Theologische Ausbildungsstätten im Spannungsfeld

Über die Zukunft der evangelikalen Bewegung wird vor allem auch an ihren theologischen Ausbildungsstätten entschieden. Wie geht man dort mit den Widersprüchen zwischen traditionellen evangelikalen Grundbekenntnissen und dem Wissenschaftsverständnis staatlicher Einrichtungen um? Bei meinen Recherchen zum Artikel über das wunderkritische Paradigma kam ich darüber mit einigen Vertretern und Abgängern von freien Ausbildungsstätten ins Gespräch – und stieß auf teils überraschende Antworten.

Traditionell hatten sich die freien theologischen Ausbildungsstätten überwiegend klar gegen die Wunderkritik positioniert, die an den universitären theologischen Fakultäten bis heute vorherrschend ist. Weit verbreitet war stattdessen ein klares Bekenntnis zum Offenbarungscharakter der Bibel. So nennt die Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten (KBA), zu der sich aktuell 36 Einrichtungen zählen, auf ihrer Internetpräsenz nach wie vor die „göttliche Inspiration und die Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift​“ gleich als erste Glaubensgrundlage. So klar, wie dieses Bekenntnis es vorgibt, ist die reale Situation aber offenbar nicht an allen Ausbildungsstätten, die sich zur KBA zählen. Erst vor kurzem schrieb mir ein Student einer KBA-Ausbildungsstätte, dass dort Siegfried Zimmers Buch „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ Pflichtlektüre für alle Studenten sei – obwohl Siegfried Zimmer sich klar gegen den Offenbarungscharakter der biblischen Texte wendet.[1] Zudem sind mir immer wieder Äußerungen und Veröffentlichungen von Lehrkräften aufgefallen, die kaum noch zu solchen evangelikalen Grundbekenntnissen zu passen scheinen. 2018 hat die evangelische Hochschule Tabor die KBA verlassen. Könnte es sein, dass Denkvoraussetzungen und Paradigmen der universitären Theologie auch an einigen freien theologischen Ausbildungsstätten Fuß fassen? Wenn ja: Woran liegt das?

Ein Grund könnte sein, dass Studenten es schätzen, wenn ein Abschluss auch Türen in staatliche und kirchliche Strukturen (Pfarrer, Religionslehrer…) öff­net. Um das zu ermöglichen, brauchen die Ausbildungsstätten eine Akkreditierung durch Instanzen aus dem staatlichen Wissenschaftssystem. Zwar gilt auch für diese Instanzen ausdrücklich das Prinzip der Freiheit der Forschung. Niemand darf gezwungen werden, einseitige Forschungsergebnisse oder Verfahren als unumstößlich anerkennen zu müssen. Trotzdem wurde mir zugetragen: Im Rahmen dieser Akkreditierungsverfahren könne durchaus Druck entstehen bzw. es könne als opportun erscheinen, das klare Bekenntnis zum Offenba­rungscharakter der Bibel zumindest ein Stück weit aufzuweichen.

Das wäre aber sicher nur eine der Ursachen, warum einige freie Ausbildungsstätten scheinbar zunehmend in ein schwieriges Spannungsfeld geraten zwischen den traditionellen evangelikalen Überzeugungen (die ja vor allem an der Gemeindebasis noch häufig erwartet werden) und den gänzlich anderen Erwartungen der staatlichen bibelwissenschaftlichen Welt. In meinen Gesprächen sind mir vor allem fünf unterschiedliche Strategien begegnet, mit denen Ausbildungsstätten versuchen, mit dieser Spannung umzugehen:

1. Strategie: Die Suche nach dem „goldenen Mittelweg“

Ich kenne das selbst: Wenn man über Konflikte und Debatten schreibt, dann ist es rhetorisch immer äußerst praktisch, sich gegen extreme Ränder auf beiden Seiten abgrenzen und sich selbst in einer scheinbar ausgewogenen Mitte verorten zu können. Das wirkt garantiert seriös und differenziert. Entsprechend ist mir immer wieder die Aussage begegnet, man wolle sich in einer gesunden Mitte zwischen „Fundamentalismus“ und „übertriebener Bibelkritik“ positionieren. Das Problem dabei ist: Zwischen der universitären Wunderkritik und dem biblischen Selbstanspruch tut sich ein gewaltiger Graben auf. Die Auslegungsergebnisse sind extrem unterschiedlich.[2] Deshalb ist auch die „Mitte“ zwischen diesen beiden Positionen unter Umständen schon weit entfernt von der traditionellen evangelikalen Position und vom protestantischen Schriftprinzip.[3] Dieses Problem wird noch deutlicher bei den Strategien 2 und 3, die nach meiner Beobachtung oft mit der Strategie vom angeblichen goldenen Mittelweg einhergehen:

2. Strategie: Den dogmatischen Unterbau exegetischer Methoden ignorieren

Immer wieder wird gesagt: Bei der „Bibelkritik“ ginge es doch zunächst einmal nur um ein Set an neutralen, objektiven, nüchtern-wissenschaftlichen Methoden, vor denen kein Evangelikaler Angst haben müsse. Auch Evangelikale müssten doch ein Interesse haben, den großen Graben zwischen der Jetztzeit und der völlig anderen Sprache, Kultur und Denkweise der Antike durch solche Methoden zu überbrücken, um jenseits von unseren „Brillen“ und Voreingenommenheiten einen objektiveren, „unverstellteren Blick“ auf die Bibel zu bekommen.

Leider fehlt bei solchen Aussagen meist die Beleuchtung des dogmatischen und wunderkritischen Unterbaus vieler bibelkritischer Methoden. Denn diese bauen zum Teil grundsätzlich auf einer vorausgesetzten inneren Widersprüchlichkeit der biblischen Texte auf und rechnen prinzipiell nicht mit übernatürlichen Vorgängen. Deshalb sind natürlich auch schon die Methoden oft eben nicht neutral sondern vom jeweils verwendeten Paradigma geprägt – mit entsprechend weitreichenden Auswirkungen auf die exegetischen Ergebnisse.

3. Strategie: Die historische Frage für unrelevant erklären

Immer wieder höre ich die These, dass die historische Frage (also die Frage, ob sich die biblischen Geschichten tatsächlich ereignet haben) für die theologischen Aussagen der Bibel und für den persönlichen Glauben doch gar nicht wirklich wichtig sei. Auch als Evangelikaler könne man deshalb ganz entspannt aufgeschlossen sein für wissenschaftliche Kritik an biblischen Angaben zu Ereignissen, Orten, Personen, Autoren und Zeitangaben. Das Problem daran ist: Der christliche Glaube gründet eben gerade nicht auf abstrakten Gedanken sondern auf historischen Heilsereignissen. Die Apostel haben nicht in erster Linie eine neue Theologie verkündigt sondern berichtet, „was sie gesehen und gehört haben.“ (1. Joh. 1,3) Damit machen die biblischen Autoren deutlich, dass für sie gerade auch die historische Frage von grundlegender Bedeutung ist.[4] Wer diese Frage entgegen den biblischen Selbstaussagen für unwichtig hält, verlässt somit bereits das Grundprinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss und hat damit auch schon die traditionelle Position des Vertrauens in die Gültigkeit der Schrift aufgegeben.

4. Strategie: Etablierung einer „Hybrid-Theologie“

Man kann auch versuchen, die theologische Arbeit teilweise an die Anforderungen der wunderkritischen akademischen Welt anzupassen, indem man die biblische Exegese in mehrere Phasen aufteilt. Die Idee ist: Zunächst, in den frühen Methodenschritten, wird nur der pure Sinn des Textes unter Umgehung der Wunder- und Offenbarungsfrage möglichst „neutral“ (also unabhängig von weltanschaulichen Positionen) erarbeitet, so dass ein gemeinsames wissenschaftliches Arbeiten mit andersgläubigen Wissenschaftlern (und somit die geforderte „intersubjektive Überprüfbarkeit) möglich ist. Erst in einem zweiten Schritt werden dann auf Basis der Glaubensannahme eines Offenbarungscharakters der Schrift und eines wunderwirkenden Gottes spezifisch evangelikale Auslegungen erarbeitet.

In der Praxis scheint das aber kaum möglich zu sein. Denn die Fragen nach Autor, Datierung, Adressat und kulturellem Umfeld sind nun einmal schon für die Erfassung des Text­sinns grundlegend wichtig. Die Beantwortung der sogenannten „Einleitungsfragen“ als Basis für die Erforschung des Textsinns kann unmöglich „neutral“ erfolgen, wie die Beispiele der Datierung des Danielbuchs oder der Evangelien im Artikel über das wunderkritische Paradigma zeigen. Die Bibel stellt jeden Leser von Beginn an vor die Glaubensfrage und lässt somit nicht wirklich Raum für Ansätze, die sowohl mit evangelikalen Überzeugungen als auch mit dem wunderkritischen Wissenschaftsbegriff kompatibel sind.

5. Strategie: Gleichwertige Koexistenz der verschiedenen Paradigmen

Man kann schließlich auch noch versuchen, den Offenbarungscharakter der Schrift nicht mehr strikt zu verteidigen, sondern nur noch als Denkoption darzustellen. Den Studenten würde somit in Alternativen gezeigt, wie ein Text im Rahmen eines geschlossenen wunderkritischen, eines offenen oder eines bibeleigenen Paradigmas erforscht und ausgelegt werden kann. Tatsächlich ist es ohne Zweifel sinnvoll, wenn auch evangelikale Studenten die verschiedenen Denkwelten samt ihren dogmatischen Voraussetzungen kennen lernen. Und natürlich sollten auch freie theologische Ausbildungsstätten mit bibel- und wunderkritischen Theologen gesprächsfähig sein und bleiben. Die Frage ist aber: Positioniert man sich als Ausbildungsstätte trotzdem eindeutig und klar zum Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift? Wenn nein: Müssten dann nicht zwangsläufig auch Professoren eingestellt werden, die dem wunderkritischen Ansatz fol­gen? Welche Auswirkungen werden sich daraus auf Dauer für die Ausrichtung der Ausbildungs­stätte ergeben, wenn das Ernstnehmen des biblischen Offenbarungscharakters nur noch eine Option und keine festgeschriebene Grundlage der eigenen Arbeit mehr ist?

Gibt es eine Alternative?

An den theologischen Ausbildungsstätten wird das zukünftige Leitungspersonal der Gemeinden und Werke ausgebildet. Die Entwicklungen an den Ausbildungsstätten haben deshalb kaum zu überschätzende Konsequenzen für die evangelikale Bewegung insgesamt. Die theologischen Veränderungen, die sich dort vollziehen, können uns also keinesfalls einfach gleichgültig sein, zumal wir dringend gute theologische Ausbildungsstätten brauchen! Die Kirche Jesu benötigt gerade heute dringend kluge und „denkbereite“ Theologen, die sich bekenntnistreu Gott unterstellen, die seiner Führung und Leitung vertrauen, die zur Offenbarung der Bibel als Wort Gottes stehen und zugleich Argu­mente abwägen, gebildet und kenntnisreich diskutieren und Falsches vernünftig-plausibel widerle­gen und entlarven können.

Deshalb würde ich mir wünschen, dass Theologen und Ausbildungsstätten sich statt der genannten fünf Strategien eher für die „Daniel-Option“ entscheiden: Daniel machte in Bezug auf seinen Glauben und seine Überzeugungen keine Kompromisse. Er bekannte sich offen dazu. Das katapultierte ihn mehrfach fast aus dem System. Aber Gott bewahrte ihn übernatürlich und gab ihm zudem eine Weisheit, die ihm erstaunlichen Einfluss verlieh. Ich glaube: Gott kann das auch heute noch tun.

Aber letztlich steht mir zu der Frage, wie freie theologische Ausbildungsstätten mit dem beschriebenen Spannungsfeld umgehen sollten, keine abschließende Antwort zu. Gleich gar nicht möchte ich mit diesem Artikel den Stab brechen über evangelikale Theologen und Verantwortliche an den freien Ausbildungsstätten. Ich trage dort nicht die Verantwortung und stehe nicht unter dem Druck der ganz praktischen, teils existenziellen Herausforderungen, die sich dort ergeben und die gegebenenfalls zu sehr herausfordernden Abwägungen führen können.

Aber zwei Wünsche möchte ich gerne trotzdem aus meiner Außenperspektive heraus formulieren:

1. Bitte seid ehrlich und transparent!

Die fünf hier genannten Strategien habe ich mir wie erwähnt nicht ausgedacht. Es gibt heute ohne Zweifel auch in den Reihen der KBA Ausbildungsstätten, die mehr oder weniger stark eine oder mehrere dieser Strategien zu praktizieren versuchen. Das hat mich persönlich doch sehr erstaunt und die Frage geweckt: Ist es dann noch ehrlich und transparent, wenn offiziell an den veröffent­lichten Bekenntnissen der bibeltreuen Ausbildungsstätten festgehalten wird, in denen ja behauptet wird, klar am Offenbarungscharakter und der Unfehlbarkeit der Bibel festzuhalten? Oder wäre es dann nicht wesentlich ehrlicher, die veröffentlichten Bekenntnisse an die gelebte Realität anzupassen, so dass…

  • Spender transparent wissen können, wie die Arbeit geprägt ist, für die sie spenden?
  • Studenten transparent wissen können, womit sie sich in ihrer Ausbildung befassen werden?
  • Gemeinschaften und Gemeinden transparent wissen können, welche Ausbildung ihre potenziellen zukünftigen Leiter durchlaufen haben?

Mein Wunsch ist: Bitte seid in Bezug auf eure Ausrichtung transparent gegenüber Spendern, Studenten und Gemeinden! Ich habe inzwischen zu viele Geschichten gehört von Studenten, die in Bezug auf die Lehrinhalte an ihrer Bibelschule völlig andere Erwartungen hatten. Noch tragischer sind Geschichten von Gemeinden, die einen „bibeltreuen“ Prediger erwartet hatten und von der progressiv/liberalen Prägung ihres Studienabgängers negativ überrascht wurden, so dass es zu schmerzhaften Konflikten kam. Mehr Transparenz und Ehrlichkeit hätte helfen können, solche Situationen, die für alle Beteiligten hochproblematisch sind, zu vermeiden.

2. Lasst uns mutige und kompetente Gemeindeverantwortliche sein!

Mein zweiter Wunsch richtet sich an Leiter in Gemeinden und Werken, die nicht Theologie studiert haben. In Zeiten, in denen die Theologie auch an vielen freien Ausbildungsstätten immer pluraler wird, erscheint es mir wichtiger denn je, dass auch die nicht studierten Verantwortlichen theologische Kompetenzen entwickeln, um zwischen theologischen Strömungen, Weichenstellungen und Ausrichtungen unterscheiden und ihre Konsequenzen und Auswirkungen beurteilen zu können. Die Reformatoren haben der ganzen Gemeinde das Recht (und die Pflicht!) mitgegeben, Theologen und Amtsträger auf der Basis von Gottes Wort prüfen, kritisieren und gegebenenfalls auch zurückweisen zu dürfen. »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift«, ist ein von Martin Luther formuliertes, urprotestantisches Kernanliegen. Dieser Pflicht dürfen und müssen wir uns heute ganz neu stellen. Und wir dürfen für unsere Theologen und Ausbildungsstätten beten, dass die Liebe zur Schrift und die Ehrfurcht vor Gottes Heiligem Wort dort trotz großer Herausforderungen weiter hochgehalten oder ganz neu wiedergewonnen wird. Denn gerade in einer Zeit, in der das Bibelwissen immer mehr abnimmt, brauchen starke Gemeinden starke Theologen, die tief in Gottes Wort verwurzelt sind.

[1] Siehe dazu die ausführlichen Darlegungen in Markus Till: „Zeit des Umbruchs“, S. 135-148

[2] Das zeigt sich z.B. eindrücklich bei der Frage nach der Datierung des Buchs Daniel bzw. der Evangelien und den daraus resultierenden weitreichenden Konsequenzen, wie sie erläutert werden in Markus Till: „Das wunderkritische Paradigma“, AiGG-Blog 2020

[3] Das reformatorische Schriftprinzip wird gut erläutert von Dr. Jörg Breitschwerdt im Vortrag: „Theologisch konservativ – Warum bibeltreue Christen immer wieder protestierten“

[4] Siehe dazu Markus Till: Streit um das biblische Geschichtsverständnis“, AiGG-Blog 2018