Ein großes Problem am „Fundamentalismus“ ist für Thorsten Dietz: „Wer sich auf diesen Weg einlässt, muss mit einer Fülle kognitiver Dissonanzen leben; oder entsprechend viel verdrängen und abblenden … Auf diesem Weg befindet man sich in einem permanenten geistigen Krieg – nach außen und vielleicht manchmal noch stärker nach innen.“ (S. 276) Diese drastische Diagnose stellt Thorsten Dietz vor allem in Bezug auf solche Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen und mit einer jungen Erde rechnen, die erst einige tausend Jahre alt ist: „Der Kurzzeitkreationismus kann nur im Zusammenhang mit einer globalen Verschwörungserzählung vertreten werden.“ (S. 248)
Der Vorwurf eines falschen Umgangs mit der Wissenschaft wird von Dietz aber noch grundsätzlicher formuliert: „Evangelikale wollten Theologie und Wissenschaft betreiben. Vielfach haben sie jedoch die Strukturen einer eigenen Wissenschaftswelt errichtet, die sich bis heute von den Standards allgemeiner Wissenschaftlichkeit abschottet. Das aber ist nicht Sinn und Wesen wissenschaftlicher Forschung.“ (S. 174) Wie konnte es dazu kommen? Dazu schreibt Thorsten Dietz: „Die klassische Theologie konnte seit der frühen Christenheit stets so etwas wie ein allgemein anerkanntes Weltbild voraussetzen, in dem die Realität des Göttlichen als gegeben galt. Im 18. Jahrhundert galt eine solche Weltsicht als Metaphysik, die nicht mehr zu überzeugen vermochte. Durch den Wegfall einer allgemeingültigen Metaphysik veränderte sich das Ansehen der Religion. Im allgemeinen Bewusstsein galt sie nun als subjektiv und persönlich. Die moderne Theologie bemühte sich um eine Erneuerung ihres Denkens in Anerkennung dieses Endes der Metaphysik.“ (S. 176)
Die Konsequenz diese Bemühung war: Die Theologie hat sich einem naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriff gebeugt, wonach man in der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich nicht mit Ursachen rechnen darf, die jenseits des Natürlichen liegen. „Bibelkritik“ bedeutete fortan zumeist auch „Wunderkritik“. Das wunderkritische Paradigma hat weitreichende Konsequenzen:
Wundererzählungen können prinzipiell keinen historischen Charakter haben.
Den biblischen Autoren kann entgegen dem biblischen Selbstanspruch nur ein natürlich-menschlicher Horizont zugetraut werden.
Texte mit eingetroffenen Prophetien (z.B. Jesu Vorhersage der Zerstörung des Tempels) müssen zwangsläufig auf die Zeit nach Eintreffen der Prophetie datiert werden – mit allen Konsequenzen für die Frage nach Autor, Adressaten, Umfeld und Aussageabsicht der Texte und nicht zuletzt für die Glaubwürdigkeit der Bibel, die die Echtheit von Wundern, Vorhersagen und Offenbarung ja immer wieder behauptet.
Diesem Paradigmenwechsel in der Theologie sind die Evangelikalen nicht gefolgt. Haben sich die Evangelikalen damit von der seriösen Wissenschaft verabschiedet? Sollten sie ihren Wissenschaftsbegriff schleunigst korrigieren, um wieder glaubwürdig zu sein?
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Thorsten Dietz schreibt: „Die Naturwissenschaften sind auf Grundlage der christlichen Überzeugung entstanden, dass Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat, die von vernünftigen Wesen wie uns erkennbar sind. Wissenschaftsskepsis ist ein Bruch mit der Christentumsgeschichte.“ (S. 248) Tatsächlich geht die Bibel von einer strikten Trennung zwischen Schöpfung und Schöpfer aus. Sie warnt die Menschen immer wieder davor, in pantheistischer Weise Elemente der Natur als göttlich anzubeten. Gott wohnt nicht in den Bäumen und nicht in den Sternen. Deshalb ist die naturwissenschaftliche Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen bei der Erforschung unserer Welt absolut sinnvoll.
Richtig ist auch: Manche Evangelikale machen es sich im Umgang mit der Bibel zu leicht. So ist z.B. für das richtige Verständnis von Texten immer die Frage nach der Textgattung zu beachten. Die Frage, ob eine biblische Aussage historisch oder als Bildrede bzw. Metapher gemeint ist, ist zuweilen nicht leicht zu beantworten – und kann deshalb auch unter Evangelikalen zurecht kontrovers diskutiert werden. Gleiches gilt für die manchmal sehr komplexe Frage, inwieweit eine Aussage situations- und zeitbezogen gemeint ist oder ob sie zeitübergreifende Wahrheit vermitteln möchte.
Ganz wichtig ist dabei: Christen sollten sich niemals scheuen, sich ehrlich den wissenschaftlichen Fakten zu stellen. Genau das hat mich beeindruckt, als ich im Teenageralter erstmals die Studiengemeinschaft Wort und Wissen besucht habe. Ich fuhr auf das W+W-Schülerwochenende in der festen Annahme, dort Gesinnungsgenossen für den von mir neu entdeckten „Kreationismus“ zu finden. Umso überraschter war ich, als sich dort die Gesichter bei diesem Begriff eher verdunkelten. Mit einem populistisch geprägten Kreationismus, der vorschnell Dinosaurierspuren als Menschenspuren verkauft, wollte man hier nichts zu tun haben. Stattdessen sprach man lieber offen und ehrlich darüber, welche Fakten den eigenen Überzeugungen widersprechen. Gut so!
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Thorsten Dietz schreibt: „Die Naturwissenschaften fragen nach dem Was und Wie unserer Welt. Theologie hingegen fragt nach dem Grund und Zweck unseres Daseins. … Gott ist kein Teil dieser Welt, sondern ihr Grund und ihr Ziel.“ (S. 268) Korrekt ist: Empirische Wissenschaft arbeitet mit Beobachtung und Experiment. Mit diesen Mitteln kann man das „Was“ und „Wie“ der Natur sehr gut erforschen. Wer mit diesen Mitteln jedoch auch Aussagen über das „Woher“ und „Wohin“ machen möchte und Gott zudem prinzipiell aus dem Weltlauf ausschließt, begeht eine Grenzüberschreitung. Empirische Naturwissenschaft kann prinzipiell nichts über singuläre Ereignisse in der Vergangenheit aussagen, da sie weder beobachtbar noch experimentell reproduzierbar sind. Sie kann deshalb unmöglich ausschließen, dass Gott gemäß dem biblischen Weltbild diese Welt erschuf und dass er punktuell immer wieder in das Weltgeschehen eingegriffen hat.
Seltsam ist: Thorsten Dietz spricht einerseits davon, dass „Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat“. Zugleich stellt er die Wirksamkeit eines intelligenten Designers in Frage mit den Worten: „Die Zweckhaftigkeit einer Formation wird als Beweis bzw. Hinweis gedeutet für einen Zwecksetzer. Diese Frage nach möglichen Zwecken unterläuft freilich die zentrale naturwissenschaftliche Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis.” (S. 247) Also wie jetzt? War die Entstehung des Menschen das Ergebnis eines zweckhaft wirkenden Gottes? Oder war hier kein „Zwecksetzer“ im Spiel? Es erstaunt mich immer wieder, wie leichtfüßig der fundamentale Widerspruch zwischen der zielorientierten Wirksamkeit eines Schöpfers und den ziellosen materiellen Prozessen übergangen wird. Wie konnte denn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen, wenn zugleich bei der Entstehung des Menschen ausschließlich ziellose Ursache-Wirkungs-Ketten am Werk gewesen sein sollen?
Dietz schreibt weiter: “Insofern ist es eine wissenschaftstheoretische Diskussion, ob dieses Argument [dass Zweckhaftigkeit auf einen Zwecksetzer hindeutet] überhaupt in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen darf oder ob es sich um eine religionsphilosophische Betrachtung handelt. Solche Diskussionen können und müssen natürlich geführt werden; an ihrem Ort sind sie völlig legitim. Nicht selten wird dieses Argument allerdings gebraucht, um die Glaubwürdigkeit der Evolutionslehre insgesamt zu diskreditieren.“ (S. 247) Über die Frage, ob die feinabgestimmten Naturkonstanten, die extrem ausgeklügelten molekularen Maschinen und biologischen Baupläne, die codierte und zielgerichtet wirksame Information der DNA oder Phänomene wie Geist, Schönheit und Moral nicht zwingend auf die Wirksamkeit eines intelligenten Designers hinweisen, wird in der Tat vor allem in den USA intensiv diskutiert – und zwar bei weitem nicht nur in religiösen Kreisen! Die empirischen Hinweise, dass z.B. eine lebende Zelle unmöglich durch materielle Selbstorganisationsprozesse entstehen kann, sind mittlerweile überwältigend klar. Das nagt natürlich zwangsläufig auch an der Glaubwürdigkeit einer materialistisch gedachten Evolutionstheorie. Wer diese Diskussion nur auf eine philosophische Debatte begrenzen will, schränkt letztlich die freie Wissenschaft als offene Suche nach der besten Erklärung ein.
Angesichts der wissenschaftlichen Fortschritte haben Christen heute mehr denn je gute Gründe, am biblischen Weltbild festzuhalten und skeptisch zu sein gegenüber einem grenzüberschreitenden Wissenschaftsbegriff, der Gott auch in den Ursprungsfragen prinzipiell als Ursache ausschließen möchte. Diese Haltung hat nichts mit Verschwörungstheorien oder Wissenschaftsskepsis zu tun. Sie knüpft vielmehr an die Erfolgsgeschichte der Wissenschaftspioniere an, die nach Naturgesetzen suchten, weil sie fest an einen Gesetzgeber glaubten. Es wäre ein klarer Bruch mit der Christentumsgeschichte und mit dem biblischen Zeugnis, die Wirksamkeit Gottes auch in den Ursprungsfragen ausschließlich auf eine transzendente Sphäre zu beschränken und in der Bibelwissenschaft prinzipiell nie mit dem offenbarenden und wunderwirkenden Eingreifen Gottes zu rechnen.
Angesichts der desaströsen Folgen des wunderkritischen Paradigmas für Theologie und Kirche erschrecke ich, wenn Thorsten Dietz schreibt: „In den meisten Werken der Konferenz der missionarischen Ausbildungsstätten“ gilt: „Ein fundamentaler Gegensatz zur Universitätstheologie wird nicht mehr behauptet. Man vertritt auch keine »theistische Evolution« … Aus heutiger theologischer Sicht ist es ein Kardinalfehler, Gott wie einen Faktor des Weltgeschehens verrechnen zu wollen.“ (S. 268) Wird demnach auch in freien Ausbildungsstätten zunehmend Wissenschaft im Rahmen eines wunderkritischen Paradigmas betrieben und vermittelt? Ist Gott dort kein Faktor des Weltgeschehens mehr? Dass dem in Teilen durchaus so sein könnte, wurde mir zuletzt deutlich bei der Lektüre des freikirchlich geprägten Buchs „glauben lieben hoffen“ über die Grundlagen des christlichen Glaubens. Auch hier wird die Wirkung eines Schöpfers vollständig auf eine transzendente Ebene verschoben: „Jedes Schöpfungswerk lässt sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen.“ (S. 37) Das Leben auf der Erde ist ein „vermutlich einzigartiger kosmischer Glücksfall.“ (S. 42) Zugleich wird in diesem Buch vorhersehende Prophetie (und damit auch Christus im Alten Testament), die Jungfrauengeburt und das stellvertretende Sühneopfer in Frage gestellt oder offen abgelehnt. Wieder zeigt sich: Die Akzeptanz des wunderkritischen Paradigmas in der Ursprungsforschung und in der Bibelwissenschaft hat weitreichende Konsequenzen auch für die innersten Kernüberzeugungen des Christentums! Die Evangelikalen tun deshalb gut daran, ganz bewusst am biblischen Weltbild festzuhalten und auf dieser Basis Wissenschaft zu betreiben – ganz in der erfolgreichen Tradition der christlichen Wissenschaftspioniere.
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Wie wollen wir als Evangelikale Wissenschaft betreiben? Wollen wir festhalten am biblischen Weltbild? Wollen wir weiter der biblischen Botschaft glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass er zuweilen Wunder tut und seinen Knechten sich selbst und die Zukunft offenbart?
Thorsten Dietz berichtet: „Fundamentalismus“ ist in der öffentlichen Wahrnehmung ähnlich geächtet wie Rassismus oder Antisemitismus. Die Diagnose „Fundamentalist“ bedeutet deshalb „von Anfang an eine Ausgrenzung“ (S. 238). Wie sehr er damit recht hat, zeigen Äußerungen wie die des SPD-Manns Michael Roth, der twitterte, dass islamische Hassprediger so wenig zu Europa gehörten wie evangelikaler Fundamentalismus. Warum progressive und liberale Theologen trotzdem weiterhin konservative Christen mit diesem vergifteten Begriff belegen, wäre eine eigene Diskussion wert.
Beim Lesen von „Menschen mit Mission“ habe ich mich immer wieder gefragt: Bin ich in den Augen von Thorsten Dietz ein Fundamentalist? Mir schien zunächst, dass ich mich entspannen kann. Dinge, die für mich völlig selbstverständlich sind, wie z.B. die Nutzung moderner Technologie, zeitgemäßer Medien und Musik oder die Zusammenarbeit mit vielen Gläubigen für die Evangelisation beschreibt Dietz als Abkehr vom Fundamentalismus (S. 241). Ein fundamentalistisches Bibelverständnis fordert laut Dietz, dass „alle biblischen Beschreibungen … als Wahrheit akzeptiert werden, ohne Unterscheidung von wörtlicher, metaphorischer oder symbolischer Ebene.“ (S. 242) Ein solches Bibelverständnis halte ich nicht nur für blanken Unsinn, es ist mir in meiner langen evangelikalen Karriere eigentlich noch nie bewusst begegnet.
Verunsichert wurde ich dann aber doch, als ich las, dass man unter Fundamentalismus ein Schriftverständnis versteht, das „die völlige Irrtumslosigkeit und Widerspruchsfreiheit der Bibel behauptet“. Ins Fragen kam ich auch beim Lesen der Passagen, in denen Dietz als Gegenposition zum Fundamentalismus den Prediger und Evangelist Gerhard Bergmann mit den Worten zitiert, „dass es in der Bibel »Legenden, Mythen und Sagen, zwischen historischen und naturwissenschaftlichen Irrtümern« gebe“, kombiniert mit der Behauptung: „»Alle Verfasser [der Bibel] sind Kinder ihrer Zeit. Sie leben im Weltbild und den Vorstellungen ihrer Tage.« … »Die Bibel ist Gottes Wort, und zwar als Zeugnis von Gottes Offenbarung.«“ (S. 258). Muss ich solche Thesen gut finden, um kein Fundamentalist zu sein?
Für Dietz gilt jedenfalls: „Der Fundamentalismus ist wie sein Bibelverständnis keine traditionell christliche Position. Er ist ein junges Phänomen und entsteht in Reaktion auf die Moderne. Dieses Phänomen ist nicht konservativ, es ist reaktiv; es reagiert auf eine Moderne, die als radikale Verneinung des Christentums empfunden wird.“ (S. 275)
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Bibelleser müssen beachten, dass das Wahrheitsverständnis der biblischen Autoren ein anderes sein kann als unser heutiges Wahrheitsverständnis. Dietz zitiert dazu den Theologen Heinzpeter Hempelmann: Der Wahrheitsbegriff der „Inerrancy-Konzeption“ in den sogenannten „Chicago-Erklärungen“ sei der moderne, „aus rationalistischem Geist formulierte Begriff mathematischer Richtigkeit“ (S. 265). Das passt für Hempelmann nicht zum Wahrheitsbegriff der Bibel. Tatsächlich verwirft auch die erste Chicago-Erklärung die Ansicht, dass man von der Bibel „moderne technische Präzision“ erwarten dürfte (Artikel XIII).
Ähnlich argumentiert auch der Theologe Armin Baum. In seinem offen.bar-Vortrag über das historische Wahrheitsverständnis des Neuen Testaments erläutert er: Aus antiker Sicht galt es als wahr, eine Rede sinngemäß zu zitieren. Heute erwarten wir von einem Zitat hingegen eine wortwörtliche Übereinstimmung, wenn es als wahr gelten soll. Mit solchen Differenzen im Wahrheitsverständnis müssen wir also rechnen.
Dietz warnt zudem vor falschen Motivationen für bibeltreue Haltungen: „Das absolute Vertrauen auf die Bibel ist die Kehrseite eines totalen Misstrauens gegenüber der modernen Welt.“ (S. 274) Ich finde es wichtig, sich solchen Anfragen selbstkritisch zu stellen. Die Bibel taugt nicht als Kompensation für eine immer verwirrendere Welt. Wie verbreitet solche Fehlhaltungen sind, scheint mir allerdings pure Spekulation zu sein. Nach meiner Wahrnehmung ist auch sehr konservativen Christen zumeist bewusst, dass die Bibel nicht immer leicht zu verstehen ist und an vielen Stellen unterschiedlich ausgelegt werden kann – weshalb sie natürlich auch kein Hort endgültiger Klarheit in sämtlichen Fragen ist. Sofern der Satz von Thorsten Dietz als feste Zuschreibung gemeint ist, müsste man ihn zumindest in seiner Pauschalität entschieden zurückweisen.
Richtig ist aber: Es gibt unter Evangelikalen die Gefahr, spezielle Bibelauslegungen zum Maßstab für Alle zu machen. Das ist immer dann besonders problematisch, wenn Machtmenschen in einer Gemeinschaft ihre spezielle Bibelauslegung missbrauchen für Manipulation und Machtmissbrauch. Solche zerstörerische Dynamiken habe ich selbst erlebt. Und in Gesprächen mit Postevangelikalen habe ich leider immer wieder davon gehört. Wir sollten deshalb immer streng darauf achten, unter der Schrift zu bleiben. Weder dürfen wir uns selbst zum Richter über richtig und falsch in der Bibel machen. Noch sollten wir meinen, immer ganz genau zu wissen, wie die Bibel im Einzelnen auszulegen ist.
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Auch neutestamentliche Texte werden schon in der Bibel selbst auf das Autoritätsniveau der alttestamentlichen Schriften gehoben (2.Petr.3,16; Offb.22,18-19). Eine Trennung zwischen Schrift und Offenbarung, in der biblische Texte nur noch ein menschlich-kritisierbares „Zeugnis von Gottes Offenbarung“ sind oder ein „Kanon-im-Kanon-Ansatz“ ist aus der Bibel nirgends ableitbar. Gerhard Maier stellt vielmehr klar: „So etwas wie unsere kritische Theologie gegenüber der Schrift wäre weder für Jesus noch für die jüdischen Schriftgelehrten seiner Zeit denkbar gewesen.“[2]
Wer davon ausgeht, dass die ganze Schrift von Gott inspiriert ist, kann in der Bibel zwar durchaus gegensätzlich erscheinende Pole erkennen, die gesunde Spannungsfelder erzeugen. Klar ist aber auch: Würden biblische Autoren einander hart widersprechen, dann wäre der Offenbarungscharakter und die Einheit der Schrift verloren. Dann könnte DIE Bibel nichts sagen. Sie könnte kein Maßstab für Glaube und Leben sein.
Heinzpeter Hempelmann schrieb deshalb: „Die Bibel ist nicht teilweise Wort Gottes, in anderen Teilen bloß Menschenwort … Es maßte sich ja einen ‚Gottesstandpunkt‘ an, wer in ihr unterscheiden wollte zwischen Gottes- und Menschenwort … Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.“[3] Diese Position hat mit einem randständigen, weltflüchtigen Fundamentalismus nichts zu tun. Sie ist nicht einmal spezifisch evangelikal. Sie ist biblisch, reformatorisch – und weithin christlich[4].
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Wollen wir uns einerseits hüten vor der Versuchung, eigene Auslegungen der Bibel als unhinterfragbare Wahrheiten darzustellen? Wollen wir andererseits festhalten am reformatorischen Prinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, weil sie als Gottes heiliges, verlässliches Wort die letzte Autorität hat?
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[1]„Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Martin Luther in: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520). Einschränkend muss man sagen, dass Luther durchaus Zweifel an manchen Aussagen im Neuen Testament äußerte. Dabei ging es ihm aber nicht um Bibel- sondern um Kanonkritik, wie der Theologe Clemens Hägele erläutert. Luther konnte die Apostolizität mancher NT-Bücher anzweifeln. Aber „mit einer apostolischen Fehlleistung rechnet er nicht.“
[2] Gerhard Maier im Vortrag „Der Offenbarungscharakter der Schrift“ gehalten am 27.9.21 für die Mediathek offen.bar (https://youtu.be/EFYqmRdRTZI)
[3] Heinzpeter Hempelmann: Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut. Zum Ansatz einer Schriftlehre, die von der Schrift selbst zu lernen sucht, in: Theologische Beiträge 33 (2002) 4, S. 179–196, Abschnitt 2.5 und 3.2
[4] Gerhard Maier berichtet: Die Trennung zwischen Offenbarung und biblischem Text hat sich erst nach der Aufklärung durchgesetzt. Die Auffassung, dass die biblischen Texte ein menschliches „Produkt der Kirche“ seien, „hätte während vier Fünftel der Kirchengeschichte keine Chance gehabt, als christlich bewertet zu werden.“ In: Biblische Hermeneutik, S. 106
Weiterführend:
Ist die Bibel unfehlbar? Was die Kirchenväter und die Bibel selbst zur Irrtumslosigkeit der Bibel sagen
„Große Bejahung“ heißt: „Evangelikale Frömmigkeit ist … laut und grell mit ihrer Zuspitzung: »Jesus liebt dich!«“ (S. 94) Mehr als eine allgemeine Zusage, dass da einer mit uns geht, bringen Evangelikale diese Liebe prägnant und klar zum Ausdruck mit der Geschichte Jesu, mit „seinem Leiden, ja seinem Blut.“ (S. 95) Damit antworte der Evangelikalismus auf „eine ungeheure Nachfrage nach der Botschaft, bedingungslos geliebt zu sein.“ (S. 93)
Evangelikale Frömmigkeit stiftet „Sinn“ durch das Bewusstsein, „dass es so viel Wichtigeres, Größeres, Heiligeres als mein Ich und seine Launen gibt.“ (S. 96)
„Evangelikalismus lebt von der Begeisterung und dem Zusammenhalt vieler Gemeinschaften … Sie sind immer schon gemeinschaftlich unterwegs, zusammengehalten von einer Mission, die sie als Botschaft, als Auftrag, als Vision ergreift und die sie ihrerseits entfalten“, statt nur Teil einer vorwiegend professionell getragenen religiösen Versorgungsstruktur zu sein. (S. 97)
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Die Frage nach dem richtigen Erfolgsrezept für die Zukunft treibt – gerade vor dem Hintergrund rapide wachsender Austrittszahlen – auch die evangelische Kirche intensiv um. Deshalb versucht sie, Kirche und Kirchenmitgliedschaft wieder attraktiv machen. So betonte die EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich jüngst in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Kirchenmitgliedschaft hat Mehrwert.“ Die württembergische Landeskirche macht gar Werbung mit „10 guten Gründen, in der Kirche zu sein“. Thorsten Dietz berichtet aber, dass Evangelikale mit einem ganz anderen Konzept erfolgreich sind:
„Inzwischen denken viele darüber nach, wie Kirche wieder attraktiv werden kann. Nur: Jugendliche suchen keine attraktive Kirche. Evangelikale Mission setzt nie auf die Attraktivität von Gemeinde oder Kirche. Das entscheidende Ziel ist es, die Attraktivität Gottes sichtbar zu machen. Jesus ist faszinierend. Kirche ist insofern relevant, als sie Zugang zu dieser Wirklichkeit vermittelt. Dann kann sie auch Anteil daran gewinnen.“ (S. 374)
Anders ausgedrückt: Eine Kirche, die sich selbst ins Schaufenster stellt, wird scheitern. Kirche wird nur attraktiv, wenn sie sagt: „It’s all about you, Jesus.“ (S. 94)
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Ist mit der „Großen Bejahung“, „Sinn“ und „Gemeinschaft“ wirklich der Erfolg der Evangelikalen erklärt? Ich glaube: Das wäre zu oberflächlich gedacht. In Kapitel 12 über evangelikale „Spiritualität“ schreibt Thorsten Dietz: „Der missionarische Erfolg der Evangelikalen beruht nicht auf ihrer intellektuellen Brillanz oder ihrer tiefschürfenden Lehre. Er beruht darauf, dass sie eine Spiritualität anbieten, die begeisternd, alltagsnah und gemeinschaftsstiftend ist. … Zentral ist eine starke Bibelfrömmigkeit. … Ebenso wesentlich ist das (gemeinsame) Gebet.“ (S. 370/371)
Tatsächlich ist meine Erfahrung: Bibel und Gebet sind das wahre Kraftzentrum evangelikaler Frömmigkeit. Die evangelikale Bewegung ist im Kern eine Bibel- und Gebetsbewegung. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen ist letztlich… Gott! Evangelikale rechnen damit, dass Gott selbst durch sein heiliges Wort zu ihnen spricht. Sie rechnen damit, dass Gott ihr Gebet (er-)hört. Sie rechnen damit, dass der Heilige Geist sie erneuert und bevollmächtigt. Deshalb lesen sie in der Bibel. Deshalb beten sie. Deshalb werden sie gemeinsam mutig aktiv. „Bejahung“, Sinnstiftung und Gemeinschaft sind letztlich nur Ausflüsse ihrer durch Gebet und Bibellesen praktisch gelebten Gottesbeziehung. So erlebe ich das seit vielen Jahren.
Deshalb ist es schade, dass Thorsten Dietz sich in seinem Kapitel über evangelikale Spiritualität nicht auf Gebet und Bibel konzentriert, sondern sich vor allem mit Lobpreis befasst. So sehr ich Lobpreis persönlich schätze, so sehr glaube ich auch: Man kann den Erfolg der Evangelikalen nicht verstehen, ohne sich primär mit ihrer Gebets- und Bibellesepraxis zu befassen.
Der Erfolg der Evangelikalen beruht meines Erachtens sehr wohl gerade auch auf tiefschürfender Lehre, die aus diesem tiefen Bibelvertrauen resultiert. Meine evangelische Kirche leidet hingegen gerade darunter, dass Lehre und Predigt schnell zur dünnen Suppe wird, wenn die Distanz zur Bibel wächst. Auch im evangelikalen Umfeld ist meine Erfahrung: Wo das Bibellesen sich immer mehr auf Losungen reduziert und wo das Gebetsleben einschläft, da verdunstet auch die Leidenschaft, Ausstrahlung und Fruchtbarkeit. Da werden auch evangelikale Gemeinschaften trocken, oberflächlich und selbstbezogen.
Deshalb sollten alle, die vielleicht auch ein wenig neidvoll auf evangelikale Erfolge schauen, verstehen: Der evangelikale Kuchen (d.h. lebendige und wachsende Gemeinden) ist nicht zu haben ohne die beiden wichtigsten evangelikalen Grundzutaten: Das feste Vertrauen auf Gottes lebendiges und kraftvolles Wort. Und die geistgewirkte Gottesbegegnung im Gebet.
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Wo suchen und erwarten wir in erster Linie die dringend notwendigen Erneuerungskräfte für die schwächelnde Kirche in Deutschland? In neuen Ideen, besseren Konzepten, mehr Attraktivität oder größere Nähe zur Gesellschaft? Oder erwarten wir unsere Hilfe in erster Linie von Gott, der seiner Kirche begegnet durch sein Wort und im Gebet? Wollen wir unseren Fokus darauf richten, IHN zu suchen und im Kern weiter eine Bibel- und Gebetsbewegung zu sein?
Über die Frage, wer oder was die Evangelikalen eigentlich sind, wurde viel geschrieben. Thorsten Dietz hat ohne Zweifel recht, wenn er feststellt: „DIE Evangelikalen gibt es nicht. … Die Evangelikalen existieren nur im Plural.“ (S. 9) Tatsächlich verbindet die Evangelikalen bei genauerer Betrachtung nur wenig. Sie sind „bis heute von höchst unterschiedlichen protestantischen Traditionen bestimmt: Das reformatorische Erbe. Täuferische und freikirchliche Impulse. Nachwirkungen des Pietismus und des Methodismus. Pfingstkirchliche und charismatische Aufbrüche.“ (S. 37/38) „Sie haben kein gemeinsames Lehramt. Sie haben keine liturgischen Traditionen, die sie verbinden. Und sie haben auch keine traditionellen Bekenntnisse, an die sie gebunden sind; zumindest kein gemeinsames.“(S. 171). Und sie haben „keinerlei kirchliche Struktur.“ (S. 185). „Aus Konfessionskirchen, die in einer lebendigen Tradition der Lehre … stehen … wird ein unübersehbares Nebeneinander von Non-denominational Churches, also von Einzelgemeinden ohne traditionelle Bekenntnisse, ohne übergemeindliche Verankerung in Aufsichtsstrukturen, ohne geschichtliche Wurzeln.“ (S. 431)
Vor diesem Hintergrund ist umso erstaunlicher, dass diese in jeder Hinsicht höchst vielfältigen und in keiner Weise steuerbaren Gruppen eine gemeinsame Bewegung bilden konnten, die nicht nur eine gemeinsame Geschichte verbindet (die Thorsten Dietz spannend und kenntnisreich schildert). Der britische Historiker David Bebbington nennt zudem vier weithin akzeptierte gemeinsame Merkmale der Evangelikalen (S. 15 ff.):
„Bekehrung“ steht für die starke Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Hinwendung zu Jesus.
„Aktivismus“ meint: Nicht nur Priester oder Pastoren sondern alle Gläubigen sind aufgerufen, sich zu engagieren, vor allem für Evangelisation und (Welt-)Mission.
„Biblizismus“ meint das „Streben nach einem möglichst biblisch fundierten Denken in der Lehre und in der persönlichen Frömmigkeit.“ „Die Betonung der autonomen Vernunft in der Aufklärungszeit wird entsprechend kritisch gesehen.“ (S. 17/18)
„Kreuzeszentrierung“ bedeutet: Die Überzeugung, dass Jesus als wahrer Mensch und wahrer Gott einen stellvertretenden Opfertod am Kreuz gestorben ist zur Erlösung von Sünde und Tod, steht im Zentrum des Glaubens.
Diese „Merkmale ziehen sich durch alle Strömungen.“ (S. 37) Wir werden im Verlauf dieser Artikelserie noch darauf zurückkommen. Zunächst müssen wir jedoch die Frage klären:
Woher kommt eigentlich diese gemeinsame DNA der Evangelikalen?
Es ist ja ein Phänomen: Obwohl die Evangelikalen vielfach wenig Wert darauf legen, dass ihre Gemeinden „zu Kirchen gehören, deren Glaube und Ordnung eindeutigen Ausdruck in kirchlichen Bekenntnissen … und einer einheitlichen Gestalt von Lehren und Diensten findet“ (S. 431) nehmen gerade sie die (alt-)kirchlichen Bekenntnisse oft besonders ernst und finden viel stärker zu einer gemeinsamen Gestalt von Lehre und Dienst wie traditionelle Kirchen. Woran liegt das? Thorsten Dietz schreibt:
„Tatsächlich teilen sie [d.h. die Evangelikalen] einen Anspruch: die Bibel als Maßstab aller Wahrheitserkenntnis und aller Lehre – und die Erfahrung der Realität Gottes, im Herzen, aber auch in der Geschichte und in der Natur. Aber wie setzt man beides zueinander ins Verhältnis? Die evangelikale Antwort lautet: dadurch, dass wir die christliche Erfahrung eindeutig einem klaren Kriterium unterwerfen – einer christlichen Lehre auf der Grundlage der Bibel. Dafür reicht es jedoch nicht, sich auf die Bibel zu berufen. Man muss sie auslegen, auf ihr als Grundlage Lehre entwickeln. Das ist der Grund, warum Theologie für den modernen Evangelikalismus ein Schlüsselthema ist.“ (S. 171) „Gerade weil Evangelikale keine organisatorische Struktur besitzen, die verbindliche Entscheidungen treffen kann, ist das Ringen um die richtige Theologie bisweilen so verbissen.“ (S. 185)
Anders ausgedrückt: Die Bibel als Maßstab für Lehre und Glauben ist für die Evangelikalen als Kitt unersetzbar. Im Gegensatz zu anderen christlichen Organisationen haben sie schlicht keinen anderen. Genau das hat auch Thomas Schirrmacher in seiner Antrittsrede als neuer Generalsekretär der weltweiten evangelischen Allianz betont:
„Wenn es um die Bibel geht, sind wir tief überzeugt, dass die Bibel die Verfassung der Kirche ist. … Manche Leute verspotten uns und sagen, wir hätten einen papierenen Papst. Wir sind stolz, einen papierenen Papst zu haben! Denn der papierene Papst stellt sicher, dass keiner von uns, mich eingeschlossen, über dem Wort Gottes steht. … Wir glauben, dass der Heilige Geist seine Kirche regiert. Aber wir glauben nicht, dass das im Gegensatz zur Heiligen Schrift steht, denn der Heilige Geist ist der Autor der Heiligen Schrift und er gebraucht seine „Verfassung“, die Heilige Schrift, um die Kirche zu regieren. Das ist die DNA des Christentums und es ist evangelikal. Wenn allerdings andere das in Frage stellen, dann mag es als etwas Besonderes erscheinen, das wir Evangelikalen vertreten. Wir aber glauben, dass es christlich ist.“[1]
Es ist also kein Wunder, warum Evangelikale das Thema Bibelverständnis so hoch hängen. Hier geht es für sie um Entscheidendes.
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Thorsten Dietz hat die Geschichte und die zentralen Merkmale der Evangelikalen sehr schön und – soweit ich das beurteilen kann – zutreffend dargestellt. Dabei gelingen ihm manchmal wunderbare Formulierungen zu der Frage, wie Evangelikale ticken:
„Ja, das Licht seiner Liebe macht dein Leben hell; aber natürlich nur da, wo du dich auf eine kopernikanische Wende deines Lebens einlässt. Er ist die Sonne und dein Platz ist eine Umlaufbahn. Er ist der Mittelpunkt in deinem Leben und in deinem Herzen, in deiner Schwäche und in deiner Stärke. Evangelikalismus ist eine Frömmigkeit der teuren Gnade. Sie will keine Provinz in deinem Gemüt sein, sondern die Mitte von allem. Es ist die Party mit dem teuersten Eintrittsgeld: Weil sie alles bietet, kostet sie dich alles.“ (S. 95)
So ist es. Ich könnte es für meinen persönlichen Glauben nicht besser ausdrücken.
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Dietz schreibt zutreffend: „Die Zuverlässigkeit der Bibel hat für Evangelikale schlechthin überragende Bedeutung. Gemeint ist vor allem der realhistorische Charakter der biblischen Erzählungen. … Im Unterschied zur geschichtlichen Skepsis der historisch-kritischen Exegese in der Universitätstheologie ist für sie der Tatsachencharakter der biblischen Erzählungen von zentraler Bedeutung.“ (S. 175) Warum legen die Evangelikalen so viel Wert auf die historische Tatsächlichkeit biblischer Ereignisse? Dazu schreibt Dietz: Evangelikale sind „davon überzeugt, dass biblische Erzählungen nur dann auch für uns heute Bedeutung haben können, wenn diese Ereignisse auch wirklich passiert sind. Der weltanschauliche Hintergrund dieser Sicht ist modern.“ (S. 176) „Es gibt eine evangelikale Sehnsucht nach absoluter Wahrheit, nach festen Gewissheiten und eindeutigen Erkenntnissen, die in starker Spannung steht zur modernen Einsicht in die Relativität aller unserer Erkenntnisse.“ (S. 178)
Sind alle Erkenntnisse relativ? Sind wir also nicht in der Lage, absolute Wahrheiten zu erkennen, die standpunktübergreifend gelten? Diese in der Postmoderne weit verbreitete Position erfährt längst nicht mehr nur in evangelikalen Kreisen zunehmenden Widerspruch. Für Christen ist es von großer Bedeutung, dass es jenseits aller Subjektivität und Relativität (die wir natürlich im Blick behalten müssen) objektiv fassbare, formulierbare, für alle gemeinsam gültige Wahrheiten gibt, die uns die Bibel vermittelt. Solche Wahrheiten sind verbindende Schätze der Christenheit, die wir gemeinsam feiern, besingen, bekennen und bezeugen und an denen wir generations- und kulturübergreifend festhalten können.
Die nächste Frage wäre: Legen denn wirklich nur Evangelikale der Moderne Wert darauf, dass biblische Erzählungen wirklich passiert sind? Ist das eine spezifisch evangelikale “Sehnsucht”? Natürlich ist auch vielen Evangelikalen bewusst, dass nicht jeder Text in der Bibel die Absicht hat, exakte historische Fakten zu liefern. Aber nicht zuletzt das apostolische Glaubensbekenntnis macht deutlich: Der christliche Glaube war seit jeher untrennbar mit der Tatsächlichkeit historischer Ereignisse verknüpft: Jungfrauengeburt. Das Leiden unter Pontius Pilatus. Kreuzigung. Begräbnis. Auferstehung. Himmelfahrt. Viele innerbiblische Begründungszusammenhänge beruhen auf der Tatsächlichkeit von historischen Ereignissen. Die theologischen Aussagen sind oft untrennbar mit geschichtlichen Ereignissen verknüpft. Der Theologe Timothy Keller schreibt dazu:
„Das christliche Evangelium ist kein gut gemeinter Rat, sondern es ist gute Nachricht. Es ist keine Handlungsanleitung, was wir tun sollten … sondern vielmehr eine Verlautbarung, was bereits für unser Heil getan wurde. Das Evangelium sagt: Jesus hat in der Geschichte etwas für uns getan, damit wir, wenn wir im Glauben mit ihm verbunden sind, Anteil an dem bekommen, was er getan hat, und so gerettet werden.“[2]
In seinem offen.bar-Vortrag zum historischen Wahrheitsanspruch des Neuen Testaments macht Prof. Armin Baum zudem deutlich: Es gab zwar durchaus Unterschiede im damaligen und im heutigen Wahrheitsverständnis. Doch zugleich gilt: „In der Welt des Neuen Testaments, so glaube ich aufgrund der Quellen sagen zu können, konnte man so wie wir zwischen Fiktion und historischer Wahrheit unterscheiden.“[3] Zudem legt er dar: Lukas hatte eindeutig den Anspruch, einen fundierten historischen Bericht zu schreiben.
Die historische Tatsächlichkeit von historisch gemeinten biblischen Erzählungen ist deshalb für Evangelikale genau wie für die frühen Christen unaufgebbar, weil es dabei um die biblische Glaubwürdigkeit insgesamt geht – und letztlich um den Kern des christlichen Glaubens, der eben nicht nur auf theologischen Lehrsätzen, sondern auf dem Handeln Gottes in der Geschichte beruht.
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Wie stehen wir Evangelikale heute in Deutschland zu den genannten vier Merkmalen? Halten wir an ihnen fest? Mehr noch: Begründen und verteidigen wir aktiv unsere gemeinsamen Kernanliegen? Wollen wir die Erfolgs- und Segensgeschichte der Evangelikalen weiter schreiben, indem wir offensiv eintreten für die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung, für die Dringlichkeit von Evangelisation und Mission, für die Bibel als gültiger Maßstab für Glaube und Leben und für den stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz als einzige Grundlage für unsere Erlösung?
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[1] Aus der Rede von Prof. Thomas Schirrmacher vom 27.02.2021 anlässlich seiner Einführung als Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz, in der autorisierten Übersetzung von Ulrich Parzany, veröffentlicht unter https://www.bibelundbekenntnis.de/aktuelles/was-heisst-evangelikal/
[2] In Timothy Keller „Adam, Eva und die Evolution“, Giessen 2018, S. 33
10 Zukunftsfragen an die Evangelikalen auf Basis des Buchs „Menschen mit Mission“ von Prof. Thorsten Dietz
Mit dem Buch „Menschen mit Mission“ hat Prof. Thorsten Dietz die bisher umfangreichste und differenzierteste Darstellung zur evangelikalen Bewegung in Deutschland vorgelegt. Welches Bild wird hier gezeichnet? Welche Konsequenzen folgen daraus für die Zukunft der Evangelikalen? Soviel ist sicher: Dieses Buch will wichtige Diskussionen anstoßen. Reden wir darüber!
Es soll Leute geben, die die Lektüre eines Buchs mit dem Ende beginnen. Das Ende von „Menschen mit Mission“ war für mich besonders spannend. Nach mehr als 450 Seiten steuert Thorsten Dietz auf der letzten Doppelseite auf diese finale Diagnose zu:
„Auch die evangelikale Bewegung in Deutschland hat ihre Krise. Dabei geht es längst nicht mehr in erster Linie darum, welche Beurteilung gleichgeschlechtliche Liebe findet und welch biblische Hermeneutik vertreten wird oder werden soll – sondern wie sie mit der Pluralität in ihren eigenen Kreisen umgeht: so, wie vom früheren Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz Michael Diener vorgeschlagen, dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen? Oder so, wie vor allem vom Netzwerk Bibel und Bekenntnis angestrebt, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf? Diese Grundfrage ist weiterhin ungelöst.“(S. 458)
Thorsten Dietz ist bei weitem nicht der Einzige, der von einer Krise unter den Evangelikalen in Deutschland redet. Auch Ulrich Eggers schrieb jüngst in der Zeitschrift AUFATMEN: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“
Wenn es stimmt, dass der Umgang mit wachsender Pluralität tatsächlich DIE Herausforderung für die heutigen Evangelikalen ist, dann ist die zentrale Frage, der wir uns gemeinsam stellen müssen: Wie können wir die Einheit und die missionarische Dynamik der vielfältigen evangelikalen Jesusbewegung bewahren? Wie bleiben wir Menschen mit Mission?
Im Blick auf das Buch von Thorsten Dietz wäre dann zu fragen: Ist die Alternative, die Thorsten Dietz hier aufmacht, in dieser Form zutreffend beschrieben? Wir werden auf diese wichtige Frage am Ende dieser Artikelserie zurückkommen.
Die Evangelikalen: Eine einzigartige Erfolgsgeschichte
Thorsten Dietz macht in seinem Buch immer wieder deutlich: Es steht enorm viel auf dem Spiel! Immerhin „handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus“ (S. 92). „Unbestreitbar blickt der Evangelikalismus auf eine beispiellose Wachstumsgeschichte zurück. In den USA waren um 1970 die sogenannten Mainline Churches, die historisch-protestantischen Kirchen in den USA (Anglikaner, Lutheraner, Reformierte etc.), doppelt so stark wie die Evangelikalen. Bis etwa 2005 hatten sich die Verhältnisse umgekehrt.“ (S. 37).
Der Erfolg der Evangelikalen zeigt sich auch im praktischen Gemeindeleben: „Auf der Ebene der Gottesdienstbesuche oder gar der Gemeindegründung sind sie viel stärker als die liberalen Kirchen.“ (S. 339) „Evangelikale besuchen häufiger den Gottesdienst, engagieren sich stärker ehrenamtlich und verbringen mehr Zeit in der Gemeinde. Dieses aktivere und lebendigere Gemeindeleben macht es auch für andere attraktiv, nicht zuletzt für die eigenen Kinder und Jugendlichen. Vergleichbare Befunde zeigen sich weltweit.“ (S. 425)
10 Zukunftsfragen an die Evangelikalen
Vor dem Hintergrund dieser erstaunlichen Erfolgsgeschichte führt das Buch von Thorsten Dietz zu einigen zentralen Zukunftsfragen für die evangelikale Bewegung:
Die folgenden 10 Artikel greifen zu jeder dieser Fragen einige zentrale Thesen von Thorsten Dietz heraus und stellen dazu die drei folgenden Fragen:
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Im finalen Artikel wage ich ein persönliches Fazit. Und ich möchte mich persönlich verorten auf der Landkarte, die Thorsten Dietz in seinem Buch zeichnet. Ich hoffe, ich konnte Dein Interesse wecken? Wenn ja, dann legen wir los mit
1. Beide betonen, dass es wichtig ist, einander zu begegnen und miteinander ins Gespräch zu kommen (Diener, S.64: „Hoffnung, dass das Brückenbauen gelingt“; Till, S.183: „Gut geführter Dialog kann uns helfen, Schritt für Schritt in eine Reife und Ausgewogenheit zu finden,…“).
2. Beide betonen, dass es bei unterschiedlichen Meinungen um die Lehre geht, nicht um den Glauben des anderen – Diener, S.80: „Und wenn jemand anderes, dessen Lehrmeinung ich nicht teile, dennoch in Verbindung mit Gottes Geist steht, dann sollte mich das von einer klaren Auseinandersetzung in Lehrfragen nicht abhalten, aber ohne, dass ich deswegen über den geistlichen Stand meines Gegenübers ein Urteil abgebe.“ – Till, S.162: „Wir dürfen und müssen uns mit anderen Meinungen und Positionen auseinandersetzen. Aber wir dürfen uns niemals an Gottes Stelle setzen und uns zum Richter über andere Menschen machen.“
3. Beide betonen, dass es auf beiden Seiten persönliche Verletzungen gab, die manche Schärfe erklären und die lähmend wirken – Diener, S.21-22: Biographische Beschreibung von gegenseitigen Verletzungen – Till, S.41-57: Konkrete Punkte, bei denen es gegenseitige Verletzungen gab
4. Beide betonen, dass die entscheidende Frage in der Diskussion das Bibelverständnis ist – Diener, S.64: „Wir beginnen mit der Hermeneutik, dem Verständnis der Bibel, weil sich daran zu Recht ganz viel entscheidet.“
– Till, S.135-136: „Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung? … Es entspricht auch meiner Beobachtung, dass wir hier tatsächlich im Kern der Auseinandersetzung angelangt sind.“
5. Beide betonen, dass die biblische Wissenschaft hilfreich und notwendig für die Bibelauslegung ist
– Diener, S.70: „…mithelfen, dass zu dem kindlich-vertrauensvollen Lesen der Bibel, das ich nie verloren habe, auch eine wissenschaftlich-reflektierte Hermeneutik tritt.“
– Till, S.109: „Ohne Zweifel sind bibelwissenschaftliche Methoden wichtig für eine solide und verantwortliche Bibelauslegung.”
6. Beide betonen, dass es Vielfalt gibt, diese aber nicht zu Beliebigkeit werden darf – Diener, S.112: „…Den evangelischen Landeskirchen … muss es ein Anliegen bleiben, das gemeinsam Identitätsstiftende so in den Mittelpunkt zu stellen, dass Unterschiede in einzelnen Sachfragen ausgehalten werden können.“
– Till, S.195: „Vielfalt ohne rote Linien kann man sich schönreden.“
7. Beide betonen, dass es Positionen gibt, die sich nicht mehr miteinander vereinbaren lassen – Diener, S.53: „…gibt es leider einen (bekenntniskonservativen) Flügel in der pietistischen und evangelikalen Welt, der nicht mehr ‚einheitsfähig‘ ist“; S.31: „Wer Olaf Latzel zum ‚evangelikalen Märtyrer‘ stilisieren will,…untergräbt unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“
– Till, S.171: „Natürlich sollen wir Einheit anstreben, wo immer das möglich ist. Aber wo das nicht geht, sollten wir das auch nicht übertünchen…Viel besser ist eine geklärte, möglichst versöhnte Verschiedenheit, in der wir einander die Freiheit zugestehen, unterschiedliche Wege zu gehen“; S. 154: „wenn sich die Bibelverständnisse der leitenden Mitarbeiter grundlegend voneinander unterscheiden, dann werden aus Spannungen leicht lähmende Dauerkonflikte.“
B) Wo sich Diener und Till unterscheiden
1. Aussagen zum Bibelverständnis
a) Während Diener die Bibel auch historisch-kritisch liest und damit Bibelkritik im Sinne einer Sachkritik zulässt, lehnt Till Sachkritik an der Bibel ab – entsprechend der Diskussion zwischen Stuhlmacher und Maier:
– Diener folgt Stuhlmacher, so S.70: „Stuhlmachers Grundpositionierung einer ‚Hermeneutik des Einverständnisses’ halte ich bis heute für hilfreich“, vgl. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments“, S.239-240: „…sollte eigentlich deutlich sein, dass der Grundsatz, das biblische Offenbarungswort könne und dürfe nicht Gegenstand von (historischer und dogmatischer) Kritik sein, unhaltbar ist“
– Till folgt Maier, so S.145: „Gerhard Maier erteilt entsprechend auch gemäßigten Versuchen einer sachkritischen Herangehensweise an die Bibel eine Absage“, vgl. Maier, Das Ende der historisch-kritischen Methode, S.104: „Der Offenbarung entspricht nicht Kritik, sondern Gehorsam“
– Sowohl Stuhlmacher als auch Maier beziehen sich an den zitierten Stellen auf den jeweils anderen.
b) Während Diener bei der Auslegung der Bibel neben den biblischen Aussagen selbst auch andere Faktoren als bestimmend ansieht, betont Till die Autorität der Bibel als Wort Gottes – Diener, S.76: „SO vollzieht sich evangelische Schriftauslegung – im geistlichen Miteinander von Bibel, Christus und Gegenwart“; vgl. S.21: „Außenwirkung in der heutigen Zeit und Gesellschaft“ als Kriterium; vgl. auch „Ethik zum Selberdenken“ von Dietz/Faix, der sich Diener „vollumfänglich“ anschließt (S. 175-176): Dietz/Faix, Transformative Ethik – Wege zum Leben, S. 308: „Denn wie es einschneidende geschichtliche Erfahrungen waren, die zu dieser Zuspitzung führten [gemeint ist die Anerkennung der Menschenrechte, Anm. CS], so ist damit zu rechnen, dass neue Erfahrungen ihrerseits eine Weiterentwicklung der Ethik nötig machen werden.“
– Till, S.147 (zu Luther): „die Bibel…eine Autoritätsinstanz…, der weder Vernunft, Weltwissen, Erfahrung, Auslegungs- und Wirkungsgeschichte, Bekenntnisse, kirchliches Lehramt oder Wissenschaft gleichgestellt werden darf“; vgl. auch Gerhard Maier, Biblische Hermeneutik, S.331, aus der Till zitiert (S.145): „Indem sie [gemeint ist die gemäßigte Kritik, Anm. CS] die Schrift und Offenbarung voneinander trennt und nur bestimmte Aussagedimensionen als Gottes Wort anerkennt, fördert sie den Hang zur Erfahrungstheologie.“
– Ein praktisches Beispiel: Während Diener bei der Ablehnung der Sklaverei die „kulturelle Sensibilität“ erwähnt (S.75), verweist Till auf „gute biblische Gründe für die Ablehnung der Sklaverei“ (S. 152).
2. Aussagen zu konkreten Themen
a) Gottesbild: Während Diener allein die Liebe Gottes in den Vordergrund stellt, betont Till neben der Liebe Gottes auch den Zorn Gottes – Diener, S.142: „Ich streiche das biblische ‚Reden von einer Hölle‘ nicht einfach aus meiner Bibel, aber ich ordne diese Aussagen in den größeren Zusammenhang dieses Heilswillen Gottes ein“; S.141: Frage, „ob es philosophisch betrachtet Sinn macht, zeitliche Sünden, und seien sie noch so schwer, mit ewigen Strafen zu bedenken“, auch im Blick auf Hitler und Stalin;
– Till, S.133 (mit Verweis auf John Stott): „…dass die weitverbreitete Seichtigkeit der westlichen Kirche die direkte Folge einer Theologie ist, die Gottes Zorn ignoriert.“
– Dazu passt, dass bei Till das Kreuz eine wesentlich größere Bedeutung hat als bei Diener (Bei Diener wird das Kreuz kaum erwähnt, bei Till ist die Gnade Gottes „ohne die Demütigung des Kreuzes nicht zu haben“, das Kreuz ist darum „unser ganzes Christenleben lang von täglicher Bedeutung.“ (vgl. S.215)
b) Einordnung anderer Religionen: Während Diener neben der Hochschätzung von Jesus im Anschluss an das Zweite vatikanische Konzil auch das „Wahre und Heilige“ in anderen Religionen anerkennt (S.150) und betont, dass auch Andersgläubige gute Gründe für ihren Glauben haben und keiner „verbindlich…sagen kann, was nun richtig und falsch ist“ (S.153), erwähnt Till die „Wahrheitsansprüche des Christentums“ (S.220).
c) Welt- und Menschenbild: Während Diener „Zeit“, „Geschichte“, „Kultur“ u.a. als „Gaben Gottes“ (S. 73) und damit den Menschen eher positiv sieht (vgl. auch S.216: Ablehnung einer „Distanzierung von einer aufgeklärten, autonomen und komplexer werdenden Welt in Verbindung mit einer eher pessimistischen Weltdeutung“), betont Till eher die Sündhaftigkeit und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen (vgl. S.110: „Der Mensch braucht … nicht nur Erlösung von bösen Umständen, sondern primär auch Erlösung vom ‚Gesetz der Sünde‘“).
d) Einschätzung der Situation in der Evangelischen Kirche: Während Diener die Ev. Kirche theologisch insgesamt auf einem guten Weg sieht, betont Till die Kritik
– Diener, S.106: „…ist die evangelische Volkskirche heute plural und nicht pluralistisch, da sie sehr wohl über einen Kriterienrahmen verfügt“; vgl. auch positive Beurteilung der Beratung nach § 218 auf S.182: „ethische Verantwortlichkeit des evangelischen Beratungsweges“
– Till, S.208: „Orientierungslosigkeit der Kirche“; vgl. S.217: „Lauheit einer Christenheit, die selbstgerecht glaubt, auf das Thema Kreuz, Sünde, Buße und Umkehr verzichten zu können.“
e) Sexualität
– Homosexualität: Während bei Diener allgemein formuliert und nach seiner Auffassung „Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit leitende Prinzipien für eine christlich-ethische Entscheidung in der heutigen Zeit sein sollen“, auch für den Umgang mit schwulen und lesbischen Menschen (S.192), hebt Till die Bedeutung der konkreten biblischen Aussagen hervor: „Wenn wir angesichts des klaren biblischen Befunds dem Wort Gottes beim Thema Homosexualität nicht folgen, dann gibt es keine Klarheit der Schrift mehr“ (S.152).
– Diener richtet sich vehement dagegen, dass diese Frage eine Bekenntnisfrage ist („unerträglich“) und will „gleichgeschlechtlichen Paaren den Segen Gottes nicht verweigern” (S.193; vgl. auch S.195: Frage, wie sich „liebevoller und diskriminierungsfreier Umgang“ damit vereinbaren lässt, dass „nur enthaltsam lebende homosexuelle Menscheneinen Platz als Mitarbeitende in einer Gemeinde finden“).
– Till betont, dass es wichtig ist, „einen respektvollen und liebevollen seelsorgerlichen Umgang mit den Betroffenen zu finden“ (S.153), schreibt aber auch: „Die Befürwortung ausgelebter Homosexualität lässt sich mit den biblischen Aussagen zur Sexualethik nicht vereinbaren.“ (S.152)
– Vorehelicher Geschlechtsverkehr: Bei Diener findet sich eine eindeutige Befürwortung, bei Till wird angedeutet, dass er hier Probleme sieht.
– Diener, S.201: „Aufgrund der veränderten und kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen meine ich nicht, dass eine derart verantwortlich gelebte Sexualität ihrem Rahmen nur in einer Ehe finden kann“
– Till, S.154: Hinweis auf Gräben bei der Sexualethik in der Jugendarbeit, „zum Beispiel die wichtige Frage: Gehört Geschlechtsverkehr ausschließlich in die Ehe?“, in den Anmerkungen wird auf einen Aufsatz des Neutestamentlers Armin Baum hingewiesen, der eine kritische Haltung zum Geschlechtsverkehr vor der Ehe einnimmt (S.252, Anm. 160).
C) Welche unterschiedlichen Tendenzen es bei Diener und Till in Bezug auf die Einheit gibt
Während es bei Till eine Tendenz zur Einheit durch Konsens gibt (vgl. Einheit durch Jesus und dadurch, dass wir „an der Wahrheit festhalten“, nicht dadurch, dass „alle Beteiligten – und gemeint sind dabei meist die Konservativen – einfach gelassener, weitherziger, toleranter und gnädiger wären“, vgl. S.226-228), findet sich bei Diener eine Tendenz zur Einheit durch Toleranz (vgl. S.20: Kriterium: „pluralitätsfähig“, S. 37: Vorwurf der „Pluralitätsverweigerung“; vgl. S.98: „die zwischen Christ*innen erkennbaren Unterschiede nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung verstehen“).
Ein denk- und wissenschaftsfeindliches Christentum schießt sich selbst ins Abseits, weil es von denkenden Menschen schlicht nicht ernst genommen werden kann. Christen sollten deshalb endlich aufhören, gegen die erwiesene Tatsache der Evolution anzukämpfen – zumal sie doch dem christlichen Glauben in keiner Weise schadet.
Solche Aussagen höre ich inzwischen auch im evangelikalen Umfeld immer häufiger. Im Jahr 2021 ist ein Buch erschienen, das dieses Narrativ einem gründlichen Faktencheck unterzieht und sich der Frage stellt: Ist Evolution denn wirklich „ein klarer Fall“, wie es so oft behauptet wird? Ist man ein Feind der Wissenschaft und des redlichen Denkens, wenn man die Evolutionstheorie in Frage stellt?
Geschrieben wurde das Buch von Dr. Reinhard Junker von der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Ich habe Reinhard Junker erstmals als Teenager auf einem Schülerwochenende kennen gelernt. Was mich schon damals beeindruckt hat war seine Nüchternheit, Sachlichkeit und Ehrlichkeit. Natürlich hatte Reinhard Junker eine klare Überzeugung. Für ihn hat immer gegolten, was das Logo von Wort und Wissen zum Ausdruck bringt: Wort UND Wissen ist wichtig. Aber am Ende steht das Wort über dem Wissen. Die Aussagen der Bibel haben das letzte Wort.
Zugleich ist Reinhard Junker für mich ein geradezu mustergültiger Wissenschaftler. Ein favorisiertes Modell zu haben ist ja vollkommen normal in der Wissenschaft. Die Kunst eines seriösen Wissenschaftlers ist es, trotzdem ehrlich mit den Fakten umzugehen, sie nicht zu verbiegen, sondern sich offen und ehrlich auch den Fakten zu stellen, die dem eigenen Ansatz widersprechen. Genau das tut Reinhard Junker auch in seinem Buch.
Zwei Modelle zur Entstehung der Lebewesen
Junker stellt zunächst zwei mögliche Modelle zur Entstehung der Lebewesen vor:
Das Evolutionsmodell geht davon aus, dass es eine ununterbrochene Abstammungslinie gibt von der ersten Zelle bis hin zu uns Menschen.
Das Schöpfungsmodell nimmt hingegen an, dass am Anfang ein Schöpfer stand, der verschiedene „Grundtypen“ erschaffen hat. Diese Grundtypen hatten von Beginn an das Potenzial, sich durch „Mikroevolution“ an die Umwelt anzupassen und im Zuge dieser Anpassungsprozesse auch neue Arten zu bilden. Jedoch können solche Anpassungsprozesse niemals völlig neue Baupläne oder innovative biologische Konstruktionen hervorbringen. Es gibt in diesem Modell also keine sogenannte „Makroevolution“, die zu ganz neuen Tier- und Pflanzenfamilien führen würde.
Spurensuche statt Beobachtung und Experiment
Die Frage, welches Modell zutrifft, ist schon deshalb nicht so leicht zu beantworten, weil wir mangels Zeitmaschine nicht beobachten können, welcher Prozess tatsächlich zur heutigen Tier- und Pflanzenvielfalt geführt hat. Wir können diesen Prozess auch kaum experimentell nachstellen. Die Untersuchungsmethode der exakten Naturwissenschaft (Beobachtung und Experiment) steht bei der Ursprungsfrage also nicht direkt zur Verfügung. Somit können auch keine Beweise im naturwissenschaftlichen Sinn geführt werden.
Aber was wir tun können ist etwas Ähnliches wie das, was ein Kommissar bei einem Mordfall tut: Wir können die Spuren analysieren, die dieser Prozess hinterlassen hat. Aus der Deutung der Spuren können wir dann eine Theorie dazu entwickeln, was wohl tatsächlich passiert ist.
Aus der Kriminalistik weiß man jedoch: Spuren sprechen nicht immer eine klare Sprache. Sie können oft sehr unterschiedlich gedeutet werden und uns manchmal regelrecht auf die falsche Fährte führen. Viele Menschen sind aufgrund falscher Spurendeutungen schon zu Unrecht im Gefängnis gelandet. Und nicht selten ist es vorgekommen, dass nach vielen Jahren neue Spuren aufgetaucht sind, die die bisher bekannten Spuren in ein völlig anderes Licht getaucht haben.
Könnte es vielleicht sein, dass bei der Frage nach der Entstehung der Lebewesen etwas Ähnliches passiert? Reinhard Junker schreibt dazu in seinem Vorwort: „Ausgerechnet Evolutionsbiologen haben – ohne es zu wollen – in den letzten Jahrzehnten zunehmend Eigenschaften an den Lebewesen entdeckt, die Evolution stark in Frage stellen, aber problemlos zu Schöpfung passen. Es gibt daher aufgrund neuerer naturwissenschaftlicher Daten guten Grund, den Fall Schöpfung und Evolution neu aufzurollen!“ (S. 7)
Den Fall neu aufrollen – genau das hat Reinhard Junker in seinem Buch getan. Er hat die unterschiedlichen Spuren noch einmal gründlich analysiert und gefragt: Wie beweiskräftig sind diese Spuren eigentlich? Zu welchem Modell passen sie am besten? Wurden manche Spuren vielleicht voreilig überinterpretiert? Und gibt es vielleicht neue Spuren, die wir bisher vernachlässigt oder übersehen haben?
Gibt es „Schöpfungsindizien“ in der Natur?
Gleich zu Beginn beschreibt Junker einige sogenannte „Schöpfungsindizien“. Damit sind Merkmale in der Natur gemeint, die darauf hindeuten, dass hier ein kreativer Geist, ein Schöpfer tätig gewesen sein muss. Dazu gehört zum Beispiel das Phänomen der nicht reduzierbaren Komplexität. Damit sind biologische Systeme gemeint, die nur dann funktionieren, wenn sämtliche Teile des Systems vorhanden sind und funktional ineinandergreifen. Die Entstehung derartiger maschinenartiger Systeme ist nach allen bisherigen Beobachtungen nur durch ein zielgerichtetes Design erklärbar: „Ein Konstrukteur kann entsprechend planen und handeln, aber Zufallsmutationen und Auslese sind damit hoffnungslos überfordert.“ (S. 55) An diesem Befund können bislang auch Vorschläge zu einzelnen denkbaren Zwischenschritten nichts ändern.
Sind „Ähnlichkeiten“ ein Beweis für Evolution?
Die Tatsache, dass es in der Tier- und Pflanzenwelt ein abgestuftes System von Ähnlichkeiten gibt, ist nur scheinbar ein Beweis für die Evolutionstheorie. Ähnlichkeiten sind ja auch dann zu erwarten, wenn ein Schöpfer verschiedene Dinge erschafft. Wenn Ingenieure oder Künstler unterschiedliche Werke hervorbringen, dann kommt es häufig vor, dass bestimmte Merkmale oder Bauteile immer wieder auftauchen. Ein kreativer Geist kann sich für seine Werke wie aus einem Baukasten bedienen und er ist frei, die Merkmale immer wieder anders zusammenzustellen.
Reinhard Junker berichtet: Genau dieses Baukastenprinzip finden wir tatsächlich auch in der Natur. Es gibt bestimmte Merkmale, die vollkommen unsystematisch in der Tier- und Pflanzenwelt verteilt sind. Dieser Befund ist im Rahmen eines Evolutionsmodells problematisch, denn dort würde man erwarten, dass sich ein bestimmtes komplexeres Merkmal oder ein Organ in der Regel nur EINMAL im Rahmen der Evolution entwickelt und dass dann nur die Nachkommen dieser Art dieses innovative Merkmal besitzen. Wenn aber ein Merkmal völlig unsystematisch über die unterschiedlichsten Organismengruppen verteilt ist, dann muss man im Rahmen eines Evolutionsmodells annehmen, dass es sich in manchen Fällen mehrere hundert Male unabhängig entwickelt hat. Aber wie können ziellose Prozesse immer wieder zum gleichen Ziel führen?
Junker zeigt zudem: Die Stammbäume, die aufgrund der Verteilung von äußerlichen Ähnlichkeiten entwickelt wurden, passen oft überhaupt nicht zu den Stammbäumen, die sich aus dem Vergleich des Erbguts der verschiedenen Tier- und Pflanzenarten ergeben. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Tier- und Pflanzenarten kein Beweis für die Evolutionstheorie darstellen.
Sprechen „Konstruktionsfehler“ gegen einen Schöpfer?
Im Anschluss geht Reinhard Junker der Behauptung nach, dass es in der Tier- und Pflanzenwelt Konstruktionsfehler gäbe. Diese werden oft als Argument gegen einen Schöpfer benutzt, weil man (theologisch!) annimmt: Wenn es wirklich einen Schöpfer gäbe, dann hätte er die Pflanzen und Tiere doch sicher perfekt gemacht.
Reinhard Junker zeigt aber: Viele angebliche Konstruktionsfehler haben sich bei genauerem Hinsehen gar nicht als solche bestätigt. So ist zum Beispiel der Wurmfortsatz des Blinddarms weder überflüssig noch sinnlos. Oft wurde behauptet, die Netzhaut des menschlichen Auges sei falsch herum eingebaut. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt: Die Konstruktion des menschlichen Auges ist absolut perfekt gestaltet für eine optimale Sehschärfe und Lichtausbeute. Auch hat sich mittlerweile das Gerücht als falsch erwiesen, dass das menschliche Erbgut voller überflüssiger Sequenzen („Junk-DNA“) wäre. Da inzwischen für die meisten Sequenzen Funktionen gefunden wurden, kann von „evolutionärem Abfall“ keine Rede mehr sein.
Natürlich ist die Schöpfung nicht perfekt. Auch die Bibel spricht seit dem Sündenfall von einer „gefallenen Schöpfung“. Und natürlich kann es im Zuge der Mikroevolution auch Rückbildungen geben. Aber das ist natürlich kein Beweis für Evolution.
Durchläuft der Embryo noch einmal seine Stammesentwicklung?
Völlig zerschlagen hat sich die langjährige Behauptung, dass der menschliche Embryo noch einmal seine Stammesentwicklung durchlaufen würde. Ich kann mich noch erinnern, dass es diese populäre These auch in mein Biologie-Schulbuch geschafft hatte. Da wurde behauptet, dass menschliche Embryonen zwischenzeitlich Ansätze von Kiemen, Schwimmhäuten, Schwänzen oder ein Fell entwickeln würden. Nichts davon ist bei genauerer Betrachtung übriggeblieben. Mit irgendwelchen Überresten von tierischen Vorfahren haben die Eigenschaften von menschlichen Embryonen rein gar nichts zu tun.
Beweisen die Fossilien eine allgemeine Evolution?
Etwas anders ist die Situation bei den Fossilien, also bei den versteinerten Überresten früherer Lebewesen. Tatsache ist, dass bestimmte Fossilienformen zumeist nur in bestimmten Erdschichten zu finden sind. Je jünger diese Erdschichten sind, umso ähnlicher sind tendenziell die Fossilien den heutigen Tieren und Pflanzen. Das widerspricht natürlich klar dem biblisch motivierten Schöpfungsmodell, in dem man erwarten würde, dass alle Tier- und Pflanzenarten von Beginn an auch in den ältesten Erdschichten auftauchen. Das gilt umso mehr, da die gängigen radiometrischen Altersdatierungen der Gesteine deutlich für ein Alter der Erde sprechen, das um Dimensionen höher ist als die rund 10.000 Jahre, die man aus der Bibel ableiten kann.
Was allerdings überhaupt nicht zum Evolutionsmodell passt, ist das sprunghafte Auftreten neuer Baupläne im Fossilienbericht. Statt einer langsamen, schrittweisen Entwicklung, wie sie das Evolutionsmodell vorhersagt, findet man im Fossilbericht immer wieder große Entwicklungssprünge. Ein Beispiel dafür ist die berühmte „kambrische Explosion“: Zu Beginn des Kambriums treten plötzlich praktisch alle grundlegenden tierischen Körperbaupläne auf, und zwar ohne irgendwelche Vorläufer. Die Tiere sind ganz plötzlich einfach da, obwohl man zur Bildung der sehr komplexen Baupläne lange Entwicklungszeiträume mit zahlreichen Übergangsformen zwingend erwarten müsste. Diese Sprunghaftigkeit beobachten wir auch bei der angenommenen Entwicklung des Menschen aus affenartigen Vorfahren. Reinhard Junker macht deutlich: Die in jüngerer Zeit vorgetragenen Lösungsvorschläge zur Erklärung der Sprunghaftigkeit des Fossilberichts beheben das eigentliche Kernproblem, nämlich das plötzliche Auftreten neuer komplexer Information, in keiner Weise.
Überraschende Befunde zum Alter der Erde
Neben den bekannten Argumenten für eine sehr alte Erde finden sich in diesem Buch durchaus auch einige Befunde, die überhaupt nicht zum hohen Alter der Erde passen wollen. Reinhard Junker berichtet zum Beispiel von dem faszinierenden Phänomen, dass vor einigen Jahren aus Dinosaurierknochen noch dehnbares Dinosauriergewebe isoliert werden konnte. Das dürfte es eigentlich nicht mehr geben, wenn diese Knochen schon viele Millionen Jahre alt wären. Sehr überraschend ist auch, dass aus mehr als 200 Millionen Jahre alten Gesteinen einzellige Organismen wiederbelebt werden konnten. Zudem gibt es gut bezeugte Steinwerkzeuge aus Gesteinsschichten, in denen es noch gar keine Menschen gegeben haben dürfte. Betrachtungen zum Bevölkerungswachstum sprechen viel eher für eine junge statt für eine alte Menschheit. Wie aussagekräftig diese interessanten Befunde sind, wird sich allerdings erst noch erweisen müssen.
Das Wunder der Entstehung des Lebens
Besonders eindrücklich war für mich das Kapitel über die Frage nach dem Anfang des Lebens. Noch nie wussten wir so viel darüber, wie unfassbar komplex und hochfunktionell bereits die einfachst denkbaren einzelligen Lebewesen sind. Damit eine Zelle funktioniert, braucht es wenigstens 300 funktionell programmierte Gene. Dazu braucht es einen hochkomplexen Übersetzungsapparat, der biologische Information in biologisches Material umwandeln kann. Unverzichtbar für das Leben sind darüber hinaus eine Reihe von hochfunktionellen molekularen Maschinen. Es gibt bis heute keine Hinweise darauf, dass eine derartige Maschinerie ganz von selbst entstehen kann. Reinhard Junker verweist dabei auf einen Trend: Jede neue spektakuläre Entdeckung zur Funktionsweise lebender Zellen macht die Frage nach ihrer Entstehung noch brisanter. Noch nie waren wir so weit weg von einer naturalistischen Erklärung zur Entstehung des Lebens, wie wir es heute sind.
Schöpfung oder Evolution – keine Randfrage für Christen
Schließlich erläutert Reinhard Junker: Die Frage nach Schöpfung und Evolution ist für Christen keine Nebensächlichkeit. Es steht viel auf dem Spiel, weil die Frage nach unserer Herkunft großen Einfluss hat auf unser Weltbild, unser Gottesbild und unser Menschenbild.
Umso dankbarer bin ich, dass Reinhard Junker diesen Fall noch einmal neu aufgerollt hat. Er hat das auf eine fachlich sehr fundierte Art und Weise getan, nüchtern und differenziert, aber zugleich in einer Sprache, die auch Nichtbiologen und Laien gut verstehen können.
Dank dieses Buches kann nun jeder selbst einen differenzierten Blick auf die Fakten werfen und sich eine eigene Meinung bilden zu der Frage: Woher kommen wir? Wie ist die Pflanzen- und Tierwelt entstanden? Ist das Evolutionsmodell überzeugender? Oder passt das Schöpfungsmodell besser zu den Fakten?
Fest steht jedenfalls: Evolution ist ganz eindeutig KEIN klarer Fall! Es ist längst nicht ausgemacht, dass wir Menschen von einer Zelle aus einer „Ursuppe“ oder von affenartigen Wesen abstammen. Viele Spuren sprechen ganz im Gegenteil stark dafür, dass wir eben kein Produkt von ziellosen Auswahlprozessen sind, sondern dass wir ganz gezielt erschaffen wurden. Es hat deshalb überhaupt nichts mit Denk- oder Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun, wenn Christen an der biblischen Schöpfungsgeschichte ganz bewusst festhalten.
Ich kann dieses großartige Buch von Dr. Reinhard Junker nur von Herzen jedem empfehlen und wünsche ihm größtmögliche Verbreitung. Bestellen kann man das Buch am besten direkt im Webshop von Wort und Wissen: https://www.wort-und-wissen.org/produkt/soe_klarer-fall/
Der schweizer Blogger Matt Studer hat mich gebeten, einen Gastartikel zu schreiben zu der Frage: Was ist im Moment DIE zentrale Herausforderung der Christenheit? Meine Antwort: Der schwindende Konsens bei den Kernüberzeugungen, der zur Folge hat, dass wir unsere Einheit, unsere Botschaft und unsere missionarische Dynamik verlieren. Das zeige ich am Beispiel meiner evangelischen Kirche, aber auch anhand von aktuellen Beispielen aus der evangelikalen Welt. Und ich habe einen Vorschlag, wie Einheit in Vielfalt wirklich gelingen kann.
Austritte, Skandale, Mitgliederschwund – darunter leiden nicht nur die großen Kirchen. Unter den mächtigen Megatrends wie Säkularisierung, Individualisierung und Polarisierung leiden alle Institutionen. Kein Wunder, dass sich viele kirchliche Leiter fragen: Wie kommen wir endlich „raus aus der Sackgasse“? Michael Diener schreibt dazu in seinem gleichnamigen Buch: …
Günter Bechly ist Paläontologe, Evolutionsbiologe und Insektenforscher. Er hat vor allem mit fossilen Insekten (insbesondere Libellen) gearbeitet und über 165 Erstbeschreibungen durchgeführt. Acht fossile Insektenarten sind nach ihm benannt. Von 1999 bis 2016 war er Kurator für Bernstein und fossile Insekten am Naturkundemuseum Stuttgart. Im Darwin-Jahr 2009 war er Projektleiter für die Sonderausstellung »Evolution – Der Fluss des Lebens«. Für diese Ausstellung gestaltete er eine Waage, die die Botschaft transportieren sollte: Die Lehre Darwins wiegt schwerer als sämtliche Kritik von Kreationisten und Intelligent-Design-Anhängern. Auf der einen Seite lag Darwins Buch »Über die Entstehung der Arten«, auf der anderen Seite Bücher von Kritikern mit ihren vermeintlich dünnen Argumenten. Bechly bestellte die Bücher für die Umsetzung – und schaute aus Neugier hinein. Zu seiner Überraschung fand er keine religiös verbrämten und pseudowissenschaftlichen Argumente, sondern berechtigte Anfragen und hohe fachliche Qualität. Günter Bechly kam ins Fragen. Schließlich fand er für sich das, was er am wenigsten wollte und zuvor verachtete: den christlichen Glauben. Er ging mit seinen Zweifeln an die Öffentlichkeit, wurde zum Störfaktor und musste seinen Job aufgeben (in diesem Video erzählt er seine spannende Geschichte).
Heute ist er Senior Fellow des Center for Science and Culture am Discovery Institute in Seattle und seit 2017 auch Senior Scientist am Biologic Institute in Redmond. In seinem Video „Gunter Bechly Explains What The Fossil Evidence Really Says“ vom November 2021 erklärt Günther Bechly, warum er heute überzeugt ist: Die Fossilien erzählen eine gänzlich andere Geschichte als die, die uns zuallermeist vermittelt wird. Der AiGG-Blog hat seine spannenden Erläuterungen verschriftlicht und übersetzt. Ein herzliches Dankeschön an Günther Bechly für die Mithilfe bei der Übersetzung und für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
Wie sind Sie zur Paläontologie gekommen?
Ich bin von der Paläontologie fasziniert, weil sie eine Art Fenster in die ferne Vergangenheit öffnet und einen Einblick in längst vergangene Lebenswelten der Erdgeschichte ermöglicht. Ich liebe Tiere und Fossilien seit meiner frühen Kindheit, und glücklicherweise lebten wir in einer Gegend in Deutschland, die sehr reich an Fossilvorkommen ist. Somit konnte ich schon mit meinen Eltern Fossilien sammeln wie beispielsweise Ammoniten aus dem Jura. Da ich schon immer Wissenschaftler und Naturforscher im klassischen Sinne des 19. Jahrhunderts werden wollte, habe ich wenig überraschend später Biologie und Paläontologie studiert.
Unterstützt der Fossilbericht die Darwinsche Evolution?
Es wird oft angenommen, dass der Fossilbericht[1] Darwins Theorie in hohem Maße unterstützt. In Wirklichkeit ist dies überhaupt nicht der Fall. Betrachtet man Darwins Theorie, so macht sie bestimmte Vorhersagen, wie zum Beispiel den Gradualismus, wonach sich alles sehr kontinuierlich schrittweise entwickelt hat und kleine Veränderungen sich zu großen Veränderungen aufsummieren. Der Fossilbericht zeigt jedoch genau das Gegenteil. Was wir finden, sind keine allmählichen Entwicklungen, sondern Sprünge.
Was wir finden, sind keine allmählichen Entwicklungen, sondern Sprünge.
Wir finden keinen schrittweisen Aufbau, sondern ein plötzliches Auftreten neuer Formen und neuer Körperbaupläne. Diese widersprechenden Fakten waren eigentlich schon Charles Darwin bekannt. Das Problem der widersprechenden Beweise durch den Fossilbericht begleitet uns auch heute noch. Das ist einer der Gründe, warum Stephen Jay Gould sagte, es sei bis heute eine Art Betriebsgeheimnis der Paläontologen.
Warum behaupten viele Darwinisten, der Fossilbericht stütze ihre Theorie?
Viele Darwinisten sind der Meinung, dass der Fossilbericht Darwins Theorie tatsächlich stützt, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen scheint der Fossilbericht lange Zeiträume und Veränderungen im Laufe der Zeit zu belegen. Zum anderen ist der Fossilbericht nicht chaotisch, sondern taxonomisch geordnet. Das heißt, wenn man in den geologischen Ablagerungen von unten nach oben, von älter zu jünger geht, dann findet man insgesamt ein Muster, das sich von weniger Komplexität zu mehr Komplexität verändert, von weniger Ähnlichkeit zur modernen Flora und Fauna zu mehr Ähnlichkeit zur modernen Flora und Fauna. Schließlich gibt es Übergangsfossilien, die in der Anatomie eine Zwischenstellung einzunehmen scheinen, und manchmal kann man sie sogar in Übergangsserien wie die Pferdeserie einordnen.
Aber – und das ist das Problem – alle diese Indizien beweisen bestenfalls eine gemeinsame Abstammung. Was sie nicht belegen, ist irgendein ungesteuerter Prozess durch zufällige Mutation und natürliche Selektion, wie er von Darwin behauptet wurde. Der Fossilbericht widerspricht Darwins Theorie in der Tat durch diese Sprünge und Diskontinuitäten. Es stimmt also ganz und gar nicht, dass der Fossilbericht Darwins Theorie bestätigt.
Der Gradualismus war für Darwin nicht etwa nur eine beiläufige Vorhersage. Darwin erwähnte sechsmal in seinem Buch „Die Entstehung der Arten“: Natura non facit saltus – die Natur macht keine Sprünge. Denn er wusste, dass Sprünge irgendeine Art von wundersamen Eingriffen erfordern würden. Aber Sprünge sind das, was der Fossilbericht wirklich dokumentiert. Sie sind das, was in der Geschichte des Lebens passiert ist.
Welche Herausforderungen stellt der Fossilbericht für Darwins Theorie dar?
Der Fossilbericht stellt Darwins Theorie vor mehrere große Herausforderungen: Zum einen sagt die Theorie langsame Veränderungen voraus, doch der Fossilbericht zeigt schnelle Veränderungen. Eine weitere ist, dass die Theorie allmähliche Veränderungen in kleinen Schritten vorhersagt, der Fossilbericht zeigt aber plötzliche Veränderungen in großen Schritten. Zudem gibt es keine Nachweise für feinabgestufte Übergänge von einer Form oder Art in eine andere. Außerdem sind die Fossilien vor allem auf den Enden der Stammbaumverzweigungen angesiedelt, während sie auf den gemeinsamen Stammlinien und an den Verzweigungen fehlen, wo sie nach der Theorie auch zu finden sein sollten. Und schließlich gibt es Widersprüche zwischen dem Fossilbericht und Vorhersagen der Theorie, z. B. mit den molekularen Zeitdatierungen oder zwischen dem von der stammesgeschichtlichen Rekonstruktion vorhergesagten Entstehungsreihenfolge und dem tatsächlichen Muster in der Abfolge des Auftretens in den Sedimentschichten. Zu guter Letzt gibt es oft Fossilien, die an der falschen Stelle und zur falschen Zeit gefunden werden. Alle diese widersprüchlichen Daten erfordern Ad-hoc-Hypothesen[2], um diese widersprüchlichen Daten wegzuerklären. Eine dieser Ad-hoc-Hypothesen ist zum Beispiel das Phänomen sogenannter Geisterlinien, also Zeiträume, in denen völlig hypothetisch angenommen wird, dass Formen existierten, für die es keinerlei fossile Belege gibt.
Was ist mit Darwins Idee, dass viele kleine Veränderungen zu großen Veränderungen führen? Bestätigt der Fossilbericht dies zumindest?
Entgegen der landläufigen Meinung belegt der Fossilbericht keineswegs eine Geschichte allmählicher Entwicklung oder schrittweiser Veränderungen, die sich zu großen Veränderungen summieren. Der Fossilbericht belegt vielmehr eine Geschichte plötzlicher, abrupter Veränderungen, also Sprünge. Diese widersprüchlichen Daten, die Darwins Theorie nicht stützen, können nicht länger als Artefakt[3] einer unzureichenden Datenlage oder der Unvollständigkeit des Fossilberichts wegdiskutiert werden.
Sind nur Darwins Kritiker der Meinung, dass der Fossilbericht Darwins Theorie nicht stützt?
Es sind keineswegs nur Darwin-Kritiker wie ich, die meinen, dass der Fossilbericht ein Problem für Darwins Theorie darstellt. Ich habe 2016 an einer Konferenz der renommierten Royal Society of London teilgenommen, die den Titel “New Trends in Evolutionary Biology” trug. Der Hauptredner war ein berühmter österreichischer Evolutionsbiologe namens Professor Gerd Müller. Professor Gerd Müller wies in seinem Eröffnungsvortrag auf einige Erklärungslücken von Darwins Theorie hin. Zu diesen Defiziten gehörte nicht nur, dass die Theorie phänotypische[4] Neuerungen und phänotypische Komplexität nicht erklären kann (was natürlich sehr wichtig wäre), sondern er erwähnte auch die nicht-graduellen Übergänge, die wir im Fossilbericht finden. Es ist also wichtig zu wissen, dass dies in der etablierten Evolutionsbiologie durchaus bekannt ist. Meiner Meinung nach kann Darwins Theorie zwar sicherlich bestimmte Phänomene erklären, wie die Tatsache, dass es auf den Galapagos-Inseln verschiedene Finkenarten mit leicht unterschiedlichen Schnabelformen gibt. Aber sie kann eben nicht erklären, wie es überhaupt zur Entstehung der Vögel und deren Federn gekommen ist.
War sich Darwin des Konflikts zwischen seiner Theorie und dem Fossilbericht bewusst?
Charles Darwin war sich durchaus bewusst, dass seine Theorie nicht mit dem Fossilbericht übereinstimmt. Und so hoffte er, dass sich dies mit der Unvollständigkeit des Fossilberichts und unserem unzureichenden Wissen über Geologie wegerklären lässt. Er hoffte, dass sich im Laufe der Zeit die Lücken füllen würden und die Theorie schließlich durch den Fossilbericht bestätigt werden würde. Aber das ist nicht geschehen. Heute wissen wir viel mehr als Darwin. Im Laufe der Zeit ist trotz wachsendem Wissen über den Fossilbericht das Problem keineswegs verschwunden. Es hat sich sogar noch verschärft.
Was wissen wir heute, was Darwin nicht wusste?
Wie ist die Lage jetzt, hundertsechzig Jahre nach Darwin? Darwins Versuch, die Hinweise des Fossilberichts als Mangel an Wissen über den Fossilbericht und die Unvollständigkeit des Fossilberichts wegzuerklären, ist nicht mehr haltbar. Hier ist der Grund dafür:
Lassen Sie mich zunächst eine Metapher anführen (dieses Beispiel wurde von meinem Kollegen Paul Nelson geprägt). Stellen Sie sich vor, Sie haben ein neues Hobby und gehen am Strand entlang und sammeln, was die Flut anspült. Man sammelt Seesterne, Muscheln und Schnecken, und jeden Tag findet man etwas Neues, aber mit der Zeit stellt sich Wiederholung ein. Schließlich erreicht man einen Tag, an dem man nur noch das findet, was man zuvor schon gefunden hat, und dann weiß man, dass man genug Exemplare gesammelt hat, um zu wissen, was es da draußen gibt. Genau diese Methode wird in der Paläontologie angewandt, um die Vollständigkeit des Fossilberichts statistisch zu überprüfen. In der Paläontologie nennt man sie die “Sammlerkurve”. Bei den meisten Organismengruppen wissen wir, dass der Fossilbericht vollständig genug ist, um sicher zu sein, dass die Lücken, die wir sehen, und die Diskontinuitäten, die wir sehen, nicht Artefakte einer unzureichenden Sammeltätigkeit oder eines unvollständigen Fossilberichts sind, sondern tatsächlich Daten, die eine Erklärung verlangen.
Tatsächlich stellen wir aber fest, dass mit zunehmendem Wissen über den Fossilbericht die Probleme keineswegs verschwinden, sondern sogar immer größer werden.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum dieses Phänomen kein Artefakt sein kann: Wäre es ein Artefakt, dann müssten wir erwarten, dass die Lücken im Laufe der Zeit kleiner werden und die scheinbar nicht graduellen Übergänge gradueller werden. Tatsächlich stellen wir aber fest, dass mit zunehmendem Wissen über den Fossilbericht die Probleme keineswegs verschwinden, sondern sogar immer größer werden. Dies deutet darauf hin, dass die Natur uns „etwas sagen will“.
Was ist mit all den Übergangsformen, von denen wir in den Medienberichten hören?
Viele Darwinisten feiern jeden neuen Fossilienfund, der als Übergangsfossil zur Bestätigung dieser Theorie verkauft werden kann. Aber wenn man sich diese Fälle näher ansieht, ist die Beweislage meist sehr dünn. Es gibt auch viele Fälle, in denen uns solche Übergangsfossilien fehlen. Wenn also die Fälle, in denen wir Übergangsfossilien haben, als Beweise für Darwins Theorie gelten, dann müssen wir natürlich auch die anderen Fälle betrachten und widersprechende Hinweise berücksichtigen, bei denen das Fehlen von Beweisen die Theorie nicht bestätigt, sondern ihr sogar widerspricht.
Aber selbst, wenn wir alle Übergangsfossilien zugestehen, beweist dies, wie ich bereits sagte, bestenfalls die gemeinsame Abstammung. Aber der Fossilbericht insgesamt bestätigt keineswegs den Kernpunkt von Darwins Theorie, der nicht so sehr in der gemeinsamen Abstammung besteht, sondern in einem ungelenkten Mechanismus von zufälliger Mutation und natürlicher Auslese. Dieser Mechanismus wird durch den Fossilbericht definitiv nicht bestätigt, sondern widerlegt.
Ist das plötzliche Auftreten neuer Formen im Fossilbericht ein Ausnahmefall?
Das Phänomen des plötzlichen Auftretens neuer Formen im Fossilbericht ist nicht nur ein Ausnahmefall, wie vermeintlich bei der kambrischen Explosion, sondern tatsächlich ein Schema, das überall zu finden ist. Es beginnt mit dem Ursprung des Lebens selbst und reicht bis zum Ursprung der menschlichen Kultur. Es findet sich in allen Epochen der Erdgeschichte. Es findet sich in allen geografischen Regionen und findet sich in allen taxonomischen Kategorien, von Pflanzen und Protisten[5] bis hin zu wirbellosen Tieren und Wirbeltieren. Es ist also ein klares Muster, das nach einer Erklärung verlangt. Ich könnte Ihnen Dutzende von Beispielen für ein solches plötzliches Erscheinen nennen, und in jeder Gruppe, die Sie untersuchen, werden Sie weitere Beispiele finden.
Was sind einige Beispiele für plötzliche Übergänge in der Geschichte des Lebens?
Hier sind einige Beispiele für solche plötzlichen Übergänge: Der Ursprung des Lebens. Die Entstehung der Photosynthese. Die so genannte Avalon-Explosion, die den Ursprung der seltsamen Ediacara-Lebensgemeinschaften darstellt. Die kambrische Explosion, in der alle die Grundbaupläne der Tiere erschienen sind. Dann das Ereignis der sogenannten großen ordovizischen Biodiversifikation. Es folgen die devonische Nekton-Revolution und Odontoden-Revolution sowie die silurisch-devonische terrestrische Revolution, die den Ursprung der Landpflanzen darstellt. Die Insektenexplosion im Karbon. Die triassischen Explosionen, zu denen die Entstehung der Meeresreptilien und von Tetrapoden wie den Dinosauriern gehört. Dann haben wir das “abscheuliche Geheimnis”, wie Darwin es nannte: Die Entstehung der Blütenpflanzen. Wir haben den plötzlichen tertiären Ursprung der Großschmetterlinge. Wir haben die tertiäre Radiation der Vögel, den Ursprung der modernen Vögel. Wir haben die tertiäre Radiation der plazentalen Säugetiere. Wir haben den „Urknall“ der Gattung Homo. Nicht zuletzt haben wir den plötzlichen Ursprung der menschlichen Kultur in der oberpaläolithischen menschlichen Revolution.
Können Sie die Insektenexplosion näher erläutern?
In der Mitte des Steinkohlezeitalters finden wir die ersten fliegenden Insekten. Sie sind bereits in sehr unterschiedliche Gruppen moderner Fluginsekten differenziert. Es handelt sich dabei nicht nur um Gruppen, die von Darwinisten als primitiv angesehen werden, wie Eintagsfliegen und Libellen. Tatsächlich sind diese nur insofern „primitiv“, als sie in den rekonstruierten Stammbäumen Zweige besetzen, die als sehr früh gelten. Aber ihre Anatomie ist durchaus sehr komplex. Sie hatten Facettenaugen mit einem wunderbaren Sehsystem und sehr komplexe Flugapparate, die sie wie ein Hubschrauber fliegen ließen. Sie waren also komplex, werden aber als sehr frühe Entwicklungslinien in der Evolution angesehen. Auf der anderen Seite finden wir aber auch schon sehr hochentwickelte Insektengruppen wie die ersten Käfer und die ersten Wespen, und diese besaßen schon die wundersame Art der Entwicklung, bei der sich die Larve im Puppenstadium in eine Art Suppe auflöst, und die gesamte Anatomie zu dem ganz andersartigen Körperbauplan des erwachsenen Tiers umgestaltet wird. Das Erstaunliche ist, dass es dafür keine fossilen Vorläufer gibt. Es gibt keine glaubwürdigen Übergänge. Stattdessen erscheinen diese Wunderwerke plötzlich und völlig ausdifferenziert.
Es gibt keine glaubwürdigen Übergänge.
Können Sie die triassische Explosion näher erläutern?
In der frühen Triaszeit finden wir die ersten Vertreter verschiedener moderner Untergruppen der vierfüßigen Wirbeltiere, wie die ersten Krokodile, die ersten Schildkröten, die ersten Dinosaurier und die ersten Eidechsen.
Was ist die tertiäre Radiation der Vogelartigen?
Unmittelbar nach dem Massenaussterben am Ende der Kreidezeit finden wir innerhalb weniger Millionen Jahre viele verschiedene Gruppen moderner Vögel. Sie erscheinen plötzlich auf der Bildfläche, ohne dass es fossile Vorläufer gibt. Dies wird selbst von etablierten Evolutionstheoretikern und Ornithologen als “Vogel-Explosion” oder als explosiver Ursprung der modernen Vögel oder sogar als Urknall der tertiären Vögel oder als Urknall der Vogelevolution bezeichnet.
Was ist die Tertiäre Radiation der Säugetiere?
Entgegen den darwinistischen Erwartungen und insbesondere entgegen den Vorhersagen der molekularen Uhr finden wir im frühen Tertiär das erste Auftreten von vielen verschiedene Ordnungen der plazentalen Säugetiere, schon vollständig ausdifferenziert. Dazu gehören Gruppen wie die ersten fossilen Insektenfresser, die ersten Nagetiere, die ersten Raubtiere, die ersten Paarhufer und Unpaarhufer, die ersten Primaten und sogar die ersten Fledermäuse. Für keine dieser Gruppen finden wir die erwarteten kreidezeitlichen Fossilien, die ihre Herausdifferenzierung von einem angenommenen gemeinsamen Säugetierstamm belegen würden.
Was fehlt im Fossilbericht, um Darwins Theorie zu bestätigen?
Obwohl es einige Übergangsfossilien gibt, fehlt die Fülle von Übergangsfossilien, die die Theorie voraussagt, nämlich Tausende von kleinen Schritten, die den Übergang von einer Form zu einer anderen Form zeigen. Außerdem fehlen uns Übergangsfossilien für viele der wichtigsten Übergänge in der Geschichte des Lebens. So gibt es zum Beispiel keine Übergangsfossilien, die zeigen, wie die Ediacara-Lebensgemeinschaften entstanden ist. Wir haben keine Übergangsfossilien für alle die Tierkörperbaupläne in der kambrischen Explosion. Wir haben keine oder fast keine Übergangsfossilien für die Entstehung der verschiedenen Insektenordnungen und für die verschiedenen Säugetierordnungen.
Leben im Ediacarium
Zu letzteren gehören zum Beispiel die Fledermäuse. Stellen Sie sich vor: Die ältesten fossilen Fledermäuse, die wir kennen, sind bereits völlig modern, kaum von einer modernen Fledermaus zu unterscheiden, mit vollständig entwickelten Flügeln, bereits mit Elementen in den Ohren für Echoortung. Sie sind einfach da, und es gibt keine fossilen Belege, die die vielen Schritte zeigen, die notwendig wären, um diese Körper-Baupläne durch schrittweise Veränderungen aufzubauen.
Geben viele Wissenschaftler den Konflikt zwischen dem Fossilbericht und Darwins Theorie zu?
Charles Darwin selbst sagte, dass der Fossilbericht einer der offensichtlichsten und schwerwiegendsten Einwände ist, die gegen seine Theorie vorgebracht werden können, weil er wusste, dass die Beweise im Widerspruch zu seiner Theorie stehen. Dies ist auch der Grund, warum viele zeitgenössische Paläontologen zu Darwins Zeiten seine Theorie ablehnten, weil sie sich durchaus bewusst waren, dass die Beweise nicht passen. Aber auch heute gibt es viele Paläontologen und viele Biologen, die mit Fossilien arbeiten, die sich der Probleme bewusst sind und sie zugeben. Zu ihnen gehören zum Beispiel George Gaylord Simpson, der vielleicht einflussreichste Paläontologe des 20. Jahrhunderts, oder Ernst Mayr, der Mitbegründer der modernen synthetischen Evolutionstheorie. Beide haben ausdrücklich zugegeben, dass der Fossilbericht diskontinuierlich ist und dass er nicht mit der darwinistischen Vorhersage einer allmählichen Entwicklung übereinstimmt. Dann gibt es Leute wie Colin Patterson, der Kurator für Paläontologie am Britischen Museum und einer der Mitbegründer der Muster-Kladistik war. Er sagte, dass es einen Mangel an Übergangsfossilien gibt. Dann ist da noch David Raup, Kurator am Field Museum und Mitentdecker der berühmten fünf großen Massenaussterbeereignisse. Er sagte, dass Darwin vom Fossilbericht sehr verwirrt war und dass sich die Situation seit Darwins Zeit nicht zugunsten seiner Theorie geändert hat.
Weiterhin gibt es zum Beispiel Gareth Nelson, einen Kurator am American Museum of Natural History für fossile Fische, oder Henry Gee, der Redakteur für Biologie bei “Nature” ist, der renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschrift der Welt. Beide sagten, dass alle jene Fälle, in denen Fossilien in Reihen angeblicher Vorfahren-Nachkommen-Beziehungen angeordnet wurden, nicht wissenschaftlich sind, sondern eher schädliche Illusionen – wie Gareth Nelson es ausdrückte – oder sogar eher nur Gutenachtgeschichten, wie Henry Gee es formulierte.
Dann gibt es zum Beispiel Leute wie Douglas Erwin, der einer der weltweit führenden Spezialisten für die kambrische Explosion ist. Douglas Erwin sagte, dass es so aussieht, als ob die höheren taxonomischen Kategorien, die Klassen, zuerst entstanden sind, und die niedrigeren taxonomischen Kategorien später. Dass es also nicht so aussieht, als ob die großen Unterschiede aus kleineren Unterschieden aufgebaut wurden. Nicht umsonst waren es Paläontologen wie Niles Eldredge und Stephen Jay Gould, die die Theorie des punktuell unterbrochenen Gleichgewichts („Punktualismus“) entwickelt haben, um die widersprechenden Belege des Fossilberichts mit einer evolutionären Weltanschauung in Einklang zu bringen. Stephen Jay Gould sagte, er sei sehr beunruhigt über die Tatsache, dass die Fossilienaufzeichnungen nicht wirklich jenen gerichteten Verlauf der Veränderung zeigen, die von der Theorie erwartet würde. Und nicht zuletzt sagte der berühmte Richard Dawkins, als er über die kambrischen Fossilien sprach: Es sieht so aus, als ob sie ohne jegliche Evolutionsgeschichte dorthin platziert worden wären. Vielleicht, nur vielleicht, sollten Wissenschaftler ein wenig mehr auf das hören, was die Natur ihnen sagen will.
Wie erklären Darwinisten den Widerspruch zwischen dem Darwinismus und dem Fossilbericht?
Ein gängiger Versuch, die widersprechenden Fakten aus dem Fossilbericht wegzuerklären, ist einfach die Leugnung. Entweder wird geleugnet, dass die abrupten Übergänge überhaupt stattgefunden haben, oder es wird gesagt, dass sie viel langwährender waren, als behauptet wird, oder es wird gesagt, dass diese abrupten Übergänge ein Artefakt eines unvollständigen Fossilberichts oder einer unvollständigen Untersuchung des Fossilberichts sind.
Aber die meisten Biologen wissen heute, wenn sie die Daten kennen, dass sie sich eine Erklärung einfallen lassen müssen. Ein Versuch besteht darin, es mit sogenannten intrinsischen Faktoren zu erklären, also im Wesentlichen mit Genetik. Solche Leute sagen, dass es vielleicht schnellere Mutationsraten gab, oder dass vielleicht doch keine neuen Proteine und keine neuen Gene notwenig waren, sondern nur eine Neuverknüpfung des Werkzeugkastens der Genregulierungsnetzwerke. Jüngste Studien haben jedoch gezeigt, dass dies nicht stimmt. Jeder größere Übergang in der Geschichte des Lebens erforderte neue Gene und neue Proteine.
Deshalb gibt es noch einen anderen Ansatz, und zwar extrinsische Faktoren, äußere Faktoren. Und davon gibt es zwei Typen: Das eine sind andere Lebewesen, so genannte biotische Faktoren. Das bedeutet zum Beispiel Konkurrenz, erhöhter Wettbewerb oder erhöhte räuberische Aktivitäten. Es gibt ein Schlagwort dafür: Die „Rote-Königin-Hypothese“, benannt nach einer Figur aus einem der Romane von Lewis Carroll „Alice hinter den Spiegeln“, in denen die Rote Königin schneller rennen musste, um zu bleiben, wo sie war. Die andere Art von extrinsischen Faktoren sind abiotische Faktoren, das meint alle Hypothesen, die sich auf einen höheren oder niedrigeren Sauerstoffgehalt oder Klimaveränderungen beziehen, eine globale Vergletscherung, ein Meteoriteneinschlag oder ein großer Vulkanismus und – wumm – das erklärt das plötzliche Auftauchen von Dinosauriern oder ähnlichem?
Das Problem bei allen diesen sogenannten Erklärungen ist, dass keine dieser Erklärungsansätze wirklich erklären kann, woher die neuen Informationen stammen. Sie zeigen vielleicht einige der Bedingungen, die für eine Veränderung notwendig waren oder die eine Veränderung begleiten, aber sie sind sicherlich keine ausreichenden Voraussetzungen für eine Veränderung. Wir alle wissen schließlich, dass ein Meteoriteneinschlag noch kein neues Gen hervorbringt.
Das Problem bei allen diesen sogenannten Erklärungen ist, dass keine dieser Erklärungsansätze wirklich erklären kann, woher die neuen Informationen stammen.
Was ist das Problem der Wartezeit?
Ein wirklich fatales Problem für Darwins Theorie ist meines Erachtens das sogenannte Wartezeitproblem. Das Wartezeitproblem ergibt sich aus einer Kombination von zwei Forschungsgebieten, die normalerweise als gute Unterstützung für den Darwinismus gelten. Zum einen ist dies der Fossilbericht, der scheinbar eine lange Zeitspanne und Übergangsformen nachweist und somit die Makroevolution belegt. Zum anderen ist das die Populationsgenetik, die die Mikroevolution belegt. Man denke nur an die Evolution der Medikamentenresistenz von Krankheitserregern in der Petrischale.
Die Leute denken also: Wenn wir diese beiden Dinge kombinieren, dann werden lange Zeiträume von Mikroevolution die Makroevolution schon erklären. Aber wenn wir diese beiden Forschungsbereiche und die Beweise aus diesen beiden Disziplinen wirklich gemeinsam betrachten, stoßen wir auf ein großes Problem. Denn wenn man die mathematischen Methoden der Populationsgenetik verwendet, stellt man fest, dass die geologisch ermittelten Zeitfenster, die für verschiedene Übergänge in der Geschichte des Lebens zur Verfügung stehen, um Größenordnungen zu kurz sind, um die notwendigen genetischen Veränderungen in einer Ahnenpopulation entstehen und sich ausbreiten zu lassen. Dies zeigt im Grunde, dass Darwins Theorie, der neo-darwinistische Mechanismus, mathematisch nicht haltbar ist.
Gibt es ein Wartezeitproblem bei der Entstehung des Menschen?
Wenn wir uns die Ursprünge des Menschen ansehen, dann gibt es eine sehr überraschende Erkenntnis der modernen Wissenschaft. Die Mainstream-Evolutionisten Durrett und Schmidt haben berechnet, wie lange es dauert, bis eine einzige koordinierte Mutation in einer menschlichen Ahnenpopulation entsteht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es 215 Millionen Jahre dauern würde. Die Fossilienaufzeichnungen zeigen jedoch, dass seit der Trennung der menschlichen Abstammungslinie von der Abstammungslinie der Schimpansen und großen Menschenaffen nur sechs Millionen Jahre vergangen sind. Es stehen also sechs Millionen Jahre zur Verfügung. Aber es wären 215 Millionen Jahre erforderlich gewesen. Die Zahlen passen einfach nicht zusammen, und es ist nicht so, dass eine einzige koordinierte Mutation ausgereicht hätte. Selbst wenn der Unterschied im Genom zwischen Schimpansen und Menschen nur fünf Prozent beträgt, würden diese fünf Prozent Millionen von Basenpaaren der DNS ausmachen. Die Zeit reicht also einfach nicht aus, um all diese genetischen Veränderungen in der menschlichen Abstammungslinie unterzubringen, wie sie durch den Fossilbericht belegt ist.
Gibt es ein Wartezeitproblem bei der Entstehung von Tierkörperbauplänen?
Wenn dieses Problem schon beim Ursprung des Menschen besteht, dann ist das Problem für den Ursprung der Grundbaupläne tierischer Körper noch viel größer. Denken Sie an die kambrische Explosion. Eine neuere Studie von etablierten Evolutionsbiologen hat gezeigt, dass der Übergang von, sagen wir, quallenartigen Vorfahren zu voll entwickelten Trilobiten nur 30 Millionen Jahre dauerte. Überlegen sie mal, wie viele koordinierte Mutationen wohl notwendig waren, um diese Art von Umkonstruktion zu erreichen, bei dem sich Facettenaugen, ein Exoskelett, gelenkige Beine, ein Nervensystem und ein Darmsystem herausbildeten – und das in nur 30 Millionen Jahren! Man könnte meinen, dass 30 Millionen Jahre eine lange Zeit sind, aber tatsächlich ist das nur die Lebensspanne von ein oder zwei aufeinanderfolgenden Arten[6] von wirbellosen Meerestieren gemäß gängiger Lehrbuchdarstellungen.
Was sind weitere Beispiele für das Problem der Wartezeit?
Zwei weitere eindrucksvolle Beispiele für das Wartezeitproblem sind der Ursprung der Ichthyosaurier und der Ursprung der Vogelfedern. Für den Übergang der Ichthyosaurier steht nur die Lebensspanne einer einzigen größeren Wirbeltierart zur Verfügung, also für den Übergang zwischen einem angenommenen waranähnlichen terrestrischen Vorfahren und einem völlig fischähnlichen Ichthyosaurier – das ist unmöglich! Und wenn man sich Vögel anschaut, finden sie die komplexeste Integumentstruktur (also Hautstruktur), die im Tierreich bekannt ist. Diese Federn mit ihren Verästelungen und Unterverästelungen und deren Verzahnungen würden zahlreiche Mutationen erfordern, um dies zu erzeugen – doch es stehen nur ein paar Millionen Jahre zur Verfügung, um einen Übergang von den fadenförmigen Dino-Flaum-Strukturen, die wir bei einigen Dinosauriern finden, zu vollständig fahnenartigen Vogelfedern zu schaffen, die wir bei späteren fossilen Vögeln finden.
Ich selbst arbeite derzeit an einer Studie über den Übergang zwischen landlebenden Walvorfahren und meereslebenden Walen. Auch hier gibt es ein sehr großes Problem mit den Wartezeiten. Was wir herausgefunden haben ist, dass nur anderthalb Millionen Jahre Zeit zur Verfügung stehen für den Übergang von den so genannten Protocetiden[7], bei denen es sich immer noch um vierbeinig schwimmende Tiere handelte, die sich mit ihren Hinterbeinen im Wasser fortbewegten, zu ausschließlich meereslebenden, fischähnlichen Tieren wie den Walen, die mit reduzierten Beinen schwimmen und von einer Schwanzflosse angetrieben werden. Das ist nach gängigem evolutionärem Wissen nur ein Drittel der Lebensspanne einer einzigen Wirbeltierart, um diese Umkonstruktion von einem Landtier zu einem fischartigen Wal zu vollziehen. Das ist unglaublich und zeigt, dass es ein großes theoretisches Problem für den von Darwin postulierten ungelenkten Prozess gibt.
Was ist das Hauptproblem der darwinistischen Mechanismen?
Folgendes Problem ergibt sich für den darwinistischen Mechanismus aus der Tatsache, dass wir für viele Übergänge nur eine Zeitspanne zur Verfügung haben, die der Lebensspanne von nur einer oder zwei Arten entspricht, die nacheinander auftreten: Um eine größere Umgestaltung vorzunehmen, würde man gewöhnlich glauben, dass man zahlreiche aufeinanderfolgende Arten benötigt, die sich geringfügig voneinander unterscheiden. Erst nach langer Zeit und vielen verschiedenen Arten erhielte man einen nennenswerten neuen Körperbauplan oder ein neues Organ. Aber hier sieht man, dass man entweder mit einer oder zwei Arten oder sogar innerhalb nur einer Art einen Sprung zu einer völlig neuen Konstruktion erreichen müsste.
Selbst wenn also die gemeinsame Abstammung korrekt sein sollte, zeigt dies, dass dies nicht mit einem ungelenkten Prozess erklärt werden kann. Da muss schon eine Art von Intelligenz von außen zugeführt werden, um einen so großen Sprung innerhalb einer einzigen Art zu bewerkstelligen.
Ist das Wartezeitproblem mathematisch quantifizierbar?
Das Interessante am Wartezeitproblem ist, dass wir es mathematisch untersuchen können. Wir können Computerberechnungen durchführen, wir können Simulationen machen, und wir kommen zu sehr präzisen Ergebnissen, die zeigen, dass der neo-darwinistische Mechanismus nicht funktionieren kann. Sie zeigen insbesondere, dass die erforderlichen Umstrukturierungen nicht durch einen Mechanismus erreicht werden können, der sich auf kleine schrittweise Veränderungen über lange Zeiträume hinweg stützt, weil die Zeit nicht zur Verfügung steht. Das ist einer der Gründe, warum die etablierten Evolutionsbiologen und theoretischen Biologen den Neo-Darwinismus insgeheim aufgegeben haben und sich nun auf die krampfhafte Suche nach neuen Evolutionsmechanismen machen.
Die etablierten Evolutionsbiologen und theoretischen Biologen haben den Neo-Darwinismus insgeheim aufgegeben.
Gibt es neue vorgeschlagene Evolutionsmechanismen, die den Fossilbericht erklären könnten?
Viele der neuen Ansätze, die vorgeschlagen wurden, sind in einer neuen Bewegung formuliert worden, die als erweiterte Synthese oder dritter Weg der Evolution bezeichnet wird. „Dritter Weg“ ist ein interessanter Begriff, weil er auf zwei andere Wege anspielt: Der eine ist der Neo-Darwinismus, der von diesen Wissenschaftlern als widerlegt angesehen wird. Der andere ist das intelligente Design, einen Weg, den sie auf keinen Fall gehen wollen. Also suchen sie nach naturalistischen Alternativen und haben verschiedene hypothetische Mechanismen formuliert. Diese Mechanismen lassen sich mit „sexy“ Schlagwörtern wie Evo-Devo, Epigenetik, Nischenkonstruktion, phänotypische Plastizität, Evolutionsfähigkeit, natürliche Gentechnik, Hybridbildung, Symbiogenese[8] und so weiter umschreiben.
Das Problem bei all diesen Ansätzen ist, dass sie entweder das entscheidende Problem der Entstehung neuer Informationen überhaupt nicht angehen, oder dass sie letztendlich alle auf den Neo-Darwinismus zurückgreifen müssen, um zu erklären, wie sie selbst entstanden sind. Wie ist zum Beispiel die phänotypische Plastizität entstanden? Wenn der Neo-Darwinismus erforderlich ist und wegen des Wartezeitproblems nicht funktioniert, dann können diese Ansätze gar nicht in Gang kommen und sind quasi ein totgeborenes Kind.
Haben sich irgendwelche der vorgeschlagenen Mechanismen durchgesetzt?
Keiner dieser verschiedenen Ansätze, die im Rahmen der erweiterten Synthese vorgeschlagen wurden, konnte sich durchsetzen, weil keiner von ihnen wirklich geeignet ist, zu erklären, wie neue Informationen entstehen, wie neue biologische Formen entstehen können, wie wir neue Körperbaupläne bekommen können. Keiner dieser Ansätze ist wirklich geeignet, die entscheidende Frage zu erklären. Sie mögen aber einige andere Fragen erklären, die durchaus interessant sein könnten. Die Nischenkonstruktion erklärt zum Beispiel die Wechselbeziehung zwischen einem Biber und dem Damm, den er baut, und der Damm verändert das Ökosystem, was sich wiederum auf die natürliche Auslese des Biberkörpers rückwirkt. Vielleicht wird er ein bisschen größer oder kleiner, aber das erklärt nicht, wie die Haare der Säugetiere entstanden sind oder wie wir überhaupt Biber bekommen haben. Die meisten dieser Mechanismen sind also völlig unzureichend, um das entscheidende Informationsproblem an der Grundlage der Naturgeschichte des Lebens zu lösen, wie es zum Beispiel von Stephen Meyer in seinen Büchern „Signature in the Cell“ and „Darwin’s Doubt“ formuliert wurde.
Was könnte die Explosionen neuer biologischer Information in der Geschichte des Lebens hervorrufen?
Wir kennen nur eine Ursache, die so viel Information in so kurzer Zeit hervorbringen könnte. Wir kennen nur eine Ursache, die überhaupt eine neue funktionelle Form hervorbringen könnte. Diese Ursache funktioniert nicht durch zufällige Veränderungen. Diese Ursache sieht ein Endziel vor, bringt alle notwendigen Teile zusammen und fügt dann die erforderliche Information hinzu. „In-Formation“ bedeutet, die Materie in ein Muster zu formen, das dieses Endziel erfüllt. Diese Information muss irgendwoher kommen. Wir wissen genau, woher sie kommt: Ob Architekten, Ingenieure, Softwareprogrammierer oder Künstler, sie alle können neue komplexe Dinge erschaffen, weil sie intelligentes Bewusstsein haben, und intelligentes Bewusstsein ist die einzige uns bekannte Ursache, die diesen Effekt hervorrufen kann.
Legt der Fossilbericht intelligentes Design nahe? Wenn ja, wie?
Meiner Ansicht nach deuten die fossilen Beweise eindeutig auf einen intelligenten Entwurf hin, da die beobachteten Veränderungen viel zu schnell erfolgten, um durch einen ungelenkten, naturalistischen Prozess erklärt werden zu können. Sie müssen mit einer handelnden Intelligenz erklärt werden. Mir selbst ging wirklich ein Licht auf, als ich entdeckte, dass dies nicht etwa auf einem Argument aus Unwissenheit beruht, nicht auf einem „Gott-der-Lücken-Argument“, sondern einfach auf einer rationalen Schlussfolgerung auf die beste Erklärung. Wir wissen, dass nur intelligente Ursachen diese Wirkung hervorrufen können. Wir sehen uns die Indizien an, und wir sehen, dass diese Indizien eindeutig auf diese Ursache hinweisen. Das Ignorieren der Indizien aus dem Fossilbericht, die auf intelligentes Design hindeuten, ist also tatsächlich eine Art Wissenschaftsleugnung.
Mir selbst ging wirklich ein Licht auf, als ich entdeckte, dass dies nicht etwa auf einem Argument aus Unwissenheit beruht, nicht auf einem „Gott-der-Lücken-Argument“, sondern einfach auf einer rationalen Schlussfolgerung auf die beste Erklärung.
Was geschieht mit Wissenschaftlern, die die Darwinsche Evolution kritisieren?
Von Wissenschaftler wird erwartet, dass sie die darwinistische Evolution nicht kritisieren, schon gar nicht aus wissenschaftlichen Gründen. Ich habe persönlich erlebt, wie Wissenschaftler, Mainstream-Wissenschaftler, die den Neo-Darwinismus lediglich von einem naturalistischen Standpunkt aus kritisierten, angegriffen wurden und ihre Fachkompetenz in Frage gestellt wurde, nur weil sie dieses herrschende Paradigma[9] angriffen. Aber wie viel schlimmer wäre ihr Schicksal, wenn Sie Intelligentes Design als die bessere Erklärung annehmen würden?
Tatsächlich ist mir das am Naturkundemuseum in Stuttgart passiert. Sobald ich mich als Befürworter des Intelligent Design geoutet hatte, wurde die Zusammenarbeit eingestellt. Ich bekam keine Fördermittel mehr. Meine Website wurde gelöscht. Ich wurde als Leiter einer von mir konzipierten Ausstellung abgesetzt. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich nicht mehr willkommen sei und dass ich als Risiko für die Glaubwürdigkeit der Institution angesehen werde. Es ist also keine große Überraschung, dass viele Wissenschaftler, selbst wenn sie insgeheim den Darwinismus anzweifeln, dies nicht offen aussprechen und im Verborgenen bleiben. Nachdem ich mich als ID-Befürworter geoutet hatte, wurde ich von zwei berühmten Kollegen kontaktiert, die berühmte Wissenschaftler und weltbekannte Experten auf ihrem Gebiet sind, und sie sagten mir sehr vertraulich, dass sie selbst Zweifel am neo-darwinistischen Prozess haben. Es gibt also wahrscheinlich mehr von ihnen da draußen, als wir denken.
[1] Der Fossilbericht ist die Summe aller wissenschaftlich dokumentierten Fossilien und Fossilfundstellen der Erdgeschichte
[2] Eine Ad-hoc-Hypothese ist eine unbelegte Hilfshypothese, die für einen Einzelfall aufgestellt wird, um Beobachtungen oder kritischen Argumenten zu begegnen, welche die Theorie zu widerlegen scheinen.
[3] Als Artefakt bezeichnet man einen vermeintlichen Kausalzusammenhang auf Grund fehlerhafter Daten oder falscher Interpretationen.
[4] Der „Phänotyp“ ist das äußere Erscheinungsbild eines Organismus.
[5] Protisten sind eine Gruppe nicht näher verwandter mikroskopisch kleiner, einzelliger Lebewesen.
[6] Mit „Lebensspanne“ ist hier die – gemäß gängiger Lehrbuchmeinung – angenommene Existenzdauer einer Art gemeint, von ihrer Entstehung bis zu ihrem Aussterben oder ihrer Umwandlung in eine neue Art. Diese angenommene Lebensspanne kann für unterschiedliche Organismengruppen verschieden sein. Beispielsweise wird für größere Huftierarten eine durchschnittliche Lebensspanne oder Existenzdauer von 4.5 Millionen Jahren angenommen.
[7] Protocetiden sind ausgestorbene, amphibisch lebende Vorfahren der Wale.
[8] Symbiogenese bezeichnet die Verschmelzung mehrerer (einzelliger) Organismen zu einem einzigen, neuen Organismus.
[9] Ein Paradigma ist eine grundsätzliche Denkweise oder eine Grundauffassung.
Diese Frage beschäftigt mich seit langem. Deshalb war ich gespannt, ob der US-amerikanische Philosoph Matthew Nelson Hill in seinem aktuellen Buch „Und Gott schuf die Evolution“ dazu neue Argumente liefern kann?
Hill’s Buch plädiert für eine „evolutionäre Schöpfung“, also Schöpfung durch Evolution. Gemäß dem Buchtitel ist für Hill der Evolutionsprozess selbst ein Schöpfungswerk Gottes. Die Idee ist nicht neu. Ebenso bekannt sind die Probleme dieses Ansatzes. Hill spricht einige davon selbst offen an – ohne Antworten dazu anzubieten:
„Diese Aussage ist schwer zu verkraften, aber der Tod ist nicht die Folge der Sünde, sondern die Voraussetzung für das Leben.“ (S. 76)
„Die Grausamkeiten im Tierreich als notwendiger Teil der Evolution lassen sich besonders schlecht mit der Bibel und der überlieferten Lehre vereinbaren.“ (S. 77)
„Es ist kein schöner Gedanke, dass die Evolution oft als Folge eines Massenaussterbens an Fahrt aufnimmt – als ob der Tod notwendig wäre, um neues Leben hervorzubringen. Meines Erachtens ist das eine der schwierigsten Stellen für Christen, die sich mit dem Konzept der Evolution anfreunden wollen.“ (S. 108)
Eine derart erfrischende Ehrlichkeit in Bezug auf die Schwächen des eigenen Ansatzes ist leider eher selten. Dabei wäre die Fähigkeit zur Selbstkritik auf allen Seiten angebracht. Ich kenne kein Ursprungsmodell, das nicht unter enormen Schwierigkeiten leidet. Es spricht für die Glaubwürdigkeit des Autors, dass er hier mit gutem Beispiel vorangeht.
Wie passt ein planvoller Schöpfer zum planlosen Evolutionsgeschehen?
Jedoch hat die Vorstellung einer „evolutionären Schöpfung“ natürlich noch weitaus mehr Schwierigkeiten. Diese können beim aufmerksamen Lesen des Buchs zwar durchaus auffallen, aber Hill thematisiert sie nicht explizit. Das gilt zum Beispiel für den grundlegenden Widerspruch zwischen einem planvollen Schöpferhandeln und dem planlosen Evolutionsgeschehen. Hill bekennt sich zwar immer wieder dazu, dass Gott der Schöpfer ist, der den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat. Zugleich schreibt er aber auch: „Mir gefällt es nicht, wenn man das Gefühl bekommt, die Evolution würde ein bestimmtes Ziel verfolgen.“ (S. 84) Hill unterwirft sich also dem heute vorherrschenden Paradigma, dass auch in der Ursprungsforschung ausschließlich mit ziellosen, materiell erklärbaren Prozessen gerechnet werden dürfe. Wo und wie dann aber noch Raum für die Wirksamkeit eines zielorientierten Schöpfers bleiben soll, bleibt offen.
Ein kritikloser Blick auf die Evolutionstheorie
Auch diskutiert Hill mit keinem Wort die Sinnhaftigkeit dieses außerwissenschaftlichen Paradigmas, das zur Folge hat, dass heutzutage selbst die offenkundigsten Designmerkmale in der Natur schlicht ignoriert werden. Mit keinem Wort geht er darauf ein, dass die Fragen nach der Entstehung von Information, komplexen biologischen Bauplänen, Schönheit, Moral und Geist durch ziellose, materielle Prozesse bislang weitgehend unbeantwortet sind. Stattdessen übernimmt er kritiklos selbst so waghalsige Annahmen wie z.B. die Vorstellung, die erste Zelle könne in Tiefseeschloten von selbst entstanden sein oder das Leben sei vielleicht durch einen Meteoriten auf die Erde „gesät“ worden. Und er schreibt: „Auf jeden Fall hat das Leben ganz einfach angefangen, darin ist man sich einig.“ (S. 104) Das Leben hat „ganz einfach“ angefangen? Da frage ich mich: Weiß der Autor denn nichts darüber, wie unfassbar komplex und hoch organisiert selbst die einfachst denkbaren lebenden Zellen sind mit ihren phantastischen molekularen Maschinen und mit dem koordinierten Zusammenspiel von mindestens 300 Genen? Wie auch immer das Leben angefangen hat – “einfach” war es jedenfalls zu keiner Zeit.
Bibelverständnis: Klischees und blinde Flecken
In seinen Erläuterungen zum Umgang mit der Bibel macht Hill die typisch klischeehafte Alternative auf zwischen historischem und „wörtlichem“ Bibelverständnis – so als ob eine konservativ-bibelorientierte Herangehensweise nicht ebenso vor Augen hätte, dass bei jedem Text natürlich die Textgattung und das historische Umfeld beachtet werden muss. Hill behauptet zudem ganz einfach, die Bibel sei kein Geschichtsbuch (S. 63+73), ohne auf die vielen biblischen Texteigenschaften wie Ahnentafeln, Orts- Zeit- und Maßangaben einzugehen, die auch schon der biblischen Urgeschichte durchaus einen historischen Charakter verleihen. Wie sind diese Angaben zu verstehen, wenn die Texte keine wirkliche Geschichte erzählen wollen?
Woher kommen unsere sündigen Triebe?
Im zweiten Teil des Buchs möchte Hill den Gedanken vermitteln: Wenn wir unser evolutionäres Erbe verstehen, dann können wir besser lernen, unsere Triebe zu beherrschen und dadurch einen geheiligteren Lebensstil entwickeln. Unser Kampf ist es laut Hill, „die Laster zu überwinden, die uns von Natur aus anhaften.“ (S. 203) Hills Gedanken zur Heiligung stimme ich weitgehend zu, sie unterscheiden sich nur wenig von klassisch evangelikalen Sichtweisen. Dabei geht aber das grundlegendste Problem des Buchs weitgehend unter: Wenn Gott die Evolution geschaffen hat, dann stammt natürlich auch unser sündiger Lebensstil von Gott. Denn dann hat ja der Schöpfer selbst uns im Zuge der Evolution unter anderem mit einem „Reptiliengehirn“ ausgestattet, das uns „nur mit Fragen der Sicherheit, der Suche nach Nahrung und dem Verlangen nach Sex beschäftigt. Dieser Gehirnteil hat uns aber über unzählige Generationen hinweg am Leben erhalten und eine Weiterentwicklung möglich gemacht.“ (S. 153/154) Es ist dann also auch das Werk des Schöpfers, dass „die fortschreitenden Entwicklungen des Gehirns einerseits eine große Verbesserung, andererseits aber auch der Beginn von Manipulation, Nötigung und Lüge“ waren. (S. 155)
Unsere sündigen Verhaltensweisen sind in Hills Ansatz also nicht ein Ergebnis des Sündenfalls, sondern ein wichtiger Evolutionsmotor und damit ein wichtiges Element im göttlichen Schöpfungsprozess. Wenn wir Christen heute einen maßvollen Lebensstil entwickeln und sexuelle Treue bzw. Enthaltsamkeit im außerehelichen Bereich leben wollen, dann kämpfen wir somit gegen genau die Triebe an, die Gott selbst benutzt hat, um uns zu erschaffen:
„Es ist nicht ohne Bedeutung, dass unsere männlichen Jäger- und Sammler-Vorfahren häufig Sex hatten und auf der Suche nach mehr Partnerinnen ihre Familien verließen.“ (S. 144/145)
„Viele unserer Triebe, von der Lust aufs Essen bis zum Verlangen nach Sex, waren für unsere Vorfahren überlebenswichtig.“ (S. 145)
„Lebewesen, die früher nicht dadurch auffielen, dass sie ständig essen und Sex haben wollten, sind ausgestorben.“ (S. 146)
Wir Menschen sind demnach also die Sieger eines rücksichtslosen, animalischen evolutionären Verdrängungskampfes, den Gott selbst so auf den Weg gebracht hat. Und zu diesem Schöpfungswerk sagt Gott, dass wir „sehr gut“ und nach Gottes Ebenbild geschaffen sind?
Ist der Mensch gottesebenbildlich und einzigartig?
Damit sind wir bei einem weiteren schwerwiegenden Problem in Hills Modell. Für ihn ist klar: „Obwohl Homo sapiens erst relativ kurz auf der Erde existiert, haben wir uns in rasantem Tempo entwickelt und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.“ (S. 117) Wenn der Evolutionsprozess des Menschen demnach immer noch weiterläuft, dann wirft das Fragen auf: Gibt es dann heute schon Menschen, die höher entwickelt sind als andere? Sind denn nicht alle Menschen gleich? Werden zukünftige Menschen auf Jesus zurückschauen und in ihm einen unterentwickelten Vormenschen sehen? Was bedeutet das für die biblische Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und für die Wiederkunft Jesu?
Und inwiefern ist der Mensch noch einzigartig, wenn er eigentlich nur ein weiterentwickeltes Tier ist? Hill schreibt dazu: „Aber da wir Menschen gemeinsame Vorfahren mit den höherentwickelten Tieren haben, wurde Jesus nicht nur Mensch, er wurde auch ein Tier – wodurch alle Tiere etwas ganz Besonderes sind, denn Gott wurde einer von ihnen. … Jesus betrat die Erde auch nicht als irgendein Tier, sondern als menschliches Tier.“ (S. 202) Hill möchte also die Tiere aufwerten, indem er zwischen Mensch und Tier nur graduelle statt prinzipielle Unterschiede sieht. Aber wird damit der Mensch nicht zwangsläufig auch abgewertet? Und wollte Jesus sich wirklich auch mit den Tieren identifizieren?
In der Bibel ist Jesus zwar tatsächlich der Löwe von Juda und das geschlachtete Lamm. Aber mit diesen Bildern wollte die Bibel sicher nicht sagen, dass Jesus und wir Menschen letztlich nur höher entwickelte Formen innerhalb des Tierreichs sind. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen mit allen Konsequenzen für seine unveräußerliche Würde und für seine einzigartige Verantwortung, für die er im Gericht zur Rechenschaft gezogen wird, ist in der Bibel ausschließlich dem Menschen vorbehalten.
Ist der Glaube an die Evolution eine Befreiung?
Das Buch enthält ein Nachwort der Übersetzerin, in dem sie schildert, wie sie aufgrund ihres christlich-konservativen Hintergrunds zunächst mit dem Inhalt des Buchs gefremdelt hat. Dann aber wurde sie „in eine neue Freiheit geführt“ (S. 205), die es ihr jetzt ermögliche, auch Widersprüche zwischen der Bibel und wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie innerbiblische Widersprüche fröhlich stehen zu lassen, ohne dass ihr Glaube beeinträchtigt werde. Dabei seien ihr Publikationen und Vorträge von Worthaus, Siegfried Zimmer, Thorsten Dietz und anderen eine große Hilfe gewesen.
Mir ging es nach der Lektüre des Buchs genau umgekehrt. Deutlicher als je zuvor stand mir vor Augen, in welch grundlegende Widersprüche und Schwierigkeiten man gerät, wenn man die Evolutionstheorie mit der Bibel vereinbaren will. Angesichts der gewaltigen Probleme, unter denen die Evolutionstheorie insgesamt leidet, kann ich auch nicht erkennen, inwiefern denn die Übernahme des Evolutionsmodells ins christliche Weltbild eine Befreiung sein soll? Wovon werde ich denn da befreit?
Richtig ist natürlich: Glaube und Wissenschaft können und sollen Hand in Hand gehen. Wir Christen sollten uns ehrlich den wissenschaftlichen Fakten stellen und intellektuell redlich mit ihnen umgehen. Faktenresistenz und Wissenschaftsfeindlichkeit kann keine christliche Antwort sein. Es waren ja vielfach tiefgläubige Christen, die die Erfolgsgeschichte der modernen Wissenschaft vorangetrieben haben. Aber eine undifferenzierte Wissenschaftsgläubigkeit, die blind ist gegenüber den offenkundigen Problemen der Evolutionstheorie und die auch nicht die philosophischen Paradigmen kennt, die die heutige Dominanz des Evolutionsmodells verursachen, kann ganz sicher auch kein Weg sein, den wir Christen beschreiten sollten.
Angesichts der vielen ungeklärten Fragen in der Ursprungsforschung empfinde ich es als befreiend, mein Weltbild nicht allein von unserem vorläufigen und sich rasch wandelnden Weltwissen abhängig machen zu müssen. Vielmehr darf ich aus guten Gründen und guten Gewissens der Schrift das letzte Wort geben, wenn es um die existenziellen Fragen nach dem „woher“ und „wohin“ des Menschen geht.
Das Buch „Und Gott schuf die Evolution“ von Matthew Nelson Hill ist bei Gerth Medien erschienen und kann hier bestellt werden.
Eine Kurzversion dieser Rezension ist in IDEA 11.2022 erschienen.
Weiterführende Hinweise:
Zum Thema Glaube und Wissenschaft und zum weitreichenden Einfluss des wunderkritischen Paradigmas in der Theologie und in der Ursprungsforschung ist im November 2021 in der Mediathek offen.bar mein Vortrag “Brauchen wir wissenschaftliche Theologie?” erschienen: https://youtu.be/zjV4WQ-B9iA
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