werden. Durch Berücksichtigung des historisch-kulturellen Umfelds sowie der Entstehungsgeschichte der biblischen Texte sollte viel fundierter beleuchtet werden, was die biblischen Texte wirklich sagen wollten (z.B. ob die Geschichten historisch gemeint waren oder nicht).Fernab aller Tradition und ideologischer Annahmen geht es hier um eine bewusste Reflexion von Glaubens­sätzen und Auseinandersetzung mit der Bibel im Spiegel der Erkenntnisse der theologischen Forschung“ schrieben die Worthaus-Macher. „Dabei steht bewusst alles zur Disposition. In gewisser Hinsicht beginnt alles von vorn. Es gibt keine Tabus.“ Der Anspruch bei der Worthausgründung war also: Hier wird alles vorurteilsfrei in Frage gestellt, um zu fundierten Überzeugungen zu gelangen. Statt die Bibel durch vorurteilsbeladene Brillen zu lesen soll ein ungetrübter, wissenschaftlich fundierter Blick auf die biblischen Texte gefördert werden.

Eine möglichst objektive Klärung der ursprünglichen Aussageabsicht der biblischen Texte ist natürlich auch für konservative Zuhörer interessant, die ja zuallermeist längst nicht so wissenschaftsfeindlich sind, wie oft behauptet wird. Die Frage ist allerdings: Ist theologische Forschung ohne außerwissenschaftliche Vorannahmen überhaupt möglich? Und wird in den Worthaus-Vorträgen tatsächlich so vorurteilsfrei gearbeitet?

Denkvoraussetzungen bei Worthaus

In den ersten Jahren hatte Worthaus auf seiner Webseite 5 Thesen veröffentlicht, aus denen sich einige grundlegende Denkvoraussetzungen ableiten ließen:

Die Bibel ist nicht ohne weiteres verständlich

Da der Blick auf die Bibel „oftmals durch Glaubenssätze, Ideologien, falsche Annahmen und Unkenntnis der biblischen Entstehungsgeschichte verstellt“ sei (These 2) ist es „nicht selbstverständlich, die Botschaften der Bibel richtig zu verstehen.“ (These 3) „Denn bei genauerer Betrachtung sind die meisten Dinge, mit denen wir es zu tun haben, eben nicht einfach, sondern ziemlich komplex. Und das gilt auch ganz besonders für die biblischen Texte und den christlichen Glauben. Wer das bestreitet, ist bei Worthaus falsch.“ Deshalb werden in vielen Worthaus-Vorträgen die Erkenntnisse aus der modernen Bibelwissenschaft als grundlegend angesehen, um die Bibel richtig interpretieren zu können. Tatsächlich habe praktisch die gesamte Kirche viele Bibeltexte 1800 Jahre lang falsch interpretiert und „Millionen von Christen“ tun es bis heute, sofern sie keinen Kontakt zur universitären Theologie haben.3

Die Bibel ist fehlerhaft und widersprüchlich

Die historisch-kritische Praxis an den Universitäten beschränkt sich allerdings nicht auf eine vorurteilsfreie Erforschung der Bibel. Es geht häufig auch um echte Kritik an der Bibel auf der Basis von außerbiblischen Denkvoraussetzungen.4 Entsprechend geht auch in vielen Worthaus-Vorträgen die Bibelkritik sehr viel weiter, als nur die wahre Aussageabsicht der Bibel unter Berücksichtigung der damaligen Zeit und Kultur herauszuarbeiten. Selbst eindeutig historisch gemeinten Texten in den Evangelien (von Lukas als „Augenzeugenberichte“ charakterisiert, Luk. 1, 2) sprechen Worthaus-Referenten die Historizität ab,5 was neben den Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Bibel natürlich auch gravierende theologische Konsequenzen hat, da die Geschichtlichkeit oft wesentlicher Bestandteil der theologischen Aussage ist6.

Folgerichtig enthält die Bibel aus Sicht einiger Worthausreferenten natürlich auch theologische Fehler und Widersprüche. So äußert Dr. Breuer: Paulus habe viel Kluges, aber auch Unkluges geschrieben. Manche seiner Argumente seien gar „einigermaßen hanebüchen“, weshalb man allein mit Bibelstellen auch keinen theologischen Standpunkt begründen könne7. Auch für Prof. Zimmer enthält die Bibel „hunderte von Fehlern“ 8. Insbesondere müsse man die Bibel überall da ablehnen, wo sie der Lehre Jesu widerspricht: „Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“ 9 Entsprechend formuliert die Worthaus-These 4: „Ein geschlossenes Weltbild auf der Grundlage der Bibel ist nicht machbar.“

Aber ist Jesus Christus in den Worthaus-Vorträgen tatsächlich der ver­lässliche Wahrheitsanker, der uns helfen kann, die Bibel richtig zu deuten und ggf. auch zu kritisieren?

Jesus verschwimmt im historischen Nebel

In einem seiner Vorträge trennt Prof. Stefan Schreiber klar zwischen dem Jesus der Evangelien und dem „historischen Jesus“. Welche der biblischen Jesus-Zitate wirklich von Jesus stammen und welche ihm später in den Mund gelegt wurden, muss individuell geprüft werden.10 Dr. Breuer räumt diesbezüglich ein, dass es kein einziges Zitat von Jesus gibt, dessen historische Echtheit nicht schon von Theologen bezweifelt worden wäre.11 Ob Jesus sich selbst als Messias sah ist für Prof. Schreiber völlig unklar.10 Wer Jesus war, wie er sich selbst sah und was er tatsächlich gelehrt hat, verschwimmt hier also im historischen Nebel. Somit kann auch die Person Jesus Christus kein eindeutiges Unterscheidungskriterium für richtig und falsch in der Bibel mehr sein. Viele Aussagen in Worthaus-Vorträgen belegen, dass damit der theologischen Willkür letztlich Tür und Tor geöffnet wird:

Worthaus geht „ans Eingemachte“

Leider kommt bei Worthaus kaum zur Sprache, dass in der universitären Bibelwissenschaft letztlich sämtliche Kernsätze des apostolischen Glaubensbekenntnisses in Frage gestellt wurden und werden.12 Auch in Worthaus-Vorträgen werden zahlreiche Kernsätze des Glaubens abgeräumt, die in der weltweiten und historischen Kirche fast durchgängig als klare, eindeutige Aussagen der Schrift verstanden wurden und werden:

  • Jesu Tod am Kreuz sei eindeutig kein stellvertretendes Sühneopfer für die Schuld der Menschheit gewesen. Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ transportiere eine irrige Passionsfrömmigkeit.13 Im Abendmahl feiern wir im Kern die „Kontaktfreudigkeit“ und „Zuwendungslust“ Jesu.14
  • Eine Kamera habe am österlichen Grab nichts filmen können. Himmelfahrt und Pfingsten seien keine historischen Ereignisse gewesen.5
  • Das Heil sei nicht exklusiv nur in Jesus Christus zu finden.15, 23
  • Der Tod sei nicht nur eine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes guter Schöpfung.16
  • Der Himmel sei kein fassbarer Ort. Man könne dort keine Bekannten wieder treffen. Erst recht gäbe es keine wie auch immer geartete Hölle.17 Der Glaube an eine ewige Verdammnis zeuge von einem „eiskalten Glauben“ und primitiver Moral.18
  • Der Teufel sei (sehr wahrscheinlich) keine Person. Wer in der Schlange im Schöpfungsbericht den Teufel erkennt sei „balla balla“.19

Schon aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich: Bei Worthaus wird dem theologischen Pluralismus der modernen Bibelkritik keine wirksame Grenze gesetzt. Vielmehr zeigt sich auch hier, wie die praktisch gelebte moderne Bibelkritik die Tür zu einem unklaren und letztlich anderen Evangelium öffnet.

Umdeutung von Begriffen

Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick überraschend, wenn Prof. Zimmer immer wieder betont, dass für ihn selbstverständlich die ganze Bibel durch und durch wahres Wort Gottes sei und dass sie trotz aller Fehler und Widersprüche in den wesentlichen Aussagen so klar sei, dass sich alle Christen in den heilsentscheidenden Punkten einig seien.8 Dieses Versprechen kann aber – wenn überhaupt – nur durch eine Umdeutung von Begriffen eingehalten werden:

  • Unter der Einheit der Schrift versteht Prof. Zimmer nicht eine theologische Einheit (in der sich die Aussagen letztlich zu einem großen Ganzen ergänzen), sondern eine „dialogische Einheit“, in der auch zahlreiche theologische Widersprüche ihren Platz hätten.20
  • Unter der Wahrheit der Bibel verstehen einige Worthaus-Referenten nicht etwa Fehlerlosigkeit21. Die Bibel sei vielmehr insofern wahr, dass sie von Jesus Christus zeugt. Und für die Bibel selbst sei ja Jesus Christus die Wahrheit, nicht die Bibel.22

Darüber hinaus gibt es viele Beispiele von Begriffsumdeutungen, die einige theologische Aussagen zwar traditionell klingen lassen aber trotzdem gänzlich abweichen von den traditionellen Sichtweisen und Auslegungsprinzipien evangelikaler Theologie.23

Abkehr vom reformatorischen Erbe

Prof. Wilfried Härle bezeichnet sich selbst als Luther-Fan. Prof. Zimmer sagt, er sei ein „Schüler Luthers“. Entsprechend beruft er sich immer wieder auf den Reformator24. In der Tat hat auch Luther die Bibel kritisiert, wo sie seiner Ansicht nach nicht das lehrt, „was Christum treibet“. Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied: Wenn ein biblisches Buch Luthers Ansicht nach nicht zur Botschaft Jesu Christi gepasst hat, dann hat Luther angezweifelt, ob es zum biblischen Kanon gehört. Aber kanonische Bücher hatten für die Reformatoren selbstverständlich absolute und irrtumsfreie Autorität.25 Sie waren für ihn in ihrer Aussage so klar, dass auch Laien sie verstehen konnten. Und sie waren so wahr, dass sie nur durch weitere Bibeltexte und nicht durch außerbiblische menschliche Maßstäbe ausgelegt und interpretiert werden durften. Prof. Armin Baum bemerkt daher zurecht: „Für das von ihm vertretene Modell sollte sich ZIMMER nicht auf LUTHER berufen. […] Der von ZIMMER befürwortete Ansatz, dass auch kanonische Schriften theologische Fehler aufweisen und fehlerhafte Aussagen sogar als „Gottes Wort“ zu gelten haben, ist meines Erachtens nicht reformatorisch.“ 26

Mit der Übersetzung der Bibel in die Alltagssprache hatte Luther die Bibel in die Hand der einfachen Menschen gelegt. Damit hat er eine weitreichende geistliche Erneuerungsbewegung ausgelöst und letztlich die Grundlage für die heutige Denk- und Religionsfreiheit geschaffen. Beim Hören der Worthausvorträge entsteht hingegen immer wieder das Bild: Laien, die nicht eingeweiht sind in moderne Theologie, Archäologie, historische Wissenschaften und antike Sprachen, können sich selbst eigentlich gar kein abschließendes Bild von den Aussagen der Bibel machen. Schließlich habe sich ja sogar die ganze Kirche in vielen Punkten 1800 Jahre lang geirrt!3 Von einer für jeden Laien verständlichen Klarheit der Schrift, die Luther so wichtig war, kann von daher kaum noch die Rede sein, wie sich auch in den Worthaus-Thesen 2-5 zeigt. Die Gefahr dabei ist, dass den theologisch nicht Gebildeten die Bibel aus der Hand genommen, der Zugang zur Bedeutung biblischer Aussagen versperrt und damit eine der zentralsten Errungenschaften der Reformation verspielt wird.27

Konservative Klischees und Pappkameraden

Prof. Zimmer will ein Brückenbauer sein. Er will auch Konservative mit der Bibelwissenschaft versöhnen. Seine Darstellung konservativer Christen ist in den Worthaus-Vorträgen jedoch meist klischeehaft und undifferenziert. Ein Hauptvorwurf ist die angebliche vollständige Ablehnung sämtlicher bibelwissenschaftlichen Methoden und eine „Vergöttlichung“ der Bibel, die die Vorrangstellung der Person Jesus Christus gegenüber der Bibel ablehnt. Die „Fundamentalisten“ in den konservativen Kreisen hätten letztlich ein islamisches Schriftverständnis und würden an eine „Vierfaltigkeit“ glauben: Vater, Sohn, Heiliger Geist und Bibel.8

Mit diesem Vorwurf stellt sich Prof. Zimmer in eine alte Tradition. Schon C.H. Spurgeon schrieb 1891 in seinem Kampf gegen das Vordringen liberaler Bibelkritik: „Wer an der Unfehlbarkeit der Schrift festhält, den bezichtigen sie der ‚Bibliolatrie‘ (= Vergötterung der Bibel).“ 28 Prof. Armin Baum kommentiert diesen Vorwurf wie folgt: „Um im evangelikalen Lager Theologen ausfindig zu machen, die die moderne Bibelwissenschaft ablehnen und den Vorrang Jesu vor der Bibel bestreiten, muss man sicherlich sehr lange suchen. Dass man dabei fündig wird, halte ich nicht für ganz ausgeschlossen. Evangelikale Theologen, die im von Zimmer definierten Sinne fundamentalistisch denken, sind jedoch eine ausgesprochen rare Spezies.“ 29

Anders gesagt: Hier werden „fundamentalistische Pappkameraden“ produziert, die mit der Realität wenig zu tun haben, auf die dann aber umso heftiger eingedroschen wird, wie Michael Kotsch in seinem Kommentar zu Zimmers Vortrag „Die schwule Frage“ schreibt: „In etwa einem Viertel seines Vortrags bringt Zimmer seinen – man kann es leider nicht anders nennen – Hass auf konservative Christen zum Ausdruck. […] Siegfried Zimmer bezeichnet konservative Christen als „dümmlich“, „engstirnig“, „tragisch“, „bibelverkorkst“ und „rechthaberisch“. Sie […] haben kein Interesse, sich zu informieren […] bei ihnen wird die Bibel „dumm zitiert“. Sie „liegen fürchterlich daneben“ in ihrem Umgang mit der Bibel, weil sie „nicht einmal das ABC historischer Hintergrundkenntnis“ mitbringen. Mit ihrer Theologie betrieben sie „schwerste Bibelmanipulation“. […] Bei den konservativen Christen wird die Bibel „missbraucht“ und „instrumentalisiert“. Sie „haben die Bibel in ihrem Schwitzkasten“ und „bauen eine eigene Ideologie auf“, behauptet Zimmer. Aber nicht genug! Konservative Christen gehen mit der Bibel um „wie die islamischen Salafisten“ mit dem Koran. Sie gehören „in Nachbarschaft zu Zeugen Jehovas und Mormonen“. Diese Evangelikalen seien generell „unseriös“, „fehlgeleitete Leute“, die nicht so genau hinschauen.“ 30 Solche grob beleidigenden Aussagen finden sich leider in einer Reihe von Worthaus-Vorträgen.

Kann man mit Jesus die Bibel kritisieren?

Dieser Artikel bietet nicht den Raum, das Bibelverständnis der Worthaus-Referenten differenziert und fundiert zu analysieren und zu beantworten. Dazu gibt es gute Literatur31. Nur ein zentraler Punkt sei hier kurz genannt: Wenn Prof. Zimmer empfiehlt, mit Jesus die Bibel zu kritisieren, stellt sich natürlich die Frage: Wie ist denn Jesus selbst mit dem Alten Testament umgegangen? War Jesus denn tatsächlich bibelkritisch? Dazu schreibt der Theologe Ron Kubsch: „Zimmer bietet keine überzeugenden Belege dafür, dass Jesus die alttestamentlichen Schriften zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat. Jesus ist nicht gekommen, um „das Gesetz oder die Propheten“ zu kritisieren oder „aufzulösen“, „sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Für Jesus verfällt nicht „ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen“ vom Gesetz, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18). Jesus unterscheidet eindeutig zwischen menschlicher Überlieferung und dem Wort Gottes, das Mose im Auftrag seines Herrn gesprochen hatte (vgl. Mt. 7,10-13). John Wenham kommt in seiner umfangreichen Untersuchung ‘Jesus und die Bibel‘ zu dem Ergebnis, dass für Jesus Christus die Schriften des Alten Testaments wahr, autoritativ und inspiriert sind und dasjenige, was in ihnen geschrieben steht, Gottes Wort ist.“ 32 Auch Prof. Gerhard Maier betont in seinem Standardwerk Biblische Hermeneutik: „Jesu Praxis und Lehre erlaubt es uns nicht, die Schrift und Christus als einen Gegensatz aufzufassen.“ Der Ansatz von Siegfried Zimmer, die Lehre Jesu für Sachkritik an der Bibel zu verwenden, widerspricht somit fundamental dem reformatorischen Prinzip, dass die Bibel sich selbst auslegt („Sacra scriptura sui ipsius interpres“).

Worthaus lohnt sich – wenn es kritisch genossen wird

Es lohnt sich, sich Worthaus-Vorträge anzusehen! Die überwiegend kurzweiligen und lebendig vorgetragenen Beiträge sind oft hochinteressant und stellen insgesamt definitiv einen horizonterweiternden Bildungs-Beitrag dar. Nur wer sich mit den theologischen Diskussionen unserer Zeit befasst, kann einen eigenen fundierten Standpunkt entwickeln und vertreten. Einbunkern und Abschotten ist eine Haltung, die bei Worthaus zurecht kritisiert wird. Wichtig ist nur (ganz im Sinne von Prof. Zimmer): Auf keinen Fall einfach nachplappern sondern prüfen und selber denken (siehe dazu im Anhang die interaktive Tabelle mit fundierten Kommentaren zu Worthaus-Vorträgen). Denn man darf nicht verdrängen, dass der Worthaus-Cocktail zwar verführerisch schmeckt, aber für Evangelikale aus 2 Gründen trotzdem vergiftet ist:

Ist Worthaus wissenschaftlich und intellektuell überlegen?

Die interaktive Tabelle zu Worthaus-Vorträgen

In vielen Worthaus-Vorträgen werden die dort gemachten Lehraussagen als wissenschaftlich, vernünftig, objektiv, vorurteilsfrei, reflektiert und differenziert dargestellt. Dagegen werden Konservative/Evang­e­­­lika­le/Fun­da­­­men­talis­ten (diese Be­griffe werden in Worthaus-Vor­trägen oft so gebraucht, als ob sie austauschbar wären) immer wieder als denkfaul, eingebunkert, bildungsfeindlich, dümmlich, durch­einander, subjektiv und auf Vorurteilen und Prägungen basierend dargestellt (siehe auch die 1. Worthaus-These). Diese immer wieder anklingende Geste der intellektuellen Überlegenheit ist deshalb unangemessen, weil natürlich auch die Worthaus-Referenten mit subjektiven Vorverständnissen und Auslegungsschlüsseln arbeiten.4 Statt der Rede vom angeblichen „unverstellten Blick“ wäre es angemessener, stärker auch die eigenen Denkvoraussetzungen und Glaubensentscheidungen offen zu legen. Wo das sachliche Anerkennen unterschiedlicher Herangehensweisen an die Bibel durch das Verächtlichmachen anderer Haltungen und Denkweisen ersetzt wird, da werden die Gräben in der Christenheit vertieft statt überbrückt – eine Gefahr, die übrigens in allen theologischen Lagern anzutreffen ist.33

Worthaus: Ein trojanisches Pferd?

Der populärwissenschaftliche Anstrich lässt die Worthaus-Vorträge attraktiv und zugleich vernünftig und überlegen erscheinen. Sie entlassen den frommen Hörer zudem aus einer Menge von Konflikten in Bezug auf schwierige Bibelstellen oder z.B. bei Themen wie Homosexualität und die Ursprungsfrage (Schöpfung und Sündenfall). Mit dem Versprechen, die heilsentscheidenden Inhalte der Bibel unangetastet zu lassen und fest zur Wahrheit, Klarheit und Einheit der Schrift zu stehen, macht Worthaus sich auch unter Konservativen salonfähig – auch wenn dieses Versprechen immer wieder massiv gebrochen wird. Mit dieser Mixtur hat Worthaus das Zeug zum trojanischen Pferd, das den theologischen Pluralismus mitten in die evangelikale Bewegung tragen kann.

Die evangelikale Bewegung am Scheideweg

Der überbordende theologische Pluralismus der modernen Theologie und die Abkehr von einem textgetreuen Verständnis der Bibel ist ohne Zweifel eine Hauptursache für den Niedergang der von nichtevangelikaler und liberaler Theologie geprägten Kirchen in der ganzen westlichen Welt, weil er unüberbrückbare Gräben aufreißt, die die Gemeinden spalten. Deshalb werden sich freie Ausbildungsstätten wie die evangelische Hochschule Tabor, die sich traditionell zur evangelikalen Bewegung zählt, ebenso wie die evangelikale Bewegung insgesamt entscheiden müssen, wie sie mit Worthaus umgehen wollen. Totschweigen wird nicht gelingen, denn schon jetzt ist Worthaus nicht nur ein Internet-Hit sondern prägt durch seinen wachsenden Einfluss auf die evangelikalen Ausbildungsstätten längst auch die zukünftigen evangelikalen Multiplikatoren und Leiter.

Worthaus kann die evangelikale Bewegung vielleicht ein wenig aus der Schusslinie des Zeitgeistes holen. Aber der Preis ist hoch. Worthaus ist ein Spaltpilz, weil viele der dort vertretenen Thesen mit evangelikaler Theologie und Frömmigkeit grundsätzlich unvereinbar sind. Worthaus wird, wenn es unkritisch aufgenommen wird, der evangelikalen Bewegung die Kraft und die Spitze nehmen, weil es ihre Botschaften verunklart und im Extremfall sogar durchstreicht.

Meine feste Überzeugung ist deshalb: Wenn sich die evangelikale Bewegung den bei Worthaus vertretenen theologischen Stand­punkten weiter öffnet, wird sie letztlich das Schicksal der liberal geprägten Kirchen in der ganzen westlichen Welt teilen: Keine klare Botschaft mehr, keine Einheit mehr – und folglich zunehmend auch keine Mitglieder mehr. Deshalb ist es jetzt unbedingt notwendig und im besten Sinne „not-wendend“, sich von Worthaus einerseits im notwendigen Maße abzugrenzen und gleichzeitig in den Gemeinden die reichhaltigen Schätze aus den kirchlichen Bekenntnissen, den Schriften der Kirchenväter, der Reformatoren und der großen evangelikalen Theologen selbstbewusst und offensiv bekannt zu machen.


Danke für die fachlich kompetente Prüfung des Artikels und alle guten Anregungen, Kommentare und Korrekturen:

  • Ron Kubsch
  • Reinhard Junker
  • Holger Lahayne
  • David Brunner
  • Martin Till

Anmerkungen und Quellen:

1:    In Hossa Talk Nr. 105 „Siggi wehrt sich“, ab 1:34:00

2:   „Auf keinen Fall evangelikal. Der Preis ist leider zu hoch“ sagt Prof. Siegfried Zimmer am Ende seines Vortrags „Aufbruch in eine Erneuerung des christlichen Glaubens“ 1:10:10

3:   So habe die Kirche z.B. 1800 Jahre lang die Gleichnisse Jesu irrtümlich allegorisch gedeutet (und sogar die Evangelienschreiber selbst hätten diesen Fehler gemacht!), und auch heute täten das bedrückenderweise immer noch Millionen von Christen, die keinen Kontakt zur Universitätstheologie haben (Prof. Zimmer in: „Ein Beispiel zur Arbeitsweise der modernen Bibelwissenschaft“ ab 24.12). Auch habe die Kirche bis ins 19. Jahrhundert praktisch durchgängig die falsche Lehre vertreten, dass der Tod nur eine Folge der Sünde und kein Schöpfungswerk Gottes sei (Prof. Zimmer: Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?)

4:    Mit den weit verbreiteten außerwissenschaftlichen Vorannahmen in der universitären Theologie und den resultierenden Konsequenzen befasst sich der Artikel „Stolz und Vorurteil – Wie wissenschaftlich ist die Bibelwissenschaft“ (blog.aigg.de/?p=3940)

5:  So lehrt z.B. Dr. Breuer: Jesu Grab war voll! „Ich bin überzeugt: Wenn man damals eine Videokamera am Grab Jesu installiert hätte, wäre nichts zu sehen gewesen. Nichts!“ Auch bei den Erscheinungen des Auferstandenen hätte eine Videokamera nichts gefilmt. Nur „sehr konservative Christen“ legten Wert auf das leere Grab. Aber eigentlich sei es genau wie die Jungfrauengeburt für den Glauben nicht von Bedeutung. Zwar sei der Tod Jesu ein historisches Ereignis, aber Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten auf keinen Fall. Die Tagesangaben zwischen diesen Ereignissen hätten nur metaphorische Bedeutung. Die Auferstehung war nur eine „Erkenntnis“ der Jünger, dass Jesus im Geist unter ihnen ist. Auch Paulus Begegnung mit dem auferstandenen Jesus sei eine „legendarische Ausschmückung“ von Lukas. In Dr. Thomas Breuer: Worauf gründet sich der Glaube an die Auferweckung Jesu von den Toten?

6:   Dazu schreibt z.B. der Alttestamentler C. John Collins: „Die Theologie kann nicht von der Geschichte getrennt werden, was wir an der Tatsache erkennen können, dass eine dieser ‚theologischen Wahrheiten‘ darin besteht, dass derjenige, der die Welt erschaffen hat, der gute Gott ist, der sich selber Israel offenbart hat, und nicht die launischen Götter anderer Völker – eine historische Behauptung!“ (C. John Collins (2011) Did Adam and Eve really exist? Who they were and why you should care. Wheaton, Illinois, S. 36., zitiert von Reinhard Junker in „Entmythologisierung für Evangelikale: Haben Adam und Eva wirklich nicht gelebt? 2014, S. 9) Siehe dazu auch der Artikel „Streit um das biblische Geschichtsverständnis“ (blog.aigg.de/?p=4414)

7:   Im Vortrag von Dr. Thomas Breuer “Die Bedeutung des Kreuzestodes aus heutiger Perspektive”

8:   In Prof. Zimmer: Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann

9:   Aus Siegfried Zimmer „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ 2012, S. 93

10: Wie schwierig die Definition der Unterscheidungskriterien ist und wie problematisch im Einzelfall die Unterscheidung echter Jesus-Zitate von nachträglichen Deutungen Jesu ist, wird dargelegt im Vortrag von Prof. Stefan Schreiber: „Auf der Suche nach dem historischen Jesus

11: „Wir werden fast keinen Spruch Jesu finden, wo alle Theologen sagen: Das ist tatsächlich ein Originalwort Jesu.“ Dr. Thomas Breuer in: „Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu aus heutiger Perspektive“ 1:09:50

12: Genau dies kritisiert auch Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ (Ichthys 46, 2008, S. 86): „Die Tatsache, dass mit bibelwissenschaftlichen Argumenten nahezu jede Aussage des Apostolischen Glaubensbekenntnisses bestritten worden ist und bestritten wird, kommt praktisch nicht in den Blick.“ Andererseits gibt es unter den Universitätstheologen natürlich auch konservative Vertreter mit evangelikalen hermeneutischen Ansätzen. Es gibt also nicht DIE Universitätstheologie. Festzustellen ist jedoch: Der Graben zwischen evangelikaler und universitärer Theologie ist tief, wie Prof. Christoph Raedel vom Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT) berichtet. Zwischen universitärer und evangelikaler Theologie bestehe eine Art „Ekelschranke“. Auf beiden Seiten gebe es Entfremdungsprozesse und Berührungsängste.“ (zitiert aus idea Spektrum vom 27.09.2017)  

13: „Jesu Tod an sich ist sinnlos. … Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“ Dr. Thomas Breuer in “Die Bedeutung des Kreuzestodes aus heutiger Perspektive” 1.13.10

14: In Prof. Siegfried Zimmer: „Vom Sinn des Abendmahls“

15: Diese Ansicht wird ausführlich erläutert von Prof. Klaus von Stosch in seinem Vortrag: „Viele Religionen – Eine Wahrheit?

16: In Prof. Siegfried Zimmer: Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?

17: In Dr. Thomas Breuer: „Was geschieht nach dem Tod? – Die christliche Erwartung einer Auferweckung der Toten“

18: In Prof. Siegfried Zimmer: „Gottes Liebe und Gottes Gericht: Wie passt das zusammen?

19: In Prof. Siegfried Zimmer: „Gott und das Böse“

20: Dazu schreibt Dr. Armin D. Baum: „Für ZIMMER finden sich in der Bibel neben einer einheitlichen Grundbotschaft auch zahlreiche theologische Widersprüche. Die Einheit der Bibel sei „eine dialogische Einheit […] In dieser von Gott getragenen Gesprächsgemeinschaft haben auch kontroverse Positionen ihren Platz. […] Im Unterschied zu dieser von ZIMMER befürworteten Hermeneutik geht ein evangelikales Schriftverständnis von der Annahme aus, dass die Bibel – bei aller Unterschiedlichkeit der innerbiblischen Gesprächsbeiträge – nicht nur in ihren zentralen Aussagen, sondern insgesamt eine theologische Einheit darstellt und als solche respektiert werden will. Johannes warnt seine Leser ausdrücklich davor, zu „den Worten der Weissagung dieses Buches“ etwas hinzuzufügen oder etwas von ihnen wegzunehmen (Offb. 22, 18-19). Paulus hat für seine apostolische Botschaft einen vergleichbaren Anspruch erhoben (Gal. 1,1.8.11ff.; 1. Kor. 2, 13; 7, 17; 11,2.3.4; 14, 37 f.; 2. Kor. 13, 3; 1. Thess. 2, 13; 2. Thess. 2, 15; 3,6.14).“ In Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 82-83

21: Evangelikale Theologie bekennt sich „zur göttlichen Inspiration der heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ (Theologische Grundlage des Arbeitskreises für evangelikale Theologie) Begriffe wie „Zuverlässigkeit“, „Wahrheit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Irrtumslosigkeit“ werden aber auch unter Evangelikalen immer wieder heiß diskutiert. Differenzierend vermerkt schon die sog. „Chicago-Erklärung“: „Wir verwerfen ferner die Auffassung, dass die Irrtumslosigkeit infrage gestellt werde durch biblische Phänomene wie das Fehlen moderner technischer Präzision, Unregelmäßigkeiten der Grammatik oder der Orthographie, Beschreibung der Natur aus dem Blickwinkel der subjektiven Beobachtung, Berichte über Unwahrheiten, durch den Gebrauch des Stilmittels der Hyperbel oder gerundeter Zahlen, thematischer Anordnung des Stoffes, unterschiedlicher Auswahl des Materials in Parallelberichten oder der Verwendung freier Zitate.“ (Artikel XIII). Heinzpeter Hempelmann vermerkte in der 14. seiner „18 Thesen und 10 Säulen zu einer Hermeneutik der Demut“: „Der Akzent bei der Bestimmung „Unfehlbarkeit“ liegt also nicht in der Behauptung einer in jedem Fall und in jeder Hinsicht notwendig gegebenen sachlichen Richtigkeit.“ Damit wollte er den biblischen Wahrheitsbegriff gegen einen seiner Meinung nach ihr fremden mathematisch-logischen Wahrheitsbegriff abgrenzen. Trotzdem galt auch für ihn (im Gegensatz zu Prof. Zimmer): „Die Bibel ist unfehlbar. Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen. Was dem Anspruch der Erweiterung unserer Erkenntnis dienen soll, würde durch ein solches Procedere gerade um seine erkenntnisproliferative Spitze gebracht und machte eine Auslegung der Heiligen Schrift als solche sinn-, zweck- und ergebnislos.“ (These 15)

22: Diese Position wird z.B. vertreten von Prof. Wilfried Härle in seinem Vortrag „Ist die Bibel Gottes Wort? Bibelauslegung, Bibelkritik und Bibelautorität“ Holger Lahayne schreibt dazu: „Erst ganz am Schluss beantwortet Härle die Frage des Vortrags. „Die Bibel ist durch ihren Inhalt Gottes Wort, indem sie Jesus Christus als das Menschgewordene Wort Gottes bezeugt. Indem sie das tut, wird sie und ist sie Wort Gottes.“ Die Bibel sei also im Kern funktionell Gottes Wort. Die Autorität der Bibel sei darin begründet, dass sie die Kraft hat, Glauben zu wecken und Hoffnung zu geben (ähnlich übrigens auch Christian A. Schwarz in Die dritte Reformation, Teil 2, Kap. 2). All dies erinnert an die Aussagen, die Bullinger im Zweiten Helveticum zur Gemeindepredigt macht, die insofern auch Gottes Wort ist, als sie das Wort Gottes recht auslegt und zum Glauben führt und ihn wachsen lässt. Gott nutzt dieses Instrument, um Glauben zu wecken. An sich sind die Worte menschlicher Prediger aber sicher nicht Gottes Wort. Die Predigt bezieht sich zurück auf das göttliche Wort, das seine Autorität wesensmäßig auch, aber nicht nur von seiner Funktion herleitet. Es stimmt ja beides: Weil die Bibel den Glauben wirkt, hat sie Autorität. Aber andersherum gilt genauso – und davon sagt Härle kein Wort: Weil das Wort an sich Gott zum Autor hat, kann es überhaupt so wirken. Weil Gott sich in seinem Wort durch menschliche Zeugen bezeugt, wirkt das Wort der Bibel.“ (Holger Lahayne in „Ist die Bibel Gottes Wort?“)

23: So schrieb mir z.B. ein Worthaus-Referent auf meine Nachfrage, ob für ihn denn das „Solus Christus“ noch gilt: „Es gilt, wenn ich unter Christus den Logos verstehe. Dieser ist in Jesus da, so dass ich in Jesus in allem mit dem Logos konfrontiert werde. Das bedeutet aber nicht, dass Jesus mit dem Logos identisch ist. Jesus ist ganz und gar der Logos. Aber der Logos ist nicht nur Jesus. Der Logos hat schon zu den Propheten gesprochen, als er noch gar nicht mit Jesus hypostatisch geeint war. Von daher solus Christus: Ja! Aber das impliziert nicht: solus Iesus!“

24: Besonders in „Prof. Siegfried Zimmer: Luthers Verständnis des Wortes“

25: Dazu schreibt Dr. Armin D. Baum: „Während es demnach nach evangelikaler Überzeugung im zwischen Theologen geführten Diskurs zahllose Irrtümer und Fehler, kontroverse Positionen und Widersprüche gibt, stehen die inspirierten Propheten und Apostel des Alten und Neuen Testaments mit ihrem Wahrheits- und Offenbarungsanspruch auf einer höheren Ebene. So besagt es das klassische christliche Schriftverständnis, dass bereits die Kirchenväter und Reformatoren vertreten haben. LUTHER schrieb 1520 in seiner Assertio omnium articulorum: „Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat. Andere aber, wie viel sie auch immer nach Heiligkeit und Gelehrtheit vermögen, lese ich so, dass ich es nicht darum als wahr, glaube, weil sie selbst so denken, sondern nur insofern sie mich durch die kanonischen Schriften oder einen annehmbaren Grund überzeugen konnten“. Aus Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 83

26: Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 83

27: Besonders deutlich wird dieses Problem und die daraus resultierenden weitreichenden Konsequenzen beim Streit um die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, wie der Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ (blog.aigg.de/?p=3887) berichtet.

28: C.H. Spurgeon „Finales Manifesto“ Fontis Verlag 2015, S. 24

29: in Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Fortsetzung eines schwierigen Gesprächs“ S. 6

30: aus Michael Kotsch: „Diffamierung als „bestes“ Argument“

31: Besonders empfohlen seien hier im direkten Zusammenhang mit Worthaus und Prof. Siegfried Zimmer:

32: Ron Kubsch: „Sollte Gott gesagt haben? Was steckt hinter der Bibelkritik?“ S. 22

33: Dazu schreibt Dr. Armin Baum: „Selbstverständlich kann auch ein nicht-evangelikales Schriftverständnis in einem „fundamentalistischen“ Sinne wirksam werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn die Frage der übernatürlichen Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht prinzipiell offen gehalten, sondern von vornherein negativ entschieden wird. Es geschieht, wenn die Wissenschaftlichkeit eines exegetischen Beitrags nicht aufgrund der Methode oder der Argumente, sondern anhand erzielter oder vorausgesetzter Einzelergebnisse beurteilt wird. Es geschieht, wenn versucht wird, bibelwissenschaftliche Beiträge aus anderen theologischen Lagern aufgrund ihrer theologischen Herkunft nicht zur wissenschaftlichen Diskussion zuzulassen. Es geschieht auch dann, wenn althergebrachte Überzeugungen aus Bequemlichkeit nicht mehr zur Diskussion gestellt werden. Derartige Gefahren und Missstände werden gelegentlich auch innerhalb des nichtevangelikalen Lagers selbstkritisch benannt. So diagnostizierte der Neutestamentler Dieter Sänger in Teilbereichen seiner Disziplin „einen gefährlichen Trend, der ein Grundprinzip wissenschaftlicher Arbeit auszuhebeln drohte: die Bereitschaft nämlich, positionelle Differenzen zu respektieren, die Stichhaltigkeit von Argumenten vorbehaltlos zu prüfen und sich gegebenenfalls von ihnen korrigieren zu lassen … die Beharrlichkeit, mit der missliebige Forschungspositionen und hermeneutische Alternativen ignoriert, abgekanzelt oder schlicht für absurd erklärt wurden, um sich ihrer zu entledigen, nährte bei mir den Verdacht, sie sollten von vornherein diskreditiert und so ins theologische Abseits befördert werden“. Auch hier gilt: Vor fundamentalistischen Versuchungen müssen nicht nur evangelikale, sondern Christen und Theologen aller Prägungen auf der Hut sein.“ Aus Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Fortsetzung eines schwierigen Gesprächs“ S. 8

34: Die interaktive Tabelle mit Links zu Worthaus-Vorträgen und Links zu Stellungnahmen, Kommentaren und Diskussionen

Streitpunkt Bibelverständnis: Wie gehen wir richtig mit dem Buch der Bücher um?

Die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Bibel hat quer durch die Kirchengeschichte bis heute unendlich viel Streit und Spaltungen unter Christen produziert. Ist wirklich die ganze Bibel Gotteswort? Falls ja: Müssen wir dann alles wörtlich auf unser Leben anwenden, was in der Bibel steht, selbst wenn es uns fremdartig, unlogisch, falsch oder ungerecht erscheint? Nein, so kann das nicht gemeint sein. Gott hat uns einen Verstand gegeben, um ihn zu benutzen und auch beim Bibellesen nicht auszuschalten. Und ich habe schon zu viele Menschen erlebt, die mit der Bibel „erschlagen“ und verletzt worden sind statt in ihr der Liebe des Vaters zu begegnen.

Müssen wir dann also unterscheiden lernen zwischen menschlichen Irrtümern und Gottes ewigen Wahrheiten in der Bibel? Schließlich waren es ja Menschen, die die Bibel geschrieben haben. Aber wer entscheidet dann, was von Gott ist und was nicht? Auf welcher Grundlage? Nein, das kann auch nicht der richtige Weg sein. Denn dann landen wir in einer Beliebigkeit, in der sich jeder seine Privatwahrheit bastelt und es kein gemeinsames Fundament mehr gibt. Wir sehen am Niedergang unserer Kirche, wohin solch ein kritisches Bibelverständnis führt.

Mein Vorschlag lautet deshalb: Gehen wir mit der Bibel doch einfach so um, wie sie selbst es uns lehrt: Die ganze Bibel ist von Gott inspiriert (2. Tim. 3, 16). Aber unsere Erkenntnis, wie sie auszulegen ist, bleibt Stückwerk (1. Kor. 13, 9+12).

Das schützt sowohl vor dem Hochmut, wir wären gescheiter als die Bibel als auch vor dem Hochmut, wir wüssten besser als alle anderen, wie die Bibel auszulegen ist. Das verleiht uns eine respektvolle Liebe zur Bibel und hält uns gleichzeitig in der Abhängigkeit vom Geist Gottes, der uns allein in die Wahrheit leiten kann (Joh. 16, 13), denn der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig (2. Kor. 3, 6). Das schützt uns vor übereilten Schlüssen und vorschnellem Verurteilen anderer Christen. Das erinnert uns daran: Wir Christen sind nicht im Besitz der Wahrheit. Wir hoffen nur, dass die Wahrheit in Person (nämlich Jesus) immer mehr Besitz von uns ergreift!

Es ist höchste Zeit, dass die Theologie an den Universitäten vollends herunterkommt von ihrem hohen Ross der Vergötterung des menschlichen Verstands und dass sie sich wieder der Bibel unterordnet anstatt menschliche Meinungen zur letzten Instanz der Wahrheit zu machen. Es ist Zeit, der Bibel wieder zuzutrauen, dass sie besser über uns Menschen, Gott und die Welt Bescheid weiß als der Zeitgeist. Und es ist Zeit, dass Theologen und Kirchenfürsten aufhören, ihre speziellen Erkenntnisse zu unumstößlichen Dogmen zu erheben und durch Kirchengesetze Mauern aufzubauen, wo Gott niemals Mauern wollte.

Sola Scriptura – allein die Schrift! Die Schrift ist genug! Zusätzliche Wahrheitsinstanzen braucht kein Mensch. Aber die Bibel brauchen wir alle – mehr denn je! Gesundes Christsein und eine gesunde Kirche lebt von einer tiefen und respektvollen Liebe zur Bibel. Jeder Mensch und jede Generation ist gerufen, sie mit wachem Verstand zu lesen und ihre Schätze neu für sich zu heben. Unter ihr können wir uns alle treffen und uns miteinander auf den Weg machen zur Mitte und zum Autor der Bibel und zum Haupt der Kirche, das uns in die frei machende Wahrheit, zur Liebe des Vaters und zur Fülle des Lebens führt: Jesus!

Bibelpendel