Wie bleiben wir Menschen mit Mission 4: Machen sich die Evangelikalen durch ihren Umgang mit der Wissenschaft unglaubwürdig?

Ein großes Problem am „Fundamentalismus“ ist für Thorsten Dietz: Wer sich auf diesen Weg einlässt, muss mit einer Fülle kognitiver Dissonanzen leben; oder entsprechend viel verdrängen und abblenden … Auf diesem Weg befindet man sich in einem permanenten geistigen Krieg – nach außen und vielleicht manchmal noch stärker nach innen. (S. 276) Diese drastische Diagnose stellt Thorsten Dietz vor allem in Bezug auf solche Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen und mit einer jungen Erde rechnen, die erst einige tausend Jahre alt ist: Der Kurzzeitkreationismus kann nur im Zusammenhang mit einer globalen Verschwörungserzählung vertreten werden. (S. 248)

Der Vorwurf eines falschen Umgangs mit der Wissenschaft wird von Dietz aber noch grundsätzlicher formuliert: Evangelikale wollten Theologie und Wissenschaft betreiben. Vielfach haben sie jedoch die Strukturen einer eigenen Wissenschaftswelt errichtet, die sich bis heute von den Standards allgemeiner Wissenschaftlichkeit abschottet. Das aber ist nicht Sinn und Wesen wissenschaftlicher Forschung. (S. 174) Wie konnte es dazu kommen? Dazu schreibt Thorsten Dietz: Die klassische Theologie konnte seit der frühen Christenheit stets so etwas wie ein allgemein anerkanntes Weltbild voraussetzen, in dem die Realität des Göttlichen als gegeben galt. Im 18. Jahrhundert galt eine solche Weltsicht als Metaphysik, die nicht mehr zu überzeugen vermochte. Durch den Wegfall einer allgemeingültigen Metaphysik veränderte sich das Ansehen der Religion. Im allgemeinen Bewusstsein galt sie nun als subjektiv und persönlich. Die moderne Theologie bemühte sich um eine Erneuerung ihres Denkens in Anerkennung dieses Endes der Metaphysik. (S. 176)

Die Konsequenz diese Bemühung war: Die Theologie hat sich einem naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriff gebeugt, wonach man in der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich nicht mit Ursachen rechnen darf, die jenseits des Natürlichen liegen. „Bibelkritik“ bedeutete fortan zumeist auch „Wunderkritik“. Das wunderkritische Paradigma hat weitreichende Konsequenzen:

  • Wundererzählungen können prinzipiell keinen historischen Charakter haben.
  • Den biblischen Autoren kann entgegen dem biblischen Selbstanspruch nur ein natürlich-menschlicher Horizont zugetraut werden.
  • Texte mit eingetroffenen Prophetien (z.B. Jesu Vorhersage der Zerstörung des Tempels) müssen zwangsläufig auf die Zeit nach Eintreffen der Prophetie datiert werden – mit allen Konsequenzen für die Frage nach Autor, Adressaten, Umfeld und Aussageabsicht der Texte und nicht zuletzt für die Glaubwürdigkeit der Bibel, die die Echtheit von Wundern, Vorhersagen und Offenbarung ja immer wieder behauptet.

Diesem Paradigmenwechsel in der Theologie sind die Evangelikalen nicht gefolgt. Haben sich die Evangelikalen damit von der seriösen Wissenschaft verabschiedet? Sollten sie ihren Wissenschaftsbegriff schleunigst korrigieren, um wieder glaubwürdig zu sein?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Thorsten Dietz schreibt: Die Naturwissenschaften sind auf Grundlage der christlichen Überzeugung entstanden, dass Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat, die von vernünftigen Wesen wie uns erkennbar sind. Wissenschaftsskepsis ist ein Bruch mit der Christentumsgeschichte. (S. 248) Tatsächlich geht die Bibel von einer strikten Trennung zwischen Schöpfung und Schöpfer aus. Sie warnt die Menschen immer wieder davor, in pantheistischer Weise Elemente der Natur als göttlich anzubeten. Gott wohnt nicht in den Bäumen und nicht in den Sternen. Deshalb ist die naturwissenschaftliche Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen bei der Erforschung unserer Welt absolut sinnvoll.

Richtig ist auch: Manche Evangelikale machen es sich im Umgang mit der Bibel zu leicht. So ist z.B. für das richtige Verständnis von Texten immer die Frage nach der Textgattung zu beachten. Die Frage, ob eine biblische Aussage historisch oder als Bildrede bzw. Metapher gemeint ist, ist zuweilen nicht leicht zu beantworten – und kann deshalb auch unter Evangelikalen zurecht kontrovers diskutiert werden. Gleiches gilt für die manchmal sehr komplexe Frage, inwieweit eine Aussage situations- und zeitbezogen gemeint ist oder ob sie zeitübergreifende Wahrheit vermitteln möchte.

Ganz wichtig ist dabei: Christen sollten sich niemals scheuen, sich ehrlich den wissenschaftlichen Fakten zu stellen. Genau das hat mich beeindruckt, als ich im Teenageralter erstmals die Studiengemeinschaft Wort und Wissen besucht habe. Ich fuhr auf das W+W-Schülerwochenende in der festen Annahme, dort Gesinnungsgenossen für den von mir neu entdeckten „Kreationismus“ zu finden. Umso überraschter war ich, als sich dort die Gesichter bei diesem Begriff eher verdunkelten. Mit einem populistisch geprägten Kreationismus, der vorschnell Dinosaurierspuren als Menschenspuren verkauft, wollte man hier nichts zu tun haben. Stattdessen sprach man lieber offen und ehrlich darüber, welche Fakten den eigenen Überzeugungen widersprechen. Gut so!

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Thorsten Dietz schreibt: Die Naturwissenschaften fragen nach dem Was und Wie unserer Welt. Theologie hingegen fragt nach dem Grund und Zweck unseres Daseins. … Gott ist kein Teil dieser Welt, sondern ihr Grund und ihr Ziel. (S. 268) Korrekt ist: Empirische Wissenschaft arbeitet mit Beobachtung und Experiment. Mit diesen Mitteln kann man das „Was“ und „Wie“ der Natur sehr gut erforschen. Wer mit diesen Mitteln jedoch auch Aussagen über das „Woher“ und „Wohin“ machen möchte und Gott zudem prinzipiell aus dem Weltlauf ausschließt, begeht eine Grenzüberschreitung. Empirische Naturwissenschaft kann prinzipiell nichts über singuläre Ereignisse in der Vergangenheit aussagen, da sie weder beobachtbar noch experimentell reproduzierbar sind. Sie kann deshalb unmöglich ausschließen, dass Gott gemäß dem biblischen Weltbild diese Welt erschuf und dass er punktuell immer wieder in das Weltgeschehen eingegriffen hat.

Seltsam ist: Thorsten Dietz spricht einerseits davon, dass Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat. Zugleich stellt er die Wirksamkeit eines intelligenten Designers in Frage mit den Worten: Die Zweckhaftigkeit einer Formation wird als Beweis bzw. Hinweis gedeutet für einen Zwecksetzer. Diese Frage nach möglichen Zwecken unterläuft freilich die zentrale naturwissenschaftliche Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis.” (S. 247) Also wie jetzt? War die Entstehung des Menschen das Ergebnis eines zweckhaft wirkenden Gottes? Oder war hier kein „Zwecksetzer“ im Spiel? Es erstaunt mich immer wieder, wie leichtfüßig der fundamentale Widerspruch zwischen der zielorientierten Wirksamkeit eines Schöpfers und den ziellosen materiellen Prozessen übergangen wird. Wie konnte denn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen, wenn zugleich bei der Entstehung des Menschen ausschließlich ziellose Ursache-Wirkungs-Ketten am Werk gewesen sein sollen?

Dietz schreibt weiter: “Insofern ist es eine wissenschaftstheoretische Diskussion, ob dieses Argument [dass Zweckhaftigkeit auf einen Zwecksetzer hindeutet] überhaupt in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen darf oder ob es sich um eine religionsphilosophische Betrachtung handelt. Solche Diskussionen können und müssen natürlich geführt werden; an ihrem Ort sind sie völlig legitim. Nicht selten wird dieses Argument allerdings gebraucht, um die Glaubwürdigkeit der Evolutionslehre insgesamt zu diskreditieren. (S. 247) Über die Frage, ob die feinabgestimmten Naturkonstanten, die extrem ausgeklügelten molekularen Maschinen und biologischen Baupläne, die codierte und zielgerichtet wirksame Information der DNA oder Phänomene wie Geist, Schönheit und Moral nicht zwingend auf die Wirksamkeit eines intelligenten Designers hinweisen, wird in der Tat vor allem in den USA intensiv diskutiert – und zwar bei weitem nicht nur in religiösen Kreisen! Die empirischen Hinweise, dass z.B. eine lebende Zelle unmöglich durch materielle Selbstorganisationsprozesse entstehen kann, sind mittlerweile überwältigend klar. Das nagt natürlich zwangsläufig auch an der Glaubwürdigkeit einer materialistisch gedachten Evolutionstheorie. Wer diese Diskussion nur auf eine philosophische Debatte begrenzen will, schränkt letztlich die freie Wissenschaft als offene Suche nach der besten Erklärung ein.

Angesichts der wissenschaftlichen Fortschritte haben Christen heute mehr denn je gute Gründe, am biblischen Weltbild festzuhalten und skeptisch zu sein gegenüber einem grenzüberschreitenden Wissenschaftsbegriff, der Gott auch in den Ursprungsfragen prinzipiell als Ursache ausschließen möchte. Diese Haltung hat nichts mit Verschwörungstheorien oder Wissenschaftsskepsis zu tun. Sie knüpft vielmehr an die Erfolgsgeschichte der Wissenschaftspioniere an, die nach Naturgesetzen suchten, weil sie fest an einen Gesetzgeber glaubten. Es wäre ein klarer Bruch mit der Christentumsgeschichte und mit dem biblischen Zeugnis, die Wirksamkeit Gottes auch in den Ursprungsfragen ausschließlich auf eine transzendente Sphäre zu beschränken und in der Bibelwissenschaft prinzipiell nie mit dem offenbarenden und wunderwirkenden Eingreifen Gottes zu rechnen.

Angesichts der desaströsen Folgen des wunderkritischen Paradigmas für Theologie und Kirche erschrecke ich, wenn Thorsten Dietz schreibt: In den meisten Werken der Konferenz der missionarischen Ausbildungsstätten“ gilt: „Ein fundamentaler Gegensatz zur Universitätstheologie wird nicht mehr behauptet. Man vertritt auch keine »theistische Evolution« … Aus heutiger theologischer Sicht ist es ein Kardinalfehler, Gott wie einen Faktor des Weltgeschehens verrechnen zu wollen. (S. 268) Wird demnach auch in freien Ausbildungsstätten zunehmend Wissenschaft im Rahmen eines wunderkritischen Paradigmas betrieben und vermittelt? Ist Gott dort kein Faktor des Weltgeschehens mehr? Dass dem in Teilen durchaus so sein könnte, wurde mir zuletzt deutlich bei der Lektüre des freikirchlich geprägten Buchs „glauben lieben hoffen“ über die Grundlagen des christlichen Glaubens. Auch hier wird die Wirkung eines Schöpfers vollständig auf eine transzendente Ebene verschoben: „Jedes Schöpfungs­werk lässt sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen.“ (S. 37) Das Leben auf der Erde ist ein „vermutlich einzigartiger kosmischer Glücksfall.“ (S. 42) Zugleich wird in diesem Buch vorhersehende Prophetie (und damit auch Christus im Alten Testament), die Jungfrauengeburt und das stellvertretende Sühneopfer in Frage gestellt oder offen abgelehnt. Wieder zeigt sich: Die Akzeptanz des wunderkritischen Paradigmas in der Ursprungsforschung und in der Bibelwissenschaft hat weitreichende Konsequenzen auch für die innersten Kernüberzeugungen des Christentums! Die Evangelikalen tun deshalb gut daran, ganz bewusst am biblischen Weltbild festzuhalten und auf dieser Basis Wissenschaft zu betreiben – ganz in der erfolgreichen Tradition der christlichen Wissenschaftspioniere.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie wollen wir als Evangelikale Wissenschaft betreiben? Wollen wir festhalten am biblischen Weltbild? Wollen wir weiter der biblischen Botschaft glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass er zuweilen Wunder tut und seinen Knechten sich selbst und die Zukunft offenbart?

Weiterführend:

Umfangreich erläutert habe ich das Thema in 2 Vorträgen in der Mediathek offen.bar:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.