4 zentrale Herausforderungen der evangelikalen Bewegung

Wegweisende Worte von Francis A. Schaeffer

Der bekannte christliche Denker Francis A. Schaeffer hat im Jahr 1974 zum ersten Lausanner Kongress einen Text verfasst, der bis heute in beeindruckender Weise aktuell ist und nach wie vor die zentralen Herausforderungen beschreibt, vor denen die evangelikale Bewegung mehr denn je steht. Der nachfolgende Artikel enthält eine Übersetzung zentraler Aussagen (Überschriften und Hervorhebungen sind nachträglich hinzugefügt). Der vollständige Text ist im englischen Original nachlesbar unter https://lausanne.org/best-of-lausanne/francis-schaeffer-and-the-whole-pie bzw. https://lausanne.org/content/form-and-freedom-in-the-church.

Es ist unverzichtbar, an den zentralen Lehren des Christentums festzuhalten!

Es hat keinen Sinn, darüber zu reden, wie wir der Bedrohung der kommenden Zeit begegnen oder unsere Berufung inmitten des letzten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts erfüllen können, wenn wir uns nicht gegenseitig bewusst helfen, eine klare Lehrmeinung zu vertreten. Wir müssen den Mut haben, keine Kompromisse mit der liberalen Theologie … einzugehen. … Es gibt eine Wahrheit und wir müssen an dieser Wahrheit festhalten. Es wird Grenzbereiche geben, in denen wir untereinander Differenzen haben, aber in den zentralen Fragen darf es keine Kompromisse geben. … Wir müssen den Mut haben, eine klare Position zu beziehen. …

Wir dürfen gewiss nicht jede unserer sekundären Unterscheidungsmerkmale nehmen und sie zu einem Punkt erheben, an dem wir uns weigern, auf irgendeiner Ebene Gemeinschaft mit denen zu haben, die sie nicht vertreten. Es sind die zentralen Dinge des Wortes Gottes, die das Christentum zum Christentum machen. An ihnen müssen wir beharrlich festhalten … Aus Loyalität zu dem unendlich persönlichen Gott, der da ist und der in der Heiligen Schrift gesprochen hat, und aus Mitgefühl für unsere eigenen jungen Menschen und andere, wagen wir als Evangelikale keine halben Sachen in Bezug auf die Wahrheit oder die Praxis der Wahrheit zu machen. …

Wir können über Methoden reden, wir können uns gegenseitig ermutigen, wir können uns zu allen möglichen Aktionen aufrufen, aber wenn das nicht auf einer starken christlichen Grundlage im Bereich der Inhalte und der Praxis der Wahrheit beruht, bauen wir auf Sand und tragen zur Verwirrung unserer Zeit bei.

Wir müssen in der Lage sein, gute Antworten zu geben auf intellektuelle Anfragen an das Christentum!

Es ist nicht geistlicher, zu glauben, ohne Fragen zu stellen. Es ist nicht biblischer. Es ist weniger biblisch und wird letztendlich weniger geistlich sein, weil nicht der ganze Mensch einbezogen wird. Deshalb müssen wir in unserer Evangelisation, in unserer persönlichen Arbeit, in unserer Jugendarbeit, in unserem Dienst, wo immer wir sind, diejenigen von uns, die Prediger sind und predigen, diejenigen von uns, die Lehrer sind und lehren, und diejenigen von uns, die Evangelisten sind, absolut entschlossen sein, nicht in die Falle zu gehen und zu sagen oder zu implizieren: “Stellt keine Fragen, glaubt einfach.” Es muss der ganze Mensch sein, der begreift, dass das Evangelium Wahrheit ist, und der glaubt, weil er durch gute und ausreichende Gründe überzeugt ist, dass es Wahrheit ist.Das Christentum verlangt von uns, dass wir genug Mitgefühl haben, um die Fragen unserer Generation zu lernen.

Fragen zu beantworten ist harte Arbeit. Können Sie alle Fragen beantworten? Nein, aber Sie müssen es versuchen. Fangen Sie an, mitfühlend zuzuhören, fragen Sie, was die Fragen dieses Mannes wirklich sind, und versuchen Sie zu antworten. Und wenn Sie die Antwort nicht wissen, versuchen Sie, irgendwohin zu gehen oder zu lesen und zu studieren, um Antworten zu finden.

Antworten sind keine Erlösung. Erlösung bedeutet, sich zu verneigen und Gott als Schöpfer und Christus als Erlöser anzunehmen. Ich muss mich zweimal beugen, um ein Christ zu werden. Ich muss mich beugen und anerkennen, dass ich nicht autonom bin. Ich bin ein vom Schöpfer geschaffenes Geschöpf. Und ich muss mich beugen und anerkennen, dass ich ein schuldiger Sünder bin, der das vollendete Werk Christi zu meiner Erlösung braucht. Und es muss ein Wirken des Heiligen Geistes geben. Ich spreche jedoch von unserer Verantwortung, genug Mitgefühl zu haben, um zu beten und die harte Arbeit zu tun, die notwendig ist, um die ehrlichen Fragen zu beantworten.

Es stimmt nicht, dass jede intellektuelle Frage eine moralische Ausflucht ist. Es gibt ehrliche intellektuelle Fragen, und jemand muss in der Lage sein, sie zu beantworten. Vielleicht kann nicht jeder in Ihrer Kirche oder Ihrem Jugendverband diese Fragen beantworten, aber die Kirche sollte Männer und Frauen ausbilden, die das können. Auch unsere theologischen Seminare sollten sich dieser Aufgabe widmen. Das ist ein Teil dessen, worum es bei der christlichen Erziehung gehen sollte.

Wir sind nur glaubwürdig, wenn wir die Wahrheit auch praktisch leben!

Da wir einen starken Lehrinhalt haben, müssen wir … die Wahrheit, die wir zu glauben behaupten, praktizieren. Wir müssen unseren eigenen Kindern und der Welt, die uns beobachtet, zeigen, dass wir die Wahrheit ernst nehmen. In einem relativistischen Zeitalter reicht es nicht aus, zu sagen, dass wir an die Wahrheit glauben, während wir zugleich diese Wahrheit nicht dort praktizieren, wo sie beobachtet werden kann und wo sie etwas kostet.

Als Christen sagen wir, dass wir glauben, dass die Wahrheit existiert. Wir sagen, wir haben die Wahrheit aus der Bibel. Und wir sagen, dass wir diese Wahrheit anderen Menschen in aussagekräftiger, verbalisierter Form geben können und dass sie diese Wahrheit haben können. Das ist genau das, was das Evangelium behauptet, und das ist es, was wir behaupten. Aber wir sind von einem relativistischen Zeitalter umgeben. Glauben Sie auch nur einen Augenblick, dass wir glaubwürdig sind, wenn wir sagen, wir glauben an die Wahrheit, aber die Wahrheit in religiösen Dingen nicht praktizieren? Wenn wir das nicht tun, können wir nicht einen Moment lang erwarten, dass die hartgesottenen jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich unserer eigenen jungen Leute, uns ernst nehmen, wenn wir sagen: “Hier ist die Wahrheit”, wenn sie von einem völlig monolithischen Konsens umgeben sind, dass es die Wahrheit nicht gibt.

Das Ziel des Christentums ist nicht die Wiederholung von bloßen Sätzen.  Ohne die richtigen Sätze kann man nicht das bekommen, was daraus resultieren sollte. Aber wenn wir die richtigen Sätze haben, dann ist das Ziel, Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Verstand zu lieben. … Eine tote, hässliche Orthodoxie ohne echte geistliche Realität muss als unchristlich abgelehnt werden. … Es gibt in der ganzen Welt nichts Hässlicheres und nichts, was die Menschen von sich weist, als eine tote Orthodoxie.

Unser Zeugnis muss durch die Schönheit unseres Umgangs miteinander bestätigt werden!

Wahres Christentum bringt sowohl Schönheit als auch Wahrheit hervor, vor allem in den spezifischen Bereichen der menschlichen Beziehungen. Lesen Sie das Neue Testament aufmerksam in diesem Sinne. Beachten Sie, wie oft Jesus auf dieses Thema zurückkommt, wie oft Paulus davon spricht. Wir sollen der Welt, die uns beobachtet, etwas zeigen, und zwar auf der Grundlage der menschlichen Beziehungen, die wir zu anderen Menschen haben, nicht nur zu anderen Christen. Wenn wir nun dazu aufgerufen sind, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben, auch wenn er kein Christ ist, wie viel mehr – zehntausendmal zehntausendmal mehr – sollte es Schönheit in den Beziehungen zwischen wahren bibelgläubigen Christen geben!

Wir müssen unsere Eigenheiten bewahren. Einige von uns sind Baptisten, einige von uns halten an der Kindertaufe fest, einige von uns sind Lutheraner und so weiter. Aber den wahren bibelgläubigen Christen über alle Grenzen hinweg und in allen Lagern möchte ich sagen: Wenn wir keine Schönheit in der Art und Weise zeigen, wie wir miteinander umgehen, dann zerstören wir in den Augen der Welt und in den Augen unserer eigenen Kinder die Wahrheit, die wir verkünden.

Jedes große Unternehmen, das eine riesige Anlage bauen will, errichtet zunächst eine Pilotanlage, um zu zeigen, dass sein Plan funktioniert. Jede Kirche, jede Mission, jede christliche Schule, jede christliche Gruppe, egal in welchem Bereich, sollte eine Pilotanlage sein, auf die die Welt schauen kann und dort eine Schönheit menschlicher Beziehungen sehen kann, die in deutlichem Kontrast zu der schrecklichen Hässlichkeit dessen steht, was moderne Menschen in ihrer Kunst malen, was sie mit ihren Skulpturen machen, was sie in ihren Filmen zeigen und wie sie einander behandeln.

Warum war die frühe Kirche in der Lage, sich innerhalb eines Jahrhunderts vom Indus bis nach Spanien auszubreiten? Stellen Sie sich das vor: ein Jahrhundert, Indien bis Spanien! Wenn wir in der Apostelgeschichte und in den Briefen lesen, finden wir eine Kirche, die beide Orthodoxien (Lehre und Gemeinschaft) hatte und praktizierte, und dies wurde von der Welt beobachtet. So empfahlen sie der damaligen Welt das Evangelium, und der Heilige Geist wurde nicht betrübt.

Es gibt eine Überlieferung (die nicht in der Bibel steht), dass die Welt über die Christen in der frühen Kirche sagte: “Seht, wie sie einander lieben”. Wenn wir die Apostelgeschichte und die Briefe lesen, erkennen wir, dass diese frühen Christen wirklich um eine praktizierende Gemeinschaft gerungen haben. Wir erkennen, dass eines der Kennzeichen der frühen Kirche eine echte Gemeinschaft war, eine Gemeinschaft, die bis hinunter zur gegenseitigen Fürsorge für die materiellen Bedürfnisse reichte.

Sind die Evangelikalen in der Krise?

„Heute sind diese postevangelikalen Bewegungen vor allem ein Indiz: Für die Krise der evangelikalen Bewegung insgesamt, zumindest in der westlichen Welt.“

So schreibt es Thorsten Dietz in einem Auftaktartikel für eine Serie über Postevangelikale[1]. Er ist nicht der Einzige, der die Evangelikalen in der Krise sieht. Immer häufiger höre ich Stimmen auch mitten aus dem evangelikalen Raum, die den Begriff „evangelikal“ grundsätzlich für belastet oder gar verbrannt halten. Wenn das stimmt, wären die Konsequenzen dramatisch. Denn der Begriff „evangelikal“ hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als äußerst segensreich erwiesen. Er hat einer Bewegung eine verbindende Identität gegeben, die ansonsten wenig Verbindendes hat. Es gibt in der evangelikalen Welt kaum übergreifende Leitungsorgane. Erst recht gibt es keine Autoritäts- und Machtstrukturen. Es gibt keine verbindlichen Lehrautoritäten. Verbindend wirkt eigentlich nur die gemeinsame Liebe zu Jesus, die Leidenschaft für die Verbreitung des Evangeliums und die Bibel als verbindliche Basis für ein gemeinsames Ringen um Wahrheit. Ansonsten ist diese Bewegung bunt, vielfältig, chaotisch und diskutierfreudig. Und trotzdem hatte sie ein so klares Profil, dass sie eine Fülle von Gemeinden, Werken, Ausbildungsstätten, Medien und Großveranstaltungen hervorbringen konnte. Thorsten Dietz meint sogar: „Keine religiöse Strömung war in den letzten 50 Jahren so einflussreich wie die evangelikale.“ Nicht nur in Deutschland ist sie z.B. über die Evangelische Allianz oder die Arbeitsgemeinschaft Evangelikaler Missionen hochaktiv und gut vernetzt. Durch die „World Evangelical Alliance“ ist sie innerhalb kürzester Zeit zu einer weltweiten Marke geworden. Auch ich habe mich immer sehr gerne mit dem Begriff „evangelikal“ identifiziert. In meinem idea-Streitgespräch mit Thorsten Dietz habe ich ganz bewusst bekannt: „Ich bin von Herzen evangelikal.“ Und ich bin überzeugt: Wenn wir uns davon distanzieren, verlieren wir sehr viel mehr als einen Begriff. Wir verlieren eine verbindende, einheitstiftende Marke, für die kein Ersatz am Horizont in Aussicht ist.

Grund genug also zu fragen: Sind die Evangelikalen wirklich in einer Krise? Oder wird hier nur eine Krise herbeigeredet und -geschrieben? Was genau sind die angeblichen Krisensymptome? Gibt es vielleicht wirklich gute Gründe dafür, warum wir uns von diesem Begriff verabschieden sollten, so wie es viele bereits tun?

Ich möchte mich diesen wichtigen Fragen anhand einiger Zitate aus dem eingangs erwähnten Artikel von Thorsten Dietz nähern:

Sind die Evangelikalen auf Sexualethik fokussiert?

“Weltweit ist vor allem die protestantische Christenheit seit Jahrzehnten von einer Welle der Spannungen und Spaltungen begleitet, häufig nicht aufgrund dogmatischer, sondern ethischer Differenzen in Fragen Gender und Sexualethik. Anscheinend ist Ethik die neue Dogmatik.”

Ich kann gar nicht mehr überblicken, wie oft ich diesen Vorwurf in den letzten Jahren gehört habe: Die Evangelikalen machen das Randthema Sexualethik zum Kern der Auseinandersetzung. Oder noch krasser ausgedrückt: Bei den Evangelikalen geht es dauernd um Sex. Dabei beobachte ich in meinem Umfeld genau das Gegenteil: Die meisten Evangelikalen meiden dieses Thema so gut sie nur können. Denn es geht hier ja gerade nicht nur um Lehrfragen sondern um Menschen mit einer persönlichen, oft hochproblematischen Geschichte. Im Feld der Sexualethik werden immer hochkomplexe, individuelle Einzelschicksale berührt. Die allermeisten Evangelikalen versuchen deshalb, über dieses Thema lieber nur im (seelsorgerlich) geschützten Rahmen zu sprechen.

Zumal sie mit öffentlichen Veranstaltungen zu diesem Thema extrem schlechte Erfahrungen gemacht haben. Beim Christival 2008 sollte es dazu einen Workshop geben, der aufgrund von massivem öffentlichem Druck abgesagt werden musste. Bei einer Tagung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis im Jahr 2019 rief Markus Hoffmann in einem seelsorgerlich tiefgründigen Vortrag zu einem differenzierten und empathischen Umgang mit Homosexualität und homosexuell empfindenden Menschen auf. Trotzdem kam es auch hier zu massiver Kritik, die sich nicht davor scheute, einzelne Aussagen buchstäblich ins Gegenteil zu verdrehen. Es ist also kein Wunder, dass Evangelikale bei diesem Thema insgesamt eher einsilbig sind. Trotzdem beklagte Thorsten Dietz jüngst im Podcast „Das Wort und das Fleisch“, das Netzwerk Bibel und Bekenntnis hätte keine Position zu diesem Thema. Mir vermittelt das den Eindruck: Man kann es nicht recht machen. Redet man darüber, ist man sexorientiert, rückständig und rücksichtslos. Redet man nicht darüber, hat man keine Meinung dazu.

Tatsache ist: Das Thema wird den Evangelikalen immer wieder aufgedrückt. Es vergeht kaum ein Interview, in dem evangelikale Vertreter nicht auf dieses Thema angesprochen werden. Aktuell ist es die Initiative „Coming-In“, die mit Unterstützung prominenter Vertreter wie Michael Diener, Martin Grabe, Tobias Künkler, Gofi Müller oder Jakob Jay Friedrichs lautstark fordert, dass evangelikale und konservative Kirchen und Gemeinschaften doch endlich „umkehren“ und gleichgeschlechtliche Paare genauso behandeln sollen wie heterosexuelle Paare. Man darf also schon zurecht fragen: Sind es wirklich die Konservativen, die dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung zerren? Oder ist es nicht viel eher unsere Gesellschaft, die bis in die Sprache hinein immer stärker um dieses Thema kreist?

Richtig ist: Wir Evangelikalen haben im Feld der Sexualethik noch viel aufzuholen. Wir sollten im geeigneten Rahmen und mit Unterstützung von Experten noch viel öfter über solche Fragen sprechen, um zu verhindern, dass im gemeindlichen Umfeld seltsame und teils destruktive Vorstellungen gepflegt werden. Und ich finde: Wir brauchen dieses Thema auch gar nicht zu scheuen, im Gegenteil: Wir haben allen Grund, uns selbstbewusst zur Schönheit und zum Segen der christlichen (Sexual-)Ethik zu stellen. Die biblische Betonung von Treue und Verbindlichkeit von Mann und Frau, der daraus entstehende Schutzraum der Familie, in dem Kinder gesund und beschützt aufwachsen können, die unveräußerliche Würde jedes menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tod: All das ist ein Pfund, zu dem wir fröhlich und selbstbewusst stehen können. Ich sehe in unserer immer kälter werdenden Gesellschaft, in der Sexualität immer stärker von Liebe und Treue entkoppelt wird, keine wirklich attraktive Alternative dazu. Das Feld der (Sexual-)Ethik ist deshalb ganz sicher kein Anlass, nicht mehr evangelikal sein zu wollen.

Haben sich die Evangelikalen politisiert?

„Die Identifikation vieler Evangelikaler mit populistischer Politik (in den USA, aber z.B. auch in Brasilien) bestimmt heute nicht selten die Wahrnehmung des Phänomens Evangelikalismus insgesamt. … Die evangelikale Bewegung ist Teil politischer und kultureller Polarisierungen in vielen Gesellschaften geworden.“

Dieser Tage bin ich über ein wirklich verstörendes Video gestolpert. Gezeigt werden amerikanische „Propheten“, die in großer Übereinstimmung vorhergesagt hatten, dass Trump eine zweite Amtszeit beschert werde und die sich äußerst schwer damit tun, jetzt mit dieser falschen Vorhersage umzugehen. Das wirkt streckenweise hochnotpeinlich. Man kann nur hoffen, dass die amerikanische Christenheit dieses Ereignis nutzt für gründliche Kurskorrekturen und für eine Reinigung von einem Show-Christentum, das außer starken Sprüchen nichts zu bieten hat.

Solche Korrektur- und Reinigungsprozesse sind jedoch nichts Neues. Machen wir uns nichts vor: Die Kirchengeschichte ist voller solcher Peinlichkeiten. Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn Christen meinten, sich für die Durchsetzung ihrer Positionen mit staatlicher Macht verbünden zu müssen. Die einstige unheilige Allianz zwischen der katholischen Kirche mit staatlichen Herrschern liefert dafür zahlreiche traurige Beispiele. Distanzieren wir uns deshalb heute von der katholischen Kirche?

Natürlich ist völlig richtig, dass sich die US-amerikanischen Evangelikalen aktuell durch die Ereignisse rund um Donald Trump in einer Krise befinden. Richtig ist auch, dass viele Medien die Evangelikalen weltweit gerne in einen Topf mit Trump- und Bolsonaro-begeisterten Christen stecken, weshalb die Ereignisse in den USA auch weltweit dem Ruf der Evangelikalen schaden. Aber wollen wir wirklich keine Evangelikalen mehr sein, weil Medienleute nicht trennen können (oder wollen) zwischen US-amerikanischen, kapitol-stürmenden, patriotischen, waffentragenden Christen einerseits und den weltweit äußerst vielfältigen, oft verfolgten evangelikalen Christen andererseits?

Natürlich stimmt es, dass Christen sich vielerorts äußerst unweise verhalten und sich völlig zu Recht Verachtung zugezogen haben. Auch evangelikale Christen haben sich von Populisten verführen lassen, so wie in der Zeit des Nationalsozialismus auch die Staatskirchen von den Nazis vereinnahmt wurden und so wie sich viele Protagonisten der 68iger-Bewegung von einem staatsterroristischen Populisten wie Mao Tse Tung verführen ließen und teilweise sogar selbst in den Terrorismus abgeglitten sind. Distanzieren sich heute die Linken deshalb von den 68igern? Meiden Sie diesen Begriff? Nein, ganz im Gegenteil: Sie sind trotz dieser schwerwiegenden Irrtümer und Entgleisungen stolz auf die positiven Errungenschaften, die sie insgesamt aus dieser Bewegung kommen sehen. Umso mehr werde auch ich mich nicht von meinen evangelikalen Geschwistern distanzieren, auch wenn sie sich teilweise unweise oder wirklich falsch verhalten. Lieber lasse ich mich mit ihnen „verhaften“ und bleibe trotzdem Teil dieser großen Familie, die Jesus in aller Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit gemeinsam folgt, so gut sie es eben kann.

Zumal es ja gerade die Evangelikalen sind, die dringend vor der wachsenden Politisierung der liberal geprägten Kirchen warnen. Es ist die große Mehrheit der Evangelikalen, die sich von politischer Positionierung ganz bewusst fernhält. Eine Nähe oder gar Affinität zum Populismus, die Thorsten Dietz im folgenden Zitat nahelegt, ist nun wirklich keine Spezialität evangelikaler Christen. Populismus gibt es links wie rechts. Sämtliche christliche Schattierungen sowie sämtliche Teile der Bevölkerung sind und bleiben anfällig dafür. Man muss nur einmal auf die Geschichte des evangelischen Kirchentags schauen. Also ist auch das ganz sicher kein Grund, kein Evangelikaler mehr sein zu wollen.

Leben die Evangelikalen von der Abgrenzung?

„Ist die Nähe zum Populismus ein Selbstmissverständnis frommer Menschen? Oder gibt es dazu eine innere Affinität? Könnte man gar von einem religiösen Populismus sprechen, bei dem sich ein Teil der Christenheit zuschreibt, die wahren Gläubigen zu vertreten und die Entfaltung des eigenen Glaubenszeugnisses sehr stark von der Abgrenzung gegenüber allerlei liberalen, ökumenischen und säkularen Irrwegen bestimmt ist? … Nicht wenige Jüngere, die in evangelikalen Gemeinden aufgewachsen sind, sind den evangelikalen Kulturkrieg gründlich leid.“

Beim Lesen des Buchs „Jesus – Eine Weltgeschichte“ von Markus Spieker stand mir jüngst buchstäblich der Mund offen. Mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, in welch krassem kulturellem Gegensatz sich die urchristliche Gemeinde zu ihrem Umfeld befunden hat. Das lag nicht nur an ihrer Weigerung, die damaligen Götter und Machthaber anzubeten. Das lag auch an den grundverschiedenen Werten, die sie gelebt haben: Kein Sex außerhalb der Ehe. Lebenslange Treue. Kein gleichgeschlechtlicher Sex. Keine Prostitution. Kein Aussetzen oder Töten von unerwünschten Kindern. Keine Unterdrückung oder Misshandlung von Frauen oder Sklaven. All das war damals so exotisch, dass es vom nichtchristlichen Umfeld als pure Provokation empfunden wurde. Das hat die damaligen Christen zwangsläufig in einen “Kulturkrieg” mit ihrer Umgebung gestürzt – ob sie das wollten oder nicht. Sie haben vielfach mit ihrem Leben dafür bezahlt. Sie haben damit aber die Wurzeln gelegt für viele der Errungenschaften, die uns heute selbstverständlich erscheinen – obwohl sie es längst nicht mehr sind.

Natürlich stimmt es, dass manche evangelikale Gruppen sich in einer ungesunden Weise in kulturelle Wagenburgen zurückgezogen haben. Natürlich stimmt es auch, dass es unter den Evangelikalen einige gibt, die ihre Identität primär aus der Abgrenzung gegenüber allerlei Irrlehren ziehen, weswegen ihr Glaube nicht mehr strahlt und ihre Leidenschaft für Jesus unter zunehmender Abgrenzeritis verschüttet wird. Aber solche Leute bleiben unter den Evangelikalen immer eine kleine Minderheit, weil man durch reine Abgrenzung niemand gewinnen und keine Gemeinden bauen kann.

Trotzdem gilt letztlich für alle Christen: Abgrenzung gehörte und gehört immer zum Christsein dazu. In einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen den christlichen Werten skeptisch oder gar feindlich gegenübersteht und die inzwischen sogar Abtreibung und Sterbehilfe als Menschenrecht bezeichnen will, da ist es gar nicht vermeidbar, dass es auch heute wieder zu Konflikten und Abgrenzungen kommen muss. Das ist für uns Christen im Westen noch etwas ungewohnt. Wir haben es jahrzehntelang genossen, dass unsere christlichen Werte Mainstream waren. Ich kann deshalb gut verstehen, dass es einigen Christen schwerfällt, in eine kulturelle Außenseitersituation zu geraten. Nicht jeder will das. Aber wir Christen sollten verstehen: Die letzten Jahrzehnte waren historisch gesehen eine extrem seltene Ausnahmesituation. Weltweit ist es auch heute der Normalfall, dass Christen angefeindete, teilweise sogar verfolgte Außenseiter sind. In der Geschäftswelt heißt es: If you can’t stand the heat, stay out of the kitchen! Auf unsere Situation übertragen bedeutet das: Wer die Auseinandersetzung mit der Kultur unserer Gesellschaft grundsätzlich vermeiden möchte, der sollte sich lieber noch einmal überlegen, ob er sich mit dieser christlichen Bewegung wirklich eins machen möchte oder nicht. Ich meine jedenfalls: Wir sollten lieber darüber nachdenken, wie wir die westliche Christenheit wieder fit machen für den Umgang mit Gegenwind und Verfolgung, statt uns von evangelikalen Geschwistern zu distanzieren, nur um der gesellschaftlichen Verachtung zu entgehen.

Haben die Evangelikalen kein Profil?

„Die am meisten verbreitete Definition von Evangelikalismus geht auf den britischen Historiker David Bebbington zurück. Sein sogenanntes Bebbington Quadrilateral benennt vier Identifikationsmerkmale: Erfahrung einer persönlichen Bekehrung bzw. Wiedergeburt. Konzentration auf Jesus Christus als gekreuzigten Herrn und Erlöser. Bibelfrömmigkeit und Orientierung an biblischer Lehre und Ethik. Aktive Bemühung um Weltgestaltung im Sinne von Mission und Diakonie. So hilfreich dieses Muster in kirchengeschichtlicher Hinsicht sein mag: Es ist alles andere als trennscharf.“

Die hier genannte Definition des Evangelikalismus ist sicher zutreffend. Richtig ist aber auch, dass diese Sätze heute nur noch wenig Erklärungskraft beinhalten. „Bibelfrömmigkeit“ nehmen auch liberale Theologen für sich in Anspruch. Auch unter Progressiven und Postevangelikalen ist von Bekehrung, Erlösung, Weltgestaltung sowie biblischer Lehre und Ethik die Rede. Jedoch werden diese Begriffe immer öfter völlig unterschiedlich gefüllt – auch mitten im evangelikalen Umfeld. Zudem verlieren auch Evangelikale immer öfter die Fähigkeit, die zentralen Heilstatsachen einfach und klar zu beschreiben, weshalb theologische Fragen oft nur noch unter Experten besprochen werden.

Wo aber die Definition des Begriffs „evangelikal“ nur noch mit Begriffshülsen und komplizierten Texten beschrieben werden kann und wo Laien theologisch entmündigt werden, da gerät die evangelikale Bewegung tatsächlich in die Krise. Denn sie lebt entscheidend davon, dass sie trotz aller kulturellen Vielfalt einige leicht zu verstehende zentrale Glaubensschätze teilt, die sie überall auf der Welt ganz selbstverständlich gemeinsam feiern und bezeugen kann: Die Heilige Schrift als das offenbarte und für alle Christen verbindliche Wort Gottes. Die Sündhaftigkeit des Menschen und die daraus folgende Trennung von Gott. Der Kreuzestod Jesu als stellvertretendes Strafleiden und als einziger Weg zum Heil. Die historische Realität von biblischen Wundern und die leibliche Auferstehung als Grundlage der Hoffnung auf ewiges Leben. Das Wesen Jesu Christi als ganzer Mensch und zugleich als präexistenter, von einer Jungfrau geborener Gott. Die erwartete Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht.

Was mich an der evangelikalen Bewegung immer wieder begeistert ist: Auch wenn schwäbisch-pietistische Jungenschaftler nach Haiti oder auf die Philippinen zum Arbeitseinsatz in dortige Gemeinden reisen oder wenn ich im Schwabenland auf südamerikanische Christen treffe, dann ist für alle Beteiligten ganz selbstverständlich klar: Diese Wahrheiten teilen wir! Und deshalb sind wir alle Teil einer großen Familie. Auch wenn wir ansonsten grundverschieden sind.

Wir sollten wieder evangelikaler werden, um krisenfest zu sein!

Mein Fazit ist: Viele der angeblichen Krisensymptome werden eher von außen an die evangelikale Bewegung herangetragen. Sie sind eher Nebelkerzen als echte Gründe für eine grundlegende evangelikale Identitätskrise. Wirklich bedrohlich wird es aber dann, wenn wir unsere gemeinsamen theologischen Kernüberzeugungen verlieren. Dieses Problem ist jedoch überhaupt nicht neu! Im Gegenteil: Damit hatten schon die Apostel zur Zeit des Neuen Testaments zu kämpfen. Schon immer bestand die sehr reale Gefahr, dass die Gemeinden durch unchristliche Einflüsse und falsche Lehren unterwandert und von innen ausgehöhlt werden.

Deshalb gibt es eine Sache, die wir dringend wieder von den Aposteln lernen sollten: Zur Verkündigung des Evangeliums gehört immer auch die „Apologetik“, also die Verteidigung des Glaubens gegen falsche Lehre und Angriffe von außen. Wir dürfen uns auch heute wieder trauen, falsche Lehre als solche offen anzusprechen. Wir dürfen lauter und klarer auf den oben genannten Kernwahrheiten bestehen und deutlicher sagen: Diese Kernwahrheiten zu verändern, aufzuweichen oder zu subjektivieren (das heißt: sie der persönlichen Beliebigkeit zu überlassen), ist nicht nur unevangelikal sondern wirklich unbiblisch. Diese apologetische Arbeit ist nicht immer angenehm. Aber sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer verantwortungsvollen christlichen Leiterschaft, um den Gläubigen und den christlichen Gemeinden Orientierung zu geben.

Noch wichtiger ist es aber, dass wir offensiv, leidenschaftlich, mutig und missionarisch das tun, was uns als Botschafter an Christi statt aufgetragen ist: Hingehen zu den Menschen. Taufen. Und sie mutig alles lehren, was uns von Jesus in der Bibel überliefert ist. Eine evangelikale Bewegung, die nicht mehr verwurzelt ist in der biblischen Lehre Jesu, kann nicht bestehen. Wir Evangelikalen waren immer eine Gebets- und eine Bibelbewegung. Das war und das bleibt die Grundlage unseres einzigartigen Erfolgs. Gerade jetzt, wenn uns der Gegenwind wieder stärker ins Gesicht bläst, dürfen und müssen wir deshalb wieder ganz bewusst evangelikaler werden.


[1] Thorsten Dietz: „Postevangelikalismus: Eine Hinführung“, 1.2.2021, Online unter: www.reflab.ch/postevangelikalismus-eine-hinfuehrung/

Siehe auch zu diesem Thema: