Die Bibel ist nicht irrtumslos…

Die “Irrtumslosigkeit der Schrift” ist hoch umstritten. Das liegt zum Teil auch daran, dass Begriffe wie “Irrtumslosigkeit” oder “Unfehlbarkeit” nicht sauber definiert werden. Dieser Artikel fasst die wesentlichen Aspekte kurz zusammen:

Die Bibel, wie sie uns heute vorliegt, ist nicht irrtumslos…

… in Bezug auf den richtigen Urtext.

Die überlieferten Abschriften der biblischen Texte unterscheiden sich immer wieder in Details, so dass der Urtext nicht in allen Teilen hundertprozentig sicher rekonstruiert werden kann.

… in Bezug auf die Ränder des Kanons.

Bei einigen wenigen Texte der Bibel ist nicht abschließend geklärt, ob sie zu den „kanonischen“ Schriften gehören (das heißt die allgemein als apostolisch oder prophetisch anerkannt werden). Dazu gehört zum Beispiel der „lange Markussschluss“ in Markus 16, 9-20.

… in Bezug auf die richtige Übersetzung.

Aufgrund der großen zeitlichen und kulturellen Distanz zu den biblischen Sprachen, die heute nicht mehr gesprochen werden, ist die Übersetzungsarbeit des Öfteren komplex und lässt immer wieder auch unterschiedliche Optionen zu.

… wenn ihr Wahrheitsmaßstäbe unterstellt werden, die von den Autoren nicht beabsichtigt waren.

Die Bibel kann Stilmittel wie gerundete Zahlen, Bild- und Symbolsprache verwenden. Sie kann die Welt poetisch und aus der Beobachterperspektive heraus beschreiben. Sie kann Zitate als korrekt ansehen, wenn sie zwar inhaltlich stimmen, aber nicht den exakten Wortlaut wiedergeben. Sie kann Stoffe thematisch statt chronologisch ordnen.

Irrtumslos ist vor allem nicht unsere Auslegung der Bibel.

Beim Ringen um die richtige Auslegung gab es quer durch die Kirchengeschichte hindurch immer wieder Meinungsverschiedenheiten – auch unter solchen Theologen, die der Autorität der Bibel vollständig vertrauen.

Aber: Die Bibel ist irrtumslos…

… in Bezug auf die Aussageabsicht der biblischen Autoren in den kanonischen Texten!

Augustinus, Luther und die Unterzeichner der Lausanner Verpflichtung sind sich einig: Die Irrtumslosigkeit der biblischen Autoren ist keine fundamentalistische Randposition, sondern christlicher Mainstream quer durch die Kirchengeschichte hindurch. Sie passt zum durchgängigen Selbstanspruch der Bibel, inspiriertes Wort Gottes zu sein. Gott macht keine Fehler!

Die Unklarheiten in Bezug auf den Urtext sind kaum relevant!

Kein antikes Dokument ist auch nur annähernd so gut überliefert wie das Neue Testament. Die wenigen Unsicherheiten in Bezug auf den Urtext sind heute in vielen Übersetzungen dargestellt. Ein Experte schreibt: “Insgesamt ist die Überlieferung der Bibel sehr gut und sehr treu. In den theologischen Punkten gibt es unter den Abertausenden Handschriften kaum Abweichungen.“

Die Unschärfen an den Kanonrändern fallen kaum ins Gewicht!

Rund 85% des neutestamentlichen Textbestandes waren von Beginn an vollkommen unumstritten. Über die 27 neutestamentlichen Bücher besteht heute weltweiter Konsens. Der Umfang umstrittener Textabschnitte ist also so gering, dass der Umgang mit ihnen praktisch keine theologischen Konsequenzen hat.

Die Verfügbarkeit vieler Übersetzungen garantiert heute mehr denn je, dass wir einen soliden Zugang zur Botschaft der biblischen Autoren haben!

Auch wenn es knifflige Fälle gibt: Durch den leichten Zugang zu verschiedenen professionellen Übersetzungen können wir uns heute mehr denn je ein gutes Bild von den biblischen Aussagen machen – selbst wenn wir weder griechisch noch hebräisch beherrschen.

Die zentralen und heilsrelevanten Aussagen der Bibel sind so klar und deutlich, dass Jeder sie verstehen kann!

Trotz aller Differenzen in Auslegungsfragen zeigt sich weltweit und kulturübergreifend: Wenn Christen der Autorität der Bibel vertrauen, sie möglichst unvoreingenommen lesen und vom Prinzip ausgehen, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, dann kommen sie vor allem bei den zentralen, heilsrelevanten Fragen immer wieder zu vergleichbaren Auslegungsergebnissen. Es gibt also eine „Klarheit der Schrift“. Das heißt: Die Bibel ist in den wichtigen Fragen aus sich selbst heraus ausreichend verständlich und jedermann zugänglich.

Fazit: In welcher Hinsicht ist die Bibel irrtumslos?

Ist die Bibel nun in allen ihren Aussagen irrtumslos? Oder nur in ihren theologischen und heilsrelevanten Aussagen? Ich würde sagen: Die Bibel ist in allen Aussagen irrtumslos, die sie machen möchte! Wenn sie historische oder wissenschaftliche Aussagen machen möchte, dann ist sie auch darin irrtumslos. Wenn sie exakte Daten liefern möchte, dann ist sie irrtumslos exakt. Wenn hingegen ein Bibeltext poetisch gemeint ist oder nur grobe, gerundete Mengengaben machen möchte, dann ist er irrtumslos in seiner poetischen Aussage bzw. in seiner groben, gerundeten Mengenangabe. Die Kunst liegt darin, im einzelnen herauszufinden, was denn die Aussageabsicht der biblischen Autoren war. Lukas macht es uns hier leicht, weil er extra seinen Selbstanspruch betont, historisch exakte Angaben zu machen (Lukas 1,1-4). Bei manchen anderen Texten fällt diese Entscheidung nicht so leicht. Der letzte Maßstab, um die Aussageabsicht herauszufinden, muss immer die Bibel selbst sein. Der gesamtbiblische Kontext ist entscheidend! Wenn ein Bibeltext einem anderen Bibeltext eine realhistorische Aussageabsicht beimisst, dann sollten wir ihn nicht nur symbolisch deuten, sondern vielmehr dabei bleiben, dass die Schrift sich selbst auslegt. Aber trotz dem Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift werden bei der Frage nach der biblischen Aussageabsicht nicht alle Christen bei allen Texten zu gleichen Schlussfolgerungen kommen. Hier können wir auch mal respektvoll streiten und um die Wahrheit ringen. Aber niemals sollten Christen darüber streiten, dass die biblischen Autoren in dem, was sie in ihren kanonischen Texten sagen wollten, absolut verlässliche Autoritäten sind. Luther hat dieses Prinzip so zusammengefasst und sich dabei auf den Kirchenvater Augustinus bezogen:

Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“ (Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520)

Vertiefend zu diesem Thema:

Haben Fundamentalisten die Unfehlbarkeit der Bibel erfunden? – Ein Faktencheck

Es macht mich immer skeptisch, wenn eine theologische Lehre den Anspruch erhebt, neu und innovativ zu sein. Ich glaube, dass die biblische Offenbarung abgeschlossen ist. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass der Heilige Geist uns nach 2000 Jahren immer noch völlig neue Auslegungen offenbart. Ich halte es deshalb lieber mit C.H. Spurgeon, wenn er schreibt: „Es gibt nichts Neues in der Theologie außer dem, was falsch ist.“

Neuerdings werden aber Stimmen lauter, die genau diesen Vorwurf gegenüber theologisch konservativen Christen erheben. Konkret wird behauptet: Die Lehre von der Fehlerlosigkeit der Schrift sei eine moderne Erfindung von protestantischen Fundamentalisten aus dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert. So berichtet der US-amerikanische Kirchenhistoriker Prof. John Woodbridge in seiner Analyse zu der Frage, ob Fundamentalisten die Irrtumslosigkeit erfunden haben:

„Noch in den 1970er Jahren gingen die meisten Evangelikalen davon aus, dass die biblische Irrtumslosigkeit zu ihren nicht verhandelbaren Grundüberzeugungen gehört.“ Doch eine „neue Darstellung der historischen Entwicklung schlug vor, dass die biblische Irrtumslosigkeit angeblich weder eine evangelikale Lehre noch eine zentrale Lehre der westlichen christlichen Kirchen sei. Vielmehr handele es sich um eine typisch fundamentalistische Überzeugung, die ihren Ursprung im späten neunzehnten Jahrhundert habe. …  Die neue historische Darstellung, dass die biblische Irrtumslosigkeit eine fundamentalistische Lehre ist, hat das Denken einer Reihe angesehener protestantischer und römisch-katholischer Theologen und Kirchenhistoriker geprägt.“

Tatsächlich äußerte Prof. Thorsten Dietz in einem IDEA-Interview (Ausgabe 21.2022):

„Die absolute Irrtumslosigkeit der Bibel ist ja eine Idee des 20. Jahrhunderts. Ich weiß, dass diejenigen, die die völlige Irrtumslosigkeit der Bibel vertreten, das anders sehen. Sie glauben, dass sie die traditionelle Auffassung vertreten. Das tun sie aber nicht!“

Nun sind Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ natürlich definitionsbedürftig (siehe dazu der AiGG-Artikel „Ist die Bibel unfehlbar?“). Bei Fragen zum Urtext, zu den Kanonrändern, zur Textgattung, zur Aussageabsicht und zur Auslegung kann es auch aus meiner Sicht keine Unfehlbarkeit geben. Trotzdem hat mich die These von Thorsten Dietz überrascht. Im AiGG-Artikel über „das biblische Bibelverständnis“ habe ich begründet, warum ich überzeugt bin, dass schon die Bibel selbst die Heiligen Schriften als inspiriertes Wort Gottes mit absoluter Autorität ansieht (2.Tim.3,16; 2.Petr.1,20+21). Auch Prof. Gerhard Maier zeigt sich überzeugt: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“ Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“ Für Jesus war „selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig“ (Matth. 5, 18). Entsprechend durfte von den Schriften nichts weggelassen, hinzugefügt oder verdreht werden (Offb.22,18-19, 5.Mose13,1; 2. Petr.3,15-16).

Kann der Glaube an die Irrtumslosigkeit der Schrift also wirklich etwas so Neues sein?

Irrtumslosigkeit der Schrift bei den Kirchenvätern

Der renommierte Neutestamentler Theodor Zahn hielt fest, dass auch im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte“ offenbar keinen Raum hatte. Tatsächlich finden sich viele Belege für den Glauben an die Unfehlbarkeit in den Schriften der frühen Kirchenleiter. Der Harvard-Professor James L. Kugel, selbst kein Anhänger der Irrtumslosigkeit der Schrift, hielt es für „auffallend, dass alle antiken Ausleger anscheinend die gleichen Erwartungen an den biblischen Text hatten”, nämlich dass die „Bibel keine Widersprüche oder Fehler enthält.“ „Und natürlich sollte die Bibel sich nicht selbst widersprechen oder sich sogar scheinbar unnötig wiederholen, so dass, wenn es zweimal heißt »und die beiden gingen zusammen«, das zweite Vorkommen nicht einfach eine Wiederholung sein kann; es muss etwas anderes bedeuten als das erste. Kurzum, die Bibel sei ein völlig konsistentes, nahtloses, perfektes Buch.“

Auch der oft als „Kirchenvater“ bezeichnete Augustinus sah es im 4. Jahrhundert als eine nicht verhandelbare kirchliche Lehre an, dass es in der Heiligen Schrift keine Fehler gibt:

„Ich habe gelernt, diesen Respekt und diese Ehre nur den kanonischen Büchern der Schrift zu geben: Nur von diesen allein glaube ich fest entschlossen, dass das, was Autoren geschrieben haben, ohne jegliche Fehler ist. Und wenn ich in diesen Schriften auf etwas stoße, das mir der Wahrheit zu widersprechen scheint, so zögere ich nicht, anzunehmen, dass entweder die Handschrift fehlerhaft ist, oder dass der Übersetzer den Sinn des Gesagten nicht erfasst hat, oder dass ich selbst es nicht verstanden habe.“

Für Augustinus gab es im Falle eines scheinbaren Fehlers also nur 3 Möglichkeiten: Ein Fehler im Manuskript. Ein Fehler in der Übersetzung. Oder aber der Ausleger hatte eine Aussage der Schrift einfach falsch verstanden. Ein Fehler des biblischen Autors kam für ihn nicht in Frage.

Irrtumslosigkeit in der Reformationszeit

Genau auf diese Aussage von Augustinus berief sich später auch Martin Luther, als er in seiner „Assertio omnio articulorum“ schrieb:

„Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“

Luther hatte zwar bei manchen biblischen Büchern Zweifel, ob sie zum Kanon gehören. Aber kanonische Bücher hatten für ihn absolute Autorität. Laut Hans Küng hatte die Sichtweise von Augustinus das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit hinein starken Einfluss. Deutlich wird das zum Beispiel an einer Debatte zwischen Johannes Eck, einem römisch-katholischen Zeitgenossen Martin Luthers, und dem Gelehrten Erasmus. Letzterer vertrat die Meinung, dass es der Schriftautorität keinen Abbruch täte, falls zum Beispiel Matthäus ein Jeremiazitat versehentlich Jesaja zugeschrieben hätte – eine Argumentation, die man auch heute häufig hört. Sind also kleinere Fehler unrelevant? Die Antwort von Eck ist bemerkenswert. Er zitiert die seiner Meinung nach zentrale augustinische Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel:

“Hör zu, lieber Erasmus: Glaubst du, dass irgendein Christ es geduldig erträgt, wenn man ihm sagt, dass die Evangelisten in ihrem Evangelium Fehler gemacht haben?” “Wenn die Autorität der Heiligen Schrift an dieser Stelle wackelig ist, kann dann irgendeine andere Stelle frei vom Verdacht des Irrtums sein? Eine Schlussfolgerung, die der heilige Augustinus in einer eleganten Argumentationskette gezogen hat.”

Irrtumslosigkeit als kirchliche Lehre in der Moderne

Nicht nur für Luther, sondern auch für seinen katholischen Kontrahenten war also die völlige Fehlerfreiheit der kanonischen Schriften eine Selbstverständlichkeit. Diese Position wurde in der katholischen Kirche noch lange Zeit aufrecht erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts hielt Papst Leo XIII. in einer Enzyklika fest, dass die römisch-katholische Kirche die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift nicht nur in Fragen des Glaubens und der Praxis, sondern auch in Fragen der Geschichte und der Wissenschaft bejaht. Er tadelte diejenigen, die die Irrtumslosigkeit der Schrift auf Fragen des Glaubens und der Moral beschränken wollten mit dem Hinweis, dass sich doch alle Väter einig seien, „dass die göttlichen Schriften… frei von jedem Irrtum sind“ und dass sie sich deshalb „ernsthaft bemühten, … jene zahlreichen Stellen miteinander zu versöhnen, die widersprüchlich zu sein scheinen.“ Erst in der letzten Ausgabe von „Dei Verbum“ im Jahr 1965 wurde in Bezug auf die Irrtumslosigkeit der Bibel eine Formulierung gewählt, die so verstanden werden kann, dass die Irrtumslosigkeit nur solche Aussagen betreffe, die „um unseres Heils willen“ offenbart wurden.

Entsprechend zitiert John Woodbridge den bekannten US-amerikanischen Geschichtstheologen Richard A. Muller mit den Worten:

„Die katholische Lehre vor der Reformation ging von der Unfehlbarkeit der Schrift aus, ebenso wie die Reformatoren – die protestantischen Orthodoxen haben das Konzept nicht erfunden. Die Lehre von der unfehlbaren Autorität der Schrift blieb eine Konstante.”

Und Woodbridge ergänzt: „Die zentrale Debatte drehte sich nicht um die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift – diese wurde von beiden Seiten als selbstverständlich angesehen – sondern um die Frage der Autorität, insbesondere der Autorität der Auslegung.“

Die Unfehlbarkeit der Bibel: Eine gängige Lehre der christlichen Kirchen

Das Fazit von John Woodbridge fällt eindeutig aus:

„Die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel ist keine späte, fantasievolle Schöpfung … des amerikanischen Fundamentalismus des 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist sie eine wesentliche evangelische Überzeugung, die sich auf eine biblische Begründung stützt. Sie steht ganz in der augustinischen Tradition der Wahrhaftigkeit der Bibel. Sowohl die römischen Katholiken als auch die protestantischen Reformatoren haben diese Lehre der Kirche bekräftigt. …  Vor 1881 glaubten zahllose römische Katholiken und evangelische Protestanten, dass die Bibel nicht nur in Fragen des Glaubens und der Praxis, sondern auch in Geschichte und Wissenschaft unfehlbar sei. Die diesbezügliche Lehre des Augustinus kam für viele römische Katholiken und Protestanten einer wesentlichen Kirchenlehre gleich. Einige behaupteten, dieser Glaube ergebe sich direkt aus der Prämisse, dass Gott, der Urheber der Wahrheit, auch der letztliche Autor der Heiligen Schrift sei. Daher sei die Schrift ohne Irrtum. Viele glaubten, die Lehre diene als starke Leitplanke gegen die Möglichkeit, in falsche Lehre oder Schlimmeres abzurutschen oder abzustürzen. Viele gingen davon aus, dass dies eine nicht verhandelbare Überzeugung ihrer evangelischen theologischen Identität sei.“

Viele Zitate dieses Artikels stammen aus „Did Fundamentalists Invent Inerrancy?“ von Prof. John Woodbrigde. Der Artikel ist eine Bearbeitung des Kapitel 4 “Evangelical Self-Identity and the Doctrine of Biblical Inerrancy” in “Understanding the Times: New Testament Studies in the 21st Century: Essays in Honor of D. A. Carson on the Occasion of His 65th Birthday” (Crossway, 2011).

Ist die Bibel unfehlbar?

Was sagt die Bibel selbst dazu? Was dachten die Kirchenväter darüber? Was meint Unfehlbarkeit – und was nicht? Müssen wir die Bibel wörtlich nehmen? Und warum sind diese Fragen überhaupt wichtig?

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In den letzten Monaten habe ich viele theologische Texte gelesen. Einige waren ziemlich anstrengend, viele aber auch sehr interessant, manche sogar herausragend gut. Trotzdem fiel mir immer wieder auf, wie grundlegend anders doch die Bibel ist. Wenn ich sie aufschlage ist es, als ob ich eine andere Welt betrete. Es fühlt sich an, wie wenn ich das knarzende alte Radio ausschalte und meine Ohren stattdessen vom brillianten Klang einer modernen Stereoanlage streicheln lasse. Der biblische „Klang der Wahrheit“ ist einfach nicht vergleichbar mit allen anderen noch so guten theologischen Überlegungen, die wir im Lauf der Kirchengeschichte angesammelt haben. Deshalb liebe ich die Bibel so.

Das schöne ist: In den letzten Monaten habe ich erfahren, dass ich nicht der erste bin, dem es so geht! Im Gegenteil: Schon die allerersten Christen haben genau die gleiche Erfahrung gemacht wie ich:

Was die Kirchenväter über die biblischen Schriften dachten

In den Schriften Martin Luthers findet sich eine äußerst interessante Passage über den grundlegenden Unterschied zwischen den biblischen Texten und den Schriften von Theologen:

Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“ [1]

Das grundlegende Prinzip, das Luther hier erklärt, war ein zentraler Grundstein der Reformation. Man kann es ganz simpel so formulieren:

Alle Theologen irren! Aber die Autoren der Bibel irren niemals!

Aus diesem Grund sagte Luther: Wer mich von einer theologischen These überzeugen will, muss das aus der Bibel heraus beweisen. Alle anderen Aussagen, und seien sie vom Papst persönlich, sind kein Beweis. Genau das meinte Luther auch mit seinem Schlagwort: „Sola scriptura – Allein die Schrift“.

Mit seinem Hinweis auf den Kirchenvater Augustinus, der im 4. Jahrhundert lebte, zeigte Luther: Dieses Prinzip war nicht seine eigene Erfindung. Es galt schon zur Zeit der ersten Christen. Auch Ignatius von Antiochien sah schon zu Anfang des 2. Jahrhunderts einen grundlegenden Unterschied zwischen seiner eigenen theologischen Autorität und den „Weisungen des Herrn und der Apostel“, denen er sich bewusst untergeordnet hat: „Ich habe mich nicht so hoch eingeschätzt, dass ich … euch wie ein Apostel befehlen dürfte“.[2] Der Neutestamentler Prof. Theodor Zahn folgerte deshalb: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“ [3] Anders ausgedrückt: Die ersten Christen waren von der Unfehlbarkeit der Schriften der Apostel fest überzeugt was sich in den Schriften der apostolischen Väter auch vielfach nachweisen lässt.

Kein Wunder, dass die Unterscheidung zwischen irrtumslosen biblischen Autoren und irrenden Theologen bis zum Aufkommen der von der Aufklärung geprägten kritischen Theologie ab dem 18. Jahrhundert im Grunde Allgemeingut der Kirche war. Aber auch danach blieb der Glaube an die Unfehlbarkeit der Schrift nicht etwa eine fundamentalistische Sonderlehre. So lesen wir z.B. in der Lausanner Verpflichtung von 1974, die von Leitern aus zahllosen Kirchen der ganzen Welt beschlossen wurde, über die Autorität von Gottes Wort: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es verkündigt.“ Jüngst freute sich auch die weltweite evangelische Allianz, dass sie mit der katholischen Kirche in Bezug auf die „Irrtumslosigkeit der Schrift“ völlig übereinstimmt.[4]

Mit anderen Worten: Wo die von der Aufklärung geprägte Bibelkritik sich nicht durchgesetzt hat, ist der Glaube an die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift bis heute keine Außenseiterposition sondern Standard in der Weltchristenheit.

Nun sind Mehrheiten ja an sich kein Argument. Könnte es sein, dass die Christen übers Ziel hinausgeschossen sind? Haben sie den biblischen Texten in ihrer Begeisterung vielleicht Eigenschaften und Ansprüche zugeschrieben, die diese selbst nie für sich in Anspruch genommen haben? Anders gefragt:

Hält die Bibel sich selbst für unfehlbar?

Dazu stellt der Theologe Prof. Thorsten Dietz zunächst einmal nüchtern fest: „Die neutestamentlichen Autoren haben ganz offensichtlich die Schriften des Alten Testaments als Gottes Wort gelesen, genauso wie die allermeisten Christen in der Kirchengeschichte.“[5] Eindrücklich sind dazu die Worte Jesu: „Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen“ (Matth. 5, 18). Mit dem „Gesetz“ meinten die Juden die Tora, die 5 Bücher Mose. Die „Propheten“ und die übrigen Schriften waren ihnen ebenso heilig. Niemals hätten sie von Irrtümern in diesen Büchern gesprochen.

Soweit, so klar. Aber was ist mit dem Neuen Testament? Das lag zur Zeit seiner Abfassung ja noch gar nicht vor! Kann es also überhaupt irgendetwas über seine Eigenschaften sagen?

Ja, sogar sehr viel! Denn was wir im Neuen Testament vorfinden ist ja gemäß den Aussagen der biblischen Autoren nichts anderes als die Lehre Jesu und der von ihm bevollmächtigten Apostel, sorgfältig recherchiert auf Basis von Augenzeugenberichten (Lukas 1, 1-4; Joh. 21, 24; 2. Petr. 1, 16). Der Apostel Paulus sagte über sich selbst, dass seine Lehre nicht menschlich sondern göttlich ist (Gal. 1,11-12). Er freute sich, dass die Thessalonischer seine Lehre nicht als Menschenwort sondern als Gottes Worte aufgenommen hatten, was sie seiner Meinung nach tatsächlich sind (1. Thess. 2, 13). Entsprechend stellte Petrus die Briefe des Paulus auf die gleiche Stufe wie die anderen heiligen „Schriften“ und warnte: Wer ihren Sinn verdreht muss mit Gottes Gericht rechnen (2. Petr. 3, 15b-16). Natürlich waren die Apostel an sich weder sünd- noch irrtumslos. Aber die in ihren Schriften festgehaltene Lehre hat für die Kirche absolute Autorität. Das gilt für die von den Evangelisten festgehaltenen Überlieferungen von Jesus natürlich erst recht.

Prof. Armin Baum stellt in seiner ausführlichen Analyse[6] daher fest: Ja, die Irrtumslosigkeit der ganzen Schrift ist tatsächlich ein neutestamentliches Konzept! Es gibt ein biblisches Bibelverständnis, das fest davon ausgeht, dass die Bibeltexte Gottes offenbarte Worte sind.

Allerdings müssen wir dabei ein paar Einschränkungen beachten: Fragen zur Textkritik (also zum exakten Wortlaut des Urtextes), zum Kanon (also z.B. zur Gültigkeit des langen Markusschlusses, der in vielen alten Handschriften fehlt), zur Entstehung der neutestamentlichen Bücher (also z.B. die Frage nach dem Autor) und natürlich zur richtigen Auslegung unterliegen dieser Irrtumslosigkeit nicht. Um Antworten auf diese Fragen zu finden brauchen wir fundierte bibelwissenschaftliche Arbeit. Wir können dankbar sein, dass es solche Wissenschaftler gibt.

Nachdem wir geklärt haben, dass die Unfehlbarkeit der biblischen Texte sowohl für die biblischen Autoren als auch für die Kirchenväter feststand, stellt sich nun als nächstes die wichtige und unter Theologen vieldiskutierte Frage:

Was ist mit der Unfehlbarkeit der Schrift gemeint – und was nicht?

An dieser Stelle wird es richtig spannend. Denn selbst die oft als „fundamentalistisch“ geltende sogenannte „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Schrift“ macht zur Unfehlbarkeit der Bibel jede Menge Einschränkungen: Das Fehlen an moderner technischer Präzision, Unregelmäßigkeiten bei der Grammatik oder der Rechtschreibung, die Beschreibung der Natur aus einem subjektiven Blickwinkel, gerundete Zahlen, die thematische statt chronologische Anordnung eines Stoffs, die Verwendung freier Zitate: All das spricht laut dieser Erklärung nicht gegen die Irrtumslosigkeit der Bibel.[7] Wie kann das sein? Müsste eine unfehlbare Schrift nicht in jeder denkbaren Hinsicht vollkommen korrekt sein?

Nein. Denn bei der Verwendung des Begriffs „unfehlbar“ oder „irrtumslos“ müssen wir unbedingt das folgende Grundprinzip beachten:

Die Bibel ist unfehlbar in dem, was sie aussagen will!
Sie ist irrtumslos in Bezug auf ihre Aussageabsicht!

So schrieb der Theologe Prof. Gerhard Maier zur oben bereits zitierten Lausanner Erklärung:

„Ähnlich hat die Lausanner Verpflichtung in ihrem Artikel 2 formuliert, das Wort Gottes „sei ohne Irrtum in allem, was es verkündigt“ – präzisieren wir: was es verkünden will. Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ [8]

Diese Ergänzung ist in der Tat wichtig. Das erleben wir auch in unserer normalen Alltagskommunikation. Wenn z.B. ein Meteorologe im Wetterbericht sagt: „Um 7.46 Uhr geht die Sonne auf“, dann ist das naturwissenschaftlich gesehen natürlich völliger Unsinn. Die Sonne geht nicht auf! Vielmehr dreht sich die Erde, so dass die Sonne wieder sichtbar wird. Trotzdem würde wegen dieser Formulierung niemand den Bildungsgrad des Meteorologen in Frage stellen. Denn jeder weiß ja: Von einem Sonnenaufgang zu sprechen ist zwar objektiv falsch, aber subjektiv, d.h. aus der Sicht eines menschlichen Beobachters, völlig richtig. Genau dieses Prinzip müssen wir auch bei der Bibel beachten und die Frage stellen: Was wollte der Autor sagen? Welche Perspektive, welches Wahrheitsverständnis hat der Autor seiner Aussage zugrunde gelegt? Welche Erwartungen hatten die damaligen Leser, um die Aussagen als wahr einzustufen?

Wenn wir Zitate im Neuen Testament analysieren merken wir zum Beispiel schnell: Ein Zitat musste damals nicht wörtlich exakt sein, um als wahr zu gelten. Aber es musste inhaltlich stimmen! Ein frei erfundenes Zitat hätte man auch damals schon als Fake-News eingestuft. Irrtumslosigkeit der Schrift heißt vor diesem Hintergrund also: Jesus hat nicht unbedingt jeden Satz Wort für Wort genau so gesagt, wie wir es in der Bibel lesen (das geht ja auch schon deshalb nicht, weil er in einer anderen Sprache redete als das Neue Testament abgefasst wurde). Aber wir können gemäß dem Selbstzeugnis der biblischen Autoren (Lukas 1,3; Johannes 21, 24) sicher sein: Jesus hat inhaltlich genau das gesagt, was uns das Neue Testament berichtet!

Natürlich müssen wir beim Lesen eines Bibeltexts immer auch beachten, in welche Situation, in welches kulturelle Umfeld und in welche heilsgeschichtliche Zeit (alter oder neuer Bund?) ein Text hineingesprochen wurde. Und wir müssen klären, welche Textgattung vorliegt: Hat der Text den Anspruch, eine Geschichte zu erzählen, die wirklich in Raum und Zeit passiert ist? Oder handelt es sich um symbolische Redeweise? Das ist z.B. beim Buch Hiob gar nicht so leicht zu klären und muss daher bibelwissenschaftlich ergebnisoffen untersucht und diskutiert werden. Wenn wir diese Punkte sauber beachten klärt sich die nächste Frage, die in diesem Zusammenhang oft gestellt wird, fast schon von selbst:

Müssen wir die Bibel wörtlich nehmen?

Ich habe extra noch einmal nachgeschaut. Und tatsächlich: In meiner Bibel gibt es ausschließlich Wörter. Es sind keine Bilder drin! Ich kann also gar nicht anders, als die Bibel Wort für Wort beim Wort zu nehmen. Anders als wörtlich ist die Bibel nicht zu haben. Nur: Was heißt das praktisch?

Wenn mein Chef mir heute sagt: „Herr Till, ich habe Ihnen schon 1000 mal gesagt, dass Sie nicht zu spät kommen sollen!“ dann würde ich ihn nicht beim Wort nehmen, wenn ich ihm antworten würde: „Stimmt nicht, Chef, ich hab mitgezählt: Es waren nur 18-mal!“ Genauso wenig nehmen wir Jesus beim Wort, wenn wir seine Aussage, dass wir 7 mal 70 mal vergeben sollen (Matthäus 18, 21-22) als Aufforderung verstehen, eine Strichliste anzulegen. Jesus wörtlich nehmen heißt hier: Die tiefe Symbolik verstehen, die hinter diesen Zahlen steckt.

Auch dieses Beispiel unterstreicht: Die Irrtumslosigkeit der Schrift hängt untrennbar mit ihrer jeweiligen Aussageabsicht zusammen. Der Glaube an die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit wird dann schräg, wenn er der Bibel eine falsche Aussageabsicht und einen falschen Wahrheitsbegriff überstülpt.[9] Es ist die Aufgabe der historischen Bibelwissenschaft, die jeweilige Aussageabsicht vorurteilsfrei zu erforschen und herauszuarbeiten.

Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, bibelfremde von bibeleigenen Kriterien zu unterscheiden. Bibelfremde Kriterien wären zum Beispiel:

  • Wunder sind aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht möglich.
  • Erkenntnisse der modernen Geologie sprechen dagegen, der Sintflutgeschichte einen historischen Wert beizumessen.

Solche Aussagen, die sich aus den aktuellen Ansichten der heutigen Welterkenntnisse speisen, fließen natürlich immer auch in unsere Analyse der Bibel mit ein. Und das ist auch gut so! Wissen, Vernunft, Erfahrungen, kirchliche Bekenntnisse, Auslegungen wichtiger Theologen oder die Frage nach der Frucht einer bestimmten Auslegung („Wirkungsgeschichte“) dürfen und sollen bei jeder Bibelauslegung berücksichtigt werden. Sie können helfen, die Bibel besser zu verstehen. Das reformatorische „Sola scriptura“ besteht jedoch darauf: Über all dem muss letztlich die Schrift regieren! Sie hat das letzte Wort! Sie muss sich selbst auslegen! Nur die bibeleigenen Kriterien und Aussagen dürfen (nach gründlicher Klärung ihrer Aussageabsicht) für eine theologisch saubere Beweisführung verwendet werden.

Wenn wir dieses Prinzip auf die Erzähltexte im Neuen Testament anwenden wird klar: Diese Berichte (und gerade auch die Wundergeschichten) sind nicht nur symbolisch sondern ganz eindeutig auch historisch gemeint. Denn das ist ausdrücklich ihr eigener Anspruch, wie z.B. der Theologe Armin D. Baum nachgewiesen hat![10] Die Apostel wollten ganz bewusst keine abstrakten theologischen Ideen verbreiten sondern berichten, was sie gehört und gesehen hatten! Gottes reales und oft auch wunderwirkendes Handeln in Raum und Zeit war ein entscheidender Bestandteil ihrer theologischen Botschaft. Deshalb gilt: Wer die Ereignisse und Wunder des Neuen Testaments in Frage stellt, stellt den Kern des Christentums in Frage. Wenn wir die Bibel an Philosophien wie z.B. den Naturalismus (der Glaube, dass Wunder grundsätzlich niemals vorkommen), an Erfahrungen oder an Aussagen eines kirchlichen Lehramts anpassen, dann hebeln wir das „Sola scriptura“ aus und erheben menschliche Vorstellungen zum obersten Richter über die Aussagen der Bibel – mit gravierenden Folgen, wie der letzte Abschnitt dieses Artikels zeigen soll:

Warum ist die Frage nach der Unfehlbarkeit überhaupt wichtig?

Sind Diskussionen um solche Fragen nicht wieder mal so ein überflüssiges theologisches Gezänk, das nichts als Streit unter Christen verursacht? Warum sollen wir uns überhaupt damit befassen?

In seinem vielbeachteten Grundsatztext zu einer neuen „Hermeneutik der Demut“ schrieb der Theologe Prof. Heinzpeter Hempelmann:

Die Bibel ist unfehlbar. […] Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler. […] Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen.“ […]  Das „machte eine Auslegung der Heiligen Schrift als solche sinn-, zweck- und ergebnislos. […] Es maßte sich ja einen „Gottesstandpunkt“ an, wer in ihr unterscheiden wollte zwischen Gottes- und Menschenwort, zeitbedingt und zeitlos gültig. Eine Hermeneutik der Demut steht nicht auf der Schrift, schon gar nicht über ihr.“ [11]

Damit ist der Kern des Problems angesprochen, der sich bei diesem Thema ergibt. Wenn es in der Bibel Fehler, Irrtümer, Widersprüche und eine „Vielfalt theologischer Meinungen“ [12] gibt, wenn sie nur Gottesworte enthält statt ganz und gar Gottes Wort zu sein, dann ergeben sich zwangsläufig eine ganze Reihe schwerwiegender Fragen: Wer unterscheidet dann zwischen Menschenwort und Gotteswort, zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen richtig und fehlerhaft, zwischen Widerspruch und sich ergänzendem Paradox? Nach welchen Kriterien? Auf welcher Basis können wir dann noch gesichert theologisch argumentieren? Welche theologischen Ergebnisse können dann als gesicherte Glaubensgrundlage der Kirche gelten?

Die Geschichte der Theologie der letzten 2 Jahrhunderte zeigt eindrücklich: Niemand, der sich von der Irrtumslosigkeit der Schrift verabschiedet hat, konnte diese Fragen jemals beantworten. Kein menschliches Kriterium konnte sich zur Unterscheidung zwischen richtig und falsch in der Bibel jemals durchsetzen. Im Gegenteil: Die Aufgabe des Grundsatzes, dass die Bibel die irrtumslosen Stimmen der Apostel und Propheten überliefert, hatte katastrophale Folgen für die Kirche. Prof. Armin Baum hat darauf hingewiesen, dass inzwischen „mit bibelwissenschaftlichen Argumenten nahezu jede Aussage des Apostolischen Glaubensbekenntnisses bestritten worden“ ist.[13] Das ist auch kein Wunder! Denn wenn die Bibel Irrtümer enthält, dann ist auch der „Schriftbeweis“ in der Theologie außer Kraft gesetzt. Schon Jesus hatte theologische Diskussionen mit der Frage entschieden: „Habt ihr nicht gelesen?“ (z.B. Matthäus 12, 3). Die Einwohner Beröas haben durch Forschen in der Schrift geprüft, ob der Apostel Paulus die Wahrheit lehrt (Apg. 17, 11). Wenn der Schriftbeweis aber nicht mehr verlässlich gilt, weil die biblischen Autoren sich ja geirrt haben könnten, dann muss er durch menschengemachte Kriterien ersetzt werden. Dann wird Theologie zwangsläufig subjektiv und zeitgeistabhängig. Dann…

  • gibt es keine verbindlichen gemeinsamen Glaubensgrundlagen und -gewissheiten mehr.
  • wird die Einheit der Kirche von innen ausgehöhlt.
  • verliert die Kirche ihre Botschaft, ihre Glaubwürdigkeit und ihre missionarische Kraft (Jo­hannes 17, 21-23).

All das muss ich in meiner evangelischen Kirche heute leider live und leidvoll beobachten. Die Diskussion um die Unfehlbarkeit der Bibel ist deshalb alles andere als ein kleinliches Gezänk von theologisch interessierten Spezialisten oder von Leuten, die ihr Sicherheitsbedürfnis durch eine klar definierte Dogmatik befriedigen müssen. Bei diesem Thema geht es für die Kirche ans Eingemachte!

Der Apostel Paulus schrieb einst: „Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein.“ (Epheser 2, 20) Damit wird klar: Wer die Autorität der Apostel und Propheten untergräbt, deren Stimme wir heute in der Bibel vernehmen können, der untergräbt letztlich das Fundament der ganzen Kirche. Das massive Schrumpfen sämtlicher liberaler Kirchen in der westlichen Welt demonstriert das eindrücklich.

Umso wichtiger ist es, dass wir uns wieder neu und leidenschaftlich dazu bekennen: Die Bibel ist zwar ganz Menschenwort, aber eben auch ganz Gotteswort! Alle Theologen irren. Aber die Autoren der Bibel irren niemals! Die Bibel muss die Bibel auslegen.[14] Nur sie ist die „Königin“[15], die „norma normans“, die eine maßgebende Norm, an der sich Alles orientieren muss. Einen anderen Maßstab für Erkenntnisse über Gott, Jesus, das Evangelium, unsere Herkunft, unsere Zukunft und das Leben nach dem Tod haben wir Menschen nicht. Wenn wir diesen Maßstab aufgeben sind wir verloren.

Ich bin überzeugt: Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die die Bibel mit Leidenschaft und brennendem Herzen liest. Sie wird sich vor den Worten der Bibel beugen statt die Bibel durch die Weisheit dieser Welt in die Knie zu zwingen. Fehler und Widersprüche wird sie nicht in der Bibel sondern mit Hilfe der Bibel in ihrem Herzen finden. So war es in Erweckungszeiten immer gewesen. Beten und arbeiten wir dafür, dass wir eine solche Kirche zur Ehre Gottes bald schon wieder sehen dürfen.


Danke an Martin Till für die Anregungen zu diesem Artikel!

Leseempfehlung: Is new testament inerrancy a new testament concept? A traditional and therefore open-minded answer Eine fundierte Analyse von Prof. Armin D. Baum in JETS 57/2 (2014) S. 265-80

[1] Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520

[2] Ignatius an die Magnesier 13,1; zitiert von Armin D. Baum in „Der Kanon des neuen Testaments“ 2018

[3] Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons. 2 Bde. Erlangen: Deichert, 1888/92, I/2, 805; zitiert von Armin D. Baum in „Der Kanon des neuen Testaments“ 2018

[4] Im „Bericht der internationalen Konsultation der katholischen Kirche und der Weltweiten Evangelischen Allianz“ S. 9, siehe dazu auch der ausführliche kirchengeschichtliche Überblick von John Woodbridge “Did Fundamentalists invent Inerrancy?”

[5] in „Weiterglauben“, Brendow 2018, S. 80

[6] Armin D. Baum: Is new testament inerrancy a new testament concept? JETS 57/2 (2014) 265-80; siehe dazu auch der AiGG-Artikel über “Das biblische Bibelverständnis”

[7] Siehe dazu Artikel 13 der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Schrift

[8] Im Vortrag „Konkrete Alternativen zur historisch-kritischen Methode“ 1980, Hervorhebung nachträglich

[9] Genau vor diesem Hintergrund verwirft auch Prof. Heinzpeter Hempelmann einen Irrtumslosigkeitsbegriff, der von einem aus seiner Sicht falschen „heidnischen“ „mathematisch-rationalen“ statt „hebräisch-biblischen“ Wahrheitsbegriff ausgeht. Er fordert: „Ich unterwerfe die Bibel nicht meinem Wahrheitsdenken, sondern lasse mir in der Begegnung mit Gottes Wort mein Bewertungsverhalten umkehren.“ In: „Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut“ von Heinzpeter Hempelmann, Abschnitt 3.3 + 3.4

[10] „Die Prologe des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte unterscheiden sich so stark von den Anfängen antiker Epen, sind so eng mit den Prologen der antiken Geschichtsschreibung verwandt und inhaltlich so eindeutig historisch orientiert, dass an der Intention des Autors, Geschichte zu schreiben, nicht gezweifelt werden kann. Im lukanischen Doppelwerk erzählt kein von den Musen inspirierter Künstler, sondern ein sich auf Augenzeugen berufender Historiker (Lk 1,2).“ (Prof. Dr. Armin D. Baum in „Einleitung in das Neue Testament“ S. 311-312)

[11] Aus „Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut“ von Heinzpeter Hempelmann, Abschnitt 3.2 bzw. 2.5

[12] H. Conzelmann & A. Lindemann, Arbeitsbuch zum NT 14. Auflage 2004, S. 3

[13] Prof. Armin D. Baum in: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ (Ichthys 46, 2008, S. 86)

[14] „Sacra scriptura sui ipsius interpres“

[15] So schrieb Martin Luther in seiner „Assertio omnium articulorum“ von 1520: „Ich will, dass die Schrift allein Königin sei.“