Die Bibel: Was ist das eigentlich? Die Frage nach dem Bibelverständnis

Dieser Artikel enthält das Skript zum offen.bar-Vortrag „Bibelverständnisse, ihre Konsequenzen und die Frage nach dem biblischen Bibelverständnis“, der am 20.06.2023 veröffentlicht wurde:

Warum gibt es auch im allianzevangelikalen Umfeld scheinbar immer mehr Misstrauen, Distanz und sogar Spaltungen? Zu dieser Frage gibt es viele Meinungen. Und doch setzt sich eine Erkenntnis immer stärker durch: Im Zentrum der Debatten und Konflikte steht letztlich die Frage nach dem Bibelverständnis. Denn dass Christen die Bibel an verschiedenen Stellen unterschiedlich auslegen, hat es schon immer gegeben. Und trotzdem hat zum Beispiel die Lausanner Bewegung gezeigt: Es ist möglich, eine starke, geeinte evangelistische Bewegung auf den Weg zu bringen trotz mancher Differenzen bei verschiedenen biblischen Auslegungsfragen.

Aber zunehmend wird deutlich: Beim Postevangelikalismus tun sich theologische Gräben auf, die grundsätzlicher sind und die man nicht mehr nur damit erklären kann, dass man einzelne Abschnitte in der Bibel unterschiedlich versteht und auslegt. Wenn die theologischen Gräben derart zentrale Glaubensfragen betreffen, dann hat das ganz offenkundig damit zu tun, dass man schon grundsätzlich ganz anders mit der Bibel umgeht und einen ganz verschiedenen Blick auf den Charakter und das Wesen der Bibel hat.

Ein grundsätzlich anderer Umgang mit der Bibel

Eigentlich ist diese Erkenntnis nicht neu für mich. Ich bin ja evangelisch. Natürlich ist mir schon vor langer Zeit aufgefallen, dass viele Theologen völlig anders mit der Bibel umgehen als ich das tue. Vor einigen Jahren hat mich das genauer interessiert. Deshalb habe ich mich in das „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“ von Hans Conzelmann und Andreas Lindemann vertieft. Dieses Buch war lange Jahre an vielen theologischen Fakultäten im Einsatz als Grundlagenwerk für die Ausbildung von Pfarrern und Theologen. Viele heutige Leiter in der Kirche wurden also mit diesem Werk ausgebildet. Und ich habe mich gefragt: Wie genau wird da mit der Bibel umgegangen? In diesem Buch heißt es dazu:

„Die biblischen Texte werden methodisch nicht anders behandelt als andere literarische Zeugnisse, insbesondere solche der Antike. … Die Bibel enthält geschichtlich entstandene Dokumente, die – in großer Vielfalt theologischer Meinungen – den jüdischen bzw. christlichen Glauben bezeugen und darstellen.“[1]

Hier wird also gesagt: Als Bibelwissenschaftler gehen wir mit der Bibel so um wie mit jedem anderen Buch der Antike. Wir gehen davon aus, dass die Entstehung der Texte einem ganz normalen geschichtlichen Prozess zu verdanken ist. Entsprechend geht man davon aus, dass die Bibel nicht etwa Gottes Worte enthält. Stattdessen erwarten wir dort menschliche theologische Meinungen, und das in großer Vielfalt und somit auch Widersprüchlichkeit.

Das grundlegende Drama der evangelischen Kirche

Ich fand das aufschlussreich. Denn die Konsequenz dieser Herangehensweise an die Bibel ist natürlich weitreichend: Wenn die Bibel keine göttliche Offenbarung ist, sondern ein Buch wie jedes andere, dann können wir in der Bibel tatsächlich nur Meinungen über Gott finden. Aber mit widersprüchlichen Meinungen aus einer längst vergangenen Zeit kann man natürlich nichts Verlässliches herausfinden über den wahren Gott, über Jesus und über die ewigen Fragen. Denn über Gott wissen wir nun einmal ausschließlich das, was Gott uns offenbart! Es gibt über Gott keine andere Erkenntnisquelle.

Und das Problem der Kirche ist: Wenn sie keine Offenbarungsquelle hat, dann hat sie schlicht und einfach nichts zu sagen. Kirche hat keine Autorität aus sich selbst heraus. Kirche ist eine „Creatura verbi“, ein Geschöpf des Wortes Gottes. Sie entsteht daraus, dass Gott gesprochen hat. Sie hat keine eigene Botschaft, sondern sie ist nur ein Botschafter an Christi statt. Kirche kann nur deshalb Trost und Antworten auf die grundlegenden Ewigkeitsfragen der Menschen geben, weil sie aus einer göttlichen Erkenntnis- und Offenbarungsquelle schöpft. Und wenn diese Quelle fehlt, dann wird Kirche im wahrsten Sinne des Wortes trost-los, weil man Menschen mit Meinungen und Ideen nun einmal nicht trösten kann.

Tatsächlich bin ich der Überzeugung: Genau hier liegt das grundlegende Problem meiner evangelischen Kirche. Ohne die Bibel als Offenbarungsquelle hat sie kein Fundament mehr, auf dem sie stehen kann. Wenn die Bibel nur Meinungen enthält, dann können wir den Menschen eben auch nur von Meinungen berichten. Aber wir können ihnen nichts mehr sagen, worauf sie vertrauen, worauf sie sich verlassen können. DAS ist aus meiner Sicht das große, das entscheidende Drama meiner evangelischen Kirche. Und ich bin überzeugt: Solange sie ihre Leiter mit einem solchen Bibelverständnis ausbildet, wird es unmöglich wieder bergauf gehen können mit meiner Kirche.

Im Dschungel der zahllosen Bibelverständnisse

Das Beispiel zeigt, wie existenziell die Frage nach dem Bibelverständnis tatsächlich ist. Die Art, wie wir mit der Bibel umgehen, hat grundlegenden Einfluss auf unsere gesamte Theologie, auf unser Verständnis, was Christsein und Kirche eigentlich ist und welche Botschaft die Kirche verbreiten soll. Umso mehr möchte ich Dich einladen, jetzt einmal vertieft mit mir über die Frage nachzudenken: Welche verschiedenen Bibelverständnisse gibt es eigentlich? Und was sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben?

Für mich war es äußerst schwierig, mich bei diesem Thema orientieren zu können. Und ich glaube: So geht es vielen Menschen. Denn meine Erfahrung beim Umgang mit diesem Thema ist: Oft werden ganz verschiedene Bibelverständnisse mit ganz ähnlichen Begriffen beschrieben, so dass Leser oder Zuhörer kaum unterscheiden können, was da eigentlich gemeint ist. Oft werden Begriffe wie „Gottes Wort“ oder „Offenbarung“ völlig unterschiedlich gefüllt. Und gerade dieser ganz unterschiedliche Gebrauch identischer Begriffe macht es so schwierig, sich bei dieser Frage zu orientieren.

Um trotzdem ein wenig mehr Licht in diesen Nebel zu bringen, möchte ich jetzt etwas tun, was eigentlich gar nicht geht. Denn das Thema Bibelverständnis ist natürlich ein ungeheuer weites Feld. Es gibt unfassbar viele verschiedene Bibelverständnisse und wir haben nicht ansatzweise die Zeit, all diese Bibelverständnisse in einem einzigen Vortrag zu durchdringen und zu diskutieren. Deshalb habe ich zusammen mit einem befreundeten Theologen versucht, ein paar Schneisen in dieses Dickicht zu schlagen und die wichtigsten Gruppen von Bibelverständnissen etwas schematisch und vereinfacht in eine Übersicht zu bringen. Dabei soll deutlich werden, welche grundlegenden Weichenstellungen in den einzelnen Bibelverständnissen vorgenommen werden und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Konkret möchte ich dir fünf verschiedene Bibelverständnisse skizzieren. Vier davon begegne ich relativ häufig in der einen oder anderen Variante. Eines begegnet mir nur ganz selten, aber es ist mir trotzdem wichtig, dass wir auch dieses Bibelverständnis mit aufnehmen, weil es uns hilft, die prinzipiell möglichen Weichenstellungen und die daraus folgenden Konsequenzen besser zu verstehen.

Fünf Bibelverständnisse im Vergleich

Das erste Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Gotteswort! Das heißt: So, wie Texte dastehen, sind sie uns voll und ganz von Gott gegeben worden. Zum Entstehungsprozess der biblischen Texte könnte man hier am ehesten sagen: Die biblischen Texte sind diktiert. Gott allein hat jedes Wort so vorgegeben, vollständig unabhängig von menschlichen Einflüssen. Das ist das Bibelverständnis, das mir in der Praxis sehr selten begegnet.

Das zweite Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Gotteswort und ganz Menschenwort! Martin Luther hat diese Sichtweise auf die Bibel einmal mit Jesus verglichen und gesagt: Jesus war beides: Ganz Mensch. Und ganz Gott. Und so ist auch die Bibel beides: Ganz Gotteswort. Und zugleich ganz Menschenwort. Das heißt: Die Bibel ist nicht etwa teilweise menschlich und teilweise göttlich. Nein, sie ist beides voll und ganz. Sie ist zum einen ganz Menschenwort, das heißt: Man merkt den Texten durchgängig den speziellen Stil und die Sichtweise des menschlichen Autors an. Und doch hat zugleich Gott dafür gesorgt, dass alle Texte das Wesen und die Wahrheit Gottes widerspiegeln.

Zum Entstehungsprozess der biblischen Texte würde man hier am ehesten sagen: Die Bibeltexte sind inspiriert. Das heißt: Hier haben Menschen geschrieben mit ihrer Perspektive, geprägt von ihrem Wesen und ihrem Charakter. Und doch waren sie zugleich so inspiriert vom Heiligen Geist, dass diese Worte auch ganz und gar Gottes Wesen und Gottes Wahrheit widerspiegeln.

Das dritte und das vierte Bibelverständnis will ich überschreiben mit dem Schlagwort: Die Bibel ist Gotteswort im Menschenwort. Hinter diesem Schlagwort können sich sehr verschiedene Bibelverständnisse verstecken, aber ich möchte damit heute vor allem zwei Bibelverständnisse beschreiben:

Das erste Bibelverständnis kann man mit dem Stichwort „Kanon im Kanon“ überschreiben. Was ist damit gemeint? Der Begriff „Kanon“ meint ja an sich die Zusammenstellung aller Texte, die gläubige Christen als ihre heilige Schrift oder als Gottes Wort ansehen. Das heißt: In der protestantischen Kirche gehen wir von einem Kanon aus, der insgesamt 66 Bücher umfasst, 39 Bücher des Alten Testaments und 27 Bücher des Neuen Testaments. Aber wer von einem „Kanon im Kanon“ spricht, der geht davon aus, dass nicht alle Texte, die in diesen 66 kanonischen Büchern stehen, wirklich von Gott inspiriert sind. Stattdessen meint man, dass das nur für bestimmte Teile dieser Texte gilt.

Das führt natürlich sofort zu der großen Frage: Welche Teile der Bibel sind denn inspiriert? Und welche Teile sind nicht inspiriert und somit nur rein menschlicher Natur? Das ist eine Frage, auf die bislang niemand eine befriedigende Antwort finden konnte. Unterschiedliche Vertreter dieses Bibelverständnisses haben immer wieder völlig unterschiedliche Grenzen gezogen zwischen reinem Menschenwort und göttlich inspirierten Passagen. Es ist niemand gelungen, nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln, anhand derer man objektiv im Bibeltext unterscheiden könnte zwischen inspirierten Texten und rein menschlichen Texten. Deshalb scheint dieses Bibelverständnis heute auch nicht mehr sonderlich weit verbreitet zu sein.

Das vierte Bibelverständnis geht deshalb einen anderen Weg. Ich habe diese Herangehensweise an die Bibel mal mit dem Stichwort „Leseinspiration“ überschrieben. Und damit ist gemeint: Die biblischen Texte sind in diesem Bibelverständnis an sich rein menschliche Texte. Sie sind von Menschen geschrieben, sie sind nicht von Gott inspiriert. Aber hier geht man davon aus, dass der Heilige Geist diese Texte benutzen kann und sie auch benutzt, um sie beim Lesen für uns zum Gotteswort zu machen.

An sich ist diese Sichtweise nichts Besonderes. Die Auffassung, dass der Heilige Geist beim Lesen der Bibel eine wichtige Rolle spielt, wird sicher von der großen Mehrheit der Christen geteilt. Das Besondere bei dem Bibelverständnis, das ich mit „Leseinspiration“ überschrieben habe, ist: Der Inspirationsprozess wird hier mehr oder weniger stark auf den Leseprozess reduziert. Es wird nicht oder nur sehr begrenzt damit gerechnet, dass die Inspiration des Heiligen Geistes auch schon bei der Entstehung der Texte ein entscheidender Faktor war. Es wird vielmehr gesagt: Erst beim Lesen kann der Heilige Geist aus dem menschlichen Wort ein inspiriertes Gotteswort machen.

So schreibt zum Beispiel der Theologe Udo Schnelle: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“[2] Und Siegfried Zimmer schreibt dazu ganz knapp: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“[3]

Das fünfte und letzte Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Menschenwort. Hier wird gesagt: Bei der Entstehung dieser Texte war weder Diktat noch Inspiration am Werk. Sondern so wie im eingangs zitierten Bibelverständnis von Conzelmann und Lindemann geht man davon aus, dass die Texte auf rein menschlichen Gedanken basieren. Was wir in der Bibel dann vor uns haben, sind rein menschliche Vorstellungen, Meinungen und Erfahrungen, die nichts zu tun haben mit irgendwelchen göttlichen Einflüssen.

Hat die Bibel einen echten Offenbarungscharakter?

Die nächste Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Was bedeuten diese Bibelverständnisse für das Wesen, für den Charakter der biblischen Texte? Inwiefern haben diese Texte einen Offenbarungscharakter?

Bei den ersten beiden Bibelverständnissen ist das relativ klar. Hier wird gesagt: Die Bibel IST eine Offenbarung Gottes. Die Worte haben so, wie sie da stehen, einen echten Offenbarungscharakter. Der Satz: „Die Bibel ist Gottes Wort“ bedeutet hier nicht nur, dass Gott durch diese Worte zu uns reden kann, sondern dass diese Texte tatsächlich Worte des lebendigen Gottes sind. Das ist das Bibelverständnis, das z.B. die evangelische Allianz vertritt. Sie sagt in ihrer Glaubensbasis:

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

Entscheidend ist hier die Aussage: Die Bibel IST Offenbarung. In anderen Bibelverständnissen sieht das anders aus. Wer von einem Kanon im Kanon ausgeht, kann nicht sagen: Die Bibel IST Offenbarung, sondern der muss eher sagen: Die Bibel ENTHÄLT Offenbarung. Und wer von einem Bibelverständnis der Art ausgeht, die ich hier mit „Leseinspiration“ bezeichnet habe, der spricht eher davon, dass die Bibel die Offenbarung BEZEUGT.

So lesen wir zum Beispiel in einem aktuellen Grundsatztext der evangelischen Kirche in Deutschland:

„Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“[4]

In diesem kurzen Zitat wird sehr schön deutlich, was hier geschieht. Grundlegend wichtig ist: Es wird getrennt zwischen der Offenbarung und dem Bibeltext. Man rechnet zwar mit einer Offenbarung, aber die Bibeltexte selbst sind nicht diese Offenbarung, sondern die eigentliche Offenbarung ist eine Person, Jesus Christus. Diese eigentliche Offenbarung steht hinter den Texten, aber die Texte selbst sind nicht offenbart. In der Bibel haben Menschen geschrieben, die zum Teil zwar sehr nahe dran waren an dieser Offenbarung und die diese Offenbarung bezeugen. Die Texte selbst aber haben einen menschlichen Charakter.

Im letzten Bibelverständnis wird das noch einmal anders gesehen. Hier wird überhaupt nicht mit irgendwelchen Offenbarungsereignissen gerechnet. Hier ist klar: Die Bibel enthält grundsätzlich nur Vorstellungen von Gott. So schreibt zum Beispiel Pastor Sebastian Rink:

„Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte.“[5]

Rink beschreibt hier also einen durch und durch menschlichen Prozess, der zur Entstehung dieser Texte geführt hat, der mit Offenbarung nichts zu tun hat.

Hat „Die Bibel“ uns heute noch etwas zu sagen?

Aber was bedeuten diese verschiedenen Bibelverständnisse nun für die Frage, was die Bibel uns eigentlich zu sagen hat? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst einen sehr grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen Bibelverständnissen verstehen. Dieser Unterschied betrifft die Frage nach der Einheit der Bibel.

In den ersten beiden Bibelverständnissen, in denen die Bibel ganz als Gotteswort angesehen wird, ist klar: Zwar haben hier viele verschiedene Menschen geschrieben. Wir müssen ja von wenigstens 40 verschiedenen Autoren ausgehen, die in sehr verschiedenen Zeiten und Kulturen gelebt haben. Und trotzdem sind Vertreter dieser beiden Bibelverständnisse überzeugt: Hinter allen diesen Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Es war ein und derselbe Heilige Geist, der alle diese Texte gleichermaßen inspiriert hat. Deshalb wird die Bibel in diesen Bibelverständnissen trotz ihrer textlichen, kulturellen und zeitlichen Vielfalt als eine Einheit verstanden. Da gibt es zwar Spannungsfelder und sich gegenseitig ergänzende Pole der Wahrheit. Und es gibt natürlich auch heilsgeschichtliche Entwicklungen. Aber insgesamt zeichnen diese Texte trotzdem ein gemeinsames Bild und sie machen gemeinsam Aussagen über Gott und die Welt. Nur auf dieser Grundlage konnte z.B. ein Billy Graham in seinen Predigten immer wieder sagen: „The bible says…“ „Die Bibel sagt…“ So eine Formulierung macht natürlich nur dann Sinn, wenn man die Bibel als eine Einheit versteht, denn nur dann kann DIE Bibel auch irgendetwas sagen.

In den anderen Bibelverständnissen geht man hingegen davon aus, dass es sich um menschliche Meinungen oder Zeugnisse handelt. Und menschliche Meinungen und Zeugnisse sind immer mehr oder weniger widersprüchlich. Entsprechend kann z.B. der Theologe Siegfried Zimmer sagen: „Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“[6] Er sagt also: Wir können Zitate von Jesus nehmen, um damit andere Teile der Bibel aushebeln, wenn sie dem widersprechen, was Jesus gesagt hat. In dieser Sichtweise ist die Bibel natürlich keine Einheit mehr, denn sie enthält dann widersprüchliche Aussagen. Damit macht dann auch die Wendung „Die Bibel sagt…“ keinen Sinn mehr. Denn DIE Bibel sagt dann natürlich überhaupt nichts, sie enthält ja eine Vielzahl von sich widersprechenden Aussagen.

Ist die Bibel fehlerlos und kritisierbar?

Und es gibt noch eine weitere entscheidend wichtige Konsequenz dieser verschiedenen Bibelverständnisse:

In den beiden ersten Bibelverständnissen, in denen die Bibel ganz als Gotteswort angesehen wird, da können wir davon sprechen, dass die Bibeltexte in einem gewissen Sinn „fehlerfrei“, „irrtumslos“ oder „unfehlbar“ sind. Martin Luther hat dazu zum Beispiel folgendes geschrieben:

„Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“[7]

Das grundlegende Prinzip, das Luther hier erklärt, war ein zentraler Grundstein der Reformation. Man kann es ganz simpel formulieren mit der Aussage: Alle Theologen irren! Aber die Autoren der Bibel irren niemals! Mit seinem Hinweis auf den Kirchenvater Augustinus hat Luther deutlich gemacht: Dieses Prinzip war nicht seine eigene Erfindung. Es galt schon zur Zeit der ersten Christen.

Und tatsächlich lässt sich das in den Schriften der Kirchenväter und der apostolischen Väter immer wieder nachweisen. Der Neutestamentler Prof. Theodor Zahn hat geschrieben: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[8] Die Annahme, dass die Texte der Bibel frei von Irrtum sind, ist also überhaupt keine moderne Idee, sondern sie war von Beginn der Kirchengeschichte an weit verbreitet und sogar vorherrschend. Bis heute gilt, dass diese Annahme in der weltweiten Kirche keine Außenseiterposition ist, im Gegenteil. Man merkt das zum Beispiel in einem der zentralsten theologischen Dokumente der evangelikalen Bewegung, der sogenannten Lausanner Verpflichtung aus dem Jahr 1974. Dieses Dokument wurde von zahlreichen Kirchenleitern aus der ganzen Welt unterschrieben. Und da heißt es über die Bibel als Gottes Wort: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und des Lebens.“ Auch hier haben wir also genau diese Begriffe: Ohne Irrtum und unfehlbar.

Klar ist aber trotzdem: Diese Begriffe „fehlerfrei“, „irrtumslos“ oder „unfehlbar“ sind erklärungsbedürftig. Ich habe sie deshalb in meiner Übersichtstabelle auch ganz bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Denn diese Begriffe müssen natürlich sehr genau definiert werden, sonst gibt es immer wieder Missverständnisse. So hat zum Beispiel der Theologe Gerhard Maier gerade zu dieser Passage in der Lausanner Verpflichtung angemerkt: Ja, Gottes Wort ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, aber: Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ Er will damit sagen: Eine Irrtumslosigkeit kann sich natürlich nur auf das beziehen, was die Autoren tatsächlich sagen wollten. Wenn wir aber den biblischen Aussagen eine falsche Aussageabsicht unterstellen oder ein anderes Wahrheitsverständnis unterschieben, dann funktioniert das mit der Irrtumslosigkeit natürlich nicht mehr. Gerhard Maier spricht deshalb auch lieber von vollkommener Verlässlichkeit oder von Fehlerlosigkeit im Sinne der göttlichen Zwecke.

Aber unabhängig von solchen Begriffsdiskussionen geht man in diesem Bibelverständnis jedenfalls davon aus: Hier hat Gott gesprochen. Und wenn Gott in diesem Text spricht, dann kann dieser Text in seiner ursprünglichen Form und in seiner ursprünglichen Aussageabsicht auch keine Fehler enthalten, weil Gott nun einmal keine Fehler macht.Bibelkritik ist dann zwar durchaus sinnvoll, aber nur, wenn mit dem Wort „Kritik“ eine unterscheidende Analyse gemeint ist, also wenn man z.B. zwischen verschiedenen Textgattungen unterscheiden will oder wenn man unterscheidet zwischen Urtext und späteren Veränderungen am Text.

Ganz anders sieht das bei den anderen Bibelverständnissen aus. Hier gilt: Weil es sich um menschliche Texte handelt, sind diese Texte natürlich auch im echten Sinn inhaltlich kritisierbar. In der Theologie spricht man von „Sachkritik“. Da geht es also nicht mehr nur um eine unterscheidende Analyse der Texte, sondern um echte inhaltliche Kritik an den ermittelten Aussagen der biblischen Texte. So meint zum Beispiel Siegfried Zimmer: „In der Bibel gibt es hunderte von Fehlern. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“[9]

Was in diesem Zitat noch einmal deutlich wird, ist dieses Phänomen der Trennung zwischen der Offenbarung und dem Bibeltext. Da ist also eine Offenbarung in Christus auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite ist der Bibeltext, der nur eine menschliche, schriftliche Darstellung dieser Offenbarung ist. Und weil diese Darstellung einen ganz menschlichen Charakter hat, kann ich diesen Text natürlich auch kritisieren, weil menschliche Texte immer fehlerhaft und kritisierbar sind.

Im bibelwissenschaftlichen Umfeld geht diese Sachkritik oft zusätzlich noch einher mit einer sogenannten „Wunderkritik“, das heißt: Man fühlt sich einem Wissenschaftsbegriff verpflichtet, der bei der Erforschung der Bibel ausschließlich von natürlichen Ursachen ausgeht. Das bedeutet: Man rechnet prinzipiell nicht mit der Historizität von Wundern. Und man rechnet auch prinzipiell nicht mit vorhersagender Prophetie. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Datierung der Texte. Denn die Texte können dann grundsätzlich erst nach Ereignissen entstanden sein, die in den Texten vorhergesagt werden. Die Evangelien können also zum Beispiel erst nach der Zerstörung des Tempels entstanden sein, weil Jesus diese Zerstörung in den Evangelien angekündigt hat. Oder das Daniel-Buch kann zumindest in Teilen erst im 2. Jahrhundert vor Christus entstanden sein, weil es über Ereignisse spricht, die da erst passiert sind.

Durch diese zeitliche Verschiebung verändert sich natürlich auch der Autor. Es verändert sich das politische, religiöse und kulturelle Umfeld der Texte. Die Adressaten verändern sich. Und somit natürlich auch die Aussageabsicht. Das heißt: Wunderkritik führt am Ende immer auch zu einer ganz anderen Auslegung der biblischen Texte.

Zwischenfazit: Die grundlegendste aller Weichenstellungen

Wir haben somit auf der einen Seite zwei Bibelverständnisse, bei denen die Bibel angesehen wird als eine Offenbarung Gottes und damit auch als eine völlig zuverlässige, vertrauenswürdige Einheit. Auf der anderen Seite haben wir drei Bibelverständnisse, in denen gilt: Die Bibel ist zwar ein wichtiges, aber eben auch ein widersprüchliches, fehlerhaftes, zu kritisierendes Zeugnis, das zwar verbunden sein kann mit einer mehr oder weniger großen Nähe zur Christusoffenbarung, das aber trotzdem inhaltlich kritisierbar bleibt.

Natürlich gibt es zu jedem dieser Bibelverständnisse unfassbar viele Nuancen und Verästelungen. Diese Tabelle kann unmöglich die Gesamtheit aller Bibelverständnisse beschreiben. Aber die grundsätzlichen Weichenstellungen, die bei den verschiedenen Bibelverständnissen vorgenommen werden, sind hoffentlich deutlich geworden. Und was hoffentlich vor allem deutlich wurde, ist die grundlegendste aller Weichenstellungen. Und diese grundlegendste Weichenstellung ist die Frage: Haben die Texte selbst einen Offenbarungscharakter? Oder trennen wir zwischen den biblischen Texten einerseits und möglichen Offenbarungsereignissen bzw. der Offenbarung in Jesus Christus andererseits? Je nachdem, ob wir zwischen Text und Offenbarung trennen oder nicht, landen wir entweder bei einem Bibelverständnis, in dem die biblischen Aussagen als verlässliche Einheit betrachtet werden. Oder aber wir landen bei einem Bibelverständnis, in dem man mit Fehlern und Widersprüchen in der Bibel rechnet, in dem die Bibel ihre Einheit verliert und in dem die Bibeltexte inhaltlich kritisiert werden können.

Die weitreichenden Konsequenzen

Diese Grundentscheidung hat sehr weitreichende Konsequenzen: Denn wenn die biblischen Texte einen Offenbarungscharakter haben und miteinander eine Einheit bilden, dann können wir aus ihnen tatsächlich auch objektive Wahrheiten gewinnen als Grundlagen für gemeinsames Zeugnis und für gemeinsames Bekenntnis. Auf dieser Grundlage sind zum Beispiel die altkirchlichen Bekenntnisse entstanden. Und auch viele neuere Bekenntnistexte wie zum Beispiel die Glaubensbasis der evangelischen Allianz basieren grundlegend auf der Annahme, dass die Bibel eine verlässliche, aussagekräftige Einheit bildet. Und es sind diese bibelbasierten Bekenntnisse, denen es gelingt, trotz vieler Auslegungsdifferenzen in Detailfragen große Mengen an Christen miteinander zu verbinden und zu vereinen.

Bei den anderen Bibelverständnissen sieht das anders aus. Denn wenn es sich bei den biblischen Texten um menschliche, fehlerhafte und widersprüchliche Texte handelt, dann ist es natürlich weitaus schwieriger, aus diesen Texten allgemeingültige Aussagen herauszufiltern. Und tatsächlich zeigt sich das auch in der Praxis. Vertreter dieser Bibelverständnisse haben oft auch zu den allerzentralsten Glaubensaussagen sehr vielfältige und unterschiedliche Meinungen: Ist Jesus wirklich von einer Jungfrau geboren worden? Ist er wirklich leiblich auferstanden? Wird Jesus wirklich als Richter wiederkommen? Werden wir wirklich auferstehen und ewig mit ihm leben? Innerhalb dieser Bibelverständnisse findet man zu allen solchen Fragen sehr verschiedene Positionen. Man findet insgesamt eher nur subjektive Wahrheiten und Meinungen, aber kaum etwas, das man ganz selbstverständlich miteinander bezeugen und bekennen kann.

Einheit ist hier deshalb nicht mehr möglich durch Übereinstimmung in zentralen Glaubensfragen. Einheit ist hier nur noch möglich durch institutionelle Zusammengehörigkeit, durch Tradition oder durch eine gemeinsame äußerliche Prägung. Aber die Praxis zeigt: Solche Faktoren verlieren immer schneller ihre verbindende Kraft. Und dazu kommt das Problem, dass natürlich auch das gemeinsame Profil und die gemeinsame Botschaft verloren geht. Genau das ist ja heute DAS große Problem unserer evangelischen Kirche, dass eigentlich niemand weiß, wofür diese Kirche steht und was sie den Menschen eigentlich sagen will.

Spätestens hier sehen wir, wie weitreichend und wie grundlegend die Konsequenzen dieser verschiedenen Weichenstellungen beim Bibelverständnis sind. Ich kann deshalb überhaupt nicht nachvollziehen, wenn immer wieder behauptet wird, dass es doch kein Problem sei, wenn man beim Bibelverständnis unterschiedlicher Meinung ist. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Kaum eine theologische Differenz hat grundsätzlichere, weitreichendere Konsequenzen wie eine grundlegende unterschiedliche Weichenstellung beim Bibelverständnis. Und deshalb ist es von so enormer Bedeutung, dass wir über dieses Thema miteinander ins Gespräch kommen.

Ist die Bibel kontextbezogen und auslegungsbedürftig?

Eine letzte Konsequenz dieser verschiedenen Bibelverständnisse will ich noch deutlich machen: Wenn die Bibel nur reines Gotteswort ist, dann heißt das natürlich auch: Hier hat ein Gott gesprochen, der eine zeitlose Perspektive hat. Dann haben wir hier Worte vor uns, die genauso für immer zeitlos gültig sind. Denn Gott hat ja – anders als wir Menschen – immer diese zeit- und kulturübergreifende Perspektive. Er kann zur ganzen Menschheit aller Länder, aller Kulturen und aller Zeiten sprechen. Wenn wir dieser Sichtweise folgen, dann hätten wir ein Schriftverständnis, das sich einem islamischen Schriftverständnis annähert. Und wir Christen hätten dann ein großes Problem. Denn dann müssten wir davon ausgehen, dass das mosaische Gesetz mit all seinen Geboten heute immer noch in gleicher Weise für alle Menschen gültig ist. Denn jedes Wort der Bibel wäre ja dann zeitlos gültig für alle Menschen.

Aber wenn die Bibel ganz Gotteswort und zugleich ganz Menschenwort ist, dann ist klar: Hier schreiben Menschen mit ihrer Perspektive. Und sie schreiben natürlich auch viel stärker in ihre bestimmte Situationen hinein. Sie zielen auf ein bestimmtes Umfeld. Sie sprechen mit einer bestimmten kulturell geprägten Sprache. Es ist dann sehr viel wichtiger, diese Kultur und dieses Umfeld zumindest ein wenig zu verstehen, um auch die Aussageabsicht der Texte und ihre Relevanz für uns heute besser verstehen zu können. Deshalb ist die Bibel in diesem Bibelverständnis auch viel stärker auslegungsbedürftig.

Natürlich ist und bleibt die Bibel auch in diesem Bibelverständnis für jeden Leser zugänglich. Auch Christen, die theologisch und historisch nicht bewandert sind, können die Bibel in den zentralen Aussagen verstehen. Und natürlich ist auch hier jedes Wort höchst relevant, denn es ist ja alles von Gott inspiriert. Von jedem Wort können wir lernen, wie Gott ist, wie er in eine bestimmte Situation hineinspricht. Wir können in jedem Wort seinen Charakter, sein Wesen ein wenig besser kennenlernen. Aber um die Bibel tiefer und genauer verstehen zu können, brauchen wir den gesamtbiblischen Zusammenhang. Wir dürfen Bibelstellen nicht aus dem Zusammenhang reißen. Und wir sollten etwas wissen über den geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Hintergrund der jeweiligen Aussage. Wir müssen die Texte einordnen in ihr jeweiliges Umfeld.

Diese Einordnung der Texte in ihr Umfeld ist natürlich auch in den anderen Bibelverständnissen wichtig. Aber hier gilt nicht unbedingt, dass jeder Text etwas sagt über Gottes Wesen und Charakter! Denn man unterstellt ja, dass so manche oder gar alle Aussagen, die in der Bibel Gott zugeschrieben werden, gar nicht wirklich von Gott stammen. Und daher sind in diesen Bibelverständnissen die biblischen Texte nur noch teilweise oder gar nicht mehr für uns heute relevant. Sie sagen uns heute nur noch teilweise oder gar nichts mehr darüber, wer und wie Gott ist und wie er mit uns Menschen umgeht. Auch hier wird noch einmal deutlich, wie grundlegend wichtig die Frage ist, welches Bibelverständnis wir unserem Umgang mit der Bibel zugrunde legen.

Welches Bibelverständnis ist das richtige?

Nachdem wir jetzt die verschiedenen Bibelverständnisse mit ihren Konsequenzen skizziert haben, stellt sich jetzt natürlich eine ganz große Frage: Für welches Bibelverständnis wollen wir uns entscheiden? Oft höre ich heute die Aussage: Das darf doch jeder selbst entscheiden. Da müssen wir doch tolerant sein. Aber meine Beobachtung ist: In der Praxis funktioniert das oft nicht so richtig. Ich stelle fest: Gerade auch die liberaleren Bibelverständnisse sind in der Praxis oft überhaupt nicht tolerant gegenüber einem konservativen Bibelverständnis. An den theologischen Fakultäten gibt es nach meiner Beobachtung keinerlei Toleranz gegenüber einem Bibelverständnis, das für Sachkritik nicht offen ist, weil man meint, eine Theologie ohne Sachkritik wäre wissenschaftsfeindlich und fundamentalistisch.

Aber die Frage stellt sich ja auch für uns persönlich oder für einen Hauskreis oder eine kleinere christliche Gemeinschaft: Wie wollen wir miteinander mit der Bibel umgehen? Wie kommen wir da zu einer Entscheidung? Nehmen wir das Bibelverständnis, das uns am besten gefällt? Oder machen wir eine demokratische Abstimmung? Oder nehmen wir das Bibelverständnis, das die rhetorisch klügsten Vertreter hat? Setzt sich vielleicht das Bibelverständnis durch, dessen Vertreter die Schaltzentren der Macht am besten besetzen können? Bestimmt der Leiter für die Gruppe, welches Bibelverständnis in der Gruppe gilt? Meine Beobachtung ist: So läuft das leider oft in der Praxis.

Aber gerade als evangelischer Christ bin ich der Meinung: Eigentlich sollte das nicht so sein bei uns. Denn die Reformatoren haben meine Kirche ja auf einem Prinzip aufgebaut, das sich „Sola Scriptura“ nennt. Allein die Schrift soll herrschen, hat Martin Luther gesagt. Nicht der Papst entscheidet. Nicht ein besonders gebildeter Theologe entscheidet. Nicht ein Leiter oder ein Amtsträger entscheidet. Sondern die Bibel entscheidet. Und dabei gilt das Prinzip: „Sacra scriptura sui ipsius interpres“, das heißt: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus.

Auf Basis dieses reformatorischen Prinzips kann die Frage deshalb eigentlich nicht lauten: Welches Bibelverständnis gefällt uns am besten, sondern: Wie sieht sich die Bibel eigentlich selbst? Anders gefragt: Was ist eigentlich das biblische Bibelverständnis? Das müsste bei uns die alles entscheidende Frage sein!

Was ist das biblische Bibelverständnis?

Und um diese Frage zu klären, müssen wir natürlich in die Bibel schauen und darüber nachdenken: Was sagen uns diese Texte über die Frage nach dem Bibelverständnis, das die Bibel selbst hat?

In 3. Mose 1, 1+2a heißt es: „Der Herr rief Mose zu sich und sprach mit ihm vom Zelt der Begegnung aus. Er forderte Mose auf, mit den Israeliten zu reden und ihnen auszurichten: …“ Danach beginnt ein längerer Text mit verschiedenen Anweisungen. Hier wird also gesagt: Die Worte, die wir da lesen, hat Mose von Gott gehört. Es sind letztlich Gottes Worte, die uns hier vermittelt werden. Diese Wendung finden wir insgesamt 17 mal im 3. Buch Mose. Und sie leitet immer teils lange Textabschnitte ein, die somit den klaren Anspruch haben: Mose richtet hier nur aus, was Gott selbst gesagt hat!

In Zefanja 1, 1 lesen wir: „In diesem Buch steht das Wort des Herrn, das er Zefanja mitgeteilt hat.“ Eine ähnliche Formel finden wir des Öfteren am Anfang der Prophetenbücher. Hier gilt also genau wie bei Mose der Anspruch: Die Propheten sprechen Worte, die Gott ihnen mitgeteilt hat!

Besonders spannend ist dazu eine Passage in 5. Mose 18, 20-22. Da heißt es: „Und was, wenn ein anderer Prophet auftritt? Wenn einer auftritt, der sich anmaßt, in meinem Namen zu reden? Er verkündet aber eine Botschaft, die ich ihm gar nicht aufgetragen habe. Oder er redet im Namen anderer Götter. Dann ist dieser Prophet des Todes schuldig. Vielleicht fragst du dich: Woran können wir denn erkennen, welches Wort der Herr nicht geredet hat? Wenn der Prophet im Namen des Herrn etwas ankündigt, es sich aber nicht erfüllt und nichts geschieht, dann weißt du: Das hat der Herr so nicht gesprochen. Der Prophet hat sich angemaßt, von sich aus eine Botschaft zu verkündigen. Lass dir von ihm keine Angst machen!«“

Da wird also klar gemacht: Um echte Prophetie kann es sich nur dann handeln, wenn wirklich Gott gesprochen hat. Und es gibt dazu einen Test, der dies beweisen soll. Denn echte Prophetie kann Vorhersagen machen, die sich in der Zukunft tatsächlich erfüllen. Die Bibel ist also in keiner Weise wunderkritisch unterwegs, ganz im Gegenteil! Sie geht davon aus: Das Wort der Propheten ist im echten Sinne eine Offenbarung Gottes, die sich durch echte Vorhersagen auszeichnen. Wer hingegen nur eigene Gedanken oder Vorstellungen hat, darf die gerne äußern, aber er darf das unter keinen Umständen als Prophetie bezeichnen. Eigenmächtiges prophetisches Reden ist strengstens verboten in der Bibel! Und das Kriterium für prophetisches Reden ist: Treffen die Vorhersagen ein?

Was ist das biblische Bibelverständnis im Neuen Testament?

In Galater 1, 11-12 lesen wir: „Das will ich euch klar und deutlich sagen, Brüder und Schwestern: Die Gute Nachricht, die ich verkündet habe, stammt nicht von Menschen. Ich habe sie nicht von einem Menschen übernommen. Ich wurde auch nicht von einem Menschen darin unterrichtet. Nein, Jesus Christus selbst hat sie mir offenbart.“ Ganz ähnlich steht in 1. Thessalonicher 2, 13: „Deshalb danken wir Gott immer wieder dafür, dass ihr durch unsere Verkündigung sein Wort empfangen habt. Ihr habt sie nicht als Menschenwort angenommen, sondern als das Wort Gottes, was sie tatsächlich ist.“

Paulus hat hier also einen ganz ähnlichen Anspruch wie die Propheten. Er sagt: Die Botschaft, die ich euch gebracht habe, ist nicht meine Idee. Nein, sie wurde mir von Gott offenbart! Sie ist im echten Sinn Wort Gottes, das heißt: Hier spricht nicht nur ein Mensch, sondern Gott selbst. Was für eine erstaunliche Parallele.

Sowohl im Alten wie im Neuen Testament finden zudem das Verbot, von der biblischen Botschaft irgendetwas wegzulassen oder hinzuzufügen. In 5. Mose 13,1 heißt es: „Achtet auf jedes Wort, das ich euch weitergebe, und handelt danach! Fügt nichts hinzu und lasst nichts davon weg!“ Genau die gleiche Forderung finden wir auch auf der letzten Seite der Bibel in Offenbarung 22, 18-19. Damit wird klar: Diese Texte haben einen ganz einzigartigen Anspruch, den kein menschlicher Autor jemals für sich erheben dürfte. Die Texte sagen: Damit ist abschließend die Wahrheit beschrieben. Es wäre ein Verbrechen, etwas hinzuzufügen oder etwas wegzulassen. Das ist ein Anspruch, den kein menschlicher Theologe jemals für eine seiner Schriften erheben dürfte.

Besonders spannend ist für Christen natürlich auch die Frage: Wie ist denn Jesus mit den Schriften des Alten Testaments umgegangen? Einen Hinweis dazu finden wir z.B. in Matthäus 12, 3: „Jesus antwortete: »Habt ihr denn nicht gelesen, …“ Diese Wendung „Habt ihr nicht gelesen“ benutzt Jesus immer wieder in seinen Debatten mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Und das heißt: Jesus hat mit dem Schriftbeweis gearbeitet. Er sagt: Wenn ihr das in der Schrift gelesen hättet, dann wüsstet ihr Bescheid. Denn was in der Schrift steht, das gilt. Dieser Schriftbeweis funktioniert natürlich nur, wenn die Schrift absolute Autorität hat, denn nur dann hat sie Beweiskraft. Dass diese Schriftautorität für Jesus feststand, das sagt er auch sehr klar in Matthäus 5, 18: „Amen, das sage ich euch: Solange Himmel und Erde bestehen, wird im Gesetz kein einziger Buchstabe und kein Satzzeichen gestrichen werden. Alles muss geschehen, was Gott geboten und verheißen hat.“ Für Jesus war also klar, dass die Schriften des Alten Testaments bis ins kleinste Detail hinein volle Autorität haben. Auch bei Paulus finden wir diese Haltung. In Apostelgeschichte 24, 14 sagt er: „Ich glaube an alles, was im Gesetz und bei den Propheten steht.“

Wie sehr sich Jesus zur Autorität der heiligen Schriften stellt, zeigt sich zum Beispiel auch in Markus 7, 9-10a: „Weiter sagte er zu ihnen: »Ihr seid sehr geschickt darin, Gottes Gebote für ungültig zu erklären. So setzt ihr eure eigenen Vorschriften in Kraft. Denn Mose hat gesagt: ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren und für sie sorgen!‹“

Hier sagt Jesus zuerst: Es handelt sich um „Gottes Gebote“. Jesus beklagt sich darüber, dass diese Gebote Gottes ungültig erklärt werden. Und dann sagt Jesus: „Mose hat gesagt.“ Das heißt: Jesus hat nicht unterschieden zwischen einem Ausspruch von Mose und einem Gebot Gottes. Beides war für ihn offenkundig das Gleiche!

Dieses Phänomen finden wir immer wieder im Neuen Testament. Der Theologe Gerhard Maier hat aufgrund solcher Stellen geschrieben: Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“[10] Für sie galt also ganz offensichtlich: Ja, hier haben Menschen geschrieben und gesprochen. Mose hat geschrieben. Die Propheten haben gesprochen. David hat gesprochen. Aber für alle diese Aussagen gilt gleichermaßen: Gott hat gesprochen.

Genau dieses Verständnis finden wir auch bei Petrus in 2. Petrus 1, 20+21: „Denn keines dieser Worte wurde jemals verkündet, weil ein Mensch es so gewollt hätte. Vielmehr waren Menschen vom Geist Gottes ergriffen und haben in seinem Auftrag geredet.“ Auch hier wird das Prinzip betont: Menschen haben geredet. Aber sie waren dabei vom Heiligen Geist ergriffen und sie haben in seinem Auftrag geredet. Ganz Menschenwort und ganz Gotteswort.

Paulus unterstreicht das, wenn er in 2. Timotheus 3, 16 schreibt: „Und auch dazu ist jede Schrift nützlich, die sich dem Wirken von Gottes Geist verdankt.“ In anderen Übersetzungen heißt es: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Im Griechischen wird hier das Wort „Theopneustos“ verwendet, das heißt: Die Schriften sind geistdurchhaucht. Sie sind ganz und gar vom Geist Gottes geprägt. Sie sind vom Heiligen Geist inspiriert.

Prof. Gerhard Maier schreibt dazu: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“[11] Und zum Neuen Testament schreibt Gerhard Maier:

„Die weitaus meisten Schriften des Neuen Testaments sind nach der Selbstaussage des NT inspiriert … oder lassen den indirekten Anspruch erkennen, inspirierte Schrift zu sein. … Wenn später die Kirche … die Inspiration aller neutestamentlichen Schriften anerkannte, dann stand sie auf einem guten historischen Boden und darüber hinaus im Einklang mit der Offenbarung selbst.“[12]

Fazit: Die Bibel ist ganz Menschenwort und ganz Gotteswort

Diese kurze Betrachtung einiger Bibelstellen ist natürlich noch längst nicht vollständig. Aber trotzdem denke ich, wir können auf dieser Basis schon jetzt zu einem sehr eindeutigen Fazit kommen: Wenn wir die Bibel so verstehen, wie sie selbst verstanden werden möchte, dann ist sie definitiv: Ganz Gotteswort und ganz Menschenwort. Damit auch eine völlig zuverlässige Einheit, zugleich zeitbezogen und auslegungsbedürftig, aber in allen ihren Texten von allergrößter, zeitübergreifender Relevanz für alle Menschen.

Das bedeutet natürlich auch: Nur, wenn wir uns für dieses Bibelverständnis entscheiden, dann ist die Bibel glaubwürdig. Denn wenn wir den bibeleigenen Selbstanspruch nicht ernst nehmen, dann rauben wir der Bibel natürlich auch ihre Glaubwürdigkeit. Aber wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann ist sie das, was sie selbst sein will: Voll und ganz Gottes wahres Wort. Aber sie ist zugleich auch zeitbezogenes Menschenwort und damit auch auslegungsbedürftig, wobei wie gesagt gilt: Es gibt zentrale, heilsrelevante Aussagen der Bibel, die ergeben sich so klar und so eindeutig aus der Bibel, dass man sie auch ohne Theologie- oder Geschichtsstudium verstehen kann. Viele wichtige Aussagen der Bibel kann wirklich jeder verstehen, der sie mit offenem, hörendem Herzen liest. Martin Luther hat hier zurecht von einer „Klarheit der Schrift“ gesprochen. Und gerade deshalb hat er ja auch die Bibel übersetzt, weil er davon ausging: Auch einfache Leute können die Bibel lesen und verstehen und auf dieser Grundlage auch ihrem Pfarrer oder sogar dem Papst widersprechen. Hier wurde ganz praktisch, was Luther grundlegend wichtig war: Nicht ein Mensch, sondern die Schrift soll regieren.

Niemand kennt die endgültig perfekte Auslegung der Bibel

Fakt ist aber auch: Manchmal ist Bibelauslegung auch ein anspruchsvolles Geschäft, zum Beispiel, wenn es um Endzeitfragen geht. Da müssen wir damit leben, dass niemand bis ins letzte genau sagen kann, wie die Bibel in allen Details zu verstehen ist. Und das heißt für uns, dass wir auf 2 Seiten vom Pferd fallen können:

Wir können uns entweder über die Bibel stellen, indem wir unsere Vernunft zum Richter über richtig und falsch in der Bibel machen. Das ist der Fehler der inhaltlichen Bibelkritik. Oder wir können uns über die Bibel stellen, indem wir behaupten, wir wüssten ganz genau bis ins letzte, wie die Bibel zu verstehen und auszulegen ist. Das ist etwas, das in Wahrheit niemand kann. Die richtige Haltung ist, dass wir uns demütig unter die Bibel stellen und sagen: Die Bibel ist voll und ganz Gottes Wort. Aber unser Verständnis, wie sie auszulegen ist, bleibt Stückwerk. Wir bleiben angewiesen auf die Leitung durch den Heiligen Geist und auf die Gemeinschaft der Gläubigen als Auslegungsgemeinschaft, die uns hilft, dieses Wort angemessen und richtig zu verstehen.

Zurück zum Offenbarungscharakter der Bibel

Ich will gerne abschließen mit einem weiteren Zitat von Prof. Gerhard Maier, der aus meiner Sicht die biblische Sichtweise für ein gesundes, bibelgemäßes Bibelverständnis sehr gut zusammengefasst hat mit den folgenden Worten:

„Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität. An dieses Wort hat sich Gott gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Er wird dieses Wort bis ins letzte hinein wahr machen und erfüllen. Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“[13]

Ich glaube: Es ist so dringend notwendig, dass die Kirche Jesu festhält oder sich wieder ganz neu besinnt auf diese bibeleigene Sichtweise auf die Bibel. Denn nur dann behält die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Nur dann kann die Bibel für uns eine orientierunggebende Richtschnur sein. Nur dann können wir aus ihr objektive Wahrheiten und Glaubensschätze ableiten, die uns und unsere Gemeinden auf einen guten, gemeinsamen Grund stellen können. Nur dann kann uns die Bibel gemeinsam Orientierung, Kraft, Trost und Korrektur schenken.

Deshalb lasst uns gemeinsam daran festhalten: Die Bibel ist Gottes offenbartes Wort an uns Menschen. Sie ist ganz Menschenwort und zugleich ganz Gotteswort. Darauf dürfen wir fest vertrauen.

Fußnoten / Quellenangaben:

[1] H.Conzelmann A.Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament 14. Auflage 2004, S. 3

[2] Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[3] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 112

[4] In: „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“, S. 34)

[5] Sebastian Rink: „Wenn Gott reklamiert“, Neukirchener Verlag, 2021, S. 25/26

[6] Siegfried Zimmer „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ 2012, S. 93

[7] Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520

[8] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805

[9] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[10] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 150

[11] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 83

[12] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 88

[13] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 151

Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat

Der nachfolgende Text ist ein Transskript des Vortrags, den Pfarrer Johannes Röskamp am 9.12.2022 beim Allianz-Symposium „Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt“ in Bad Blankenburg gehalten hat. Der Text wurde an einigen Stellen leicht angepasst, um das gesprochene Wort in eine gut lesbare Schriftsprache zu bringen. Er wird mit freundlicher Genehmigung von Johannes Röskamp veröffentlicht.

Der Titel für meinen Impuls lautet: „Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat“. Ich muss gestehen: Als ich gefragt wurde, ob ich das machen könnte, da war ich zuerst ziemlich zögerlich. Ich wusste: Hier werden viele bekannte Leute sein mit langjähriger Leitungserfahrung, dazu akademische Theologen mit internationalem Ruf. Da habe ich gedacht: Und ich als kleiner Gemeindepfarrer aus einer kleinen landeskirchlichen Gemeinde in Minden? Kein Mensch weiß, wo das liegt! Klar, ich bin auch Theologe, ich habe Theologie studiert. Ich habe das auch gerne gemacht. Aber mir war schon mein ganzes Studium lang klar: Ich will in die Praxis! Ich will Pastor werden. Ich will meine Kraft und meine Zeit dafür einsetzen, die gute Botschaft von Jesus Christus zu den Menschen zu bringen. Ich will das, was ich von Jesus verstanden habe, an andere weitergeben. Ich will evangelistisch tätig sein unter Menschen, die Jesus noch nicht glauben. Ich will Ihnen die Schönheit, die Liebe Christi vor Augen malen. Und ich will gemeinsam mit Ihnen Jesus immer tiefer kennenlernen, ihm immer besser nachfolgen. Ich will das, weil ich mit 17 Jahren selbst am eigenen Leib erfahren habe, wie sich das ganze Leben verändert, wie alles neu wird, wenn ich die Liebe von Jesus mit Kopf und Herz begreife. Und seitdem bin ich zutiefst davon überzeugt: Es gibt nichts Schöneres, es gibt nichts Lohnenderes, als dieser Liebe Christi mein Leben hinzugeben und mit ihm zusammen unterwegs zu sein. Dafür möchte ich leben. Dafür möchte ich arbeiten, solange ich kann. Was ich nie wollte, war: Promovieren. In die theologische Forschung gehen. Zu Symposien fahren. Mich an theologischen Debatten beteiligen.

Trotzdem bin ich heute hier und ich spreche heute zu euch über ein zutiefst theologisches Thema, nämlich über das Schriftverständnis. Warum mache ich das? Weil ich überzeugt bin: Bei der Frage, wie wir die Bibel eigentlich verstehen, geht es um alles. Ich glaube, es geht um nicht weniger als die Grundlage für das, was ich gerne mit Liebe und mit Leidenschaft tue und auch weiterhin tun will. Wie wir die Bibel lesen, wie wir sie verstehen, das ist nicht zweitrangig, das ist kein Randthema. Das ist nicht eine Geschmacksfrage wie die Frage nach liturgischen Formen. Es ist nicht so wie die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl, bei der wir uns darauf verständigt haben, dass man das als zweitrangig ansehen kann. Oder die Frage nach der Taufe von Unmündigen. Nein, wie wir die Bibel verstehen, das hat fundamentale Auswirkungen.

Ich will ausdrücklich dazu sagen: Damit meine ich nicht jede einzelne Detailfrage des Schriftverständnisses. Ich glaube, wir brauchen keine Einheit bis in die letzte Verästelung der Inspirationslehre hinein. Aber ich glaube doch, dass mindestens eine Frage beim Schriftverständnis entscheidend ist. Theologen haben ja oft ein wenig Bauchschmerzen damit, wenn Sachen zu sehr vereinfacht werden. Ich habe mich entschieden: Ich traue mich das trotzdem heute, weil ich denke, dass es wichtig ist, das klar zu benennen: Ich glaube, dass es beim Schriftverständnis am Ende auf eine Frage entscheidend ankommt und die heißt: Ist die Bibel Gottes Wort an uns? Oder enthält sie nur Gottes Wort – und das müssen wir dann irgendwie identifizieren und freilegen.

Mir ist klar, dass es beim Schriftverständnis noch um viel mehr geht, dass da noch viel mehr Themen dranhängen, dass es da Einzelfragen gibt und Differenzierungen. Mir ist auch klar: Wenn man diese eine Frage beantwortet, sind anschließend nicht alle Probleme gelöst. Aber ich bin überzeugt:

Wenn wir beieinander bleiben wollen, dann brauchen wir mindestens in dieser einen Frage Einheit und Übereinstimmung miteinander: Ist die Bibel göttliche Rede an uns in menschlichen Worten oder ist die Bibel nur menschliche Rede über Gott, die Gott dann vielleicht in seiner Güte hier und da gebraucht, um sein Wort da mit hinein zu legen? Ist die Bibel Gottes Wort oder enthält sie nur Gottes Wort? Das ist aus meiner Sicht die eine hermeneutische Bruchlinie, die ganz entscheidend ist.

Und ich sage das als Landeskirchler aus leidvoller Erfahrung, dass das tatsächlich eine entscheidende Bruchlinie ist. Und ich werde nachher gleich noch ein etwas mehr dazu sagen, welche Auswirkungen und Konsequenzen das hat.

Und ich sage auch: Ich sehe mit großer Sorge, dass diese Frage auch in unseren Kreisen, auch in evangelikalen Kontexten, nicht mehr wirklich in jeder Hinsicht klar ist, nicht mehr so eindeutig, wie das vielleicht einmal gewesen ist. Ich weiß, dass mir jetzt manche direkt entgegenhalten würden: Johannes, so wichtig, wie du sagst, ist die Bibel doch auch wieder nicht. Das ist ja kein Papst aus Papier. Unsere Mitte ist doch bitte kein Buch, sondern unsere Mitte ist doch Jesus Christus. Und ja, natürlich ist Christus unsere Mitte. Natürlich ist er das eine Wort Gottes. Selbstverständlich. Aber gerade mein Verhältnis zu Christus hängt doch daran, wie ich die Bibel lese und verstehe. Woher kenne ich denn Christus und sein Wort überhaupt, wenn nicht aus der Bibel? Die Bibel ist die Quelle für alles, was wir überhaupt über Gott, über Jesus Christus und auch über uns als Menschen wissen und sagen können. „Sola scriptura“ hat Luther gesagt. Allein aus der Schrift haben wir Kenntnis von Christus und kennen wir überhaupt nur sein Evangelium. Und deshalb ist die Frage, wie wir die Bibel verstehen, so fundamental wichtig.

In meiner Landeskirche erlebe ich das immer wieder, dass das Schriftverständnis unklar ist, dass es da keine Einigkeit gibt. Und ich erlebe, dass das ganz praktische Konsequenzen und Auswirkungen hat. Und ich möchte euch das gerne anhand von zwei Beispielen zeigen:

Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie mir dieser tiefe Graben zum ersten Mal bewusst geworden ist, der sich auftut und uns trennt, wenn wir die Bibel so fundamental unterschiedlich lesen. Und zwar war das im Studium. Ich hatte einen Kommilitonen, mit dem ich mich wirklich gut verstanden habe. Wir haben oft etwas zusammen unternommen. Es war ein schönes, freundschaftliches Verhältnis, das wir zueinander hatten. Eines Tages waren wir zusammen zu Fuß auf dem Rückweg von der Uni in unser Wohnheim. Ich weiß das noch wie heute. Wir kamen ins Gespräch über solche Fragen wie: Ist der Mensch im Kern gut oder schlecht? Kann man das so sagen, dass Alle Sünder sind? Brauchen wir tatsächlich Jesus für unsere Erlösung? Darüber kamen wir ins Gespräch. Und aus meiner Sicht war das alles völlig eindeutig. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass es dazu unzählige Belegstellen gibt. Ich kann jetzt gar nicht alle aufführen, nur eine einzige: In Römer 3, 12 schreibt Paulus: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“ Das war für mich klar. Auch dass wir Jesus brauchen, um gerettet zu werden und um zu Gott kommen zu können, fand ich ganz eindeutig. Schließlich sagt Jesus ja selber diesen berühmten Satz, den ihr alle schon 100.000 Mal gehört habt. In Johannes 14, 6 sagt Jesus: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand – sagt er – niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich. Für mich war das alles in diesem Gespräch so klar und so eindeutig aus einem Grund: Weil die Bibel da klar und eindeutig formuliert! Nur für meinen Kollegen war das gar nicht so klar. Er war da völlig anderer Meinung. Er sagte: Nein, der Mensch ist eigentlich gut und es sind die gesellschaftlichen Umstände, die ihn schlecht handeln lassen. Und der Tod Jesu ist nicht wirklich heilsnotwendig. Ihr kennt das wahrscheinlich alles. Was mich so schockiert und so betroffen gemacht hat, war nicht so sehr, dass wir unterschiedliche Ansichten und Meinungen hatten. Das gibt es unter Menschen. Aber was mich wirklich betroffen gemacht hat war, dass mir im Laufe dieser Diskussion klar wurde: Wir haben gar keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr! Denn immer, wenn ich ein biblisch begründetes Argument brachte, dann wischte er das vom Tisch, weil er meinte: Ja, das steht da zwar, aber das ist ja nur eine zeitgebundene menschliche Meinung von Paulus oder von Johannes oder von wem auch immer. Und selbst wenn ich Aussagen brachte, die laut dem biblischen Text von Jesus selber sind, dann ist das doch nachösterliche Gemeindebildung und damit zweitrangig. Das zählt nicht. Und so ging das bei jedem einzelnen Punkt. So ging es bei jedem einzelnen Bibelvers, der nicht zu seinen Überzeugungen passte. Die biblischen Aussagen waren für ihn immer nur menschliche Meinungen, die man auch ganz anders sehen kann. Und die waren aus seiner Sicht jedenfalls nicht dazu geeignet, herauszufinden, was Gott denkt über dieses oder jenes Thema.

Und je länger dieses Gespräch ging, desto frustrierter und desto verzweifelter wurde ich, weil ich gemerkt habe: Das ist ein Freund und ein Theologe wie ich. Aber für ihn ist die Bibel gar nicht die letzte Autorität in Glaubensfragen, sondern eine Sammlung von menschlichen Aussagen über Gott. Und die kann man auch ganz anders beurteilen. Und da habe ich kapiert:

Wenn wir die Bibel so unterschiedlich ansehen, dann haben wir keine Basis mehr, auf der wir uns geistlich noch miteinander verständigen könnten.

Wir können dann zwar kommunizieren. Wir können uns auch hier treffen zu solchen Symposien oder Veranstaltungen. Aber wir können dann eigentlich nicht mehr wirklich miteinander reden, weil wir von vollkommen unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen auf geistlicher Ebene.

Genauso erlebe ich das auch – und das ist mein zweites Beispiel – in der Debatte um biblische Sexualethik, die uns seit Jahrzehnten beschäftigt. Ich bin kein großer Fan davon, ständig über Homosexualität, über gleichgeschlechtliche Ehen und neuerdings Genderdiversität zu reden. Das ist echt nicht mein Lieblingsthema. Aber ich kann es uns auch nicht ganz ersparen, weil ich die ganze Diskussion darum seit Jahren so erlebe, dass es zum Beispiel bei der Frage zur Bewertung der „Ehe für alle“ im Kern eigentlich nie wirklich um Sexualethik ging. Es ist im tiefsten Kern eine hermeneutische Frage. Es ging schon immer darum, wie wir eigentlich die Bibel lesen und sie verstehen.

Oft wird ja gerade denjenigen, die eher eine traditionelle christliche Sexualethik vertreten, vorgeworfen: Ihr nehmt ein biblisches Randthema, das ganz wenig Bedeutung in der Bibel hat, und stellt das so in den Mittelpunkt. Und ja, es ist richtig, dass Homosexualität und auch Gender von der von der reinen Häufigkeit her keine Hauptthemen der Bibel sind, das ist ganz klar. Aber: Es gibt eben Stellen, die dazu etwas sagen. Und es ist auch nicht bloß eine einzige oder zwei. Es gibt relevante biblische Aussagen dazu! Sogar die EKD hat 1996 noch eine Handreichung veröffentlicht, in der festgehalten wird, dass – wörtliches Zitat – es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Wenn die EKD das tut, dann muss dieser exegetische Befund echt eindeutig sein. Und dann ist aus meiner Sicht nur noch die schlichte Frage: Betrachten wir die Bibel als Gottes Wort? Lassen wir uns das sagen und gestehen ihr dann auch entsprechendes Gewicht zu, uns das auch sagen zu dürfen? Oder halten wir sie prinzipiell für Menschenwort und nehmen uns deshalb heraus, auch gegen den Wortlaut der Bibel anzuargumentieren?

Wie trennend das ist, wenn man das macht, das habe ich gerade erst kürzlich wieder erlebt. Wir haben bei uns im Kirchenkreis in Minden so ein kleines Werk für überregionale Jugendarbeit. Da sind vier Hauptamtliche, die die Jugendarbeit in den Gemeinden vor Ort unterstützen sollen. Und diese Hauptamtlichen sind tolle Leute, wirklich engagierte Menschen mit einem ganz großen Herzen, mit einer großen Liebe zu den Jugendlichen. Ich arbeite sehr gerne mit ihnen zusammen. Als Pfarrer bin ich in einem kirchlichen Ausschuss, der diese Arbeit „beaufsichtigen“ und begleiten soll. Und mit diesem Gremium haben wir neulich einen Klausurtag gehabt. An einem Samstag haben wir zusammengesessen. Unter anderem ging es um das Thema Genderdiversität in der Jugendarbeit. Das Thema hieß: Was sagt die Bibel zum Thema Gender? Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Der erste Programmpunkt dieses Tages sollte eine biblische Einordnung zu dem Thema sein. Da habe ich gedacht: Das ist doch klasse, dass wir als Christen als allererstes nicht auf Psychologie oder auf gesellschaftliche Trends schauen, sondern dass wir gemeinsam in Gottes Wort schauen. Und dann waren zwei Pfarrer gebeten worden, jeweils 20 Minuten dazu etwas zu sagen aus verschiedenen Perspektiven. Der eine davon war ich. Ich sollte etwas aus der traditionellen Perspektive dazu sagen. Und dann war da ein Kollege, der vertrat eine liberaltheologische Sicht. Zwischenmenschlich war das super. Das lief alles sehr angenehm ab. Es war ganz fair, eine ganz gute Atmosphäre. Aber es war trotzdem für mich am Ende unglaublich frustrierend. Denn am Ende standen unsere beiden Kurzreferate nebeneinander im Raum. Und dann passierte: Nichts. Es passierte nichts! Man sagte uns höflich „Dankeschön“ für unsere Mühe, die wir uns gemacht hatten. Und dann ging es weiter in der Tagesordnung. Es gab überhaupt kein Gespräch über die Frage: Was stimmt denn jetzt eigentlich? Wir hatten zwei vollkommen unterschiedliche Referate zu ein und demselben Thema gehört und die Frage „Was ist denn jetzt richtig?“, die gab es gar nicht! Und der Grund, warum diese Frage überhaupt nicht gestellt wurde, der war für mich mit Händen zu greifen. Warum diese Frage jetzt nicht auf den Tisch kam, war ganz einfach: Es gab einfach kein gemeinsames Kriterium, nach dem man das Gehörte jetzt irgendwie hätte einordnen oder beurteilen können. Das gab es nicht. Ich hatte aus meiner Sicht relevante biblische Belege gebracht, bei denen ich der Überzeugung war, dass das zu dieser Frage etwas austrägt. Mein Kollege, der die Gegenposition hatte, hat auch Bibelstellen zitiert. Aber ganz ehrlich: Die meisten Bibelstellen zitierte er nur, um sie direkt im Anschluss als zeitgebundenes Menschenwort gleich wieder zu relativieren. Was es überhaupt nicht gab, war ein gemeinsames Verständnis darüber, dass die Bibel Gottes Wort für uns ist und wir uns deshalb gegebenenfalls auch von ihr korrigieren lassen wollen. Das gab es nicht.

Und ich glaube: Genau darum geht es eigentlich am Ende beim Bibelverständnis.

Es geht am Ende um diese Frage: Ist die Bibel Gottes Wort? Darf sie mir etwas sagen? Bin ich bereit, mich von den Aussagen der Bibel auch korrigieren zu lassen? Oder ist es anders herum? Darf ich zuallererst etwas über die Bibel sagen, was ich meine, in ihr korrigieren zu müssen?

Ich glaube, diesen Trend und diese Gefahr sehen wir im Moment auch im evangelikalen Kontext. Die sehen wir in Büchern wie „TheoLab“. Ich glaube, wir sehen sie bei Worthaus und – wie ich meine – auch zum Beispiel an manchen Stellen bei Michael Diener. Wenn die Bibel Gottes Wort an mich ist und wenn sie Autorität hat, dann werde ich mich ihrem Wort unterordnen. Darum geht es am Ende. Das ist eine Theologie der Demut. Wenn sie aber nur Gottes Wort enthält unter ganz vielen anderen Wörtern, dann werde ich mich automatisch zu einer höheren Warte irgendwie aufschwingen müssen. Denn dann muss ich ja – es geht gar nicht anders – anfangen zu urteilen, was darin denn jetzt Gottes Wort ist, das gilt. Und was ist in ihr nur zeitgebunden? Was kann ich weglassen? Was ist zu relativieren? Wenn wir das machen, dann gibt es ganz grundsätzlich nichts, was dann nicht mehr in Frage gestellt werden könnte. Glaube mir das. Ich bin Landeskirche, ich weiß das. Das zeigt uns der Blick in unsere eigene theologische Geschichte und – besonders schmerzhaft und auch zerstörerisch meiner Meinung nach – der Blick auf die Theologie meiner evangelischen Landeskirche. Da gibt es nichts mehr, was nicht in Frage gestellt werden könnte.

Wenn wir uns in der Evangelischen Allianz beim Schriftverständnis dieselbe Pluralität erlauben, wie das meine Landeskirche tut, und wenn wir sagen: Ach, weißte, Johannes, das Schriftverständnis ist so ein schwieriges und sperriges Thema, lass uns da mal nicht drüber streiten – ich glaube, dann wird die Evangelische Allianz auseinanderdriften. Beim Bibelverständnis geht es ums Ganze. Es geht darum, was wir als Christen gemeinsam glauben können, was wir gemeinsam bezeugen können, was wir gerade auch in der Evangelisation gemeinsam verkündigen können, was wir gemeinsam anbeten können.

Und das hat Auswirkungen, im Guten wie im Schlechten. Ich möchte es ausdrücklich auch positiv sagen: Wenn wir uns da einig sind, dann hat das total belebende positive Auswirkungen auf unsere geistliche Wirkkraft, die in der Bibel „Vollmacht“ heißt. Es hat Auswirkungen auf die Lebendigkeit unserer Gemeinden, auf unsere Einheit, auf unser missionarisches Zeugnis, auf die Hoffnung, die wir ausstrahlen in die Welt, auf die Ethik, nach der wir leben, auf die Standhaftigkeit, wenn uns Kritik aus der Gesellschaft entgegenschlägt, auf unsere Opferbereitschaft… auf alles!

Und deshalb ist es mir so ein Herzensanliegen, deshalb werbe ich so darum: Lasst uns an diesem einen zentralen Punkt klar bleiben! Und zwar so klar, wie es ja auch schon in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz formuliert ist. Da steht wörtlich: „Die Bibel ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ Und ich sage von ganzem Herzen „Amen“ dazu.

Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift „Glauben & Denken heute“ erschienen in der Ausgabe 2/2021. Er kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Welcher Prozess hat dazu geführt, dass Christen heute eine Sammlung von genau 27 Büchern als Neues Testament bezeichnen und als Wort Gottes bzw. Heilige Schrift betrachten? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser Bibelverständnis? Inwieweit können die biblischen Texte heute noch als inspiriert gelten und autoritativer Maßstab für den christlichen Glauben sein? Über diese grundlegenden Fragen spricht Thorsten Dietz in seinem Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“[1]. Seine Antworten machen theologische Entwicklungen sichtbar, die zweifelsohne im Hintergrund vieler aktueller innerchristlicher Konflikte stehen.

Leitend ist für Thorsten Dietz zunächst die Frage: Welcher Faktor hat denn eigentlich den Prozess der Kanonbildung maßgeblich geprägt und beeinflusst? Dietz stellt dazu drei häufig vertretene Antwortmöglichkeiten vor:

  1. Die neutestamentlichen Schriften selbst waren entscheidend. Der Kanon hat sich selbst durchgesetzt bzw. „imponiert“.
  2. Die Kirche und ihr Lehramt war die entscheidende Autorität, die über den Umfang des neutestamentlichen Kanons entschieden hat.
  3. Der Kanon ist das Ergebnis menschlicher Überlegungen und gegebenenfalls auch Machtkämpfe.

Früh stellt Thorsten Dietz klar: „Ich halte diese Deutungen der Kanonwerdung alle drei für irreführend.“ (16:30) Stattdessen ist er überzeugt: „Diese Dinge hängen ineinander und alle Versuche von einer Seite her, die Bibel dem Evangelium oder Jesus oder der Kirche radikal überzuordnen oder die Kirche dem Evangelium oder der Bibel überzuordnen, sind immer Versuche, es in irgendeiner Weise in den Griff zu kriegen, es irgendwie verfügbar zu machen, handhabbar zu machen und das Ganze in irgendeiner Weise so richtig eindeutig auch festzustellen.“ (ab 1:08:50)

Wie kommt Thorsten Dietz zu dieser Sichtweise?

Lang andauernde Unklarheiten beim Kanonumfang

Ausführlich spricht Thorsten Dietz darüber, dass es neben den heute als kanonisch geltenden Büchern noch viele weitere Anwärter auf diesen exklusiven Status gab. Konkret nennt er eine Reihe weiterer Evangelien und sonstiger Schriften, die angeblich von Aposteln oder von frühen Kirchenvätern stammten. Umgekehrt wurden einige der heute als kanonisch anerkannten Bücher bis in die Reformationszeit hinein immer wieder angezweifelt oder sogar offen abgelehnt. Zwar gab es schon früh Kriterien, um die Kanonizität eines Texts zu beurteilen. Dietz nennt konkret die „Ursprungsnähe zu Jesus, die „apostolische Autorität des Anfangs“, die Übereinstimmung mit den Lehren Jesu, der Apostel und den zentralen Bekenntnissen der Christen (die sogenannte Glaubensregel oder „regula fidei“) und schließlich die Anerkennung in den Gemeinden. Jedoch hätten auch diese Kriterien nicht zu einer schnellen, abschließenden Definition des Kanons geführt.

Dietz weist zudem darauf hin: Auch bei der Frage, welche Schriften denn zum Alten Testament gehören, gab es Unklarheiten. Autorität hatte für die Apostel damals die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die für viele Juden und Christen als „inspiriert“ galt, die aber einige Bücher und Zusätze enthält, die unter evangelischen Christen heute weithin nicht mehr als kanonisch gelten.

Damit hat Thorsten Dietz ohne Zweifel recht. Aber sprechen diese historisch belegten Unsicherheiten beim Kanonumfang denn wirklich gegen die Auffassung, dass die Autorität der kanonischen Texte selbst der entscheidende Faktor für die Kanonbildung waren?

Frühe Klarheit bei den Kernbeständen

Thorsten Dietz betont selbst, dass man bereits „Mitte des zweiten Jahrhunderts sagen kann: Die vier Evangelien … waren früh am Start und früh anerkannt und früh unumstritten. Soweit das Auge reicht, sind diese vier Evangelien eine wesentliche Quelle für alle Christen.“ (33:40) Und er ergänzt: 20 neutestamentliche Schriften (4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 Paulusbriefe, 1. Petrus- und 1. Johannesbrief) „waren im Grunde nie umstritten. … Ein Großteil des Neuen Testaments wächst rein in diese Rolle, kanonische Schriften zu sein.“ (56:05)

Tatsächlich machen die genannten 20 Schriften bereits mehr als 85% des heutigen neutestamentlichen Textbestands aus. Wie früh ein großer Teil der neutestamentlichen Texte bereits als autoritativ galten, zeigt zudem ein Blick in die Schriften von Kirchenleitern der ersten nachapostolischen Generation. Bischof Polykarp von Smyrna zitiert in seinem Brief an die Philipper, der grob auf das Jahr 120 datiert wird, bereits aus 19 der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter auch aus dem Jakobusbrief und dem 2. Johannesbrief. Deutlich wird dabei: Schon Polykarp misst diesen Schriften genau die gleiche Schriftautorität bei wie den alttestamentlichen Schriften.[2] Und sie haben für ihn genau wie für Bischof Ignatius von Antiochien[3] eine unfehlbare Autorität, die kein Text späterer Kirchenleiter mehr für sich in Anspruch nehmen konnte.[4] Zurecht schrieb deshalb der Neutestamentler Theodor Zahn: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[5] Lange bevor begrifflich von einem „Neuen Testament“ die Rede war und lange bevor über den endgültigen Kanonumfang entschieden wurde, stand somit der größte Teil des Neuen Testaments den frühen Christen bereits als Urkunde und Maßstab des Glaubens zur Verfügung, ohne dass dazu eine Synode tagen oder auf andere Weise um Entscheidungen gerungen werden musste.

Man kann Thorsten Dietz deshalb nicht zustimmen, wenn er äußert: Wir finden keinen Beleg dafür, dass sie [d.h. die Kirchenväter] die [Jesusworte oder Paulusworte] genau so als Fortsetzung des Alten Testaments empfinden“ (27:10) „In den ersten 80 bis 100 Jahren gibt’s diese ganze Kategorie Kanon, Heilige Schrift, Neues Testament nicht“ (56:25). Es stimmt zwar, dass der Begriff „Neues Testament“ erst später aufkam. Aber die Einordnung der Evangelien und der Apostelbriefe in die Kategorie „Heilige Schrift“ und die Unterscheidung dieser Schriften von allen anderen Texten (was ja die Basis des Kanongedankens darstellt) ist bereits ab dem ersten Jahrhundert zu beobachten[6] und letztlich schon im Neuen Testament selbst angelegt.[7] Das räumt auch Thorsten Dietz ein: „Man kann doch im Neuen Testament selbst schon eigentlich sehen, dass diese Schriften kanonischen Anspruch erheben.“ (18:25) Dietz belegt das durch die Ähnlichkeit des Beginns des Johannesevangeliums mit dem Beginn der Genesis, durch den autoritativen Selbstanspruch von Paulus sowie durch den Umstand, dass schon Paulus einem Jesuswort die gleiche Autorität gab wie der Tora.[8]

Umso mehr stellt sich die Frage: Warum hält Dietz denn dann die Sichtweise von der Selbstdurchsetzung der kanonischen Schriften für „irreführend“? Was wäre denn die Alternative? Das von Dietz vorgeschlagene „Ineinander“ von Textautorität, kirchlichem Lehramt und menschlichen Interessen kann in dieser frühen Phase noch nicht in Frage kommen. Es gab ja noch gar keine institutionalisierten kirchlichen Gremien, in denen etwas beschlossen oder mit menschlichen Machtmitteln durchgesetzt werden konnte. Andere Erklärungen für diesen historisch extrem ungewöhnlichen (und somit erklärungsbedürftigen) Vorgang der Herausbildung einer Sammlung autoritativer heiliger Schriften liefert Thorsten Dietz in seinem Vortrag nicht.

Das Ringen drehte sich eigentlich um die Ränder des Kanons

Auch das spätere Ringen zur endgültigen Definition des neutestamentlichen Kanons drehte sich nie um das Grundprinzip, dass es sich bei den authentischen apostolischen Texten um einzigartig autoritative Schriften handelt. Stattdessen ging es schon früh nur um zweifelhafte Wackelkandidaten, also um die Frage nach den Rändern des Kanons.

Diese Frage nach den Kanonrändern hat die Christenheit zu allen Zeiten beschäftigt. Sie war und ist in einigen Kirchen bis heute akut in Bezug auf die Apokryphen des Alten Testaments, die von manchen Kirchen anerkannt, von anderen abgelehnt werden. Und alle Kirchen leben zum Beispiel mit dem Problem, dass die Kanonizität des langen Endes des Markusevangeliums unklar ist.

Solche Unschärfen beim Kanonrand ändern aber nichts daran, dass die Kirche in Bezug auf den weitaus größten Teil der Heiligen Schrift von Beginn an einen großen Konsens hatte, der nicht aus Machtkämpfen, Vernünfteleien oder Synodenentscheidungen resultierte, sondern letztlich nur auf die Autorität der Texte und ihrer Autoren zurückgeführt werden kann. Unschärfen an den Kanonrändern ändern zudem überhaupt nichts am Konsens über das Grundprinzip, dass diesen Schriften eine unfehlbare Autorität zukommt. Auch Martin Luther hatte zwar Zweifel an der Kanonizität mancher Schriften. Aber er hat die volle Autorität der unzweifelhaft kanonischen Schriften nicht in Frage gestellt[9] sondern ausdrücklich dem Kirchenvater Augustinus zugestimmt, der von der Irrtumslosigkeit der kanonischen Schriften ausging.[10]

Aber was folgt für Thorsten Dietz nun aus seiner Darstellung der Geschichte der Kanonentstehung? Welche Konsequenzen zieht er für sein Bibelverständnis? Sein Vortrag wirft bei vier Themen grundlegende Fragen auf:

1. Ist die Bibel ein Maßstab des Glaubens?

Ein zentrales Thema der Reformation war das Ringen um den Status der Bibel. Für Martin Luther war allein die sich selbst auslegende Schrift die letzte Instanz, der sich alle anderen Instanzen unterordnen müssen („Sola Scriptura“). Die Kammer für Theologie der EKD schreibt dazu in ihrer Publikation „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49, Hervorhebung nachträglich).

Diese Formulierungen knüpfen an das Bibelverständnis der frühen Kirche an. Schon im zweiten Jahrhundert wurden die allgemein anerkannten apostolischen Schriften als Maßstab zur Prüfung anderer Lehren und Schriften verwendet. Irenäus hatte um 180 die „regula fidei“ (Regel oder Norm des Glaubens), die sich bei ihm schon weitestgehend mit dem später formulierten Apostolikum deckte, aus den apostolischen Schriften abgeleitet. In seinen Schriften gegen die Häresien (Irrlehren) zitierte er aus fast allen neutestamentlichen Büchern abgesehen von Philemon, 2. Petrus, 3. Johannes und Judas.[11]

Thorsten Dietz äußert hingegen: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ (1:09.30) Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (1:12.00)

Richtig ist natürlich: Auch mit einer völlig vertrauenswürdigen Bibel haben wir die „Wahrheit nicht in der Tasche“. Und tatsächlich gab und gibt es unter Christen immer wieder das Phänomen eines toxischen „Autoritarismus“, der Bibelstellen als Machtinstrument missbraucht. Die Kirchengeschichte kennt leider zahllose Beispiele, in denen viel zu schnell aufgrund einer speziellen Bibelauslegung eine andere Position als Irrlehre ausgegrenzt und die Christenheit damit unnötig gespalten wurde.

Trotzdem stellt sich bei diesem Zitat die Frage: Macht man denn die Bibel immer zum „Knüppel“, wenn man in ihr einen Maßstab sieht, den man so wie Irenäus auch zur Entlarvung falscher Lehren verwendet? Ist die Identifikation von falscher Lehre durch den Vergleich mit dem Maßstab der Lehre Jesu und der Apostel schon per se ein Ausdruck von „Autoritarismus“? Wurde denn die Warnung vor falscher Lehre nicht sowohl in der frühen Kirche als auch im Neuen Testament als wichtige Aufgabe kirchlicher Leiter angesehen?

Ja, es ist wichtig, vor vorschnellen und selbstherrlichen Irrlehrenjägern zu warnen. Aber angesichts der traurigen Tatsache, dass heute in der evangelischen Kirche[12] und bis tief in evangelikale Kreise hinein der öffentliche Hinweis auf falsche Lehre weitgehend zum Tabu geworden ist, wäre es ebenso wichtig gewesen, den dringend notwendigen und Orientierung gebenden Unterscheidungsdienst auf Basis des biblischen Maßstabs zu würdigen. Diese Würdigung fehlt leider im Vortrag von Thorsten Dietz.

2. Dürfen biblische Aussagen bezweifelt werden?

Thorsten Dietz unterstützt die Auffassung, dass Christen der Bibel „Autorität“ beimessen sollten. Aber was versteht er unter diesem Begriff? Dazu sagt er ab 1:15:20: „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“

Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30) Sollen wir die Briefe von Paulus also prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Und was machen wir dann mit Bibeltexten, die wir erst einmal überhaupt nicht als einleuchtend und ansprechend, geschweige denn als faszinierend empfinden?

Zur Verteidigung seiner Sichtweise einer guten Autorität, die sich primär aus einem spürbaren Informationsvorsprung nährt und sich selbst zur Diskussion stellt, verwendet Dietz ein Beispiel aus dem Bauwesen: „Man ist gut beraten, bei allerlei Baumaßnahmen und handwerklichen Dingen schon auch mehr auf die zu hören, die sich mit diesem Sachverhalt auskennen. Mehr als auf das eigene Bauchgefühl.“ (ab 1:16:35) Das ist wahr. Jeder Planer weiß, dass im Bau sämtliche sicherheitsrelevante Fragen zur Statik, zum Brandschutz, zum Arbeitsschutz usw. anhand von feststehenden Normen entschieden werden müssen, die gelten – auch dann, wenn Planer und Bauherren so manche Norm für wenig sinnvoll halten mögen. Das Beispiel, das Dietz verwendet, zeigt also eher das Gegenteil dessen, was Dietz sagen will: Auch in Alltagsfragen funktioniert unsere Gesellschaft eben gerade nicht so, dass Autorität immer diskutierbar ist und vom zustimmenden Empfinden der Menschen abhängt.

Entsprechend sind auch die Aussagen in den Paulusbriefen keinesfalls so gemeint, dass ihre Autorität von unserem Empfinden abhängt und diskutiert werden können. Das räumt Thorsten Dietz in seinem Vortrag zuvor auch selbst ein: „Paulus schreibt ja nicht so seine Briefe, dass er sagt: Hier, ich möchte mal ein Gesprächsgang anstoßen, ich habe ein paar Ideen. Können wir uns vielleicht drüber austauschen. Ich lerne auch gern dazu, bin auch gern bereit, mich auf völlig neue Ideen bringen zu lassen, wie alles gewesen sein könnte. Also nehmt das jetzt nicht zu ernst, was ich schreibe. Es sind Vorschläge oder so. Macht er ja nicht.“ (ab 0:19:05) In der Tat. Wenn es um das Evangelium geht, kannte Paulus keine Kompromisse. Da zögerte er auch nicht, Petrus öffentlich anzugreifen (Gal.2,11ff.). Drastisch formulierte er im Brief an die Galater: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ (Gal.1,9). Von Diskussionsbereitschaft keine Spur. Dazu bestätigt Petrus in 2. Petr. 3,16: Auch wenn in den Paulusbriefen manche Dinge schwer zu verstehen sind (und dem Leser somit zunächst einmal gar nicht einleuchten wollen), ist es keinesfalls erlaubt, an diesen Aussagen herumzuschrauben. Eine Wertschätzung von Zweifeln an Aussagen der Schrift und der Apostel findet sich weder in der Bibel noch in der frühen Kirche.

Trotzdem assoziiert Thorsten Dietz eine Infragestellung von Zweifeln eher mit einem autoritären Leitungsstil: „Also wenn du Zweifel hast, darfst Du die äußern, kannst du zu deinem Seelsorger gehen ist okay. Wir wollen da menschenfreundlich mit umgehen. Aber eigentlich ist das Ziel immer den Zweifel wieder loszuwerden. Der Zweifel ist eigentlich schlecht. Der Zweifel ist eigentlich gefährlich. Versuch es loszuwerden. Sprich mit Seelsorgern. Der hört dir liebevoll zu. Aber eigentlich, weil die Texte inspiriert sind, sind sie wahr. Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss. Alles andere braucht kein Mensch.“ (ab 1:18:20) Ist bleibender Zweifel an biblischen Aussagen in den Augen von Thorsten Dietz also etwas Normales und Gutes, das nicht in Frage gestellt werden sollte?

Richtig ist natürlich, dass wir immer bedenken müssen, dass die Bibel ausgelegt werden muss. Da unsere Auslegung niemals fehlerfrei ist, kann unser Verständnis und unsere Auslegung biblischer Aussagen natürlich auch bezweifelt werden. Kein sorgfältiger Theologe oder Seelsorger dürfte deshalb einem zweifelnden Bibelleser einfach so entgegenschleudern: „Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss.“ Gerade der Zweifel an einer Interpretation biblischer Aussagen kann ja oft auch dazu führen, dass man mehr darüber lernt, wie diese Bibelstelle im gesamtbiblischen Kontext richtig auszulegen ist. Zudem hat Thorsten Dietz natürlich vollkommen recht, dass biblische Autorität nicht klein, unmündig und hörig machen darf, sondern zu Mündigkeit, Eigenständigkeit und Reife führen muss. Paulus will, dass der Glaube der Epheser zur vollen Reife gelangt“, damit sie nicht länger wie Kinder sind (Eph. 4, 13+14). Das steht aber für Paulus ganz offenkundig gerade nicht im Widerspruch zu einem apostolischen und biblischen Offenbarungs- und Wahrheitsanspruch, der von den Hörern letztlich Glauben und Vertrauen statt Zweifel und Widerspruch erwartet. Sowohl die innerbiblische wie auch die urkirchliche Sichtweise steht somit in einem deutlichen Gegensatz zu einer Sichtweise, nach der die Autorität gründlich untersuchter und sorgfältig ausgelegter biblischer Texte eher vom Empfinden des Lesers abhängt und bleibend bezweifelt werden könnte.

3. Bezieht sich die Inspiration der Bibel primär auf die Rezeption statt auf die Entstehung ihrer Texte?

Die Autorität der biblischen Texte hängt eng mit der Frage nach ihrer Inspiriertheit zusammen. Wer könnte den biblischen Texten mit Vorbehalten oder Zweifeln entgegentreten, wenn die Inspiration der Bibel bedeutet, dass hier letztlich Gott selbst spricht?

Thorsten Dietz stellt dazu einerseits klar: Für die frühe Kirche waren die kanonischen Texte auch inspirierte Texte: „Bibel unterscheidet sich von nicht in Bibel wie Inspiration von nicht Inspiration.“ (59:10) Jedoch meint er zugleich, dass der Begriff „Inspiration“ damals nur als „ein weiterer Terminus“ (59:55) für die Gültigkeit eines Textes verwendet worden sei (er habe damals z.B. auch für die Übersetzung der Septuaginta gegolten). Die Inspiriertheit eines Textes habe man ja auch nicht „messen“ können. Zugleich wendet er sich mit scharfen Worten gegen ein aus seiner Sicht völlig falsches Inspirationsverständnis (ab 1:18.05): Ein falsches Verständnis von Inspiration ist die Inspiriertheit als feststehende Tatsache einer bestimmten Gruppe von Schriften, wo man sagt: Die sind von Gott inspiriert. Das heißt, die sind absolut wahr. Das heißt, du musst das alles glauben. Das heißt, du darfst nicht nachdenken dabei großartig. Du darfst das nicht verstehen wollen, Du lieber Himmel! Darfst auch eigentlich nicht Zweifel haben.Ein solches Verständnis von Inspiriertheit ist durchtränkt von einem autoritären Geist, der menschenfeindlich und freiheitszerstörend sein kann und ist so dem Geist Gottes, wie ihn die Bibel uns vor Augen malt, schlicht nicht gemäß.“

Aber hätten nicht auch Jesus und Paulus einem Inspirationsverständnis zugestimmt, das beinhaltet, dass die Schriften „absolut wahr“ sind und dass wir das „alles glauben“ sollen? Schließlich sagt Thorsten Dietz selbst: „Paulus ist klar: Die Texte des Alten Testaments, die Heilige Schrift, klar, das ist von Gott, das sind Gottes Worte. Das ist Gottes Reden. Das ist aus dem Geist Gottes.“ (ab 01:20:29) So ist es. Und ganz eindeutig galt für die Autoren des Neuen Testaments: Wenn Gott spricht, dann ist es wahr. Und auf Gottes Worte kann nur Glaube und Gehorsam die angemessene Reaktion sein.

Zudem stellt sich die Frage: Warum sollte ein solches Grundvertrauen denn bedeuten, dass man über den Text nicht richtig nachdenken, ihn nicht verstehen wollen und keine Zweifel haben darf? Ist nicht vielmehr genau das Gegenteil wahr? Gerade, wenn man die Bibel für absolut wahr hält, muss doch der Wunsch besonders groß sein, intensiv über den Text nachzudenken und immer wieder daran zu zweifeln, ob man ihn bisher auch richtig verstanden hat. Warum also verknüpft Dietz hier das in weiten Teilen der Kirchengeschichte ganz selbstverständliche Vertrauen auf die völlige Wahrheit und Glaub-Würdigkeit der inspirierten Schrift mit einer plumpen Denkfeindlichkeit?

Thorsten Dietz fährt fort mit den Worten: „Ein solches Verständnis von Inspiriertheit beschreiben die biblischen Texte schlicht auch gar nicht. Es gibt ja letztlich nur diesen einen Vers, wo es von der Schrift heißt, sie sei theopneustos, gottdurchgeistet, gottbegeistet [gemeint ist 2. Tim. 3,16]. Gemeint ist hier völlig eindeutig die Septuaginta, ist das Alte Testament, von der wird es gesagt, wie es im hellenistischen Judentum üblich war. Das ist an dieser einen Stelle so, ansonsten heißt es von den Propheten: Sie haben getrieben vom Heiligen Geist geredet, was auch von David…, also da gibt’s mehr Stellen, das ist völlig klar. Inspiriertheit der Texte, aber letztlich dieser eine einzige Vers, aus dem in manchen Teilen des Christentums ein völlig maßloser Bibelglaube konzipiert worden ist, der als solcher gar nicht biblisch ist.“ (ab 1:19:15)

Hier stellt sich die Frage, auf welches Inspirationsverständnis Dietz mit dieser Kritik denn eigentlich zielt? Ist es denn wirklich ein „völlig maßloser“ und nur auf einem einzigen Vers basierender Bibelglaube, wenn man von der völligen Wahrheit und Glaubwürdigkeit der biblischen Texte ausgeht? Thorsten Dietz macht hier selbst klar, dass es ja noch zahllose weitere Bibelstellen gibt, die deutlich machen, dass Jesus und die Autoren des NT (genau wie die Kirchenväter) ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass in den biblischen Texten Gott bzw. der Heilige Geist selbst redet. Schließlich haben sie die Wendung „die Schrift sagt“ und „Gott sagt“ letztlich als austauschbare Autoritätsformel benutzt. Es gibt zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus, die Apostel oder die Kirchenväter von einem Kanon im Kanon ausgegangen wären oder dass sie auf eine sonstige Weise zwischen Gottes- und Menschenwort in den biblischen Texten unterschieden hätten. Insofern steht 2. Timotheus 3,16 im Neuen Testament keineswegs alleine da, sondern fügt sich vielmehr nahtlos ein in ein biblisch breit bezeugtes Bibel- und Inspirationsverständnis. Was wäre also „maßlos“ daran, als Nachfolger Jesu und als Schüler der Apostel von der völligen Wahrheit und Glaub-Würdigkeit dieser Texte auszugehen? Und was wäre „maßlos“ daran, Menschen dabei helfen zu wollen, diesen Worten wirklich zu vertrauen, statt beim Zweifel stehen zu bleiben?

Nach seiner Zurückweisung einer aus seiner Sicht falschen Inspirationslehre spricht Thorsten Dietz über sein eigenes Verständnis von Inspiration. Dabei bezieht er die Inspiration der biblischen Texte weniger auf ihre Entstehung, sondern vielmehr auf ihre Rezeption (ab 1:22:15): „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird. Dieses Verständnis von Inspiration ist sehr wesentlich, sehr wertvoll, wird oft erstickt durch ein Inspiriertheitsdogma, was in dieser Form gar nicht biblisch ist.“

Richtig ist: Natürlich ist Inspiration keine „mechanische Theorie“. Christen glauben nicht, dass die biblischen Autoren beim Schreiben zu roboterhaften Marionetten wurden. Sie haben ganz offenkundig ihren persönlichen Stil und ihre Perspektive eingebracht. Die Bibel ist somit auch ganz Menschenwort. Die Art und Weise, wie der Heilige Geist dafür gesorgt hat, dass die Worte der Apostel und Propheten trotzdem zugleich auch zu Gottesworten wurden, bleibt wohl ein Geheimnis. Das ändert nichts daran, dass gemäß dem biblischen Selbstzeugnis der Heilige Geist gleichermaßen für das Verständnis UND für die Entstehung der biblischen Texte eine entscheidende Rolle spielt. Eine Verengung des Geisteswirkens auf die Rezeption der biblischen Texte[13] würde sowohl dem innerbiblischen wie auch dem historischen und dem reformatorischen Bibelverständnis vollständig entgegenstehen.

4. Ist die Bibel fehlerhaft?

Wenn die ganze Bibel in ihrer Entstehung von Gottes Geist inspiriert ist, dann müsste sie natürlich auch eine Einheit bilden und als unfehlbar angesehen werden. Gott macht schließlich keine Fehler. Und er widerspricht sich nicht selbst. An dieser Sichtweise der Unfehlbarkeit der Schrift arbeitet sich Thorsten Dietz jedoch immer wieder ab. Von einer unfehlbaren Bibel auszugehen, hält er für „irreführend (15:15 / 16:40). Wer die Unfehlbarkeit der Schrift für wichtig hält, der spiele die Bibel gegen Christus aus (1:05:30)[14]. Die Annahme, dass man eine unfehlbare Bibel brauche, um von ihr zu Jesus geführt zu werden, sei auch „nicht das, was die frühen Christen gemacht haben.“ (1:05:50) Diese hätten ja vielmehr Christus als „Maßstab und Prinzip der Bibel“ gesehen. Auch Paulus habe die Schriften immer von Jesus her und auf ihn hin ausgelegt. Die Annahme der Unfehlbarkeit der Schrift sei hingegen der Versuch, „Jesus in den Griff zu kriegen.“ (1:06:28)

Damit baut Thorsten Dietz aber einen Scheinwiderspruch auf. Jesus als Mitte und Auslegungs­richtschnur der Bibel steht ja in keinem Widerspruch zu der Annahme, dass die Bibel über eine unfehlbare Autorität verfügt. Im Gegenteil: Ohne die verlässlichen kanonischen Aufzeichnungen über Jesus hätten wir ja gar keine Möglichkeit, die Schrift von Jesus her auszulegen.

Der Vorwurf, man wolle mit der Unfehlbarkeit der Schrift Jesus „in den Griff bekommen“, ist dementsprechend ein Strohmann. Auch die meisten konservativen Theologen sind sich natürlich bewusst, dass man in Bezug auf Jesus, seine Lehre, das Ausmaß seiner Liebe und die Größe seines Erlösungswerks niemals auslernt. Auch mit einer unfehlbaren Bibel bekommen wir Jesus natürlich nicht „in den Griff“. Jesus ist Wahrheit in Person. Als Christen hoffen wir darauf, dass diese Wahrheit uns immer mehr in den Griff bekommt, nicht umgekehrt. Aber gerade dafür ist es doch von entscheidender Bedeutung, dass sein in der Bibel dokumentiertes Handeln und Reden unsere Fehler kritisieren und korrigieren darf, statt dass wir umgekehrt der Bibel Fehler unterstellen.

Nun ist die Frage nach der Unfehlbarkeit der Bibel natürlich komplex. Sie erfordert eine differenzierte Antwort, weil genau definiert werden muss, in welcher Hinsicht die biblischen Texte denn fehlerlos sein können.[15] Fakt ist jedoch: Auch wenn die Bibel Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ selbst nicht gebraucht, so spricht sie doch in Bezug auf ihre heiligen Schriften erst recht nie von Fehlern oder dergleichen. Auf Basis einer sauberen Definition lässt sich sehr wohl ein biblischer Selbstanspruch auf Unfehlbarkeit nachweisen. So wird den Schriften des Alten Testaments im Neuen Testament durchgängig eine uneingeschränkte Autorität beigemessen. Für die Autoren des Neuen Testaments galt das Prinzip: Wenn die Schrift etwas sagt, spricht Gott! In den Schriften reden Menschen getrieben vom Heiligen Geist (2.Petr.1,20+21, Mark.12,36). Paulus sah aber auch seine eigene Botschaft als von Gott offenbart und als Gottes Wort an (Galater 1,11-12; 1. Thessalonischer 2, 13). An zwei Stellen werden biblische Texte sogar unter ein gerichtsbelegtes Veränderungsverbot gestellt, dabei stellt Petrus die Briefe des Paulus den „Schriften“ gleich (2. Petrus 3, 15-16, Offenbarung 22, 18-19).[16] Es ist also durchaus gerechtfertigt, die Irrtumslosigkeit des Neuen Testaments auch als ein Konzept des Neuen Testaments zu bezeichnen.[17]

Fazit: Eine fehlerhafte Bibel verliert ihre Orientierung gebende Kraft

Der Vortrag hinterlässt ein gemischtes Bild. Es gibt gute Passagen, die neben interessanten Informationen auch zurecht missbräuchliche Fehlhaltungen ansprechen, die es unter Christen leider tatsächlich gibt. Problematisch ist dabei jedoch oft die unsaubere Definition, welches Spektrum an Positionen von der Kritik denn eigentlich ins Visier genommen werden. So kann leider der Eindruck entstehen, dass der Glaube an eine Fehlerlosigkeit und völlige Vertrauenswürdigkeit der Bibel per se autoritär, denk- und vernunftfeindlich sein könne.

Welches Bibel- und Inspirationsverständnis Thorsten Dietz selbst im Einzelnen vertritt, wird oft nicht abschließend klar. Hält Thorsten Dietz daran fest, dass die Bibel eine Offenbarung des dreieinen Gottes ist (und nicht nur bezeugt) und damit auch als verbindlicher Maßstab („Norma normans“) des Glaubens angesehen werden muss, wie es z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt?[18] Einige Passagen in diesem Vortrag können den Eindruck erwecken, dass Dietz ein solches Bekenntnis nicht nur in seinen extremen Ausformungen verwirft, sondern grundsätzlich in Frage stellt.

Ganz eindeutig ist hingegen: Thorsten Dietz wendet sich gegen den Gedanken an eine Unfehlbarkeit im Sinne einer Fehlerlosigkeit der Bibel.[19] Und in der Praxis zeigt sich oft: Wo entgegen dem biblischen Vorbild die Rede von Fehlern in der Bibel ermöglicht wird, da öffnet sich die Tür zu einem sachkritischen Umgang mit der Bibel, in dem irgendwann auch durchgängige, klare und zentrale Aussagen des christlichen Glaubens bezweifelt und kritisiert werden können. So fällt bei Thorsten Dietz auf: Er kann sich trotz der durchgängigen biblischen Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualpraxis rückhaltlos hinter die Position Martin Grabes stellen, dass gleichgeschlechtliche Paare getraut werden sollen.[20] In Folge 10 seines viel beachteten Podcasts „Das Wort und das Fleisch“ über „Die neuen Evangelikalen“ stellt er einzig die Postevangelikale Rachel Held Evans als uneingeschränkt vorbildlich dar.[21] In einem Worthaus-Vortrag distanziert er sich deutlich erkennbar vom stellvertretenden Sühneopfer.[22] Und er kann zu einem Buch mit einem äußerst liberalen Bibelverständnis[23] ein uneingeschränkt begeistertes Vorwort schreiben.[24] Diese Beispiele verdeutlichen: Auch ein konservativ klingendes Bibelverständnis, das von der Autorität und Inspiration der Bibel redet, kann in der Praxis zu fundamental anderen exegetischen Ergebnissen führen, wenn es die Kritisierbarkeit der als fehlerhaft angesehenen biblischen Texte ermöglicht.[25]

Die Bibelfrage stand nicht umsonst im Zentrum der Reformation. Sie steht erkennbar auch heute im Zentrum der wachsenden Spannungen unter Christen. Gerade um der Einheit willen ist es deshalb so wichtig, dass verantwortliche christliche Leiter das Thema Bibelverständnis nicht zur Randfrage erklären, sondern sich im Gegenteil intensiv damit auseinandersetzen, welches Bibelverständnis in ihrem Umfeld vertreten wird und welche praktischen exegetischen Konsequenzen es hat.


[1] Thorsten Dietz: Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons | 9.11.2, Worthaus Pop-Up 2019 – Heidelberg: 30.12.2019, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/entstehung-und-autoritaet-des-neutestamentlichen-kanons-9-11-2/

[2] So schreibt Polykarp: „Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (Polykarp 12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26.

[3] In seinem Brief an die Trallianer schreibt Ignatius: Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

[4] „Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (Polykarp 3,2)

[5] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[6] Bemerkenswert ist dazu z.B. ein gemischtes Bibelzitat im 1. Clemensbrief (ca. 98 n.Chr.), das eingeleitet wird mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens (etwa in den Jahren 91-101 Bischof in Rom) die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

[7] Thorsten Dietz erwähnt in diesem Zusammenhang die Bemerkung in 2. Petrus 3, 16, dass in den Paulusbriefen einiges schwer zu verstehen ist, „was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“ Dietz kommentiert: „Der eigentliche Punkt ist ja hier: Die werden verdreht, genauso wie andere Schriften. Das ist schon eine sehr auf Wohlwollen setzende Exegese zu sagen: Da sieht man ja, dass hier die Paulusbriefe längst auf der Ebene der Tora gehandhabt werden.“ (23:30) M.E. entkräftet Dietz damit jedoch die von Petrus intendierte Gleichsetzung der Paulusbriefe mit der Tora nicht. Insbesondere durch die Bemerkung „zu ihrem eigenen Verderben“ stellt Petrus ja klar, dass das Verdrehen der Paulusbriefe genauso Gottes Gericht zur Folge hat wie das Verdrehen der Tora.

[8] In 1. Timotheus 5, 18 zitiert Paulus nach der Autoritätsformel „Die Schrift sagt“ zunächst aus 5. Mose 25,4 und dann ein Jesuswort aus Lukas 10,7. Thorsten Dietz sagt also zurecht: „Offensichtlich ist das für Paulus so: Tora und Jesus, das sind autoritative Setzungen Gottes, Jesu, die einfach gelten.“ (20:10)

[9] Siehe dazu Clemens Hägele: „Mit Christus gegen die Apostel? Beobachtungen zur Deutung zweier Lutherworte“. Erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 10 /2016

[10] So schrieb Luther in seiner „Assertio“: „Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Aus: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung (wie Anm. 83), S. 26 f.

[11] Siehe dazu Christian Haslebacher 2021 in: https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/

[12] Was leider noch lange nicht heißt, dass die evangelische Kirche heute keine „Knüppel“ gegen ihr nicht genehme Lehre mehr auspacken würde. Wenn es zum Beispiel um die Lehre geht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht gesegnet oder getraut werden können oder dass die Bibel nur zwei biologische Geschlechter kennt, dann zeigt sich leider immer wieder, dass die zur Schau getragene Toleranz rasch enden kann. So schreibt Martin Grabe: „In vielen evangelischen Landeskirchen ist die vollständige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit heterosexuellen inzwischen vollzogen. Pfarrer, die aufgrund ihres Gewissens immer noch nicht mitziehen, werden sanktioniert.“ (In: „Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama“, Francke 2020, S. 17)

[13] Ein solches Inspirationsverständnis würde sich jedoch gut decken mit einem Bibelverständnis, wie es beispielsweise der Theologe Udo Schnelle formuliert: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[14] „Das sagen manchmal auch sehr konservative Christen. Die sagen: Man darf nicht Jesus gegen die Bibel ausspielen. Es gibt konservative Christen, die das so sagen, es aber machen. Weil sie sagen: … Jesus ist natürlich der wichtigste Inhalt der Bibel. Ist ja klar. Aber man muss die Bibel anerkennen. Und nur wer die Bibel als unfehlbar anerkennt, der hat überhaupt eine Basis, auch zum biblischen Christus zu kommen. Naja, für mich ist das leider auch eine Weise, Jesus gegen die Bibel auszuspielen, nur umgekehrt. Denn so wird die Bibel ja letztlich Jesus übergeordnet in einer Weise, dass man sagt: Du musst zunächst einmal ein bestimmtes Bibelverständnis anerkennen, du musst die Bibel als unfehlbar und irrtumslos und absolut anerkennen, dann wirst du von ihr auch zu Jesus geführt.“ (ab 1:04:40)

[15] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ AiGG-Blog 2018 blog.aigg.de/?p=4212

[16] Siehe dazu Markus Till: „Das biblische Bibelverständnis“, AiGG-Blog 2021 blog.aigg.de/?p=5853

[17] Empfohlen sei dazu z.B. Armin D. Baum: „Is new testament inerrancy a new testament concept? A traditional and therefore open minded answer“ In: JETS 57/2 (2014) 265-80; online unter: www.etsjets.org/files/JETS-PDFs/57/57-2/JETS_57-2_265-80_Baum.pdf

[18] „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

[19] Das erinnert an die jüngst veröffentlichte Erklärung zum Schriftverständnis der evangelischen Hochschule Tabor, in der Adolf Schlatter zitiert wird mit den Worten: „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, dass er vor uns den Beweis führt, dass er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, dass er Menschen so mit sich verbindet, dass sie als Menschen sein Wort sagen […] Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, dass sie uns zu Gott beruft.“ In: „Die Bibel verstehen – der Schrift vertrauen – mit Christus leben“, Erklärung zum Schriftverständnis der ev. Hochschule Tabor vom 09.08.2021, https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/die_bibel_verstehen_-_der_schrift_vertrauen_-_mit_christus_leben.pdf

[20] Am 16.07.20 würdigte Thorsten Dietz auf Facebook gemeinsam mit Michael Diener das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube – ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe mit den Worten: „Das Buch von Martin Grabe, dem Vorsitzenden der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, ist eine sehr persönliche und erfahrungsgesättigte Darstellung dessen, was schwule und lesbische Gläubige in evangelikalen Kreisen erlebt und erlitten haben. Und er beschreibt den langen Weg, den es gebraucht hat, dass er am Ende selbst sagen kann. „Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen. (S. 76)“

[21] Das Bild der (leider inzwischen verstorbenen) US-Amerikanerin Rachel Held Evans ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge (wort-und-fleisch.de/die-neuen-evangelikalen/). Eine ausführliche Darstellung ihrer theologischen Positionen und ihres Bibelverständnisses liefern die Artikel „Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5447) sowie „Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?“ (blog.aigg.de/?p=5460) von Markus bzw. Martin Till im AiGG-Blog.

[22] Siehe dazu der Artikel „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“ in GuDh 1/2020, in dem auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ besprochen wird.

[23] Sein Bibelverständnis erläutert der FeG-Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“ (Neukirchener, 2021) wie folgt: „Warum entstehen überhaupt Bibeltexte? Ich stelle mir das so vor: Menschen machen Erfahrungen. … Irgendwann beginnen sie, über all das nachzudenken. … Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. … Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[24] Das Vorwort von Thorsten Dietz zum Buch „Wenn Gott reklamiert“ kann nachgelesen werden in der online verfügbaren Leseprobe unter www.scm-shop.de/media/import/mediafiles/PDF/156757000_Leseprobe.pdf

[25] Siehe dazu Markus Till: „Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen“, AiGG Blog 2021, blog.aigg.de/?p=5749

Das Bibelverständnis der apostolischen Väter

Dieses Thema wird auch behandelt im Podcast Bibel-live #5 Der Gamechanger – Bibelverständnis Teil 2

Unter dem Oberbegriff „Apostolische Väter“ versteht man im Allgemeinen eine Sammlung von Schriften aus der ersten nachapostolischen Generation, geschrieben von Kirchenleitern, die sehr wahrscheinlich noch persönlichen Kontakt mit den von Jesus berufenen Aposteln hatten.

In dieser Zeit begann sich auch das Neue Testament zu formen (ohne dass es diesen Begriff damals schon gegeben hätte). Umso spannender ist die Frage: Welches Bibelverständnis hatten diese Leute? Wie sind sie mit den Schriften des Alten Testaments umgegangen? Und vor allem: Wie haben sie die Texte eingeschätzt, die wir heute im Neuen Testament vorfinden? War das für sie damals auch schon heilige Schrift?

Aufschluss zu diesen wichtigen Fragen geben vor allem 4 Schriften aus dem Kreis der apostolischen Väter:

  • Der Clemensbrief an die Korinther stammt vermutlich noch vom Ende des ersten Jahrhunderts. Clemens war etwa in den Jahren 91-101 Bischof von Rom (als zweiter oder dritter Nachfolger von Petrus).
  • Ignatius war Bischof in Antiochien. Etwa im Jahr 110 verfasste er auf dem Weg zu seinem Martyrium in Rom 7 Briefe an verschiedene Gemeinden sowie an Bischof Polykarp von Smyrna.
  • Polykarp lebte von ca. 69 bis 155 n.Chr. Ihm wurde vor allem ein guter Kontakt zum Jünger Johannes nachgesagt. Überliefert wurde von ihm ein Brief an die Gemeinde in Philippi, den er in der Zeit um das Jahr 120 geschrieben hat.
  • Auch Papias von Hierapolis soll ein Schüler des Apostels Johannes und zugleich ein Freund Polykarps gewesen sein. Von seinen 5 Büchern mit Auslegungen von Jesusworten, die er um das Jahr 120 verfasst hat, sind uns leider nur einzelne Fragmente überliefert.

Was lernen wir nun aus diesen Texten über das Bibelverständnis der Kirchenleiter aus der unmittelbaren nachapostolischen Zeit?

Höchste Wertschätzung und Unfehlbarkeit des Alten Testaments

Zunächst fällt auf: Der 1. Clemensbrief läuft geradezu über von Zitaten aus dem Alten Testament. Sie machen ein gutes Viertel des gesamten Textes aus! Das zeugt nicht nur von genauer Kenntnis sondern vor allem von höchster Wertschätzung für diese Texte. Tatsächlich hält Clemens sie für unfehlbare, heilige Worte Gottes, die vom heiligen Geist eingegeben sind:

„Die heiligen Schriften kennt ihr, Geliebte, und zwar gut, und ihr habt euch vertieft in die Worte Gottes.“ (1.Cl. 53, 1)

Die heiligen Schriften, die wahren, die vom Heiligen Geist eingegebenen, habt ihr genau durchforscht. Ihr wisst, dass nichts Unrechtes und nichts Verkehrtes in denselben geschrieben steht.“ (1.Cl. 45, 2+3)

Entsprechend leitet Clemens manche AT-Zitate ein mit der Formel:

Es sagt nämlich der Heilige Geist: …“ (1.Cl. 13,1)

Clemens rechnet sogar damit, dass Christus im Alten Testament spricht:

„All dies befestigt der Glaube an Christus. Denn auch er selbst redet durch den Heiligen Geist uns also an: …“ (1.Cl. 22, 1) Es folgt ein langes Zitat aus Psalm 33.

Die Schriftautorität der neutestamentlichen Texte

Für Clemens waren auch die Paulusbriefe vom Heiligen Geist inspiriert:

„Nehmt den Brief des seligen Paulus, des Apostels. Was hat er euch im Anfang seiner Predigt geschrieben? Wahrhaft vom Geist angeregt, hat er euch belehrt über sich selbst und über Kephas und über Apollo, weil ihr auch damals Parteien gebildet hattet.“ (1.Cl. 47, 1-3)

Besonders bemerkenswert ist im Clemensbrief ein gemischtes Bibelzitat, das er einleitet mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat selbst enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

Ganz eindeutig ist dies bei Polykarp gut 20 Jahre später der Fall. Er schreibt:

„Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26. Hier wird also dem Paulustext genau die gleiche Schriftautorität beigemessen wie den Schriften des Alten Testaments.

Dazu muss man wissen, dass der Polykarpbrief ebenso wie der Clemensbrief prall gefüllt ist mit Bibelzitaten. Allerdings sind bei Polykarp bereits Zitate aus neutestamentlichen Texten vorherrschend. Er zitiert aus nicht weniger als 19 (!) der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter die 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, fast alle Paulusbriefe, der Jakobusbrief, der 1. Petrusbrief und 2 Johannesbriefe. Diese Bücher machen bereits etwa 85% Prozent des neutestamentlichen Textbestands aus! Demnach war der größte Teil des neutestamentlichen Textbestands schon in der ersten nachapostolischen Generation Grundlage und Maßstab für den Glauben der Christen.

Die einzigartige Autorität der Apostel

Ein weiterer wichtiger Befund ist: Keiner der apostolischen Väter wollte sich selbst oder seine Schriften mit den Texten der Apostel gleichstellen. So schrieb Ignatius in seinem Brief an die Trallianer:

Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

Das bedeutet: Obwohl er selbst ja Bischof war, hatten für ihn ausschließlich die Apostel uneingeschränkte Autorität. Genau gleich äußert sich Polykarp:

„Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (3,2)

Entsprechend hielt der renommierte Neutestamentler Theodor Zahn fest: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[1]

Klare Kriterien für die Kanonbildung

Diese Linie der unfehlbaren apostolischen Autorität wurde auch später in allen Diskussionen um die noch offenen und strittigen Kanonfragen beibehalten. Um entscheiden zu können, ob ein Text Schriftautorität besaß oder nicht (und ob er somit im Gottesdienst der Gemeinde vorgelesen werden durfte oder nicht) wurde immer gefragt:

  • Stammt der Text von einem Apostel oder zumindest aus der apostolischen Generation?
  • Stimmt er mit den von Beginn an unumstrittenen apostolischen Schriften und den in den Evangelien niedergelegten Lehren Jesu überein?

Wenn diese Fragen nicht mit „ja“ beantwortet werden konnten, dann wurden die Schriften zwar gegebenenfalls zur privaten Lektüre empfohlen, aber nicht zur Lesung im Gottesdienst. Damit wurde von Beginn an eine klare Grenze markiert zwischen heiligen, unfehlbaren Texten mit Schriftautorität und fehlerhaften Texten nachfolgender Theologen und Kirchenleiter.

Die Evangelien gehen auf Apostel zurück

Deshalb war auch früh die Frage von Bedeutung: Haben die Evangelien apostolische Autorität? Der Kirchengeschichtler Eusebius zitierte aus den ihm noch zugänglichen Büchern des Papias von Hierapolis folgende Aussage:

„Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“

Das Markusevangelium hatte also Autorität, weil es letztlich auf den Apostel Petrus zurückging. Das Matthäusevangelium schrieb Papias dem Jünger Matthäus zu. Ob er auch das Evangelium des Paulusbegleiters Lukas und das Johannesevangelium kannte, wissen wir nicht. Aber im Zusammenhang mit den zahlreichen neutestamentlichen Zitaten im Brief Polykarps wird deutlich: Diesen vier Evangelien wurde schon früh apostolische Autorität zugesprochen. Spätestens Ende des zweiten Jahrhunderts war die Kanonizität dieser 4 Evangelien trotz der Existenz vieler apokrypher Evangelien eindeutig geklärt.

Fazit: Die Heiligen Schriften als solides Fundament der Kirche

Die christliche Kirche hatte somit schon in der ersten nachapostolischen Generation neben den mündlichen Überlieferungen einen soliden Textbestand, um sich an der Lehre Jesu und der Apostel orientieren zu können. Das feste Vertrauen in die volle Autorität sowohl der alttestamentlichen Texte als auch der Schriften der Apostel und der Evangelien schuf eine solide Grundlage, um die schnell um sich greifenden Irrlehren (Doketismus, Gnosis, Marcionismus…) in die Schranken weisen, um Glaubensbekenntnisse entwickeln[2] und wichtige theologische Fragen entscheiden zu können.

(Unterstreichungen in den Zitaten wurden vom Autor dieses Artikels nachträglich vorgenommen)


[1] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[2] In seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Plädoyer für das Apostolische Glaubensbekenntnis – den zeitlosen Klassiker“ weist Christian Haslebacher nach, dass zum Beispiel das apostolische Glaubensbekenntnis schon weitgehend in den Schriften des Kirchenvaters Irenäus dargestellt ist und dass dieser die Inhalte aus den apostolischen Schriften abgeleitet hat.

Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen

Dieser Vergleich der 2 Bibelverständnisse wird mündlich erläutert im Podcast „Bibel live“ Folge #4 Gamechanger Bibelverständnis-Teil 1.

Die Frage nach dem Bibelverständnis ist keine Nebensache. Letztlich prägt unser Bibelverständnis unser gesamtes Glaubensleben. Nicht umsonst stand diese Frage mit im Zentrum der Reformation.

Die evangelikale Welt erlebt momentan eine Auseinandersetzung zwischen zwei grundverschiedenen Bibelverständnissen. Allerdings wird diese Differenz kaum thematisiert. Nach meiner Beobachtung wird sie oft eher verschwiegen, verdrängt, verharmlost oder verschleiert. Dabei zeigt sich immer wieder: Zahlreichen Konflikten und Entfremdungsprozessen (samt den damit verbundenen Verlusten von Einheit und missionarischer Dynamik) unter Evangelikalen liegt letztlich diese Differenz beim Bibelverständnis zugrunde. Umso wichtiger ist es, dass wir den Schleier der Begriffshülsen und Strohmänner lüften und ehrlich darauf schauen, welcher Graben sich da auftut. Denn nur, wenn wir die Situation offen betrachten, können wir auch einen guten Umgang mit ihr finden.

Die beiden Bibelverständnisse werden nachfolgend als das „historische“ und das „progressive“ Bibelverständnis bezeichnet. Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Gemeinsamkeiten

Beide Bibelverständnisse…

… grenzen sich von einem islamischen Schriftverständnis ab und bekennen: Die einzelnen biblischen Bücher wurden von Menschen geschrieben und geprägt. Die Bibel ist somit nicht nur Gottes Wort sondern auch voll und ganz Menschenwort.

… gehen davon aus, dass die Bibel an sich nicht göttlich ist. Christen singen und beten zu Gott, aber niemals zur Bibel. Jesus, der in der Bibel als DAS Wort Gottes bezeichnet wird, ist der Bibel immer vorgeordnet. Nur ihm gilt unsere Hingabe und Anbetung.

… sind sich einig, dass die Bibel auslegungsbedürftig ist. Bibelstellen müssen immer im biblischen Gesamtkontext verstanden werden. Die Textgattung, die Reichweite, die Adressaten sowie das historische und heilsgeschichtliche Umfeld müssen immer differenziert beachtet werden! Zum richtigen Verstehen der Texte wird zudem der Heilige Geist benötigt.

… formulieren übereinstimmend:
– Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort.
– Die Bibel ist inspiriert.

Unterschiede

Trotz dieser scheinbar weitreichenden Übereinstimmungen gibt es grundlegende Differenzen mit weitreichenden Konsequenzen für den Umgang mit der Bibel, für das Verständnis biblischer Aussagen und somit für die Prägung des christlichen Glaubens insgesamt:

Historisches BibelverständnisProgressives Bibelverständnis
Wesen und Charakter der biblischen Texte:Die Bibel ist Offenbarung des lebendigen Gottes.(1)Die Bibel ist ein Zeugnis der Offenbarung des lebendigen Gottes.(2)
Inwiefern ist die Bibel Gottes Wort?Die biblischen Texte sind Gottes verschriftlichte Worte.Gott kann biblische Texte gebrauchen, um sie für uns beim Lesen zu Gottes Wort zu machen.(3)
Die Inspiration der Bibel bezieht sich auf…… die Entstehung der Texte.(4)… die Rezeption und das Verstehen der Texte.(5)
„Gotteswort im Menschenwort“ bedeutet:Die Bibel ist ganz Menschenwort und ganz Gotteswort.Die Bibel ist ganz Menschenwort und kann Gottes Wort enthalten bzw. vermitteln.(6)
Gibt es Fehler und Widersprüche in der Bibel?Die Bibel enthält (7) keine Fehler und Widersprüche, weil Gott keine Fehler macht (8) und sich nicht selbst widerspricht (Unfehlbarkeit und Einheit der Schrift).Als menschliches Zeugnis der Offenbarung enthält die Bibel selbstverständlich zahlreiche Fehler und Widersprüche.
Kann man davon sprechen, dass „die Bibel“ etwas aussagt?Ja. Die Bibel macht als Gesamteinheit klare, verständliche Aussagen. (Klarheit der Schrift)„Die Bibel“ macht keine Aussagen. Vielmehr machen verschiedene biblische Autoren verschiedene, teils widersprüchliche Aussagen.
Ist inhaltliche Sachkritik an der Bibel möglich?Nein. Welcher Mensch könnte Gott kritisieren? Die menschliche Vernunft ist wichtig, steht letztlich aber unter Gottes Wort.Ja. Das menschlich fehlerhafte Zeugnis der Offenbarung Gottes kann auf der Basis heutiger Vernunft kritisiert werden.(9)
Ist die Bibel Maßstab für den christlichen Glauben, mit dem auch falsche Lehre identifiziert werden kann?Ja.(10)Nein, das kann sie angesichts ihrer Fehlerhaftigkeit, Widersprüchlichkeit und Vieldeutigkeit nicht sein. Sie ist eher Gesprächs- und Inspirationsgrundlage.(11)
Ist der Offenbarungsprozess mit Abschluss der Bibel abgeschlossen?Ja. Über die Bibel hinaus kann die Kirche keine grundlegend neuen Lehren mehr entwickeln. (Abgeschlossenheit der Schrift)Nein. Der Heilige Geist setzt den Offenbarungsprozess auch nach der Apostelgeschichte progressiv weiter fort.(12)

(1) So formuliert die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ (Hervorhebung nachträglich)

(2) So heißt es in einem aktuellen Grundsatztext der EKD: „Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“ (In: „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“, S. 34)

(3) Dazu der Theologe Udo Schnelle: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ (Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19)

(4) Zum Beispiel gemäß 2. Petrus 1, 21: Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“

(5) Dazu Thorsten Dietz: „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird.“ (im Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“, ab 1:22:15)

(6) Dazu Siegfried Zimmer: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“ In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 112

(7) … in Bezug auf den kanonischen Urtext im Rahmen der bibeleigenen Aussageabsicht und des zugrunde gelegten Wahrheitsverständnisses …

(8): Dazu der Theologe Heinzpeter Hempelmann: „Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.“ In: „Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut, Theologische Beiträge 33 (2002)

(9) Dazu Siegfried Zimmer: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

(10) Dazu der Grundsatztext der EKD „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49).

(11) Dazu Thorsten Dietz: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ … Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (im Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“, ab 1:09.30 bzw. ab 1:12.00)

(12) Als klassische Beispiele werden die Überwindung des Patriarchats oder der Sklaverei angeführt. Entsprechend könne nun auch z.B. die biblische Sichtweise im Umgang mit Homosexualität auf Basis des biblischen Liebesgebots weiter entwickelt werden. Vertreter des historischen Bibelverständnisses entgegnen, dass die Überwindung von Patriarchat und Sklaverei schon sehr klar im Bibeltext angelegt ist, während es für eine Überwindung der ablehnenden Haltung gegenüber praktizierter Homosexualität keinerlei Indizien im biblischen Gesamtzeugnis gibt.

Gibt es einen brückenbauenden Mittelweg?

Es gibt Theologen, die einem progressiven Bibelverständnis folgen, der Bibel aber trotzdem mit großem Vorvertrauen begegnen und entsprechend kaum von Fehlern, Widersprüchen und von der Weiterentwicklung veralteter Sichtweisen reden. Entsprechend nähern sich dann die Auslegungsergebnisse an. Die Praxis in der evangelikalen Welt zeigt jedoch: Wenn der Anker des Offenbarungscharakters einer unfehlbaren, einheitlichen, klaren und abgeschlossenen Schrift erst einmal gelöst ist, dann tun sich schon bald auch in den allerzentralsten Glaubensfragen unüberbrückbare Gräben auf wie z.B. beim stellvertretenden Sühneopfer, bei der Leiblichkeit der Auferstehung, bei der Historizität der Heilsereignisse (z.B. Jungfrauengeburt), bei der Göttlichkeit Jesu, bei der Realität des kommenden Gerichts und der Sündhaftigkeit des Menschen.

Das hat vor allem zwei Gründe:

  • Die Vertreter eines progressiven Bibelverständnisses gehen meist wertschätzend mit den Einflüssen der universitären Bibelwissenschaft um. Vertreter des historischen Bibelverständnisses hingegen lehnen den an den Universitäten vorherrschenden Wissenschaftsbegriff ab, nach dem bei der Erforschung der Bibel nicht mit der Realität von Wundern und Offenbarung gerechnet werden darf. Entsprechend stehen sie Modellbildungen und exegetischen Ergebnissen, die auf diesem naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriffs basieren, kritisch gegenüber.
  • Im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses ist eine kritische Auseinandersetzung mit falscher Lehre kaum möglich. Stattdessen werden Glaubensüberzeugungen eher „subjektiviert“, das heißt sie gelten nicht mehr objektiv für alle Gläubigen (so wie es Christen bislang in Glaubensbekenntnissen zum Ausdruck gebracht haben) sondern nur noch subjektiv für denjenigen, der eine Wahrheit für sich als Gottes Wort empfindet. Damit fehlt der Einheit in Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen schon bald das Fundament von gemeinsam geteilten Glaubensüberzeugungen. Entsprechend schwindet das gemeinsame Engagement.

Um der Einheit willen ist es angesichts der grundlegenden Differenzen und der weitreichenden Konsequenzen dringend notwendig, solche Differenzen beim Bibelverständnis offen anzusprechen.

Der große Graben

In Matthäus 28, 20 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe.“ In diesem kurzen Satz stecken einige Aussagen, die zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehören:

  • Gott hat zu uns Menschen gesprochen und uns Gebote gegeben.
  • Gottes Worte sind so klar und verständlich, dass sie durch Lehre und Predigt weitergegeben werden können.
  • Dadurch werden wir Menschen vor die Entscheidung gestellt, ob wir tun wollen, was Gott sagt.

Soweit, so selbstverständlich – hätte ich bis vor einigen Jahren gedacht. Das ist es aber nicht. Eher im Gegenteil. Es erschüttert mich immer wieder, in welchem Umfang heutige Theologie diese zentrale christlich / jüdische Grundlage eines sich offenbarenden, redenden und sich verständlich machenden Gottes in den Wind schlägt. Das ging mir zuletzt so beim Studium des Buchs „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“, das der Theologieprofessor Jörg Lauster im Jahr 2008 verfasst hat. Ich habe dabei nicht den Eindruck, dass Prof. Lauster eine Randposition in der heutigen universitären Theologie einnimmt. Jedenfalls betont er selbst immer wieder, dass viele seiner Annahmen allgemeiner Konsens in der heutigen Theologie seien. Und er spricht selbst davon, dass es zwischen diesem Konsens und dem traditionellen reformatorischen Bibelverständnis einen großen, „garstigen Graben“ gibt.

Dieser Diagnose kann ich mich nach der Lektüre des Buchs nur anschließen. Ich musste mich teilweise wirklich fragen: Kann man eine Theologie, die die oben genannten jüdisch/christlichen Grundlagen derart grundlegend verwirft, eigentlich noch als „christlich“ bezeichnen? Jedenfalls ärgert es mich zunehmend, wenn auch Evangelikale immer wieder äußern, konservative Christen würden durch ihre Debatten über theologische Fragen die Einheit zerstören. Tatsache ist: Die Einheit ist längst zerstört. Das liegt aber nicht daran, dass irgendwelche Konservative so dickköpfig und streitsüchtig sind. Das liegt vielmehr an einer Theologie, die nach eigener Selbstbekundung unüberbrückbare Gräben aufgerissen hat und die zugleich gegenüber Konservativen teils äußerst intolerant und herablassend auftritt – wie dieses Buch mir wieder gezeigt hat.

Ich bin mehr denn je überzeugt: Dieser große Graben verschwindet nicht, indem man ihn verharmlost, vernebelt oder totschweigt. Im Gegenteil: Wir Evangelikalen holen uns diesen großen Graben mitten in unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Werke, wenn wir ihn nicht offen ansprechen.

Ich empfehle deshalb, das Buch von Jörg Lauster zu lesen, um einen Einblick in die Denkwelt vieler heutiger Theologen zu bekommen. Es hat nur 112 Seiten und ist auch für Laien weitgehend gut lesbar. Für alle, die nicht an das Buch herankommen (es ist aktuell leider nicht erhältlich) oder die sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, habe ich nachfolgend einige Zitate herausgeschrieben. Die farbig dargestellten kommentierenden Zwischenüberschriften stammen von mir.

Zitate aus Jörg Lauster: „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“

Es gibt ein durchgängiges biblisches Zeugnis darüber, dass Gott zu den Menschen spricht und dass die biblischen Texte gemäß dem reformatorischen Verständnis das Reden Gottes wiedergeben:

S. 10: „Die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen ist nach alttestamentlicher Vorstellung maßgeblich davon bestimmt, dass Gott zu den Menschen und zu seinem Volk spricht. … Auf der Grundlage dieses biblischen Fundamentes ist in der christlichen Theologie die Vorstellung ausgebildet worden, dass Gott durch die Worte der Bibel zu Menschen spricht. Bei den Reformatoren tritt der Zusammenhang zwischen Wort Gottes und Bibel in besonderer Weise hervor.“

S. 31: „Die Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes und als heilige Schrift ist für das Christentum eine essentielle Aussage.“

S. 70: „Die eingangs erörterte Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes und die Bezeichnung ihrer Bücher als heilige Schriften sind Bestandteil dieses protestantischen Bibeldogmas.“

S. 72: „Festzuhalten ist jedenfalls, dass das protestantische Bibeldogma fort lebt und dazu gehört entscheidend die Auffassung, dass die inhaltliche Ausrichtung der christlichen Religion und die begriffliche Ausgestaltung der Lehre in den biblischen Schriften ihren originären Ursprung und ihren gegenwärtigen Maßstab habe. … Die Bibel ist als göttliches Wort die letzte Lehrautorität.“

Nach der „Entzauberung“ der Bibel ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Bibel nicht mehr als Gotteswort sondern als Menschenwort anzusehen:

S. 9: „»Wie bitte?« – So lautet die vermeintlich überrascht indignierte Antwort eines Journalisten auf die theologische Feststellung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist. Zugetragen hat sich dies bei einem Interview des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, mit der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘. … Die Bestreitung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, vermag noch immer für Aufsehen zu sorgen‘. Das ist theologisch erstaunlich, denn Steinacker kann sich in seinen Bemerkungen zum Schriftverständnis auf einen großen Konsens innerhalb der akademischen Theologie berufen. Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes gleichzusetzen.“
(Vgl. dazu das zitierte Interview in: Zeitzeichen 11/2005, 39-42. Das Interview ist überschrieben mit »Die Bibel ist nicht Gottes Wort«.)

S. 13: „Die Bibelkritik macht auf Fehler und innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam, welche die Vorstellung, Gott habe den Verfassern die biblischen Texte diktiert, zusammenbrechen lassen. … Es ist aber keineswegs allein das Aufkommen einer historischen Bibelkritik, die über die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Bibel die Identität von Bibel und Gotteswort auflöst. Schwerer wiegt, dass in wesentlichen Teilen biblische Auffassungen mit dem modernen Weltbild in Konflikt geraten. … Die Entzauberung der Bibel als Wort Gottes ist ein Faktum der europäischen Religionsgeschichte in der Moderne. … Der Neuprotestantismus bricht mit der altprotestantischen Vorstellung, die Bibel mit dem Wort Gottes gleichzusetzen und versucht, die Bedeutung der Bibel auf dem Boden historischer Einsichten zu begründen. Das Wort Gottes wird so zum Wort von Menschen.“

Auch die Barth’sche Wort-Gottes-Theologie trennt zwischen Bibeltext und Wort Gottes, traut der Bibel aber zu, dass Gott durch sie zum Menschen spricht:

S. 16/17: „Die Bibel ist ein ganz und gar „menschliches Dokument“ und es sei, so hält Barth ausdrücklich fest, nicht nötig, „diese offene Türe […] immer wieder einzurennen“. … Die Schrift ist daher nicht Gottes Wort im Sinne eines Zustands, sie kann jedoch zum Wort Gottes werden. Diese Wortwerdung fasst Barth als das Ereignis einer Inspiration. … Darum ist das Wort Gottes ein Ereignis und nicht eine den biblischen Texten an sich schon zukommende Eigenschaft. … Barths Wort-Gottes-Theologie gründet darum in einem Gottesbegriff, der eine fulminante Remythisierung der Vorstellung vom redenden Gott darstellt. Gott spricht – und die Bibel ist die ‚Fortsetzung‘ dieses göttlichen Sprechens. … Die Wort-Gottes-Theologie bewahrt in diesem Sinne ein wichtiges Moment des biblischen Gottesbildes.“

Aber auch die Wort-Gottes-Theologie wird hart kritisiert als eitler, autoritärer Biblizismus und „infantile“, „abschreckende“, „mythologisch-magische Vorstellung eines redenden Gottes“, die mit modernem Denken nicht kompatibel ist und große Flurschäden hinterlassen hat:

S. 19: „Seit den 6oer Jahren schwindet der Einfluss der Wort-Gottes-Theologie. … Paul Tillich witterte … in Barths Theologie einen „neuorthodoxen Biblizismus“ … Diese argumentative Selbstabschließung trage, so Tillich, fundamentalistische Züge in sich.“

S. 20: „Wort-Gottes-Theologie kann so ein religiöses Herrschaftsinstrument werden, und die im Umgang mit der Bibel bisweilen unerträglich gekünstelten Eingeständnisse, man wolle allein dem Wort des Herrn dienen, gleichen Unterwerfungsgesten, hinter denen sich ein ungeheures Maß an Eitelkeit verbirgt.“

S. 21: „Identifiziert man so das göttliche Offenbarungshandeln mit dem Begriff des Wortes Gottes, so steht dahinter letztlich eine »mythologisch-magische« Vorstellung eines redenden Gottes.“

S. 22: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Die methodische Haltung, im wissenschaftlichen Argumentationsgang mit Gründen zu operieren, über deren Plausibilität dann selbst keine Rechenschaft mehr abgelegt werden darf und kann, ist jedoch wissenschaftlichem Denken ganz und gar fremd. … Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält und darüber hinaus theologisch weit hinter das zurückfällt, was die christliche Tradition über Gott lehrt und bekennt.“

Die Bibel ist gemäß dem heutigen „Grundkonsens“ „durch und durch Menschenwerk“ und „Propaganda“ ohne Interesse für die tatsächliche Geschichte:

S. 23: „Überblickt man diese Folgeschäden der Wort-Gottes-Theologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. Besonders deutlich wird dies in der Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes. Sie im wörtlichen Sinne als Wort Gottes zu bezeichnen, hat von ihren nachweislichen Entstehungsbedingungen und ihrer religionsgeschichtlichen Verankerung her keinen Anhaltspunkt.“

S. 24: „Unabweisbar stellt sich heraus, dass die biblischen Schriften nicht die aufgezeichneten Worte eines redenden Gottes sind, sondern von Menschen erdachte, verfasste, überarbeitete Texte. … Doch von diesen Einzelfragen zu unterscheiden ist das, was sich in den alttestamentlichen und neutestamentlichen Einleitungswissenschaften als Grundkonsens etabliert hat. Demnach sind die biblischen Texte durch und durch Menschenwerk. Sie sind ganz eingebunden in ihre Zeit und werden in einem komplexen Überlieferungsprozess bei ihrer Weitergabe umgestaltet und fortgeschrieben. Die historisch-kritische Exegese … hat … damit unbestreitbar religiöse Gewissheiten und das Vertrauen in die Bibel erschüttert. … Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments sind über Jahrhunderte fortgeschrieben worden, hinter den Prophetenbüchern lassen sich kaum noch konkrete Persönlichkeiten ausmachen, die Evangelien sind nicht von Augenzeugen des Lebens Jesu geschrieben, sondern mindestens eine Generation später und obendrein im Dienste einer Missionspropaganda, die an einer ‚historischen‘ Biographie Jesu gar kein Interesse hatte.“

S. 26: „Doch eines lässt die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel ganz außer Zweifel: Sie ist nicht übernatürlich auf geheimnisvolle Weise entstanden. … Heilig kann kein Attribut sein, dass ihr als inhärente Eigenschaft anhaftet.“

An die Stelle der biblischen Heilsgeschichte tritt „Mythos“ und „Fiktion“:

S. 41: „Die biblischen Texte – das ist die unaufgebbare Einsicht der modernen Exegese – sind nicht in einem modernen Sinne als historische Quelle zu gebrauchen.“

S. 44: „Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen biblischen Texten nicht um historische Erzählungen, sondern um Mythen. … Der Mythos ‚antwortet‘ durch eine narrative und fiktive Verarbeitungsleistung darauf, wie Menschen die Wirklichkeit erfahren.“

S. 47: „Die Texte bilden daher nicht einfach historische Ereignisse der Vergangenheit fotografisch ab, sie malen vielmehr ein eigenes Bild der Person Jesu, aus dem seine Bedeutung für die Tradenten hervorgeht. … Es sind nicht die Ereignisse selbst, sondern die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse, die aus den Texten spricht. Dabei kommen wie schon im Alten Testament der Mythos und die Semiotisierung von Ereignissen zur Anwendung.“

S. 51: „Selbst der Mythos ist keine ‚Erfindung‘ ohne Anhaltspunkt, sondern eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen mit den Mitteln der Fiktion.“

Die biblischen Texte sind vielfältige „Deutungen religiöser Erfahrung“, „Dichtung“, „religiöse Literatur“, „existentiale Selbstauslegungen“, die das Lebensgefühl von Menschen widerspiegeln:

S. 38: „Die biblischen Texte sind ihrem Wesen nach Deutungen religiöser Erfahrung. In produktiver Anknüpfung an die kulturell vorgegebenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Zeit interpretieren sie den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt der Menschen konkret als Gottesbegegnungen.“

S. 54: „Der als Gottesbegegnung gedeutete Einbruch von Transzendenz setzt eine Vielzahl von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten frei. … Daraus ergibt sich notwendigerweise ihre Vielfalt. Es ist zudem damit zu rechnen, dass sich in der menschlichen Ausdrucksbildung Verzerrungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen einstellen.“

S. 40/41: „Die biblischen Texte räsonieren nicht über die Gottesbegegnung, sie erzählen sie. … Die Art der Erlebnisdeutung ist in den biblischen Texten eher mit der Dichtung als etwa mit einem philosophischen Zugang zu vergleichen. Mit gutem Recht lässt sich daher die deutende Wirklichkeitsverarbeitung der Bibel in ihrem ganzen Facettenreichtum als religiöse Literatur beschreiben.“

S. 41: „Die biblischen Schriften sind – um es fundamentaltheologisch zu formulieren – nicht Offenbarung an sich, sondern Deutungen von Ereignissen als Offenbarung.“

S. 87: „Die biblischen Sprachbilder symbolisieren Transzendenzerfahrungen, genauer, sie symbolisieren Gottesbegegnungen.“

S. 89: „Die biblischen Schriften artikulieren … sprachliche Deutungsmuster der Erfahrung von Transzendenz. Dabei interpretieren sie Transzendenz präziser als Gottesbegegnung. … In den biblischen Schriften spiegelt sich das Lebensgefühl von Menschen wider, die ihr Leben im Lichte der Begegnung mit Gott deuten und interpretieren. In diesem Sinne ist die Bibel als literarisches Aus- drucksuniversum religiöser Erfahrung zu verstehen, das religiöse Deutungsmuster für den Umgang mit Transzendenz bereitstellt.“

S. 105/106: „In diesem Sinne sind die biblischen Deutungen immer auch – darin Iiegt die bleibende Bedeutung Rudolf Bultmanns – existentiale Selbstauslegungen. In ihnen artikuliert sich, wie sich Menschen vor dem Einbruch und der Wirksamkeit göttlicher Präsenz verstehen.“

Die Gestalt des Kanons ist bis heute fraglich:

S. 56: „In diesem Prozess nehmen allerdings zeit- und kontextabhängige Erinnerungsinteressen Einfluss, deren Plausibilität schon damals fraglich war und vor allem dann späteren Generationen nicht immer als zwingend erscheinen muss. Die Grenzen zwischen den kanonischen und den apokryphen Schriften, die nicht in den Kanon gelangten, sind daher fließend.“

Die biblischen Texte sind als widersprüchliche „literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten“ gar nicht geeignet, um aus ihnen theologische Lehren zu begründen:

S. 76/77: „Die biblischen Schriften erfüllen … von ihrem Wesen her nicht die Funktion, theologische Lehrbildungen zu begründen. … Als literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten sind die neutestamentlichen Texte im Grunde nicht geeignet, aus ihnen Lehrgehalte zu erheben. … Die biblischen Texte geben das spezifische ‚Lebensgefühl‘ der ersten Christen in seinem ganzen Facettenreichtum wieder, sie fangen religiöse Stimmungen ein und bringen diese literarisch zum Ausdruck.“

S. 79/80/81: „Die Bibel ist in der Breite ihrer Aussagen und Ausdrucksformen nicht auf Lehren zu reduzieren, und schon gar nicht auf eine Lehraussage, sie thematisiert und artikuliert vielmehr ein Universum religiöser Gestimmtheiten. … Der Versuch, eine der Bibel gemäße Theologie zu konstruieren, wirft ein gravierendes Problem auf. Welche Theologie soll dies sein? Es ist ein theologisch sattsam bekanntes Faktum, dass der neutestamentliche Kanon eine Vielfalt von Theologien enthält. … Dieser plurale Charakter der biblischen Schriften ist in der Exegese weitgehend unstrittig: »Die Vorstellung einer Einheit im Sinn einer sich durchhaltenden einheitlichen Dogmatik im Neuen Testament ist eine Fiktion«.“*

*: Seltsam nur, dass auch Lauster selbst von einem durchgängigen „biblischen Gottesbild“ eines redenden Gottes spricht (siehe oben), während er hier meint, so etwas wie ein biblisches Gottesbild gäbe es gar nicht.

S. 104: „Von der Exegese führt kein unmittelbarer Weg zum Dogma und auch nicht zur Predigt. Sie zielt vielmehr auf die historische Rekonstruktion vergangener religiöser Sinnbildungs- und Deutungsprozesse im Kontext der Erfahrungszusammenhänge, aus denen sie entstehen.“

Strohmänner und Diffamierung: „Fundamentalismus“ ist Bibelvergötzung und vernunftfeindliche „Propaganda“:

S. 15: „Der gesamte vormoderne Vorstellungskomplex vom redenden Gott, der die Bibel diktiert und so zu den Menschen spricht … ist gegenwärtig ein erfolgreiches Modell protestantischer Missionspropaganda.“

S. 30: „Entscheidend daran ist, dass es nach christlichem Verständnis um die Vergegenwärtigung einer Person, Jesus Christus, geht und nicht um die Anbetung eines Buches. … Der Fundamentalismus ignoriert die Unterscheidung zwischen Buch und Person ganz und vergöttert so die Schrift an sich.“*

*: Zum verbreiteten Strohmannargument der Bibelvergötzung siehe der Artikel „Die 5 häufigsten Strohmannargumente gegen ein konservatives Bibelverständnis“

S. 31: „Die Verleugnung oder Ignorierung einer historischen Betrachtung* der Bibel erhöht deren Glaubwürdigkeit keineswegs, sondern untergräbt sie in tragischen Ausmaßen. … Man muss an dieser Stelle Kant bemühen dürfen: »Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“. … Eine tragende Bedeutung der Bibel ist in der Gegenwart nicht an der modernen Entzauberung vorbei oder gar gegen sie, sondern nur durch sie hindurch zu entfalten.“

*: Zum verbreiteten Strohmannargument, konservative Theologie würde das historische Umfeld und den historischen Abstand der biblischen Texte „verleugnen oder ignorieren“ siehe der Artikel: „Streit um das biblische Geschichtsverständnis“

Zwischen der „neuprotestantischen“ Theologie und dem „Fundamentalismus“ bzw. der Wort-Gottes-Theologie „klafft ein garstiger Graben“:

S. 72/73: „Für das ‚Dogma‘ der Bibel, oder anders formuliert, für eine systematisch-theologische Schriftlehre ergibt sich daraus gegenwärtig eine eigenwillige, ja eine fast skurrile Ausgangssituation. Einerseits finden sich vornehmlich im Fundamentalismus und in der Wort-Gottes-Theologie moderne Restaurierungs- und Reparaturversuche des altprotestantischen Schriftverständnisses. … Dagegen richtet sich andererseits das Verständnis der Bibel in dem weiten Feld des liberalen Neuprotestantismus. … Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“

S. 96: „Historische und dogmatische Methode sind vielmehr zwei grundverschiedene Stile, Theologie zu treiben, die sich durch alle theologischen Disziplinen ziehen. Die dogmatische Methode erhebt die eigene religiöse Überzeugung zur unhintergehbaren Voraussetzung, während die historische Methode die eigene Religion einer methodisch ausweisbaren, Wissenschaftlichen Überprüfung unterzieht.* … unaufgebbar entscheidend bleibt folgender Grundgedanke: Eine auf Plausibilität zielende Beschreibung des Christentums kann im Kontext der Neuzeit nur eine Beschreibung in rationaler, wissenschaftlicher Durchführung sein. Die historisch-kritische Methode der Exegese ist daher eine konkrete Erscheinungsform dessen, was Troeltsch historische Methode nennt. Sie ist der den neuzeitlichen Rationalitätsstandards sich verdankende Umgang mit den biblischen Texten.“

* Zum verbreiteten Strohmannargument der Vernunftfeindlichkeit konservativer Theologie und der angeblichen Unvoreingenommenheit der universitären Theologie siehe der Artikel „Das wunderkritische Paradigma“: Die traditionelle protestantische Theologie erhebt ja gerade nicht die „eigene religiöse Überzeugung“ zum Dogma, sondern sie nimmt im Gegensatz zur modernen universitären Theologie den Forschungsgegenstand Bibel samt dem bibeleigenen Selbstanspruch zum Wesen der Texte und zu ihrem Offenbarungscharakter ernst gemäß dem Prinzip: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Gerade dadurch wird die Bibel vor menschlichen Übergriffen und „Eisegese“ (also das Hineininterpretieren bibelfremder Annahmen in die Texte) geschützt. Die neue Theologie ist hingegen keineswegs methodisch neutral, sondern sie basiert mit ihrem Wissenschaftsbegriff auf einem philosophischen Unterbau, der vom Rationalismus (hier als „neuzeitliche Rationalitätsstandards“ bezeichnet), Naturalismus und Wunderkritik geprägt ist.

Bibelkritik ist heute institutionalisierter Mainstream:

S. 103: „Historische Kritik, die einstmals Rebellion war, ist zur Institution geworden.“

Zwei abschließende Bemerkungen:

  • Es wirkt auf mich angesichts der Dominanz dieser theologischen Sichtweisen seltsam, wenn manche Postevangelikale sich immer noch als Rebellen inszenieren. Sie sind einfach nur auf den Weg des großen Mainstreams volkskirchlicher Theologie abgebogen.
  • Ganz wichtig: Auch in diesem Artikel geht es natürlich in keiner Weise um persönliche Kritik an Prof. Lauster. Es geht schlicht darum, nüchtern die grundlegenden Differenzen im Bibelverständnis transparent zu machen, die Prof. Lauster ja selbst offen anspricht.

Alle Zitate stammen aus Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung, Forum theologische Literaturzeitung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2008

Der Kampf ums Bibelverständnis

Wegweisende Erkenntnisse aus dem Buch „Biblische Hermeneutik“ von Prof. Gerhard Maier

„Biblische Hermeneutik“: Dieses Buch von Prof. Gerhard Maier hätte ich am liebsten jedem Theologen zu Weihnachten unter den Baum gelegt. Der Autor ist mir schon lange ein Begriff, schließlich war er 4 Jahre lang Landesbischof meiner württembergischen Landeskirche. Dass er zugleich ein herausragender Theologe ist, war mir auch schon zu Ohren gekommen. Tatsächlich ist sein Buch „Biblische Hermeneutik“ nichts weniger als ein grundlegender Ruf zur Umkehr in der Theologie. Maier setzt sich intensiv mit der sogenannten „historisch kritischen Methode“ (HKM) auseinander, die aktuell eine fast uneingeschränkte Dominanz besitzt:

„Die Meinung, „dahinter können wir nicht mehr zurück“, ist eine der am weitesten verbreiteten, auch im Kreise sog. „evangelikaler“ Theologen. … Noch 1971 konnte Richter schreiben: „Das Recht, die historisch-kritische Methode anzuwenden, ist heute … in der Theologie unbestritten“. Dabei ist allen klar, dass die „Kritik“ nicht nur die (selbstverständliche!) Aufgabe des Unterscheidens wahrnimmt, sondern ein „kritisches“ Beurteilen der biblischen Aussagen, ihre Bejahung oder Verwerfung, kurz: die Sachkritik an der Bibel, einschließt.“ (S. 214)

Eben diese Sachkritik ist für Maier das entscheidende Problem bei der HKM, denn: „Jede Sachkritik an der Bibel gibt … Teile ihres Inhalts preis. … Die zahllosen Schwankungen, denen innerhalb der letzten 300 Jahre die Sachkritik unterworfen war, widerlegen eindrucksvoll die Behauptung, die Schrift ermögliche aus sich selbst heraus eine solche Sachkritik.“ (S. 266)

Sachkritik bedingt immer, dass es einen menschlichen Kritiker geben muss: „Was sich … durch die ganze Geschichte der historischen Kritik hindurchzieht, das ist die Anschauung, dass der Mensch über den Wahrheitsgehalt der Offenbarung zu entscheiden habe.“ (S. 259) Der Bibel wird damit eine zweite Autoritätsinstanz beigestellt: „Das katholische Lehramt ist evangelischerseits im Laufe der Zeit durch Vernunft und Wissenschaftlichkeit, deren Inhalte umstritten blieben, ersetzt worden. … Wahrhaftigkeit und modernes Weltverständnis sind hier ethische und intellektuelle Verstehensvoraussetzungen, die in ihrer Kombination zu einer zweiten Instanz neben der Schrift führen.“ (S. 142) Somit ist die reformatorische Formel „Sola scriptura“ preisgegeben, die bis zum Pietismus noch galt. (S. 302)

Die zentrale Weichenstellung: Trennung von Text und Offenbarung

Grundsätzlich möglich wird die Bibelkritik der HKM durch folgende zentrale Weichenstellung: „Grundlegend für die historisch-kritische Arbeitsweise ist die Trennung von Schrift und Offenbarung bzw. von Bibel und Wort Gottes. Keinesfalls besteht hier eine Identität.“ (S. 262) Beispielhaft zeigt Maier das an der „dreifachen Gestalt des Wortes Gottes“ von Karl Barth, in der u.a. zwischen dem schriftlichen und dem offenbarten Wort Gottes unterschieden wird, wobei das schriftliche Wort (die Bibel) nicht die eigentliche Offenbarung ist. Die Bibel bezeugt sie nur. Maier begründet, warum er sich mit dieser Lehre nicht befreunden kann: „Sie zerbricht die Theopneustie („göttliche Eingebung“, „Durchhauchtsein mit dem Geist“, 2. Tim. 3, 16) an der entscheidenden Stelle, nämlich dort, wo gerade die Schrift als das final gemeinte Wort des Heiligen Geistes Gestalt gewinnen soll … indem sie uns letztlich an ein unkonkretes, zeitloses „Dahinter“ bindet. Und sie widerspricht auch der Position Luthers und der Reformatoren, für die das biblische Wort der eigentliche Wille Gottes war.“ (S. 104)

Erst durch diese Trennung zwischen biblischem Wort und Offenbarung ist es möglich, kritisch an das biblische Wort mit dem Prinzip des wissenschaftlichen Zweifels heranzutreten. Das ist für ihn die eigentliche „Innovation“ der historisch kritischen Methode: „Nicht die Entdeckung neuer, bisher unbekannter Arbeitsschritte oder methodischer Einzelverfahren war das Entscheidende. Sondern der prinzipiell vom Zweifel geprägte Umgang mit der Heiligen Schrift.“ (S. 221)

Deutlich wird dieser Zweifel zum Beispiel im Umgang mit den geschichtlichen Aussagen der Bibel. Das ist aus seiner Sicht besonders tragisch, denn: „Der biblische Glaube hängt tatsächlich aufs engste mit der wirklichen Geschichte zusammen. … Entzieht man ihm die geschichtliche Basis, auf die er aufgebaut ist, dann hat man ihn prinzipiell widerlegt. … Der Glaube hängt an seiner Geschichtlichkeit.“ (S. 181)

Hinzu kommt in der HKM die bis heute nicht überwundene allgemeine Skepsis gegen Wunder und Prophetie: „Im Grunde teilt das ganze 19. Jh., soweit es die historisch-kritische Forschung in Deutschland betrifft, das Urteil, dass wir heute an Wunder nicht mehr glauben können. … Ja selbst in unserem Jahrhundert noch wird die historische Kritik von dem Gedanken beherrscht, dass Wunder ungeschichtlich seien.“ (S. 196)

Daran zeigt sich, wie wenig die historisch kritische Methode ihren eigenen Anspruch einlöst, „wissenschaftlich“ und „objektiv“ zu sein: „Es besteht … unter den Anhängern der historischen Kritik eine erstaunliche Übereinstimmung darüber, dass sie „ein Kind der Aufklärung“ darstellt. … Damit ist die dominierende Rolle der Vernunft ausgesagt. … Hier erhält also … der Mensch einen absoluten Vorrang. … Auf der anderen Seite wird deutlich, dass diese „Vernunft“ keine weltanschauliche Neutralität besitzt. Im Gegenteil, sie ist eine religiös determinierte Größe. Um noch einmal Picht zu zitieren: „Die Vernunft des europäischen Denkens ist als Projektion des Gottes der griechischen Philosophie bis in ihre innersten Elemente vom Mythos durchtränkt. Es ist ein Zeichen mangelnder Aufklärung, wenn wir das nicht wissen. Von hier aus fällt ein neues Licht auf die Spannung zwischen Glauben und Vernunft, aber auch auf die unglückliche Liebe der Theologen zu dieser selben Vernunft.“ Das heißt, die Berührung der Theologie mit der Philosophie der Aufklärung und die Entwicklung einer vernunftverantwortlichen Bibelwissenschaft war eben kein Methodenproblem im neutralen Sinne, sondern eine religiöse Kontamination. … Die neue Situation, die durch eine solche Anwendung von Kritik entstand, muss eindeutig als ein Bruch mit der vorangehenden christlichen Geschichte bezeichnet werden.“ (S. 236/237)

Das Bibelverständnis muss aus der Bibel kommen!

Angesichts dieser grundsätzlichen Dramatik stellt sich nun umso drängender die Frage: Wie begegnet Gerhard Maier nun der HKM? Im ganzen Buch findet sich dazu immer das gleiche Prinzip: Maier setzt den Sichtweisen der HKM nicht einfach seinen eigenen Ansatz gegenüber. Zwar ist er sich zwar bewusst, dass „eine voraussetzungslose Auslegung ein Phantom, eine Selbsttäuschung darstellt. Doch gerade unsere Voraussetzungen will die Bibel in Frage stellen, korrigieren und teilweise zerstören.“ (S. 15) Prof. Maier betont also: Wir können unsere Denkvoraussetzungen beim Auslegen der Bibel nicht beliebig wählen. Die Bibel hat eine Meinung dazu, wie sie korrekt gelesen und ausgelegt werden will! Deshalb befragt Maier immer wieder den biblischen Text, den er durchweg als „Offenbarung“ bezeichnet. Er will sich sein Schriftverständnis von der Bibel selbst vorgeben lassen, denn: „Wahrscheinlich ist die wichtigste hermeneutische Entscheidung diejenige, ob wir den Ausgangspunkt bei der Offenbarung selbst oder beim Menschen nehmen.“ (S. 19) Er wendet damit vorbildlich das reformatorische Prinzip an, dass die Schrift sich selbst auslegen muss. Im Zentrum steht für Prof. Maier deshalb die Frage:

Welches Bibelverständnis gibt uns die Bibel vor?

Maier stellt zum einen fest, dass die Bibel die menschliche Vernunft als oberste Autoritätsinstanz für vollkommen ungeeignet hält: „Die Offenbarung kennt den „autonomen“ Menschen nur als den „verlorenen“ Menschen. … Seine Autonomie war von Anfang an eine Utopie und ein Weg in die Sklaverei, ja zum Rande des Untergangs.“ (S. 242/243)

Das biblische Bibelverständnis stellt sich für Maier nach ausführlicher Analyse der biblischen Aussagen wie folgt dar: „Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität. An dieses Wort hat sich Gott gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Er wird dieses Wort bis ins letzte hinein wahr machen und erfüllen. Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ (S. 151)

Wichtig ist Prof. Maier dabei der Begriff der „Inspiration“. Nicht nur die biblischen Autoren waren von Gottes Geist inspiriert („Personalinspiration“), nein: Der Text selbst ist von Gottes Geist inspiriert („Verbalinspiration“), und zwar der vollständige Bibeltext aller kanonischer Bücher im endgültig vorliegenden Urtext („Ganzinspiration“). Genau das nimmt laut Maier auch der biblische Text für sich selbst in Anspruch: „Die weitaus meisten Schriften des Neuen Testaments sind nach der Selbstaussage des NT inspiriert … oder lassen den indirekten Anspruch erkennen, inspirierte Schrift zu sein. … Wenn später die Kirche … die Inspiration aller neutestamentlichen Schriften anerkannte, dann stand sie auf einem guten historischen Boden und darüber hinaus im Einklang mit der Offenbarung selbst.“ (S. 88)

Darüber hinaus beansprucht der Bibeltext noch folgende Eigenschaften für sich: „Die Offenbarung schreibt dem Worte Gottes vor allem vier Eigenschaften zu: Erstens: Es ist verlässlich. … Zweitens: Es ist wirksam. … Drittens: Es zeigt den Willen Gottes auf und damit den Weg zum Heil. … Viertens: Es ist verbindlich. … Man kann also beobachten, dass Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ in der Bibel nicht gebraucht werden. Aber noch weniger spricht die Bibel von „Fehlern“ oder dergleichen.“ Ein bibelnaher Begriff für den Selbstanspruch der Bibel ist aus der Sicht von Maier: „Vollkommene Verlässlichkeit.“ (S. 122). Dazu erläutert er: „Das zur Schrift gewordene Wort Gottes ist vollkommen verlässlich und fehlerlos im Sinne seiner göttlichen Zwecke, also von Gott her betrachtet.“ (S. 125)

Mit Jesus die Bibel kritisieren? Die Einheit und Klarheit der Schrift

Aus der Urheberschaft Gottes folgt für Maier auch die Einheit der Schrift: „Die Einheit der Schrift wird am stärksten begründet durch den einen Urheber, den sie hat, Gott. … In der Tat ist die Behauptung einer Widersprüchlichkeit davon abhängig, dass man die menschlichen Glaubenszeugen zu den maßgeblichen Autoren der Schrift ernennt und den göttlichen Autor verdrängt.“ (S. 164) „Erst seit der Aufklärung ging die Überzeugung von der Einheit der Schrift in weiten christlichen Kreisen verloren.“ (S. 160) Das ist dramatisch, denn: „Wo man die Einheit der Schrift verliert, verliert man auch das Mittel, gegen die Häresie zu kämpfen. … Bezeichnenderweise gab es seit der Aufklärung zwar noch eine Kirchenzucht, aber im Grunde keine Lehrzucht mehr. … Damit wird jedoch das NT auf den Kopf gestellt.“ (S. 165)

Aber widerspricht sich die Bibel nicht selbst? Können bzw. müssen wir nicht mit Jesus andere Teile der Bibel kritisieren? Diesen Ansatz verwirft Maier aufs Schärfste: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz. … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm „Kritik“ am AT finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ (S. 149) „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der „Sachkritik“ impliziert), gibt es nirgends.“ (S. 265)

Kritisch sieht Maier deshalb auch den Versuch, eine „Mitte der Schrift“ zu konstruieren: „Die „Mitte der Schrift“ wurde praktisch zum Ersatz für die verlorengegangene „Einheit der Schrift“. … Wird aus der Christusmitte ein Christusprinzip, dann wird die Schrift entleert und ihrer Fülle beraubt. … Es kann sich nur um eine personale Mitte handeln. … Jeder Versuch, diese Mitte als ein isolierbares Etwas herauszulösen oder in Form eines Lehrgesetzes zu formulieren, zersprengt die Kontinuität der heilsgeschichtlichen Offenbarung.“ (S. 174-176).

Dazu verteidigt Maier die „Klarheit der Schrift“: „Die Autorität der Schrift kann sich praktisch nur durchsetzen, wenn jeder schlichte Christ in der Lage ist, einen klaren Begriff vom Inhalt der Schrift zu gewinnen. … Jesus konnte die wiederholte Frage: „Habt ihr nicht gelesen?“ nur stellen, wenn er von der Klarheit der Heiligen Schrift überzeugt war. … Die schriftgewordene Offenbarung behauptet, für jedermann zugänglich und eindeutig genug zu sein.“ (S. 155/156)

Konsequenzen der HKM: Ethisierung, Subjektivierung, Individualisierung, Erfahrungstheologie

Gerhard Maier ist als ehemaliger Landesbischof nicht nur Theologe sondern auch Gemeindepraktiker. Vor diesem Hintergrund sollte man umso aufmerksamer hinhören, wenn er die negativen Folgen der historisch kritischen Methode wie folgt beschreibt: „Der Inhalt, von dem die Neologie (d.h. die aus der Aufklärung resultierende Lehre) den Offenbarungsbegriff entleert, ist der historische; der Inhalt, den sie neu einfüllt, ein rationaler. Sobald aber die Geschichte durch das Rationale ersetzt wird, wird die Bibel zum Lehrgesetz. Deshalb ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass in der Aufklärung die sittliche Vernunft zum dogmatischen Kriterium wird, … und eine „Ethisierung des Christentums“ eintritt.“ (S. 170) Außerdem wächst für Maier „den subjektiven Faktoren eine beherrschende Rolle zu.“ (S. 9)  Und: „Mit dem Vernunftglauben ist der Individualismus einer der stärksten Motive der historischen Kritik.“ (S. 240) „Wir entdecken, dass die Trennung von Schrift und Offenbarung … einen ganz andersartigen Raum schaffen kann: dem Empfinden … Wie will die gemäßigte Kritik, gefangen im Zwei-Instanzen- und im Widersprüchlichkeits-Denken, den Umschlag in eine solche Erfahrungstheologie verhindern?“ (S. 331)

Ist „gemäßigte Kritik“ die Lösung?

Mit „gemäßigter Kritik“ meint Maier den theologischen Versuch, die historisch-kritische Herangehensweise mit konservativen theologischen Positionen zu verbinden. Diesem Versuch erteilt Maier eine Absage, denn: „Sie begnügt sich als Vermittlungstheologie … wo ein grundsätzlicher Neuanfang erforderlich wäre. Statt die Schrift als inspiriert zu betrachten lässt sie nur eine Inspiration der biblischen Schriftsteller gelten. Sie bleibt darin der Aufklärung verhaftet, dass sie neben die Schrift eine zweite Instanz stellen muss, vor der sich der Ausleger zu verantworten hat. Sie kann infolgedessen die reformatorische Sicht von der Bibel als der einzigen norma normans nicht durchhalten. Sie fordert die Sachkritik an der Bibel. Ohne Sachkritik gibt es für sie keine Theologie als Wissenschaft. Die Einheit der Schrift wird von ihr preisgegeben. Schrift und Offenbarung bleiben bei ihr verschiedene, sich nur teilweise deckende Größen. Deshalb folgt sie dem Trend, das Eigentliche jenseits der Schrift zu suchen. Indem sie Schrift und Offenbarung voneinander trennt und nur bestimmte Aussagedimensionen als Gottes Wort anerkennt, fördert sie den Hang zur Erfahrungstheologie.“ (S. 331)

Vertrauen und Offenheit statt „wissenschaftlicher Zweifel“

Grundsätzlich notwendig ist für Maier eine klare Absage an das Prinzip des „wissenschaftlichen Zweifels“, denn: „Eine Begegnung mit der Offenbarung, die Skepsis und Zweifel zum Prinzip macht, bedeutet ein brüskes Nein zu ihrer Vertrauensbemühung. Man kann den Ausleger psychologisch und existenziell in keine schroffere Gegenposition versetzen, als indem man ihm den Zweifel vorschreibt.“ (S. 247). Stattdessen fordert er einen theologischen Wissenschaftlichkeitsbegriff, der dem Forschungsgegenstand gerecht wird: „Ein prinzipieller Zweifel ist … das unangemessenste Verfahren für den Umgang mit der Bibel.“ (S. 14) „Jede Wissenschaft richtet sich nach ihrem Gegenstand. Biblische Wissenschaft müsste sich demnach aus dem Reden Gottes aufbauen. Sie müsste bereit sein, sich ihre Erkenntnisse und Positionen aus der Offenbarung selbst geben zu lassen.“ (S. 268) „Unter dieser Voraussetzung ist die Theologie samt ihrer Hermeneutik eine Wissenschaft. Allerdings eine Wissenschaft sui generis (eigener Art), die sich von allen anderen durch ihre Offenbarungsgebundenheit und ihren Glaubensbezug unterscheidet.“ (S. 34)

Entsprechend charakterisiert Maier die angemessene Haltung des Auslegers gegenüber dem biblischen Text wie folgt: „Nirgends ist uns die Unfehlbarkeit des Verständnisses versprochen (vgl. 1 Kor 13,9). Doch wird den Ausleger … ein Urvertrauen zur Bibel als der schriftgewordenen Offenbarung begleiten. … Dieses Urvertrauen schlägt sich nieder in dem Vertrauensvorschuss, der der Bibel gewährt wird.“ (S. 49) „Seine Grundhaltung ist das erwartungsvolle Gebet und die demütige Offenheit.“ (S. 339)

Ich kann meiner Kirche mit ihren theologischen Fakultäten nur von Herzen wünschen, dass sie auf Prof. Maier hört. Längst ist sein Ruf zur Umkehr auch in den Freikirchen und in der evangelikalen Bewegung insgesamt dringend notwendig, denn die Trennung zwischen Schrift und Offenbarung ist auch dort weit verbreitet.


Das Buch ist 1990 im SCM R.Brockhaus-Verlag erschienen (zuletzt 2017 in der 13. Auflage) und kann hier bestellt werden.

60 Kirchliche Theologie muss sich dem Wort Gottes unterordnen

Jesaja 55, 9: „So viel der Himmel höher ist als die Erde, so viel höher stehen meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über euren Gedanken.“

Sind Bibelleser im Besitz der unfehlbaren Wahrheit? Nein, das kann schon deshalb nicht sein, weil sich selbst die frömmsten Bibelleser immer wieder gegenseitig widersprechen.

Ist die Bibel also fehlerhaft? Müssen wir unterscheiden lernen zwischen menschlichen Irrtümern und Gottes ewigen Wahrheiten in der Bibel? Aber wer entscheidet dann, was von Gott ist und was nicht? Auf welcher Grundlage? Nein, dieser Weg führt zwangsläufig in eine Beliebigkeit, in der sich jeder seine eigene Wahrheit bastelt und es bald kein gemeinsames Fundament mehr gibt. Kein Wunder, wenn dann die Kirche auseinanderfällt.

Deshalb ist es höchste Zeit, mit der Bibel wieder so umzugehen, wie sie selbst es uns lehrt: Die ganze Bibel ist von Gott inspiriert (2. Tim. 3, 16). Aber unsere Erkenntnis, wie sie auszulegen ist, bleibt Stückwerk (1. Kor. 13, 9+12).

Bibelpendel

Das schützt sowohl vor dem Hochmut, wir wären gescheiter als die Bibel als auch vor dem Hochmut, wir wüssten besser als alle anderen, wie die Bibel auszulegen ist. Das verleiht uns eine respektvolle Liebe zur Bibel und hält uns gleichzeitig in der Abhängigkeit vom Geist Gottes, der uns allein in die Wahrheit leiten kann (Joh. 16, 13). Das schützt uns vor übereilten Schlüssen und vorschnellem Verurteilen anderer Christen. Das erinnert uns daran: Wir Christen sind nicht im Besitz der Wahrheit. Wir hoffen nur, dass die Wahrheit in Person (nämlich Jesus) immer mehr Besitz von uns ergreift!

Gründliches theologisches Forschen in der Bibel ist und bleibt unendlich wertvoll. Aber niemals darf die Theologie Platz nehmen auf dem hohen Ross der Vergötterung des menschlichen Verstands. Es ist höchste Zeit, sich wieder der Bibel unterzuordnen statt menschliche Meinungen zur letzten Instanz der Wahrheit zu machen. Trauen wir der Bibel doch endlich wieder zu, dass sie besser über uns Menschen, Gott und die Welt Bescheid weiß als wir Menschen und der Zeitgeist!

Der ganze Artikel zur These 60: Streitpunkt Bibelverständnis: Wie gehen wir richtig mit dem Buch der Bücher um?

Bibel für Alle: Die Klarheit der Schrift

Macht die Bibel eindeutige, unmissverständliche Aussagen? Scheinbar nicht! Schließlich kann man heute zu praktisch jeder theologischen Lehre Theologen finden, die genau das Gegenteil behaupten, selbst in zentralsten Fragen, in denen sich die Kirche bisher quer durch die Jahrhunderte hindurch vollkommen einig war. Immer öfter äußern Theologen ihre Meinung außerdem mit dem Zusatz: Aber das kann man auch ganz anders sehen! Ganz dem Trend der Postmoderne folgend sind eindeutige theologische Aussagen zunehmend verpönt. Sie werden mit Arroganz und Lieblosigkeit gleichgesetzt. So wird die Theologie dem in der Postmoderne so angesagten Relativismus und Subjektivismus unterworfen.

Natürlich ist klar, dass man zu vielen modernen Bibelauslegungen nicht durch einfaches Bibelstudium gelangt sondern nur durch die moderne Bibelkritik, die den Glauben an die Fehler- und Widerspruchsfreiheit der Bibel aufgegeben hat. Damit einher geht oft die Schlussfolgerung: Laien, die nicht eingeweiht sind in moderne Theologie, Archäologie, historische Wissenschaften und antike Sprachen hätten eigentlich keine Chance, sich selbst ein angemessenes Bild von den Aussagen der Bibel zu machen. Schließlich wissen sie nichts über die Überlieferungsgeschichte, über die antiken Weltbilder und über die historischen Hintergründe der biblischen Texte. Somit könnten sie auch die Aussageabsicht nicht verstehen und nicht einschätzen, wie verlässlich und gültig die biblischen Aussagen heute sind.

Ist das so? Ist fehlende wissenschaftliche Kenntnis (so wie früher die fehlende Lateinkenntnis) ein unüberwindliches Hindernis für das Verständnis der Bibel?

Blogbild Bibel für Alle

Im März 2016 hat Kevin deYoung bei der Evangelium21-Konferenz in Hamburg einen Vortrag gehalten, der zu diesem Thema ein wahrer Augenöffner ist. Es geht dabei um die Lehre von der „Klarheit der Schrift“. Eindrücklich macht deYoung deutlich: Wer behauptet, dass die Bibel nicht aus sich heraus klar verständlich sei und (auch von Laien) nicht eindeutig verstanden werden könnte verspielt die zentralsten Errungenschaft der Reformation! Denn Luther hat mit seiner Übersetzung die Bibel in die Hand der einfachen Menschen gegeben. Damit hat er die Grundlage für die heutige Denk- und Religionsfreiheit gelegt und eine weitreichende geistliche Erneuerungsbewegung ausgelöst (die im Pietismus mit ihren „Stunden“, in denen Laien die Bibel auslegen durften, eine großartige Fortsetzung fand).

Deshalb, ihr lieben „Laien“ und ganz gewöhnlichen Christen: Lasst Euch nicht verwirren und nicht entmutigen! Die Bibel ist Gottes Wort. Und sie ist so einfach und klar geschrieben, dass alles Wesentliche vom JEDEM verstanden werden kann, der die Bibel mit einem hörenden Herzen studiert und dabei vertraut, dass Gott durch dieses Buch zu uns spricht. Gebt Eure Erkenntnisse, die Ihr in Eurem persönlichen Bibelstudium gewinnt, mutig weiter in Euren Gruppen, Kreisen und Treffen! Tragt mit dazu bei, dass das Wort Christi reichlich unter uns wohnt (Kol. 3, 16)! Nicht immer werden unsere Auslegungen zu 100 % stimmen, aber das ist bei studierten Theologen und Wissenschaftlern auch nicht anders. Wir haben einen Vater im Himmel, der Wohlgefallen daran hat, Dinge den Weisen und Klugen zu verbergen und es den Unmündigen zu offenbaren (Lukas 10, 21). Gerade im Jahr des Reformationsjubiläums dürfen wir die zentrale reformatorische Errungenschaft der „Bibel für Alle“ neu mutig in Anspruch nehmen.

Allen, die sich mit der Auslegung der Bibel beschäftigen und Verantwortung in der Gemeinde Jesu tragen, sei dieser wichtige Grundlagenvortrag herzlich empfohlen. Für die, die keine 73 Minuten dafür aufbringen können oder wollen, wurden nachfolgend die zentralen Aussagen zusammengefasst:

Bild Vortrag Kevin deYoung

Die Klarheit seines Wortes

Vortrag von Kevin deYoung bei der E21-Konferenz im Hamburg vom 12. März 2016
Video: https://www.youtube.com/watch?v=050737-oy74
mp3-Download: https://www.evangelium21.net/downloads/audio/2016_e21konferenz/2016-03-12_10_DeYoung_Kevin.mp3

Im Bekenntnis von Westminster wurde die Lehre von der Klarheit der Schrift wie folgt definiert:

„In der Schrift sind nicht alle Dinge gleichermaßen in sich selbst klar und auch nicht gleichermaßen klar für alle; aber diejenigen Dinge, die zu erkennen, zu glauben und zu beobachten zum Heil notwendig sind, sind an der einen oder der anderen Stelle der Schrift so klar dargelegt und aufgedeckt, dass nicht nur die Gelehrten, sondern auch die Ungelehrten bei rechtem Gebrauch der gewöhnlichen Hilfsmittel zu einem hinreichenden Verständnis gelangen können.“

Hier wird also gesagt: Die Hauptgedanken der Schrift sind so klar und verständlich, dass selbst einfache Menschen sie verstehen können, wenn sie bereit sind, die Bibel zu studieren und ihr aufmerksam zuzuhören.

Gegen diese Lehre von der Klarheit der Schrift werden heute hauptsächlich 3 Einwände vorgebracht:

1. Mystischer Einwand:
Gott ist so anders, dass die menschliche Sprache gar nicht in der Lage ist, ihn in ausreichendem Maße zu beschreiben. Der christliche Glaube ist so geheimnisvoll, dass er gar nicht in Worte gefasst werden kann. Wenn wir versuchen, Gott in Worte zu pressen, dann haben wir in diesem Moment Gott zu etwas gemacht, was er nicht ist. Das Geheimnis ist die Wahrheit.

2. „Katholischer“ Einwand:
Es ist problematisch, wenn gewöhnliche Menschen die Bibel lesen, weil sie es falsch verstehen und falsch anwenden werden. Vor der Reformation wollte die katholische Kirche die Bibel deshalb lieber nicht übersetzen. Das Studium und die Auslegung der Schrift sollte lieber einer Klasse von gelehrten Priestern vorbehalten bleiben, weil normale Menschen nicht in der Lage sind, die Bibel richtig zu interpretieren.

3. Pluralistischer Einwand:
Wenn die Schrift so klar wäre, warum gibt es dann so viele verschiedene Auslegungen? Hat nicht die Kirche einst an die Sklaverei geglaubt? Hat sie nicht geglaubt, dass die Erde das Zentrum des Universums sei? Woher sollen wir uns heute sicher sein, dass wir jetzt die richtige Auslegung haben? Deshalb können wir es doch gar nicht wagen, zu behaupten, dass unsere eigene Auslegung richtig wäre. So hört man heute z.B. oft: Ich halte zwar Homosexualität für falsch. Aber andere halten das für mit der Bibel vereinbar. Und das ist genauso O.K. Das ist eben genau wie bei der Taufe, auch da gibt es viele verschiedene Meinungen wie bei vielen anderen Themen, bei dem man dieser oder jener Meinung sein kann.

Das Problem an dieser scheinbar demütigen Haltung ist: Das Thema Homosexualität ist eben kein Thema, bei dem man bei der Auslegung der Bibel verschiedener Meinung sein kann aus mehreren Gründen:

  • Bei diesem Thema hatten die Christen praktisch immer eine einheitliche Meinung. Wir sollten skeptisch sein, wenn jemand plötzlich das über den Haufen wirft, was in 99 % der Kirchengeschichte und auch heute noch weltweit weit überwiegend die einhellige Sichtweise der Kirche war und ist.
  • Die Bibel verurteilt homosexuelles Verhalten klar und deutlich, wiederholt und durchgehend im Alten wie auch im Neuen Testament. Selbst Jesus hat darüber gesprochen, als er gegen die Sünde der „Porneia“ (das griechische Wort für sexuelle Unzucht inklusive Homosexualität) predigte.

Wenn die Bibel derart eindeutig ist, ist es nicht liebevoll, wenn wir das nicht eindeutig sagen. Es ist nicht liebevoll, wenn wir zulassen, dass Menschen auf einem Weg bleiben, der nicht gut ist. Wenn unser Evangelium nicht die Sünder zur Buße ruft, dann ist es ein anderes Evangelium.

In 5. Mose 30, 11-14 lehrte Mose die Israeliten folgendes: „Dieses Gesetz, das ich euch heute gebe, ist nicht zu schwer für euch, als dass ihr es nicht verstehen und befolgen könntet. Es ist nicht hoch oben im Himmel, so unerreichbar, dass ihr fragen müsstet: `Wer soll für uns in den Himmel hinaufsteigen und es herabholen, damit wir es hören und befolgen können?´ Es ist nicht auf der anderen Seite des Meeres, so weit entfernt, dass ihr fragen müsstet: `Wer soll übers Meer fahren, um es zu holen, damit wir es hören und befolgen können?´ Nein, seine Botschaft ist euch ganz nah; sie liegt auf euren Lippen und in eurem Herzen, sodass ihr sie befolgen könnt.“

Mose sagte also: Gottes Wort ist hörbar, verständlich, es ist so klar, dass wir es verstehen können. Was Gott von seinem Volk wollte war nie verborgen. Das Gesetz war so klar, dass es sogar den Kindern gelehrt werden sollte (5. Mose 6).

In 5. Mose 29, 28 steht: „Was verborgen ist, ist des HERRN, unseres Gottes; was aber offenbart ist, das gilt uns und unseren Kindern ewiglich, dass wir tun sollen alle Worte dieses Gesetzes.“

Es gibt somit 2 Kategorien: Es gibt tatsächlich Geheimnisse bei Gott. Aber es gibt auch das geoffenbarte Wort Gottes, das wir hören, verstehen und befolgen können. Entsprechend gibt es in den Psalmen oft das Bild vom Licht („Das Wort ist ein Licht auf meinem Weg.“), das den Unverständigen weise macht und die Augen erleuchtet. Gott offenbart sich uns nicht, um uns noch mehr zu verwirren. Gottes Wort funktioniert! Gottes Worte erreichen ihre Absichten!

Was wäre die Bibel denn sonst auch wert? Was für einen Wert hätten die Verheißungen für die Suchenden und Verzweifelten, wenn sie nicht verständlich wären? Warum sollte Gott Warnungen oder Verheißungen geben, wenn er nicht glauben würde, dass wir das verstehen können?

Als Josia und das Volk Israel das Gesetz wieder entdeckten, lasen sie es. Und sie verstanden es! Und sie wussten, was sie als Reaktion tun mussten. Sie saßen nicht herum, tranken Kaffee und sagten: Was könnte das wohl bedeuten? Vielleicht müsste man eine Doktorarbeit darüber schreiben…

Auch Jesus berief sich auf die Autorität der Schrift. Und er ging davon aus, dass das Wort verständlich ist. Er sagte immer wieder: Habt Ihr nicht gelesen? Und damit sagte er: Würdet ihr die Schrift kennen, dann würdet ihr verstehen und nicht diese Fehler machen! Entsprechend argumentierten die Autoren des Neuen Testaments an vielen Stellen mit der Schrift in der offensichtlichen Überzeugung, dass die Bibel eine klare, eindeutige Bedeutung hat.

Aber warum ist diese Lehre von der Klarheit der Schrift so wichtig? Was steht auf dem Spiel bei dem Thema „Klarheit der Schrift“?

1. Das Geschenk der menschlichen Sprache steht auf dem Spiel!

Wer die Klarheit der Schrift bestreitet, der leugnet auch, dass Gott uns eine Sprache geschenkt hat, die die Möglichkeit beinhaltet, Gott in zutreffender Weise zu beschreiben. Die Schrift wäre dann lediglich ein menschlicher Versuch, über Gott zu sprechen, aber keine eindeutige Beschreibung seines Wesens und seines Willens. Der Teufel hat als allererstes die Klarheit des Wortes Gottes angegriffen, als er sagte: „Hat Gott wirklich gesagt?“ Wie postmodern! Denn er griff ja nicht direkt die Autorität des Wortes Gottes an. Er zweifelte lediglich an, dass Gott klar spricht!

Wir müssen verstehen: Sprache ist ein Geschenk Gottes an uns! Wir schränken diese Gabe ein, wenn wir ihr nicht zutrauen, dass Gott uns damit auch sich selbst beschreiben kann!

2. Die menschliche Freiheit steht auf dem Spiel!

Die protestantische Lehre der Klarheit der Schrift ist eine Grundlage für die Freiheit der westlichen Welt! Denn sie beinhaltet, dass Menschen die Fähigkeit haben, die Schrift selbst auszulegen.

Die Idee, dass jeder Mensch die Schrift selbst auslegen kann, kreiert zwar eine Menge von Problemen. Aber sie beschützt uns vor noch größeren Problemen! So schrieb der holländische Theologen Herman Bavinck vor etwas mehr als 100 Jahren:

„Alles in allem überwiegen die Nachteile nicht gegenüber den Vorteilen, denn aus dem Leugnen der Klarheit der Schrift folgt unweigerlich die Unterordnung eines Laien unter einen Priester sowie die Unterordnung des Gewissens eines Menschen unter die Kirche. Die Religions- und Gewissensfreiheit der Kirche und der Theologie steht und fällt mit der Klarheit der Schrift. Sie allein kann die Freiheit des Christen wahren. Sie allein ist sowohl Ursprung und Garant der Religionsfreiheit als auch unserer politischen Freiheiten. Selbst eine Freiheit, die nicht unabhängig von den Gefahren der Zügellosigkeit und Launenhaftigkeit erlangt und genossen werden kann ist immer noch der Tyrannei, die diese Freiheit unterdrückt, vorzuziehen.“

Zwar kann die Lehre von der Klarheit der Schrift missbraucht werden durch wilde und falsche Interpretationen. Aber es ist von großem Wert, dass wir als Einzelne die Bibel selbst auslegen können. Als Luther die Bibel übersetzte bestand er auf dem Recht, dass jeder Mensch die Schrift auslegen darf. Er bestätigte damit die Klarheit der Schrift. So hat er die Grundlage für die religiöse Freiheit unserer Gesellschaft gelegt.

3. Das Wesen Gottes steht auf dem Spiel!

Ist Gott in der Lage, so zu kommunizieren, dass sein Volk ihn versteht? Es gibt eine alte Geschichte aus Hindustan, die das bezweifelt. In diesem Gleichnis fassen 6 Blinde einen Elefanten an. 1 Mann berührt die Seite und denkt: Das ist eine Wand! 1 Mann berührt das Ohr und denkt: Es ist ein Fächer! 1 Mann berührt den Schwanz und denkt: Das ist ein Seil! 1 Mann fasst den Rüssel an und denkt: Das ist ein Schlauch. Die Aussage ist am Ende: So geht es uns mit Gott! Wir sind alle blind und berühren nur einen Teil von ihm. So sind alle Religionen teilweise zutreffende Interpretation Gottes, aber niemand kennt das ganze Bild.

Das klingt sehr demütig. Aber die Frage ist: Was ist, wenn Gott sprechen kann? Um im Bild dieses Gleichnisses zu bleiben: Was ist, wenn er zu diesen blinden Leuten sagen kann: „Hallo, ich bin ein Elefant!“ Wer dann noch widerspricht und sagt: „Du bist aber ein Hund“, der ist nicht mehr demütig sondern störrisch.

Die Frage, ob Gott sich verständlich machen kann, hat viel zu tun mit unserem Bild von Gott! Ist er weise genug, um sich selbst bekannt zu machen? Ist er gnädig genug, um sich so auszudrücken, dass wir ihn begreifen können? Oder traktiert er uns mit Worten und Geboten, die wir gar nicht wirklich verstehen können? Wer so denkt, ist in Wirklichkeit nicht demütig sondern hochmütig, weil er Gott und seine Fähigkeit zur Kommunikation herabsetzt.

4. Es steht auf dem Spiel, für wen Gott ist!

Ist die Bibel bei Laien nicht in guten Händen? Ist die Bibel nur für Gelehrte und Priester? Brauchen wir einen Lehrkörper, der uns die Bibel erklärt? Braucht man Kenntnisse in griechisch, hebräisch, Archäologie, Quellen-, Form- und Redaktionskritik usw. um die Bibel verstehen zu können? Oder ist die Bibel in der Lage, sogar den einfachen Personen Wahrheit zu lehren? Ist die Botschaft Gottes nur für Intellektuelle und Gelehrte mit einem hohen Abschluss oder ist das eine Botschaft, die von Allen verstanden werden kann? Was wäre das für ein Gott, der seine Liebe und Erlösung so kompliziert offenbart, dass das nur eine Elite entschlüsseln kann!

William Tyndale war (wie Luther in Deutschland) der Mann, der die Bibel in verständliches Englisch übersetzte. Als er von einem Priester dafür zur Rede gestellt wurde sagte er:

„Wenn Gott mein Leben bewahrt werde ich dafür sorgen, dass noch in den nächsten Jahren ein einfacher Junge am Pflug mehr Wissen über die Schrift haben wird als Du!“

Tyndale und Luther verstanden: Die Bibel ist für Alle. Sie kann von Allen verstanden werden! Dieser Glaube hat Tyndale das Leben gekostet. Er wurde erhängt und verbrannt. Seine letzten Worte waren: „Herr, öffne dem König von England die Augen.“ Das ist noch immer unser Gebet: Öffne die Augen der Menschen und unseres Volkes, damit sie aus Deinem Wort all die wunderbaren Dinge entnehmen können, die Du uns dort offenbart hast.

Pfusch am Bau

In einer Diskussion konfrontierte mich jüngst ein evangelischer Dekan mit der Aussage: Luther habe gelehrt, dass die Bibel nur da heilige Schrift sei, wo sie lehrt, „was Christum treibet“, d.h. wo sie dem Geist und der Liebe Jesu entspricht. Als ich dem nicht zustimmen wollte steckte er mich in die Schublade der „altprotestantischen Orthodoxie“. Dem bekannten Erweckungsprediger Pfarrer Wilhelm Busch muss es ähnlich gegangen sein. In einer seiner unvergleichlichen Predigten spricht er darüber. Er erzählt von biblischen Bauarbeiten, Finten, Salat, Bombenschwindel – und von seiner verstorbenen Mutter. Seine simplen aber schlagenden Argumente sind aktueller denn je. Hören wir doch auf ihn:

„Die Bibel ist eine Burg, damit kann man sich heute noch verteidigen. Und nun sagen die Leute: Die Burg ist ein bisschen unmodern, wir müssen sie umbauen. Da kommen die ersten und sagen: „Wir müssen ein bisschen dranbauen, sie genügt noch nicht. Und die anderen sagen: Anbauen braucht man nicht, aber da muss man abreißen, da muss einiges weg. Da sind noch Türme und Schanzen, die nicht mehr gebraucht werden, reißen wir die erstmal ab.

Zum Beispiel kommt neulich so ein lieber Bruder und sagt: „Ja, das ist nur für Israel geschrieben“. Ach, sage ich, wie schrecklich, das habe ich nun ausgelegt für Christen… „Ja, weißt Du nicht, das man das einteilen muss: Das ist nur für Israel.“ Da sage ich: Nein, also mir ist die Bibel von vorne bis hinten für mich geschrieben. Das ist dummes Zeug, dass plötzlich Leute ein Stück abreißen wollen.

Oder die Nazis, die kamen an – das wissen die Jungen nicht mehr – und sagten: Gut, ihr könnt das Neue Testament gebrauchen, aber das alte, das ist ein Judenbuch. Und schon schrie die ganze Meute der Christen: Na ja, wir können ja auf das Alte Testament verzichten, wenn wir das Neue haben. Wer einmal das Neue Testament gelesen hat weiß, dass das Unsinn ist. Aber da wurde also der Flügel „Altes Testament“ abgebaut.

Nun kommt heute ein moderner Theologe und sagt: Das ist Mythos, und das musst Du raustun. Da bleibt nicht mehr viel übrig. Der reißt meine Burg so zusammen, dass überhaupt nicht mehr viel da ist.

Dieser Abbau kann in einer höchst subtilen, zarten Form geschehen, etwa so: Wie ich noch Pennäler war, da sagte unser Religionslehrer: Natürlich ist die Bibel kein Geschichtsbuch, sie ist kein Naturwissenschaftsbuch, und da hab‘ ich in meinem Herzen eine Türe zugemacht und gesagt „Also was ist sie denn dann?“ – und hab‘ die Bibel weggetan, und ich bin Jahre in meiner inneren Entwicklung aufgehalten worden und zur Gottlosigkeit gekommen durch diesen Salat.

Da beruft man sich auf den guten alten Luther, der sich ja nicht wehren kann, weil er längst im Grabe liegt, und sagt: Luther hat gesagt, die Bibel gilt für uns „soweit als sie Christum treibet“ (habt ihr vielleicht auch schon gehört). Das klingt so fromm – und ist ein Bombenschwindel! Luther hat‘ s in ganz anderem Zusammenhang gesagt. Denn nun muss ich fragen: Was treibt denn in der Bibel nicht Christus?

Da hat einer so einen Vortrag gehalten: Was Christum treibet, das geht uns an. Ja Moment mal, lieber Amtsbruder, treibt das vierte Buch Mose, wo von Opfergesetzen steht, Christum? Nein, nein, sagt er, das natürlich nicht. Da sag‘ ich, pass mal auf: Ich komm mal ins Zimmer, als meine Mutter noch lebte, da sitzt meine alte Mutter über der Bibel und sagt: Wilhelm, herrlich, herrlich. Ich sag‘: Was liesch‘ denn? Das vierte Buch Mose. Da sag‘ ich: Da sind doch bloß so Opfervorschriften und so Sachen. Da sagt sie: Ja, merksch‘ denn des net, dass des alles ein Hinweis auf den Heiland isch? Du kannsch‘ doch das Opfer Jesu gar nicht verstehen, wenn Du nicht gelesen hast, was das heißt – ein Opfer. Da sagte ich: Für meine Mutter trieb das vierte Buch Mose Christum, nicht? Nach meiner Erkenntnis treibt von der ersten Zeile bis zur letzten die ganze Bibel Christum. Das ist bloß so ’ne Finte, um abzubauen.

Also: Du brauchst nichts dazu zu bauen zu der Burg, Du brauchst nichts abzureißen von der Burg, und jetzt kommt das kritischste: Du brauchst auch die Mauern dieser Burg nicht zu stützen. Da gibt’s viele, die haben die Lehre von der Verbalinspiration, das heißt, jedes Wort der Bibel ist vom Heiligen Geist inspiriert. Diese Lehre stammt von den Orthodoxen in der Zeit nach Luther. Da sag‘ ich: Moment mal, die Bibel ist meine Burg, und der glaub‘ ich vom ersten bis zum letzten Wort, aber da brauch‘ ich keine Lehre, die sie stützt.

Mich interessiert dieser Streit über die Bibel nicht sehr, offen gestanden. Ich habe nachgeforscht, die Reformatoren haben überhaupt keine Lehre über die Bibel gehabt. Ich rede eigentlich nicht so arg gerne über die Bibel, ich rede lieber über den Inhalt der Bibel, versteht ihr. Die Reformatoren haben keine Lehre über die Bibel gehabt, sie haben gehorcht was drinstand.“

Gekürzte Auszüge aus einer Predigt von Pastor Wilhelm Busch, im Ganzen nachzulesen unter http://www.erweckungsprediger.de/busch/predigten/busch_die_bibel.htm

Siehe auch: