Was ist Wahrheit?

Eine Provokation

Pilatus entgegnete: »Dann bist du also doch ein König?« Jesus bestätigte: »Du sagst es: Ich bin ein König. Dazu bin ich geboren. Ich bin gekommen, um der Welt die Wahrheit zu bringen. Wer die Wahrheit liebt, wird erkennen, dass meine Worte wahr sind.« Da fragte Pilatus: »Was ist Wahrheit?« (Johannes 18, 37-83a)

Was für eine Provokation! Jesus sagt Pilatus nicht nur, dass seine Worte wahr sind und dass er wirklich ein König ist. Er sagt ihm zudem direkt ins Gesicht: Wer die Wahrheit liebt, wird das erkennen. Anders ausgedrückt: Wenn Du nicht anerkennst, dass ich die Wahrheit sage und ein König bin, dann hast Du ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit. Schüchtern war Jesus noch nie gewesen.

Die Reaktion von Pilatus ist höchst aktuell. In 3 Worten fasst Pilatus den Kern der Postmoderne zusammen mit seiner Frage: „Was ist Wahrheit?“

Warum diese Frage?

Pilatus muss klar gewesen sein: Wenn ich anerkenne, dass Jesus ein König ist, dann müsste ich mich gegen die führenden Juden stellen. Und gegen den Kaiser. Dann verliere ich mein Amt, mein Ansehen, meinen Reichtum. Dieser Preis war Pilatus zu hoch. Was also tun?

Er hätte anfangen können, Gegenargumente zu sammeln um zu beweisen, dass die Behauptungen Jesu falsch sind. Genau das hat auch die Aufklärung und die Moderne versucht. Sie wollte die Wahrheit der biblischen Botschaft mit Gegenargumenten aushebeln. Mit Bibelkritik. Mit dem Versuch, die Entstehung der Welt ohne Gott zu erklären. Aber die Bibelkritik hat keine Antworten auf die  wundersamen Eigenschaften der Bibel wie z.B. ihre zahlreichen erfüllten Vorhersagen hervorgebracht. Und 160 Jahren nach Darwin sind wir weiter denn je davon entfernt, die Entstehung und Höherentwicklung des Lebens ohne einen intelligenten Schöpfer erklären zu können.

Auch Pilatus muss gespürt haben, dass seine Argumente nicht reichen werden. Er hatte die Berichte von den gewaltigen Worten und Wundern Jesu gehört. Er muss gespürt haben: Wenn ich mich den Argumenten und den Realitäten stelle, dann werde ich Jesus am Ende zustimmen müssen. Dann kann ich am Wahrheitsanspruch Jesu nicht vorbei. Also greift Pilatus zur ultimativen Abwehrreaktion: Er argumentiert nicht gegen die Wahrheit der Worte Jesu. Er stellt das Konzept Wahrheit grundsätzlich in Frage. Die Strategie ist klar: Wenn es keine Wahrheit gibt, dann muss ich mich ihr auch nicht stellen.

Was ist Wahrheit?

Die Debatten zur Frage, was eigentlich „Wahrheit“ ist, füllen heute Regale voller Bücher. Philosophen, Theologen und andere Geisteswissenschaftler setzen zu komplexen geistigen Höhenflügen an, um hochabstrakt und fremdwörtergespickt über Wahrheit zu philosophieren. Dabei ist „Wahrheit“ eigentlich eine simple Alltagsrealität, die sich ausnahmslos jedem Zeitgenossen intuitiv erschließt. Ich muss nur aus dem Fenster in meinen winterlichen Garten schauen. Wenn mir jemand sagt: „Der Schnee ist weiß“, ist meine intuitive Reaktion: Das ist wahr. Es macht keinen Sinn, dagegen zu argumentieren. Ich werde das wohl akzeptieren müssen.

Als moderner Mensch könnte ich natürlich anfangen, trotzdem Gegenargumente zu suchen. Die Schneedecke ist uneben und wirft überall Schatten. Der Schnee ist also in Wahrheit gar nicht weiß sondern in den unterschiedlichsten Grautönen gefärbt. Aber wenn ich ehrlich bin: Dieses Argument trägt nicht. Die Schatten ändern nichts daran, dass der Schnee an sich weiß ist.

Also greife ich in die postmoderne Trickkiste: Je nach Betrachtungswinkel und Tageszeit ändert sich die Sonneneinstrahlung und somit auch die Färbung des Schnees, zum Beispiel im Abendrot. Schnee sieht also für jeden anders aus, sogar für mich selbst – je nach Tageszeit. Insgesamt ist Farbe ohnehin nur ein subjektiver Eindruck, der in meinem Gehirn erzeugt wird. Die Wirklichkeit ist viel komplexer als mein Gehirn es mir vorgaukelt. Denn dort kommt ja nur ein Teil der real existierenden Lichtwellen an. Die Nervenzellen der Netzhaut im Auge setzen nur einen bestimmten Ausschnitt des Wellenlängenspektrums in Nervenreize um. Die Aussage „Der Schnee ist weiß“ ist somit höchst simplifizierend (= vereinfachend) und höchstens subjektiv (also nur aus der eigenen Beobachterperspektive) wahr. Für Andere kann je nach Betrachtungsweise und Wahrheitskriterium (physiologisch oder physikalisch) etwas ganz anderes wahr sein. Die simple Aussage „Der Schnee ist weiß“ vernachlässigt also die Ergebnisse der modernen Physik, Physiologie, Hirnforschung und Kognitionswissenschaften. Wer sich da nicht auskennt, kann sowieso nicht wirklich mitreden…

Und bingo: Schon ist alles so kompliziert, dass ich mich selbst einer so simplen Aussage nicht mehr wirklich stellen muss. Ich kann mich sogar über alle die lustig machen, die solche primitiven Parolen immer noch für bare Münze nehmen.

Aber was habe ich damit gewonnen, außer mich selbst und andere von der Wirklichkeit abzuschneiden?

Machen wir uns nichts vor: Es gibt Wahrheit. Gott sei Dank! Ohne die Kategorien „wahr“ und „falsch“ könnten wir unseren Alltag nicht bewältigen. Es gäbe keine Mathematik, keine Wissenschaft und keine Technologie. Was „wahr“ und „falsch“ bedeutet, begreift jeder Mensch sofort. Stellen wir uns der Realität. Stellen wir uns der Wahrheit. Vor allem: Stellen wir uns dem Mann, der gesagt hat: Ich bin die Wahrheit – und das Leben.

Die Krise von Wahrheit und Irrtum

… und welche Folgen das für die Kirche hat

Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht durch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum. In der Fachsprache heißt das: Wissenschaftliche Hypothesen (= Annahmen) müssen verifiziert (=bestätigt) oder falsifiziert (=widerlegt) werden. Der Streit, ob die Erde eine Kugel oder eine Scheibe ist, muss mit wissenschaftlichen Mitteln entschieden werden. Hätten die Leute damals (um des lieben Friedens oder der schönen Vielfalt willen) gesagt, dass jeder irgendwie auf seine Weise recht  hat, dann wären wir heute noch im Mittelalter.

Auch in der Theologie ist Wahrheitssuche nicht ohne Abgrenzung von Irrtümern möglich. Die Kirche kann nicht alles Mögliche vertreten wollen, wenn sie sich nicht ziel- und orientierungslos im Kreis bewegen und in der Bedeutungslosigkeit auflösen möchte. Aber obwohl die Theologie ja seit der Aufklärung gerne eine richtige Wissenschaft sein möchte, verabschiedet sie sich derzeit schrittweise vom Konzept von Wahrheit und Irrtum. Das Wort „Irrlehre“ ist selbst in der evangelikalen Welt inzwischen ein „Bäh-Wort“, ein Tabu geworden. Prof. Christoph Raedel, der Leiter des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, schreibt dazu in seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Evangelikale Theologie in Deutschland – Quo vadis?“:

„Die verheißungsvolle Welt der Postmoderne gilt als Hort der Vielfalt und Authentizität, die nicht durch Ausgrenzung, sondern Entgrenzung gekennzeichnet sei, was vielfach bis zum Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch reicht, weil ein solcher schon wieder die Vielfalt stört. Diese Entwicklungen treffen auch die evangelikalen Milieus und folglich evangelikale Theologie. So wird es wahrnehmbar schwieriger, von notwendigen Grenzziehungen zu sprechen. Bei Grenzen denken wir an Stacheldraht und Mauern und an bestimmte Politiker, deren Namen in den Nachrichten damit in Zusammenhang gebracht werden. Obergrenzen sind schlecht, Ausgrenzung von Menschen geht überhaupt nicht. Der Entgrenzung gehört die Zukunft. Grenzen zu ziehen ist heute begründungspflichtiger als je zuvor. Doch wer sagen möchte, was uns Evangelikale eint, wer den gemeinsamen Grund bestimmen möchte, der muss auch angeben können, wo die Grenzen verlaufen. Kein Grund ohne Begrenzungen. Wo sind die roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen? Und wie wird bei uns bestimmt, wo diese roten Linien verlaufen? Bereits diese Fragen zu stellen, ist inzwischen, auch unter uns, schwierig geworden. […] Die Postmoderne bedeutet den Abschied von der großen Erzählung des westlichen Abendlandes hin zu den vielen kleinen Geschichten, die alle ihre je eigene Wahrheit haben. Hier vollzieht sich der Übergang vom Zwang, sich zwischen einander ausschließenden Optionen entscheiden zu müssen, hin zur Flexibilität, sich aus den zur Verfügung stehenden Optionen seine Überzeugungen zu basteln. […] Man ist nicht festlegt auf Denkschulen, sondern bedient sich an den Versatzstücken verschiedener Entwürfe so, wie es für einen passt.“

Ich weiß nicht, ob Herr Prof. Raedel den wöchentlichen Podcast „Hossa Talk“ mit Gofi Müller und Jay Friedrichs kennt, der auch in vielen evangelikalen Kreisen äußerst beliebt ist. Die Ausführungen von Prof. Raedel beschreiben äußerst treffend, was in den Hossa-Talks passiert: Das Zweifeln, das Alles-in-Frage-Stellen, das Verunsichern, das Unfertige und Ungewisse, das Vorläufige, das langsame sich-Vortasten steht da hoch im Kurs. Man hat viele Fragen, die man – wenn überhaupt – nur „verschwurbelt“ beantworten kann. Man zitiert viele Theologen und Denker und nimmt sich überall heraus, was man gut findet. Gerne vergleicht man sich mit Israel in der Wüste: Die frommen Kreise mit klaren Ansagen, Regeln und Dogmen waren die „Fleischtöpfe Ägyptens“, die man hinter sich gelassen hat. Ägypten sei zwar bequem, aber unfrei, eng und bedrückend gewesen. Die Wüste sei zwar auch herausfordernd, atme aber im Gegensatz zu früher Freiheit, Weite und Bewegung.

Lagerbildung

Trotzdem grenzen sich auch die Hossa-Talker und ihre Fans (entgegen der eigenen Ideale) oft klar ab – und zwar gegen die Konservativen. In den Diskussionen, die ich beobachtet habe, leben sie oft geradezu von der Abgrenzung gegen die, die eine gut begründete Dogmatik mit Überzeugung vertreten. Während die eigenen Gedanken gerne mit heute so populären Begriffen wie „Neugier“, „Offenheit“, „Dialog“, „Barmherzigkeit“ oder „Vielfalt“ verbunden werden, wird evangelikaler Widerspruch schnell mit Attributen wie „Angst“, „Enge“, „Scheuklappen“, „Intoleranz“, „Arroganz“, „Besserwisserei“, manchmal gar mit „Militanz“ verknüpft. Bibeltreue Positionen wie z.B. die Sühnetheologie belegt man gerne auch mal mit Kraftausdrücken. Natürlich wird durch dieses Labeln von Andersdenkenden ein sachliches Ringen um Inhalte und um die Wahrheit äußerst schwierig (eine leuchtende Ausnahme ist der sehr empfehlenswerte Hossa-Talk Nr. 59 „Eine Lanze für Calvin“ mit Holger Lahayne). Die Folge: Schon jetzt geht ein tiefer Riss der Sprachlosigkeit durch die evangelikale Bewegung.

Der Verlust der Glaubwürdigkeit

Die Krise von Wahrheit und Irrtum führt zu einem massiven Verlust an Glaubwürdigkeit und Autorität der Kirche. Der Grund dafür ist einfach: Kirche hat nun einmal keine Autorität aus sich selbst heraus sondern nur als Botschafter von Gottes zeitlosem Wort und Gebot. Sie kann nur deshalb Trost und Antworten für die grundlegenden Ewigkeitsfragen der Menschen geben, weil sie aus einer göttlichen Erkenntnisquelle schöpft, die außerhalb ihrer selbst liegt und die sie nicht nach persönlichem Gusto verbiegen kann. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob Kirche aus der Autorität einer zeitlosen Wahrheit heraus handelt oder ob sie den Menschen nach dem Mund redet. Eine Kirche, deren Äußerungen zeitgeistabhängig wirken, mag vielleicht kurzfristig Beifall bekommen, aber langfristig marginalisiert sie sich im vielfältigen Meinungskonzert einer offenen Gesellschaft. Der schnell voranschreitende Bedeutungsverlust der Kirchen ist deshalb eine direkte Folge einer Theologie, die sich der postmodernen Abkehr von Wahrheit und Irrtum verschrieben hat.

Nur die Wahrheit macht frei

Das größte Problem an der Krise von Wahrheit und Irrtum aber ist: Es ist nun einmal noch immer allein die Wahrheit, die uns frei macht (Joh. 8, 32), nicht das, was uns gefällt oder was wir gut finden. Diese Einsicht formuliert auch Hossa Talk, ohne aber zu beantworten, wo denn Wahrheit herkommen soll, wenn das Schriftprinzip (also die Begründung von Wahrheiten mit dem Satz „Es steht geschrieben“) nicht mehr gilt. Der Dialog miteinander, mit der Bibel als einer „um Wahrheit ringenden biblischen Bibliothek“ (so wird die Bibel in Hossa Talk Nr. 45 genannt), mit der Tradition, der Wissenschaft und der Welt, auf den die Hossas hoffen, kann niemals zu halt- und trostbringenden Wahrheitsankern führen. Da liegt nun einmal kein gutes Land hinter der nächsten Ecke unserer menschlichen Gehirnwindungen sondern nur der Abgrund der menschlichen Selbstüberschätzung. Die grünen Auen und die frischen Wasser finden wir nur dort, wo wir den Worten des guten Hirten rückhaltlos vertrauen. Sola scriptura: Allein Gottes Wort ist die Wahrheit. Es bietet uns noch immer das wesentlich stabilere Fundament als jeder postmoderne Stuhlkreis, in dem wir uns unser eigenes hippes Gottes- und Weltbild selbst zusammen puzzeln. Deshalb zeugt es letztlich von Liebe, nicht von Rechthaberei, auch falsche Lehre in der richtigen Haltung offen anzusprechen, so wie es auch die Bibel wieder und wieder tut, um uns zu helfen und uns vor Schaden zu bewahren.

Siehe auch: