6 Wege zur Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen

und warum sie in der Praxis auf Dauer nicht funktionieren (können)

Ist Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen möglich? Fakt ist: Die theologischen Differenzen zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen sind oft grundsätzlicher Natur. Sie betreffen den innersten Kern des Evangeliums und die zentralen, verbindenden Merkmale der weltweiten evangelikalen Bewegung.[1] Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Ausbreitung postevangelikaler Theologie im allianzevangelikalen Umfeld in der Praxis oft nicht zu fröhlicher Vielfalt führt, sondern eher zu wachsender Entfremdung, zu Streit und Spaltung[2] oder zur schrittweisen Verdrängung evangelikaler Überzeugungen.

Dennoch höre ich seit Jahren: Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen sei trotzdem möglich. Mehr noch: Es sei unsere Pflicht, diese Einheit anzustreben! Die Vorschläge, wie das trotz der grundlegenden Differenzen gelingen soll, klingen immer wieder ähnlich. Die 6 verbreitetsten Vorschläge zum Brückenbau zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen beschreibt dieser Artikel. Und er gibt Hinweise, warum sie in der Praxis oft so wenig funktionieren – und warum sie auf Dauer kaum erfolgversprechend sind.

1. Der pragmatische Ansatz: Lasst uns lieber miteinander evangelisieren und Gemeinde bauen, statt über theologische Themen zu streiten!

Dieser Vorschlag packt uns Evangelikale an einer Stelle, an der wir ganz besonders zugänglich sind. Mission, Evangelisation und Gemeindebau war schon immer unser großes Herzensanliegen. Sollte es uns nicht tatsächlich am wichtigsten sein, einfach Menschen gemeinsam für Jesus zu gewinnen? Und hat Jesus uns nicht gelehrt, dass unsere Einheit eine entscheidende Basis für die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses ist (Johannes 17, 21-23)? Wer von uns wollte schon schuld daran sein, dass Menschen Jesus nicht begegnen, weil wir mit theologischen Debatten beschäftigt sind? Niemand.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Wie sollen wir gemeinsam evangelisieren, wenn wir keine gemeinsame Evangeliumsbotschaft haben? Während das stellvertretende Sühneopfer für Evangelikale klar im Zentrum des Evangeliums steht,[3] wird es im Umfeld von liberaler, progressiver und postevangelikaler Theologie weithin bezweifelt, subjektiviert oder offen abgelehnt. Zugleich geht man dort vielfach davon aus: Gott offenbart sich auch in anderen Religionen. Und am Ende zieht er alle Menschen zu sich – unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Religion.[4] Ziel von „Mission“ ist daher eher ein Gesinnungswechsel für mehr Mitmenschlichkeit[5] und die Transformation der Gesellschaft statt die rettende Bekehrung und Wiedergeburt der Herzen.[6] Wenig überraschend ist deshalb, dass „die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen“.[7] Die gähnend leeren Kirchen sind die zwangsläufige Konsequenz. Die evangelische Kirche unterstreicht somit auf traurige Weise: Wer auf die missionarische Praxis fokussiert, ohne dabei die theologischen Grundlagen für diese Praxis hochzuhalten, bei dem geht am Ende beides verloren: Die Praxis und die Einheit.

2. Der christuszentrierte Ansatz: Unsere verbindende Mitte ist kein Dogma sondern die Person Jesus Christus!

Auch dieser Vorschlag klingt für Evangelikale naheliegend. Kein Evangelikaler würde sich dagegen wenden, dass der lebendige, auferstandene Christus die Mitte und das verbindende Haupt der Gemeinde Jesu ist. Unsere Verbindung mit ihm besteht nicht nur in einem rationalen Fürwahrhalten biblischer Lehrsätze. Evangelikale sind überzeugt: Der lebendige Christus ist in unserer Mitte! Im Gebet sind wir ihm nahe. Was könnte uns mehr miteinander verbinden als die gemeinsame Begegnung mit unserem auferstandenen Herrn? Wer will denn mitten in der staunenden Anbetung noch Diskussionen über das richtige Bibelverständnis anfangen? Niemand.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Die Theologie hat eine Unzahl an verschiedenen, oft gegensätzlichen Christusbildern hervorgebracht. Verbinden kann uns aber nur der eine lebendige Christus, der tatsächlich existiert. Um verstehen zu können, wer dieser reale Christus wirklich ist, was er lehrt und was er am Kreuz und an Ostern für uns getan hat, haben wir nur genau eine einzige Informationsquelle: Die Bibel. Wenn der Christusbegriff von der biblischen Offenbarung getrennt wird, dann wird er zur Hülse, die jeder beliebig füllen kann – der uns aber nicht mehr miteinander verbindet. In meiner Kirche erlebe ich zudem: Je beliebiger das Bild von Christus wird, umso mehr schläft auch die Anbetung ein. Dann verliert die Kirche ihre Mitte – und damit auch ihre Einheit.

3. Der diplomatische Ansatz: Wir sollten auf die Gemeinsamkeiten statt auf die Differenzen schauen!

Dieser Vorschlag weckt die Hoffnung: Wenn wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wir immer noch gemeinsam sagen und bezeugen können, dann werden die Differenzen mit der Zeit immer weniger wichtig. Wenn wir die konfliktträchtigen Themen aus dem Zentrum rücken oder am besten gar nicht ansprechen, dann streiten wir auch nicht. Dann können wir unsere Kraft und Energie für Konstruktiveres einsetzen als für Debatten, die womöglich in Streit und Spaltungen münden. Das klingt gut. Niemand von uns hat Zeit und Kraft für überflüssige Konflikte übrig.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Die Differenzen verschwinden nicht, indem wir sie unter den Teppich kehren oder verschleiern durch gemeinsame Begriffe, die wir aber ganz unterschiedlich füllen. Spätestens im (g)rauen Gemeindealltag kommen sie wieder mit voller Wucht auf den Tisch, und zwar spätestens dann, wenn wir uns entscheiden müssen: Trauen wir in unserer Gemeinde gleichgeschlechtliche Paare oder nicht? Geben wir ihnen Leitungsverantwortung oder nicht? Lehren wir unsere Jugendlichen, dass sie ruhig schon vor der Ehe Sex haben können oder nicht? Es sind gerade auch die Progressiven, die bei solchen Themen oft keinerlei Kompromissmöglichkeiten sehen, weil sie sie die konservative Position für lieblos und diskriminierend halten.[8] Und für die theologischen Differenzen zum Evangelium gilt: Wer sie kleinredet oder verschweigt, vermeidet vielleicht den Streit. Aber die Entfremdung findet trotzdem statt. Und jeder Paarberater weiß: Wo nicht mehr gestritten wird, da ist die Ehe tot. Je eher wir uns offen und ehrlich den (potenziellen) Konfliktthemen stellen, umso größer ist die Chance, dass wir belastbare und praxistaugliche gemeinsame Wege zur Einheit finden – oder uns respektvoll und geordnet in Liebe einander loslassen, wenn offenkundig die gemeinsame Grundlage fehlt.

4. Der entwaffnende Ansatz: Wir beziehen uns doch alle auf die Bibel, wir legen sie nur unterschiedlich aus!

Dieser Vorschlag packt uns bei der Tatsache, dass niemand von uns einen absolut objektiven Zugang zur Bibel hat. Jeder liest und versteht die Bibel durch die Brille seiner persönlichen Biografie und Prägung. Wer das leugnet und behauptet, die tatsächliche Aussageabsicht der Bibel durchgängig genau zu kennen, ist entweder naiv oder arrogant. Wir Christen sind zur Demut aufgerufen. Kann ich dem Heiligen Geist nicht zutrauen, dass er anderen Menschen ganz andere Dinge aus der Bibel heraus wichtig macht als mir? Ja, das kann ich.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Er ignoriert die entscheidende Frage nach dem Bibelverständnis. Wer dem biblischen Selbstanspruch nicht glauben kann, Offenbarung Gottes und damit höchste Autorität zu sein,[9] nimmt der Bibel ihre Kraft, der Christenheit eine verbindende gemeinsame Grundlage zu geben. Dann gibt es zunehmend nur noch persönliche Wahrheiten (Du hast Deine Wahrheit und ich habe meine Wahrheit), aber immer weniger, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Luther sprach nicht umsonst davon, dass allein die Schrift herrschen soll. Und er ging von der Klarheit der Schrift aus, das heißt: Für ihn waren die wesentlichen biblischen Aussagen so eindeutig, dass er damit die Lehren seiner Zeit prüfen und ihnen auf biblischer Basis widersprechen konnte. Für ihn war klar: Nur als verlässliche und verständliche Offenbarungsquelle kann die Bibel eine „normierende Norm“ sein und der Kirche Orientierung, Profil und eine feste gemeinsame Hoffnung geben. Auf diese Grund-legende biblische Offenbarungsquelle ist die Kirche Jesu auch heute angewiesen. Es ist deshalb kein Beitrag zur Einheit, den Offenbarungscharakter der Bibel (wie ihn z.B. die evangelische Allianz bekennt[10]) für nebensächlich zu halten.

5. Der seelsorgerliche Ansatz: Wir sollten einander den Glauben glauben!

Dieser Vorschlag packt uns bei einer Warnung, die im Neuen Testament weit verbreitet ist: Richtet und verurteilt einander nicht. Seid nicht hochmütig. Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat – nämlich als wir noch verirrte Sünder waren. Wir sind alle fehlerhaft und leben aus der unverdienten Gnade Gottes. Ist es nicht lieb- und herzlos, jemand anderem abzusprechen, dass auch er von Herzen Jesus folgen will und die Bibel wirklich so versteht, wie er sie nun einmal versteht? Und schaden wir uns mit dieser Lieblosigkeit nicht auch selbst? Steckt nicht in jedem Hinweis auf falsche Lehre bei Anderen die Versuchung, ein arroganter, unbarmherziger Richter und Machtmensch zu werden? Ja, das ist ohne Zweifel so.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist, dass er zwei völlig verschiedene Ebenen durcheinanderwirft: Die Haltung eines Menschen. Und der Inhalt seiner Botschaft. Niemand von uns hat das Recht, einem Menschen niedere Motive oder einen schlechten Charakter zu unterstellen, weil er Zigaretten raucht. Aber wenn dieser Mensch die These verbreitet, dass Rauchen harmlos sei und nicht süchtig macht, dann müssen wir das richtigstellen – auch wenn er ehrlich überzeugt davon ist. Denn sonst wären wir mitverantwortlich dafür, wenn Andere süchtig und krank werden. Keine Gemeinschaft kann auf Dauer nach dem Motto leben, dass nur die Haltung und nicht der Inhalt zählt – auch nicht die Kirche Jesu. Zwar steht es keinem Menschen zu, sich ein abschließendes Urteil über die Haltung, das Heil und die Motive anderer Menschen zu bilden. Gott allein ist der Richter! Nur er kann in die Herzen schauen. Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, die Inhalte der Botschaft von anderen Menschen anhand des biblischen Maßstabs zu beurteilen. Das Neue Testament fordert uns auf: Prüft alles! Es lobt Christen, die falsche Lehre zurückweisen.[11] Es ist nicht lieblos, auf inhaltliche Widersprüche zu Gottes Wort und Gebot aufmerksam zu machen, im Gegenteil: Wenn bei uns alles vertreten werden darf, solange man es nur authentisch tut, dann verlieren wir die gemeinsame Grundlage unseres Glaubens.

6. Der Rat des Gamaliel: Wir müssen nichts tun! Mit der Zeit werden sich die Konflikte ganz von selbst beruhigen!

Dieser Vorschlag, der sich an Apostelgeschichte 5, 33-42 orientiert[12], wirkt reif und souverän: Du musst Dich nicht verkämpfen! Gott ist in Kontrolle. Wenn Du recht hast mit Deiner kritischen Einschätzung, dann wird das mit der Zeit am ausbleibenden Segen von selbst sichtbar werden. Also reicht es, wenn Du mit Gott im Gebet darüber sprichst. Die Wahrheit und die Bibel muss nicht verteidigt werden. Das kann sie schon selbst. Dieser Vorschlag wirkt auf mich persönlich besonders attraktiv. Ich bin ein Harmoniemensch. Es kostet mich immer viel Überwindung, Anderen zu widersprechen. Wieviel Zeit und Nerven könnte ich sparen, wenn ich die Entwicklungen einfach Gott überlasse!

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Er hat kein Fundament, weder in der Bibel noch in der Kirchengeschichte. Quer durch die Bibel kümmert Gott sich nicht einfach selbst um die falschen Lehren, Lehrer und Propheten. Immer wieder schickt er Menschen, um ihnen zu widersprechen. So schreibt Paulus an Timotheus: „Verkündige das Wort ‹Gottes›! Tritt dafür ein, ob es den Leuten passt oder nicht. Rede ihnen ins Gewissen, warne und ermahne sie! Verliere dabei aber nicht die Geduld und unterweise sie gründlich! Denn es wird eine Zeit kommen, da werden sie die gesunde Lehre unerträglich finden und sich Lehrer nach ihrem Geschmack aussuchen, die ihnen nur das sagen, was sie gern hören wollen.“ (2. Tim. 4, 2-3) Von Zurückhaltung keine Spur. Paulus scheut sich nicht einmal, dem Kirchenleiter Petrus öffentlich zu widersprechen, wenn dieser sich nicht evangeliumsgemäß verhält. Auch die frühen Kirchenleiter mussten intensiv gegen falsche Lehre vorgehen. Es hätte keine Reformation gegeben, wenn Luther nicht so klar und pointiert gegen falsche Lehre aufgetreten wäre. Die Kirchengeschichte zeigt zudem: Falsche Lehren verschwinden nicht einfach von selbst. Sie haben sich oft jahrhundertelang gehalten, zahllose Menschen irregeführt und ganze Werke und Denominationen zerstört. Die gemeinsame, verbindende Lehrgrundlage der Kirche war schon immer umkämpft. Sie musste zu allen Zeiten gegen Widerspruch verteidigt werden. Auch heute noch brauchen wir den Mut, falsche Lehre im geeigneten Rahmen öffentlich anzusprechen – liebevoll, demütig, differenziert, informiert und klug, aber so klar, dass Menschen und Gemeinden sich orientieren können. Nur so können wir die gemeinsame Grundlage unseres Glaubens und unserer Einheit bewahren.

Das Grundproblem: Einheit auf Kosten der Wahrheit zerstört die Einheit

Letztlich haben alle sechs Vorschläge das gleiche Problem: Unsere bisher verbindlichen und damit verbindenden Glaubensfundamente gelten nicht mehr objektiv für alle, sondern sie werden zu randständigen und subjektiven Wahrheiten herabgestuft. Die „Einheit“, die man auf diese Weise gewinnen kann, muss folglich auf andere Faktoren als das gemeinsame Bekenntnis setzen: Gemeinsame Traditionen, gemeinsame Frömmigkeitsformen, gemeinsames Vokabular und gemeinsame Institutionen. Tatsächlich können evangelikal geprägte Formate (Gemeinden, Bünde, Werke, Kongresse, Medien, Ausbildungsstätten …) durchaus lange davon zehren, dass man zusammen die gleichen Lieder singt, die gewohnten Begriffe benutzt und sich in langjährig gewachsenen Institutionen und Veranstaltungen trifft. Das Problem ist nur: Brücken ohne gemeinsame Bekenntnisgrundlage haben ein eingebautes Verfallsdatum. Denn früher oder später wirkt sich die unterschiedliche Theologie auch auf die Formen, die Lieder, die Strukturen und das Vokabular aus (man denke nur an die Gendersprache[13]). Und dann gibt es gar keine gemeinsame Grundlage mehr.

Und was noch schlimmer ist: Brücken ohne gemeinsame Bekenntnisgrundlage senden das Signal, dass die Bekenntnisse für uns nicht verbindlich sind. Das zerstört die Vertrauensgrundlage für die Einheit mit all den Gruppen, mit denen wir auch bisher schon ausschließlich durch das gemeinsame Bekenntnis verbunden waren.Gerade das ist ja das zentrale Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen: Sie bilden eine weltweite und kulturübergreifende Bewegung, obwohl sie über kein gemeinsames Lehramt, keine gemeinsamen Traditionen, Institutionen, Prägungen und Strukturen verfügen. Diese einzigartige Einheit in Vielfalt kann nicht bestehen, wenn die verbindenden Bekenntnisgrundlagen zerfallen, die sich aus den zentralen und klaren Aussagen der Heiligen Schrift ergeben.[14] Brückenbau über Bekenntnisgrenzen hinweg führt also immer dazu, dass zugleich bestehende Brücken geschwächt oder eingerissen werden. Wir sollten deshalb aufhören, solche Bestrebungen als Brückenbau zu feiern. Echter Brückenbau und echter Einsatz für Einheit in Vielfalt muss immer auch die Stärkung und Verteidigung unserer verbindlichen und verbindenden Bekenntnisgrundlagen beinhalten. Ansonsten kaschieren wir nur unsere Probleme, die dann im Hintergrund umso ungehinderter wuchern können.

Warum Haltung trotzdem wichtig ist

Obwohl ich diese 6 Vorschläge also für wenig zielführend halte, erkenne ich in ihnen trotzdem wichtige Wahrheiten, die wir unbedingt bedenken sollten:

  1. Eine Theologie, die nicht in eine gesunde Praxis führt, ist offenkundig ungesund.
  2. Ein rationales Fürwahrhalten von Dogmen ohne die gelebte Liebe zum lebendigen Christus führt nicht zu echter Herzenseinheit.
  3. Gelassenheit und Weite bei Rand-, Kultur- und Prägungsfragen ist eine ebenso wichtige Tugend wie die Wahrung unserer verbindenden Bekenntnisgrundlagen.
  4. Unsere Bibelauslegung bleibt fehlerhaft und unvollständig. Deshalb bleiben wir angewiesen auf die große Auslegungsgemeinschaft der historischen und weltweiten Kirche.
  5. Die Liebe glaubt und hofft immer (1. Kor. 13,7). In einer von Misstrauen und Skepsis geprägten Kultur kann nichts Gutes gedeihen.
  6. Bei allem aktiven Einsatz für eine gesunde Kirche brauchen wir zugleich die Gelassenheit, dass am Ende Gott selbst das allein Entscheidende tut.

Wir dürfen niemals vergessen: Widerspruch gegen falsche Lehre beinhaltet immer auch eine große Versuchung: So leicht fangen wir an, uns innerlich über andere zu stellen. So schnell bauen wir uns eine Identität aus dem Rechthaben, statt unseren Wert in Christus zu haben. So leicht lassen wir es zu, dass Widerspruch uns zynisch, verurteilend und bitter macht. Debatten und Konflikte sind manchmal notwendig. Aber es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, unser Herz dabei rein, weich und korrigierbar zu halten. Nicht selten verstecken sich ganz menschliche Abgründe hinter theologischem Streit. Gesunde Lehre muss eingebettet sein in einen Lebensstil des Gebets, in die gelebte Liebesbeziehung zu Jesus Christus, in eine echte Liebe zu den Menschen, egal ob sie uns zustimmen oder nicht.

Auf dem Weg zur Einheit, für die Jesus gebetet hat, haben wir alle noch viel zu lernen. Lasst uns gemeinsam beides tun: Die gesunde, verbindende Lehrgrundlage der Kirche Jesu hochhalten – und zugleich herunterkommen vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit. Unsere Hoffnung ist und bleibt Christus allein. Denn Einheit können wir nicht machen. Er selbst ist es, der die Glieder seines Leibes miteinander verbindet (Eph. 4, 15-16), durch sein Wort und seinen Geist. Ich sehne mich so sehr danach, dass diese christusgewirkte Einheit wächst – und dadurch ein Stück Himmelreich auf Erden sichtbar wird.


Fußnoten:

[1] Die 4 zentralen und verbindenden Merkmale der evangelikalen Bewegung sind gemäß dem Historiker D. Bebbington: Die Betonung der völligen Vertrauenswürdigkeit der Bibel, die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz durch seinen stellvertretenden Opfertod, die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung und der aktive Einsatz aller Christen für die Ausbreitung des Evangeliums. Alle diese Merkmale werden im postevangelikal/progressiven Umfeld hinterfragt oder offen abgelehnt: Die Autorität der Schrift (blog.aigg.de/?p=6707), der stellvertretende Opfertod Jesu (blog.aigg.de/?p=3887), die Notwendigkeit der Bekehrung (siehe Fußnote 4), und der Einsatz für Mission (siehe die Fußnoten 5 und 6).

[2] So schreibt z.B. Ulrich Eggers in der Zeitschrift AUFATMEN: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“

[3] So bekennt z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

[4] So schreibt z.B. Rolf Krüger, der ehemalige Leiter von jesus.de: „Gott wird nach dem Tod keine Bestrafung vornehmen … Wenn aber niemand vor Gott gerettet werden muss, sondern die Menschheit nur vor sich selbst, wenn es darum geht, dass Gott uns zu einem Lebensstil der Liebe und Versöhnung ruft, dann ist das Einmischen in die Politik sogar ein zentrales Element von Mission … Oder der Dialog mit anderen Religionen: Wenn ein Mensch Christ werden muss, um die Ewigkeit glücklich zu verbringen, können Moslems, Buddhisten oder Atheisten nicht einfach solche bleiben. Mission ist in diesem Fall erst mit einem Religionswechsel ein Erfolg. Im anderen Fall ist der nicht nötig, denn es geht um die Idee, für die Jesus steht … Ziel von Mission ist dann nicht ein Religionswechsel, sondern ein Gesinnungswechsel.“ In: „Der Elefant im christlichen Raum“, 15.1.2018, www.aufnkaffee.net/2018/01/der-elefant-im-christlichen-raum

[5] So äußert der Postevangelikale Torsten Hebel im „Hossa-Talk“: „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. Das glaube ich. Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren. Aber ich glaube auch, dass es in der Diesseitigkeit einen Riesenunterschied macht: Wofür setzt du dein Leben ein? … Und da sehe ich Bekehrung, also diese Umkehr hin zu dem anderen, diese Hinwendung, Mensch zu werden, wie es eigentlich gedacht war, – das empfinde ich schon als eine Art Bekehrung. Wenn das dann dazu dient, bin ich der erste, der wieder zur Bekehrung aufruft.“ In: Ex-Evangelisten unter sich. Hossa Talk Nr. 5, 11.1.2015, https://hossa-talk.de/hossa-talk-5-ex-evangelisten-unter-sich-mit-t-hebel/, ab 51:50.

[6] Siehe dazu der AiGG-Artikel „Transformation – Eine Aufgabe der Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5699), eine Rezension zum „Handbuch Transformation“, herausgegeben von Tobias Faix und Tobias Künkler, 2021, Neukirchener

[7] In: „Mission Zukunft“, SCM 2018, S. 292

[8] So sagt z.B. Thorsten Dietz im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Dietz schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“, so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] Siehe dazu den AiGG-Artikel: Das biblische Bibelverständnis: https://blog.aigg.de/?p=5853

[10] So heißt es in der Glaubensbasis der EAD: „Die Bibel… ist Offenbarung des dreieinen Gottes.“

[11]  Röm.12,2; 16,17; 1.Thess. 5,21; 1.Joh. 4,1; 2.Joh.1,10; Offenbarung 2,2

[12] Die fragwürdige Argumentation und die historische Wirkungsgeschichte rund um den „Rat des Gamaliel“ wird aufschlussreich dargestellt im äußerst empfehlenswerten Artikel: „Die Gamaliel-Strategie“ von Peter Bruderer (danieloption.ch/featured/die-gamaliel-strategie/) im Blog Daniel-Option, 2023

[13] Warum ich mich gerade auch als Christ niemals an diesen Eingriffen in die Sprache beteiligen kann, erläutert einer der meistgelesenen AiGG-Artikel: blog.aigg.de/?p=6323

[14] Dass das apostolische Glaubensbekenntnis schon für die frühen Kirchenväter letztlich nichts anderes war als ein Extrakt aus den zentralen und eindeutigen biblischen Botschaften, weist Christian Haslebacher nach in seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Plädoyer für das Apostolische Glaubensbekenntnis – den zeitlosen Klassiker“ (https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/ ) im Blog Daniel-Option, 2021.

Zeit des Umbruchs: Der Verlust der Selbstverständlichkeiten

Als im Oktober 2017 die erste Version meines Artikels über die Worthaus-Mediathek online ging, konnte ich nicht ahnen, was das alles auslösen und nach sich ziehen würde. 5 Jahre später scheint mir die Debatte intensiver denn je zu sein. Im Dezember 2022 durfte ich meine Perspektive einem Kreis von rund 100 Leitern aus dem allianzevangelikalen Umfeld im Rahmen des Allianz-Symposiums “Verbindende Glaubensschätze” darlegen. Da die Videoaufnahme nicht ganz vollständig ist, stelle ich hier zusätzlich mein Skript zur Verfügung. Was ist Ihre Meinung dazu? Schreiben Sie mir gerne einen Kommentar oder eine persönliche Nachricht.

Ich empfinde es als unglaubliches Vorrecht, dass ich heute zu euch / zu Ihnen sprechen darf. Ich freue mich sehr auf alle Gespräche und Begegnungen. Einige, die hier sind, kennen mich bereits. Aber da ich noch nicht allen bekannt, will ich mich noch einmal kurz vorstellen:

Mein Name ist Markus Till. Ich gehöre zur evangelischen Landeskirche. Gemeinsam mit meiner Frau bin ich in meiner Heimatgemeinde in Weil im Schönbuch aktiv. Ich komme aus dem schwäbischen Pietismus. Und diese tiefe, nüchterne Verwurzelung in der Bibel, die ich da mitbekommen habe, prägt mich bis heute. Aber wer mich kennt weiß, dass ich auch durch charismatische Einflüsse geprägt worden bin. Es gibt eine Lobpreis-CD von mir. Man findet meinen Namen in den Feiert Jesus-Büchern. Und ich habe einen Glaubenskurs entwickelt: Aufatmen in Gottes Gegenwart. Vor kurzem ist mein überarbeitetes Buch dazu erschienen und eine Homepage mit vielen Videos und Materialien ist online gegangen.

Im Jahr 2017 ist noch etwas dazu gekommen, was mich seither sehr beschäftigt. Auf meinem Blog hatte ich einen Artikel veröffentlicht über die Worthaus-Mediathek. Der Artikel ist viral gegangen. IDEA hat eine Kurzversion davon abgedruckt. Etwas später hat mich SCM gebeten, ein Buch über Postevangelikalismus zu schreiben, das 2019 erschienen ist unter dem Titel „Zeit des Umbruchs“. Und in der Folge wurde ich dann auch immer öfter angefragt, Artikel zu schreiben und Vorträge zu halten. Ulrich Parzany hat mich eingeladen, beim Netzwerk Bibel und Bekenntnis mitzuwirken, was ich seither sehr gerne tue. Und seit etwas mehr als 1 Jahr mit ich mitverantwortlich für die Mediathek offen.bar.

Eine Lebensfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Ein großes Thema, das sich durch mein ganzes Glaubensleben zieht, ist die Frage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das liegt zum einen daran, dass ich eine sehr schmerzhafte Spaltung durchlitten habe. Da sind viele persönliche Freundschaften zu Bruch gegangen. Für mich und meine Frau war das ein echtes Trauma. Zum anderen habe ich aber vor allem in den letzten 10 Jahren auch viele Versöhnungsprozesse erleben dürfen. Insgesamt hatte ich lange Zeit den Eindruck: Die Einheit wächst! Ich habe früher oft gelitten unter dieser Spaltung zwischen charismatisch und pietistisch geprägten Christen. Nie werde ich vergessen, wie ich 1991 beim Gemeindekongress in Nürnberg dabei sein durfte, als Klaus Eickhoff und Friedrich Aschoff sich gegenseitig um Vergebung baten für alle Vorurteile, für alles gegenseitige Misstrauen. Ich habe buchstäblich geweint an diesem Abend vor Freude. Und ich habe in den Folgejahren erleben dürfen, dass dieser tiefe Graben tatsächlich immer mehr überwunden wurde.

Wachsende Risse im evangelikalen Umfeld

Nur leider hat sich dieser Einheitstrend nicht verfestigt. Ulrich Eggers hat vor einiger Zeit in AUFATMEN geschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“ Und ich denke, wir merken alle: Das stimmt! Und meine Wahrnehmung ist: Wir haben etwas verloren im evangelikalen Umfeld: Wir haben eine Selbstverständlichkeit verloren. Was meine ich damit?

Ein selbstverständlicher verbindender Glaubenskern

Im Jahr 1994 waren meine Frau und ich in Berlin beim Marsch für Jesus. Gemeinsam mit etwa 70.000 Christen sind wir singend und betend durch Berlin gezogen. Wir haben dort gemeinsam ein Bekenntnis gesprochen: „Ich nehme die Bibel an als das heilige und ewige Wort Gottes. Die ganze Schrift ist inspiriert durch den Heiligen Geist; sie ist Gottes verbindliche Offenbarung.“ Ich habe das damals als völlig normal empfunden. Dass man sich auf einer evangelikalen Großveranstaltung zur Autorität und zum Offenbarungscharakter der Bibel bekennt, das war für mich etwas Selbstverständliches. Und für mich war klar: In den allianzevangelikalen Kreisen sind wir zwar in vielen Dingen sehr verschieden. Aber wenn es um die Bibel und ihre zentralen Aussagen geht, da sind wir ganz selbstverständlich beieinander. Das verbindet uns miteinander über alle Unterschiede hinweg.

Jürgen Mette hat das in seinem Buch „Die Evangelikalen“ einmal so formuliert: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ Einfach ausgedrückt: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Das ist zwar keine Garantie für Einheit – das wissen wir alle. Aber jedenfalls wird Einheit möglich. Und der Aufbruch der Evangelikalen im letzten Jahrhundert hat gezeigt: Diese Einheit ist tatsächlich immer wieder in beeindruckender Weise gelungen, wenn ich da nur an die Lausanner Bewegung denke und an so viele übergemeindliche evangelikale Werke und Initiativen, die da gegründet aufgebaut worden sind.

Eine Grundlage für Einheit in Vielfalt: Konsens im Kern, Weite in Randfragen

Wie hat diese Einheit in Vielfalt funktioniert? Ich habe versucht, dieses Prinzip, das auch Jürgen Mette hier formuliert hat, einmal grafisch darzustellen. Die Kernaussage ist: Im Kern brauchen wir Konsens. Aber je randständiger die Themen sind, umso mehr Weite brauchen wir. Bei Paulus können wir das auch erkennen: Paulus war bei kulturellen Fragen enorm flexibel. Er hat geschrieben: Ich bin allen alles geworden, damit ich einige retten kann. Aber im Kern, wenn es ums Evangelium ging, da konnte der gleiche Paulus plötzlich enorm scharf werden. Da hat er sich nicht gescheut, sogar Petrus namentlich öffentlich anzugreifen. Den Galatern hat er geschrieben: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Welch harte Worte! Wenn es ums Evangelium ging, war Paulus absolut kompromisslos.

Bekenntnisse fassen den unaufgebbaren Kern unseres Glaubens in Worte

Die große Frage ist aber jetzt: Was ist denn das Evangelium? Was ist der Kern unseres Glaubens, an dem wir unbedingt festhalten müssen? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wie gut ist es da, dass wir dieses Rad nicht neu erfinden müssen! Denn diese Frage hat ja schon so viele Christen vor uns beschäftigt. Sie haben hart gearbeitet, intensiv die Bibel gelesen und hart miteinander gerungen, bis sie diese wundervollen Bekenntnisse formuliert hatten. Das waren keine langen Texte. Aber zu diesen wenigen Sätzen haben sie gesagt: Das sind Aussagen, die aus der Bibel vollkommen klar und eindeutig hervorgehen. Deshalb kann und darf es zu diesen Aussagen unter uns keine zwei Meinungen geben.

Dass wir solche Bekenntnisse brauchen, haben Christen schon immer gespürt. Wir finden sie schon in der Bibel selbst. Wir kennen alle diese wunderbaren altkirchlichen Bekenntnisse. Und bis heute werden immer wieder solche bekenntnisartigen Texte formuliert. Einer der wichtigsten Texte aus der Neuzeit ist für mich die Glaubensbasis der größten Einheitsbewegung unserer Zeit, der evangelischen Allianz. Und ich muss ehrlich sagen: Ich liebe diesen Text! Wenn ich das lese, dann sagt mein Herz: Ganz genau! Da wird wunderbar zusammengefasst, was mich bewegt und trägt. Und wo das geglaubt wird, da sind meine Brüder und Schwestern, egal aus welcher Kirche und welcher Prägung sie kommen. Da ist meine Familie. Da ist meine geistliche Heimat.

Nichtevangelikale Theologie zunehmend auch im evangelikalen Umfeld

Und gerade deshalb, weil mir diese Heimat und diese Einheit in Vielfalt so kostbar ist, deshalb treibt es mich auch so um, wenn ich sehe: Diese gemeinsame Glaubensgrundlage ist heute leider bei weitem nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es einmal war. Als ich mich vor 5 Jahren so intensiv mit Worthaus beschäftigt habe, da bin ich ja nicht so sehr über die Theologie erschrocken, die mir da begegnet ist. Ich bin evangelisch. Ich kenne diese Art von Theologie seit langem. Wir Evangelikale wollten aber immer ganz bewusst einen anderen theologischen Weg gehen. Deshalb ging ich damals fest davon aus: Ganz bestimmt werden evangelikale Leiter jetzt deutlich machen: Diese Art von Theologie passt nicht zu uns passt. Aber meine Beobachtung war eher: Viele Leiter schweigen. Oder sie machen einfach weiter damit, postevangelikale Formate und ihre Vertreter populär zu machen. Auch in Publikationen im evangelikalen Umfeld wird Werbung für Worthaus und dazu noch für viele andere nichtevangelikale Theologen wie z.B. Dorothee Sölle.

Mir begegnet das zum Beispiel in Büchern wie „glauben lieben hoffen“ oder in der Buchreihe „TheoLab“. Das sind ja nicht irgendwelche Bücher. Das sollen theologische Grundlagenwerke sein für die Jugendarbeit im freikirchlichen bzw. im landeskirchlich/pietistischen Umfeld. Diese Bücher sollen also unsere Jugend und damit unsere Zukunft theologisch prägen. Und meine Beobachtung ist: Das funktioniert! Diese Art von Theologie kommt an! Sie belegt oft Spitzenplätze bei den Klickzahlen im Internet. Sie ist attraktiv. Sie umgibt sich gern mit der Aura von Aufgeklärtheit, von Toleranz, von intellektueller Überlegenheit. Sie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und den Werten unserer Kultur. Sie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung. Kein Wunder, dass diese Art von Theologie meine evangelische Kirche schon längst im Sturm erobert hat. Und deshalb versetzt es mir immer einen Stich ins Herz, wenn ich sehe, wie auch unter uns Evangelikalen immer wieder so völlig unkritisch dafür Werbung gemacht wird. Denn diese Theologie hat nun einmal Konsequenzen. Was meine ich damit?

Der Verlust der verbindenden Gemeinsamkeiten

Im Jahr 2020 lag auf der Theke meiner christlichen Buchhandlung in Dutzendware ein Buch über Ostern auf dem Tisch. Ich kannte den Autor sehr gut, ich war selbst immer wieder persönlich mit ihm im Gespräch. Und in dem Buch fand ich den Satz: „Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“ Das klingt weitherzig und großzügig. Aber was ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist: Wir haben wieder etwas von dem verloren, was uns bisher ganz selbstverständlich miteinander verbunden hat. Unsere gemeinsame Basis ist wieder kleiner geworden. Und wisst ihr: Solche relativierende und subjektivierende Aussagen sind mir so oft begegnet in den letzten Jahren, nicht nur zur Jungfrauengeburt sondern zum Bibelverständnis. Zur Kreuzestheologie. Zur Auferstehung. Zur Wiederkunft Jesu. Also zu all den Themen, über die in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz so viel ausgesagt wird!

Es geht ans Eingemachte – und um weitreichende Konsequenzen

Thorsten Dietz hat in seinem Buch „Menschen mit Mission“ geschrieben: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Und ja, ich glaube: Das stimmt. Aber wenn das so ist, dann heißt das auch: Wenn nun selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert und subjektiviert werden, dann driften wir nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander. Nein, dann geht es wirklich ans Eingemachte. Dann geht es um den innersten Kern unseres Glaubens. Und ich bin überzeugt: Wenn wir diesen gemeinsamen Glaubenskern verlieren, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in unserer Mitte immer mehr Tendenzen sehen, die ich aus meiner evangelischen Kirche zur Genüge kenne: Wir haben keine gemeinsame Botschaft mehr. Wir haben keine Einheit mehr. Wir haben keine missionarische Dynamik mehr. Stattdessen verzetteln wir uns in politischen Botschaften, die die Spaltung nur noch mehr vorantreiben. Liebe Freunde: Das kann doch niemand von uns wollen!

Ein alternatives Narrativ zur Ursache der Spaltungstendenzen

In letzter Zeit habe ich oft ein anderes Narrativ gehört zu der Frage, warum es unter uns Evangelikalen wachsende Gräben gibt. Immer wieder habe ich gelesen, es gäbe da zwei Strömungen, die in Spannung zueinander stünden. Auch Thorsten Dietz spricht in seinem Buch von den sogenannten „Bekenntnis-Evangelikalen“ auf der einen Seite und den “Allianzevangelikalen” auf der anderen Seite. Und er sagt: Die Allianzevangelikalen, das sind die, die „stärker um Vermittlung und Dialog bemüht“ sind. Sie könnenunterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“ Und auf der anderen Seite nennt er auf der letzten Seite seines Buchs das Netzwerk Bibel und Bekenntnis. Und er sagt, dieses Netzwerk strebe an, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Und die Frage ist: Ist das so? Ist damit die Landkarte der Evangelikalen richtig beschrieben?

Worum es tatsächlich geht: Die verbindenden Glaubensschätze bewahren

Ich möchte es heute abend wagen, eine Gegenthese zu formulieren. Ich glaube: Wir Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Wir haben doch schon immer betont, dass wir an den zentralen Bekenntnissen festhalten wollen und müssen. Und deshalb tut es mir weh, wenn hier ein Widerspruch aufgebaut wird. Denn Christen wie mir geht ja gar nicht darum, in rechthaberischer Weise etwas durchzusetzen! Die Bekenntnisse muss man nicht durchsetzen. Die sind bekannt, die sind veröffentlicht, auf die muss man sich nicht mehr einigen. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen, sondern etwas zu bewahren. Etwas, das überaus wertvoll ist! Es geht um unsere verbindenden Glaubensschätze, die uns helfen, Einheit in Vielfalt ganz praktisch zu leben und gemeinsam missionarisch zu sein.

Wir Evangelikale wollten doch schon immer zweierlei: Wir wollen die Liebe zu Christus stärken! Denn das verbindende Zentrum unseres Glaubens ist nicht eine Lehre, sondern die Person Jesus Christus, darin sind wir uns einig. Aber gerade um dieser Christusmitte willen wollen wir zugleich auch festhalten an der Autorität der Bibel. Denn über diesen Jesus Christus, dem wir gemeinsam folgen wollen, über seine Lehre, sein Erlösungswerk, über das Evangelium wissen wir ja nichts außer das, was die Bibel uns sagt! Ohne die Autorität und die Klarheit der Schrift wird „Christus“ zur Hülse wird, die jeder subjektiv mit etwas anderem füllt. Aber eine Hülse kann uns nicht miteinander verbinden.

Was jetzt zu tun ist: Unsere Glaubensbasis verteidigen und zum Leuchten bringen

Und deshalb bin ich überzeugt, liebe Freunde: Wir haben eine große Aufgabe vor uns, die wir nur gemeinsam schaffen können. Wir müssen wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens. Wir müssen neu lernen, zu begründen, warum wir diese Glaubensbasis haben und warum sie für uns unaufgebbar wichtig ist. Und ja, ich glaube, dazu gehört eben auch, dass wir wieder lernen müssen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist nicht cool. Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft überhaupt nicht schick. Und trotzdem bin ich überzeugt: Es ist notwendig und im besten Sinne not-wendend.

Denn so viel ist doch klar: Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht schon die Apostel und die frühen Kirchenleiter Position bezogen hätten gegen die Häresien, wenn da zum Beispiel ein Marcion auftritt, wenn da Gnostiker auftreten, wenn da Ablasshandel betrieben wird und, und, und. Die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Und glauben wir denn wirklich, dass wir das ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten? Ich glaube: Doch, wir brauchen das. Gerade auch heute. Und deshalb ist meine Bitte: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu verteidigen. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Lasst uns gemeinsam unsere verbindenden Glaubensschätze hochhalten, zum Leuchten bringen und auch gegen Widerspruch verteidigen. Ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen und mit euch über dieses wichtige Thema ins Gespräch zu kommen.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 10: Wie kann angesichts wachsender Pluralität heute noch Einheit in Vielfalt gelingen?

Das Wort »evangelikal« verliert an Trennschärfe. (S. 449) Diese Beobachtung von Thorsten Dietz hat Konsequenzen im Gepäck. Ein Verlust an „Trennschärfe“ bedeutet ja immer auch ein Verlust an Profil. Damit wird zwangsläufig auch das gemeinsame, verbindende Anliegen unschärfer.

Dietz berichtet, dass es Billy Graham und John Stott noch in beeindruckender Weise gelungen war, das gemeinsame Anliegen deutlich zu machen und zugleich verbindend zu wirken: Graham konnte zuspitzen, ohne zu spalten. Stott konnte integrieren, ohne zu verwässern. (S. 79) Sehr verbindend wirkte auch die evangelischen Allianz: Die Evangelische Allianz war und ist im Ursprung kein Lager der völlig Gleichgesinnten, sondern eine ökumenische Bewegung, die unterschiedliche Gläubige mit gemeinsamen Anliegen, Zielen und Werten zusammenführen will. (S. 449) Das ist ohne Zweifel in den vergangenen Jahrzehnten in einem beeindruckenden Ausmaß gelungen. Die große Frage ist: Wie kann das angesichts wachsender Pluralität auch zukünftig gelingen?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Zur Strategie der Evangelischen Allianz schreibt Thorsten Dietz: Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat. (S. 40) Wer sich heute die Glaubensbasis der deutschen evangelischen Allianz durchliest, findet in der Tat nur wenige Sätze, die den verbindenden Kern knapp zusammenfassen: Der dreieinige Schöpfer. Der Mensch als Gottesebenbild, der als Mann und Frau geschaffen ist und eine unverwechselbare Würde hat. Der stellvertretende Opfertod Jesu für die Befreiung von Sünde und Freispruch im Gericht. Der auferweckte Jesus als einziger Weg zu Gott. Der Heilige Geist, durch den wir neu geboren werden, Gott erkennen und Dienstgaben empfangen. Die Gemeinde als Ort der Verkündigung des Evangeliums. Die sichtbare Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht. Die Bibel als geistinspirierte Offenbarungsurkunde und höchste Autorität.

Das heißt auch: Viele andere wichtige Fragen (z.B. zur Taufe oder zur „Ekklesiologie“) wurden um der Einheit willen ausgespart. Diese Mischung aus Klarheit im Kern und Weite in Randfragen ist ein Konzept, das von vielen Seiten befürwortet wird. So schreibt zum Beispiel Michael Diener in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“: Den evangelischen Landeskirchen … muss es ein Anliegen bleiben, das gemeinsam Identitätsstiftende so in den Mittelpunkt zu stellen, dass Unterschiede in einzelnen Sachfragen ausgehalten werden können.“ (S. 112) „Gerade weil die Grundsubstanz christlichen Glaubens, wie sie sich etwa in den altkirchlichen Bekenntnissen findet, uns vorgegeben ist, … gerade deshalb kann ich die Vielfalt annehmen und mich selbst als einen Teil davon verstehen.“ (S. 103) Ganz ähnlich formuliert auch Jürgen Mette in seinem 2019 erschienenen Buch „Die Evangelikalen“: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ (S. 107) Beide sagen also: Um Differenzen aushalten zu können, brauchen wir eine starke Übereinstimmung im Kern. Die „Grundsubstanz christlichen Glaubens“, wie sie z.B. in den altkirchlichen Bekenntnissen festgehalten wird, ist eine unverzichtbare Basis für vielfältige Einheit.

Diesen Aussagen kann ich nur rundum zustimmen. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Einheit der Kirche Jesu auf zwei Beinen steht: Wir brauchen zum einen eine authentisch gelebte Christusbeziehung, weil nur die Person Jesus Christus echte Herzenseinheit schafft. Eine dogmatische Übereinstimmung bei den zentralen Überzeugungen des christlichen Glaubens ist aber ebenso unverzichtbar. Entsprechend sind die ersten Bekenntnisse schon im Neuen Testament zu finden. Ganz offenkundig hat die junge Kirche von Beginn an gespürt: Wir müssen gemeinsam in Worte fassen, was wir glauben. Bekenntnisse hatten immer eine doppelte Funktion: Nach innen haben sie zur Vergewisserung des Glaubens beigetragen. Nach außen hatten sie eine abwehrende Funktion gegen falsche Lehren, die die Kirche unterwandern und spalten könnten. Deshalb waren Bekenntnisse zu den verbindlichen, gemeinsamen Kernüberzeugungen ohne Frage ein entscheidend wichtiger Beitrag zur einmaligen Erfolgsgeschichte der jungen christlichen Bewegung und zur Wahrung ihrer gemeinsamen Identität.

Es ist daher kein Wunder, dass die evangelische Kirche so viel an gemeinsamer Identität und Zusammenhalt verloren hat, da es ja gerade dort in Bezug auf die altkirchlichen Bekenntnisse schon lange keinen Konsens mehr gibt, im Gegenteil: Das Festhalten an der Jungfrauengeburt, an der leiblichen Auferstehung, an der Himmelfahrt oder an der sichtbaren Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht sind bestenfalls Minderheitspositionen an den kirchlichen theologischen Fakultäten.

Thorsten Dietz stellt sich auch die Frage, ob der Begriff „evangelikal“ verbindend wirken könnte: Evangelikal könnte ein Wort sein, das Menschen mit unterschiedlicher konfessioneller Identität verbindet. (S. 449) Die heutige Situation macht ihm allerdings diesbezüglich wenig Hoffnung: Wenn sich der nordamerikanische Trend verfestigt, dass „evangelikal“ überwiegend nicht mehr als religiöse, sondern primär als politische Kategorie verstanden wird, wäre das Konzept für weite Teile der Welt unbrauchbar. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das in Deutschland längst der Fall ist. Es wäre eine ungeheure Aufgabe für die Trägergruppen, die man einst als pietistisch, erwecklich, evangelikal etc. bezeichnet hat, wieder so etwas wie ein gemeinsames Identitätsgefühl auch auf den Begriff zu bringen. (S. 457/458) Wenn Thorsten Dietz recht hätte und der Begriff „evangelikal“ tatsächlich nachhaltig beschädigt wäre, dann hätte das laut dem Direktor der Internationalen Hochschule Liebenzell Volker Gäckle traurige Konsequenzen: »Wenn diese Selbstbezeichnung verschwindet, … dann gibt es nur noch Pietisten, Charismatiker, Freikirchler und konservative Protestanten, die aber nichts mehr verbindet und die sich folglich weiter atomisieren. Plötzlich wären wir alle wieder sehr klein und allein.« (S. 301) Sollten wir also darum kämpfen, dass der Begriff „evangelikal“ zukünftig wieder stärker verbindend wirken kann?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Es gibt meines Erachtens gute Gründe, anzunehmen, dass es noch nie der Begriff, sondern schon immer primär das gemeinsame Anliegen war, das die Evangelikalen verbunden hat. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, den Begriff „evangelikal“ ganz bewusst hochzuhalten aus den Gründen, die Volker Gäckle genannt hat. Aber es würde keinen Sinn machen, krampfhaft am gemeinsamen Etikett zu kleben, wenn das gemeinsame Anliegen erodiert.

Deshalb werde ich skeptisch, wenn Thorsten Dietz schreibt: Für die evangelikale Theologie der Gegenwart ist das eine Schlüsselfrage: Werden die Evangelikalen lernen, ihre geschichtlich gewachsene Vielfalt in theologischen Ansätzen zu akzeptieren? Oder wird sich die neuere Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit des gemeinsamen Bekennens in möglichst vielen Fragen durchsetzen? (S. 189)

Wir sind damit bei der zentralen Kernfrage angelangt, mit der diese Artikelserie eröffnet wurde und die Thorsten Dietz auch ganz ans Ende seines Buchs stellt: Finden wir Einheit vor allem durch die Akzeptanz von Vielfalt oder eher durch die Stärkung gemeinsamer Bekenntnisse? Diese entscheidende Kernfrage und Weichenstellung hat Thorsten Dietz ganz am Ende seines Buchs (S. 458/459) konkretisiert und personifiziert. Er schreibt:

  • Die Evangelikalen können sich entweder für den Kurs von Michael Diener entscheiden, den Dietz so beschreibt, dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen“.
  • Oder die Evangelikalen begeben sich auf den Kurs des „Netzwerks Bibel und Bekenntnis“, das laut Dietz darauf drängt, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Persönlich positioniert sich Thorsten Dietz so: Mein Herz schlägt für diejenigen, die lieber versöhnen, statt zu spalten. (S. 205) Wer mag ihm da nicht zustimmen? Jeder evangelikale Christ, der auch nur einigermaßen in der Tradition der Lausanner Bewegung steht und sich mit der evangelischen Allianz verbunden fühlt, wird diesen Satz von Herzen unterschreiben. Die große Frage ist nur: Welcher der beiden Wege bringt denn wirklich mehr versöhnte Einheit? Und welcher Weg führt am Ende zu mehr Spaltung?

Damit hängt auch die Frage zusammen: Hat Thorsten Dietz die finale Weggabelung auf seiner großen Landkarte richtig dargestellt? Hat er das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis richtig charakterisiert? Und geht es denn nur Michael Diener darum, dass wir Unterschiede zugunsten des missionarischen Zeugnisses aushalten sollen?

Klare Antwort: Nein. Und zwar aus drei Gründen:

Erstens will natürlich auch das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, dass Christen Differenzen aushalten, um den missionarischen Auftrag gemeinsam erfüllen zu können. Es ist ja ausgerechnet der Vollblutevangelist Ulrich Parzany, der das Netzwerks leitet und zugleich in den vergangenen Jahrzehnten wie niemand sonst Christen unterschiedlichster Couleur für gemeinsame Mission gewonnen hat. Ein Evangelist bemerkt ganz offenkundig zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn das Schriftvertrauen schwindet und Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.

Zweitens stehen Michael Diener und Thorsten Dietz ja keineswegs immer für das Ziel, „unterschiedliche moralische Überzeugungen auszuhalten“. Man kann die Anzahl an Publikationen, Podcasts und Vorträgen inzwischen kaum noch überschauen, in denen beide intensiv dafür kämpfen, dass sich auch konservative Evangelikale doch endlich für die Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Paare öffnen sollen. Auf der Homepage der Initiative „Coming-In“ schrieb Michael Diener: Es ist 20 nach 12, dass gerade konservative Kirchen und Gemeinschaften umkehren. Dafür setze ich mich ein – mit aller Kraft.” Das passt zu den Bußrufen, die (z.T. in Kombination mit beißender Polemik) bei Worthaus seit langem zu diesem Thema zu hören sind. Das beobachte ich generell: Wo in der Kirche nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen hoch bei ethischen und politischen Fragen. Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion.

Und drittens: Es geht bekenntnisorientierten Christen ja nicht darum, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und … durchsetzt. Das ist gar nicht nötig. Die evangelikalen Werke haben sich ja längst auf Bekenntnisse geeinigt, die man im Internet leicht nachlesen kann. Es geht bekenntnisorientierten Christen nicht darum, etwas durchsetzen. Es geht ihnen darum, etwas zu bewahren. Gerade weil die Allianz das gemeinsame Bekenntnis um der Einheit willen so knapp wie möglich formuliert hat, ist es ihnen umso wichtiger, an diesen wenigen, allerzentralsten Aussagen wirklich festzuhalten!

Bekenntnisorientierte Christen leiden also nicht so sehr an einer „Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit“. Gleich gar nicht sind sie getrieben von Angst, diese Eindeutigkeit zu verlieren, wie es ihnen fast mantraartig unterstellt wird. Es geht ihnen vielmehr darum, unserer vielfältigen Jesusbewegung die gemeinsame Basis, die gemeinsame Botschaft und das gemeinsame Anliegen zu erhalten. Deshalb arbeiten und beten sie dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann.

Es ist traurig, dass dieses zentrale Anliegen heutiger bekenntnisorientierter Christen in dem langen Buch von Thorsten Dietz im Grunde nirgends direkt thematisiert wird. An keiner Stelle wird darüber gesprochen, dass Aussagen des Apostolikums, des Nicäno-Konstantinopolitanums oder auch der Glaubensbasis der evangelischen Allianz auch mitten im allianz-evangelikalen Raum offen in Frage gestellt oder zumindest subjektiviert werden. Auch die Kernanliegen nach Bebbington wie z.B. die Notwendigkeit der Bekehrung werden vielfach öffentlich angezweifelt. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ und in meinem Blog habe ich diese Entwicklung anhand zahlreicher Beispiele beschrieben. Ich bin überzeugt: Die Frage, ob die Evangelikalen auch zukünftig Menschen mit Mission bleiben, wird sich gerade auch daran entscheiden, ob sie an ihren gemeinsamen Kernüberzeugungen festhalten, die dieses Wunder der Einheit in Vielfalt erst ermöglicht haben.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Welche zentralen, verbindenden Glaubensüberzeugungen sind uns unaufgebbar wichtig? Wollen wir uns neu verpflichten, diese Kernüberzeugungen, wie sie in den zentralen Bekenntnissen des Christentums oder in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz festgehalten werden, leidenschaftlich zu vertreten und im Bedarfsfall auch gegen Widerspruch zu verteidigen?

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit einem sehr persönlichen Fazit, 10 Fragen – und warum ich fest an die Zukunft der Evangelikalen glaube

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Dieser Artikel ist in etwas kürzerer Form zuerst erschienen in IDEA Spektrum Ausgabe Nr. 49.2020 vom 2.12.2020

Ich liebe Einheit in Vielfalt. Es begeistert mich, wenn Christen aus verschiedenen Kirchen, Generationen und Prägungen zusammen kommen, um gemeinsam Jesus zu feiern und ihren Glauben zu bezeugen. Jesus selbst hat intensiv für Einheit gebetet. Und er hat dabei deutlich gemacht: Die Glaubwürdigkeit unseres Christuszeugnisses hängt auch von unserer Einheit ab (Johannes 17, 23).

Deshalb habe ich mich immer sehr darüber gefreut, dass wir Evangelikale bei aller Vielfalt ein paar zentrale Glaubensüberzeugungen haben, die wir ganz selbstverständlich gemeinsam glauben, feiern und bekennen können. Dazu gehörten für mich zum Beispiel:

  • Der Glaube, dass Gott in der Geschichte übernatürlich eingreift und sich übernatürlich offenbart hat.
  • Der Glaube an die Leiblichkeit der Auferstehung und die Historizität des leeren Grabs.
  • Der Glaube an den Kreuzestod Jesu als ein stellvertretendes Opfer für die Vergebung unserer Sünden.
  • Das Vertrauen, dass die biblischen Texte Offenbarungscharakter haben.

Ohne es mir bewusst zu machen habe ich mich immer ganz selbstverständlich darauf verlassen, dass diese Punkte klar sind, wenn ich zum Christustag oder auf einen Willow-Kongress gehe, wenn ich einen Prediger einlade, der von einer KBA-Ausbildungsstätte kommt, wenn ich für ein evangelikales Missionswerk spende, wenn ich ein Buch des Hänssler-Verlags kaufe, wenn ich ERF höre oder wenn ich unsere Gemeindejugend auf ein Event des CVJM schicke. Diese Punkte waren selbstverständliche Ankerpunkte meiner evangelikalen Identität und Heimat. Und ich habe es immer als etwas höchst Verbindendes empfunden, zu wissen: Das bezeugen wir gemeinsam. Dafür können wir fröhlich unsere Differenzen zurückstellen, denn am wichtigsten ist doch, dass alle Welt von uns als große Gemeinschaft hört: Unser Gott ist kein ferner, kein schweigender Gott. Das Grab war leer. Jesus hat den Tod besiegt. Er ist am Kreuz stellvertretend für unsere Schuld gestorben. Und wir haben mit der Bibel ein verlässliches Zeugnis darüber, wer und wie Gott ist.

Der Verlust der gemeinsamen Kernüberzeugungen

In den letzten 3 Jahren musste ich im Rahmen meiner Beschäftigung mit Formaten wie Worthaus aber feststellen: Alle diese Kernüberzeugungen werden inzwischen auch mitten in der evangelikalen Welt lautstark inhaltlich in Frage gestellt, subjektiviert oder offen verneint. Ich schreibe bewusst „inhaltlich“, weil die Begrifflichkeiten ja oft noch beibehalten werden und man erst bei genauem Hinhören merkt, dass die Inhalte völlig anders sind. Und mit „subjektiviert“ meine ich: Vielleicht lässt man die evangelikale Position noch gelten, aber eben nicht mehr als gemeinsame Grundüberzeugung sondern nur noch als persönliche Glaubensoption, die jemand für sich persönlich haben kann, falls das für ihn hilfreich ist, die man doch aber bitte nicht zum Maßstab für Alle machen soll.

Auch im evangelikalen Umfeld sind somit ganz offenkundig die Zeiten vorbei, in denen Christen ganz selbstverständlich gemeinsame Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens geben konnten. Kein Wunder, dass christliche Leiter immer öfter die Frage stellen: Wie können wir dann noch beieinander bleiben? Wie kann angesichts der wachsenden Differenzen heute noch Einheit in Vielfalt gelingen? Auf welcher gemeinsamen Basis stehen zukünftig die evangelische Allianz und all die vielen evangelikalen Werke und Initiativen, die auf Einheit in Vielfalt existenziell angewiesen sind?

Wie umgehen mit dem verloren gegangenen Konsens?

Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Strategien für den Umgang mit einem verloren gegangenen Konsens: Man kann entweder versuchen, um den Konsens zu ringen und ihn wiederherzustellen. Oder man kann den verlorenen Konsens bewusst loslassen und stattdessen zu Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Standpunkten aufrufen. Je nachdem, welche Strategie man für richtig hält, wird man ganz unterschiedliche Menschen als Brückenbauer empfinden:

  • Anhänger der Konsensstrategie sehen Brückenbauer dort am Werk, wo um die Gültigkeit zentraler gemeinsamer Glaubenswahrheiten gerungen wird.
  • Anhänger der Toleranzstrategie werden hingegen gerade dieses Festhalten an gemeinsamen Glaubensüberzeugungen als einheitsgefährdend ansehen, weil das ja alle die ausschließt, die an diese Überzeugungen nicht (mehr) glauben können oder wollen. Stattdessen werden sie solche Menschen als Brückenbauer empfinden, die die Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten in Frage stellen (die also Glaubenswahrheiten subjektivieren), um damit Raum für sich widersprechende Positionen zu schaffen.

Meine Beobachtung ist: Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansätzen wird zunehmend scharf geschossen, auch mitten im evangelikalen Umfeld. Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen: Welche Sichtweise stimmt? Brauchen wir mehr Konsens? Oder mehr Toleranz? Und was verbindet uns noch, wenn wir keine gemeinsamen theologischen Positionen mehr formulieren können?

Die Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern eine Person

Anhänger der Toleranzstrategie antworten auf diese Frage oft in etwa wie folgt: Die verbindendende Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Seine grenzenlose Liebe und Annahme hilft uns, Enge und Rechthaberei zu überwinden, uns einander in aller Unterschiedlichkeit anzunehmen, uns gegenseitig unseren Glauben zu glauben und Raum zu geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse.

Ich halte diese Sichtweise im Prinzip für absolut richtig. Jesus selbst, die Wahrheit in Person, ist das Haupt der Gemeinde, das die Glieder miteinander verbindet (Epheser 4, 15-16). Echte Einheit lebt immer von der gemeinsam gelebten Christusbeziehung und von der erlebten Liebe, Gnade und Vergebung, die uns auch gnädig und barmherzig füreinander machen kann. Ein theologischer Buchstabenkonsens wird die verbindende Kraft einer gelebten Christusbeziehung niemals ersetzen können. Zudem bin ich der Meinung: Natürlich brauchen wir in Randfragen Weite für respektvolle, unverkrampfte Debatten. Christen werden niemals in allen Fragen einer Meinung sein. Für Einheit in Vielfalt dürfen und müssen wir deshalb unterschiedliche Positionen aushalten lernen. Und meine Erfahrung ist: Wo die Liebe zu Jesus im Mittelpunkt steht, da gelingt das in aller Regel auch.

Trotzdem müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die immer öfter und lauter formulierten Forderungen nach mehr Weite und Toleranz nicht geholfen haben, im Gegenteil: Der Riss, der oft mitten durch die evangelikal geprägten Werke und Gemeinschaften geht, scheint stetig tiefer zu werden. Woran liegt das?

Politische Polarisierung statt theologischem Streit

Zum einen stelle ich fest: Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue moralistische Trennmauern aufgerichtet. Wo es keine theologischen Häresien mehr gibt, da treten ethische und politische Häresien an ihre Stelle. Und da zeigt sich: Auch „liberale“ Positionen können äußerst intolerant, aggressiv und herablassend gegenüber anderen Standpunkten auftreten und spaltend wirken.

Wer und wie ist Christus eigentlich?

Das zweite, noch größere Problem ist aus meiner Sicht: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ subjektiv vollkommen unterschiedlich gefüllt werden kann. Denn die Fragen stellen sich ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der unsere verbindende Mitte sein soll? Was hat er gelehrt? Was hat er für uns getan? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wie können wir mit ihm in Verbindung treten? Unsere einzige Informationsquelle zu solchen Fragen ist die Bibel. Wenn die Bibel aber kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird alles subjektiv. Dann ist es letztlich unmöglich, auf solche Fragen gemeinsame Antworten finden zu können.

Ohne gemeinsame Antworten auf diese innersten Kernfragen des Glaubens haben wir als Kirche Jesu aber auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann gibt es letztlich nichts mehr, was wir trotz aller Unterschiedlichkeit ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und bezeugen können. Dann fällt die Kirche Jesu auseinander – wenn nicht im Streit um theologische Fragen, dann doch (was noch wesentlich schlimmer ist) in einem schleichenden Prozess der inneren Entfremdung. Hinzu kommt: Ohne gemeinsame Botschaft verliert die Kirche Jesu ihr Profil – und marginalisiert sich dadurch selbst. Denn wo alles gleich gültig ist, da wird am Ende alles gleichgültig. Und da kann es dann auch keine Einheit mehr geben.

Der Schatz der gemeinsamen Bekenntnisse

Deshalb bin ich überzeugt, dass Einheit in Vielfalt nur gelingen kann, wenn zur gelebten Christusmitte auch gemeinsam geteilte Glaubensüberzeugungen hinzukommen. Ganz offenkundig haben das auch die frühen Christen gespürt. Sie haben extrem viel Energie investiert, um auf Basis der biblischen Schriften gemeinsame Bekenntnisse zu formulieren. Das nicäno-konstantinopolitanische Bekenntnis gilt größtenteils bis heute in den protestantischen, in der katholischen, in der anglikanischen und sogar in den orthodoxen Kirchen als Glaubensgrundlage. Und ich frage mich: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn ausgerechnet wir Christen im Westen es heute nicht mehr für wichtig halten, ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist und ob er von einer Jungfrau geboren wurde oder nicht? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt ein gewaltiger Schatz, wenn alle Christen wenigstens diese wenigen Sätze ganz selbstverständlich gemeinsam glauben und bezeugen könnten?

Die missionarische Dynamik geht verloren

In meiner evangelischen Kirche fällt mir das besonders auf: Ohne gemeinsame Botschaft gibt es nichts mehr, wofür man sich gemeinsam engagieren und Opfer bringen möchte. Da verlieren wir die gemeinsame Leidenschaft, und damit auch die missionarische Dynamik.

Kaum jemand weiß das so gut wie Ulrich Parzany. Evangelisationen wie Pro Christ leben davon, dass unterschiedlichste christliche Gruppen ihre Differenzen zurückstellen und sich gemeinsam engagieren für dieses eine Evangelium. Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet ein Vollblutevangelist, der schon so viele verschiedene Christen zusammengeführt hat, sich heute so intensiv dafür einsetzt, dass wir unsere zentralen Bekenntnisse und Glaubensüberzeugungen bewahren. Ein Evangelist bemerkt nun einmal zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.

Grenzzieher werden ausgegrenzt

Auch den Schreibern des Neuen Testaments war es wichtig, den Menschen nicht nur das Evangelium vor Augen zu malen, sondern es auch deutlich gegen falsche Lehren abzugrenzen. Heute fällt mir jedoch auf: Wer als „Grenzzieher“ auftritt, weil er den Konsens in den Kernfragen des Glaubens verteidigen und bewahren möchte, wird eher gemieden und ausgegrenzt. Statt sachlicher Debatte steht schnell der Vorwurf der „Rechthaberei“ oder die Unterstellung von „Angst“ oder gar „Denkfeindlichkeit“ im Raum. Man weist auf (ohne Zweifel vorkommende) fragwürdige und lieblose Äußerungen hin. Aber man redet kaum über berechtigte Impulse, die von solchen Leuten kommen.

Kein Teamgeist ohne Toreschießen

Das finde traurig. Denn die Verteidigung der christlichen Kernüberzeugungen ist aus meiner Sicht ein unverzichtbarer Dienst an der Einheit der Christenheit. Kirche ohne theologische Grenzen wirkt auf mich wie ein Fußballteam, das nicht nur über Taktik und Aufstellung diskutieren will, sondern auch darüber, ob es überhaupt richtig ist, Tore schießen zu wollen. Das kann man ja machen. Man kann es sogar sympathisch finden, wenn alles offen zur Diskussion steht und wenn man der anderen Mannschaft nicht wehtun will. Aber es hat dann halt nichts mehr mit Fußball zu tun. Und wenn das Team dann absteigt und auseinanderfällt ist das nicht die Schuld derer, die an die Regeln erinnern und Tore schießen wollen.

Anders ausgedrückt: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht eben nicht nur der Konsens in Randfragen verloren, sondern auch der zentrale Grund, der uns überhaupt zusammen geführt hat. Da verlieren wir unser gemeinsames Ziel, unsere gemeinsame Leidenschaft und die Bereitschaft, uns trainieren zu lassen und miteinander für diese Leidenschaft Opfer zu bringen. Genau dieser Abwärtstrend ist heute in so vielen liberal geprägten Kirchen schmerzlich spürbar.

Große Brücken brauchen starke Pfeiler

Dabei geht es doch auch anders. Ich habe in den letzten Jahren viel Versöhnung unter Christen erlebt. Ich freue mich heute über freundschaftliche Verbindungen zu ganz unterschiedlich geprägten Christen mit verschiedenen theologischen Positionen in ganz unterschiedlichen Fragen. Fröhliche Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich! Sie wächst ganz offenkundig um eine gemeinsame Leidenschaft für einen starken, gemeinsamen Kern herum. Da wird “Kirche” lebendig. Da kommt sie in Bewegung. Wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum einen starken, fest gegründeten Pfeiler, der diese Brücken tragen kann. Diese verbindende Mitte kann nur Jesus Christus sein. Damit der Begriff „Christus“ aber nicht zur beliebig füllbaren Formel verkommt, brauchen wir die Autorität der Heiligen Schrift und das Festhalten an den Bekenntnissen. Sonst bricht dieser Pfeiler schnell zusammen.

Lassen Sie uns deshalb aus Liebe zur Kirche und zu den Menschen gemeinsam dafür beten und arbeiten, dass dieser gemeinsame, verbindende Kern nicht verloren geht sondern ganz neu wertgeschätzt, verteidigt und hochgehalten wird.

52 Die Einheit der Kirche braucht Vielfalt ohne Beliebigkeit!

Kolosser 3, 11: „Es kommt in diesem neuen Leben nicht darauf an, ob ihr Jude oder Grieche, beschnitten oder unbeschnitten seid, ob euer Volk zivilisiert oder primitiv ist, ob ihr versklavt oder frei seid, sondern es kommt in allem nur auf Christus an und darauf, dass er in uns allen lebt!“

Weltweit gibt es heute etwa 45.000 verschiedene Kirchen („Denominationen“), Tendenz weiter steigend. Da könnte man schon frustriert sein über die zersplitterte Christenheit. Schon Paulus hatte sich darüber beklagt, wie stark wir Christen zur Parteibildung neigen. Das scheint sich seither nicht gebessert zu haben.

Trotzdem ist diese Vielfalt zunächst einmal kein grundsätzliches Problem. Im Gegenteil: Die Welt ist so vielfältig, dass wir unbedingt vielfältige Organisationsformen und Prägungen brauchen, um die unterschiedlich geprägten Menschen mit dem Evangelium erreichen zu können. Einheit ist nicht Einheitlichkeit! Vielfalt ist ein Schatz, an dem wir uns freuen dürfen! Oft beginnt Einheit gerade dann, wenn wir einander loslassen und dafür freisetzen, andere Wege zu gehen und verschiedene Berufung auszuleben! Wir könnten auch innerhalb von Gemeinden viel Streit und Spaltung vermeiden, wenn wir Einheit und Vielfalt nicht als Gegensätze sondern als 2 zusammengehörende Seiten einer Medaille begreifen würden.

Auf Kirchentagen scheint man bei diesem Thema schon sehr weit zu sein. Was gibt es da nicht alles für bunte und vielfältige Gruppen! Sogar Vertreter anderer Religionen sind dabei. Und trotz aller Gegensätze feiern sie alle ein großes gemeinsames Fest. Ist das nicht toll? Aber es bleibt ein fahler Beigeschmack. Denn die krassen Gegensätze, die dort gleichzeitig vertreten werden, führen zwangsläufig zu der Frage: Wo bitte ist denn hier eigentlich noch die gemeinsame Basis???

Das zeigt das andere Extrem: Wenn nur noch von Vielfalt aber kaum noch von Wahrheit die Rede ist, dann gibt es vielleicht ein nettes Nebeneinander. Aber mit der Einheit, für die Jesus gebetet hat, hat das nichts zu tun! Die Bibel macht sehr deutlich, dass wir nicht kritiklos einfach alles umarmen sollen, was sich christlich gibt (1. Kor. 5, 11). Einheit darf niemals Beliebigkeit bedeuten!

In 2. Tim. 2, 22 ermahnt uns Paulus zur Einheit mit allen, „die mit aufrichtigen Herzen den Herrn anrufen.“ Und in Epheser 6, 24 wünscht er Gottes Gnade „allen, die Jesus lieb haben“. Die authentische Liebesbeziehung zu Jesus war für Paulus DAS zentrale Kriterium zur Frage, mit wem wir denn eigentlich alles Einheit suchen sollen. Raum für Vielfalt ist eine wichtige Grundlage für Einheit – aber Jesus muss überall die Mitte sein!

Der ganze Artikel zur 52. These: Umkämpfte Einheit (2): Scheinriesen, Einheitlichkeit und Beliebigkeit