Wir leben in einer historisch einmaligen Phase der Kirchengeschichte! Seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert war die Gestalt der Kirche durch ihre Verbindung mit dem Staat geprägt. Dadurch war im Grunde festgelegt, dass das ganze Volk zur Kirche gehört („Volkskirche“), dass ein als Baby getaufter Mensch lebenslang Kirchenmitglied bleibt und auch seine Kinder zu Kirchenmitgliedern macht. Entsprechend gehörten noch im Jahr 1970 fast 95 % der deutschen Bevölkerung zu einer der beiden großen Kirchen. 1990 waren es noch mehr als 70 %. In etwa 5 Jahren werden es vermutlich weniger als die Hälfte sein.
Der Grund für diese – historisch gesehen – Implosion der Kirchenmitgliederzahlen ist offenkundig: Die Moderne und schließlich die Postmoderne hat aus braven Kirchenschäfchen eigenwillige Individualisten gemacht. Die gesellschaftlichen Zwänge lösen sich auf. Plötzlich entscheiden die Menschen selbst, ob sie zur Kirche gehören wollen oder nicht – mit dramatischen Folgen: Die EKD-Studie „Engagement und Indifferenz“ stellte eine „Stabilität im Abbruch“ fest: Nur noch 22 % der jugendlichen Kirchenmitglieder fühlt sich mit der Kirche verbunden (S. 61). Die Kirche ist auf dem Weg zur „Seniorenkirche“ (S. 70).
Folgerichtig äußert Theologieprofessor Michael Herbst, dass es Zeit ist, sich vom Bild der Volkskirche, der weite Bevölkerungsteile angehören, zu verabschieden. Und die FAZ stellt fest, dass „der Mitgliederrückgang […] zu einem Entscheidungschristentum führen wird, in dem man seine Mitgliedschaft nicht mehr aus familiärer Tradition […] aufrechterhält. Man zahlt seine Kirchensteuer deshalb, weil man das Christentum bejaht“. Mit anderen Worten: Die Kirche ist unaufhaltsam auf dem Weg, wieder das zu werden, was sie ursprünglich war: Eine Freiwilligenkirche von entschiedenen Jesusnachfolgern.
Diese Entwicklung stellt die großen Kirchen vor eine gewaltige, ungewohnte Herausforderung: Während ihr Mitgliederbestand fast 1700 Jahre lang durch gesellschaftliche Zwänge gesichert war kann sie jetzt plötzlich nur noch überleben, wenn sie so attraktiv wird, dass die Menschen gerne und freiwillig zu ihr kommen!
Muss uns diese Entwicklung Angst einjagen? Keineswegs, sagt der katholische Religionssoziologe und Pastoraltheologe Paul M. Zulehner: Die Gestalt der Volkskirche sei zwar am Ende. Aber die Kirche befinde sich in keiner Krise, nur in einem „epochalen Umbau voller Chancen“. Sie wandelt sich von einer Institution zu einer „Jesusbewegung“ „vernetzter älterer und junger Leute, die dem Evangelium Platz machen in ihrem Leben.“ Ob sich diese Menschen in herkömmlichen Kirchengemeinden finden oder nicht sei zweitrangig. „Das wird vielfältige Formen annehmen, die wir heute noch nicht so genau kennen.“ Die Kirche Jesu wird also bunter – und trotzdem wird sie durch die gemeinsame Liebe zu Jesus mehr Einheit haben als je zuvor. Allerdings könne dieser Umbau nicht allein von Profis bewältigt werden: „Wir brauchen in der Kirche wieder entschiedene Christen, die sagen. „Wir sind Teil eines Anfangs!“ Die Zeit der Expertenkirche geht zu Ende. Jetzt beginnt die Zeit der Laien!“
Der anhaltende weltweite Boom des Christentums belegt: Diese uralte Botschaft, die seit 2000 Jahren zahllose Menschen für die Jesusnachfolge begeistert, hat tatsächlich auch heute noch nichts von ihrer Kraft und Attraktivität verloren! Wenn die Kirche ihre Wurzeln erneuert, aus denen sie zu allen Zeiten ihre besondere Kraft und Ausstrahlung bezogen hat, wenn sie sich auf diese alte Botschaft besinnt und die kulturellen Hürden konsequent abbaut, dann muss sie keine Angst vor der Entscheidungsfreiheit der Menschen haben – im Gegenteil. Wenn sie sich stattdessen aber nur an ihre früheren Machtstrukturen und die im Moment noch sprudelnden Kirchensteuern klammert, dann braucht sie sich um ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Dann hat sie keine.
Erneuerung ist daher für die großen Kirchen in Europa keine Option, für die sie sich entscheiden könnten oder auch nicht. Erneuerung ist erst recht kein Wunschtraum besonders frommer Christen. Erneuerung ist eine unausweichliche Notwendigkeit, den die großen Kirchen aktiv anpacken und gestalten müssen, wenn sie überleben wollen.
Wir leben also in einer extrem spannenden Phase der Kirchengeschichte. Heute und hier ist die Zeit der mutigen Pioniere, die ihre Bibel kennen, mit Jesus verbunden sind und ihr Leben geben, um mit ihm Geschichte zu schreiben. 500 Jahre nach der Reformation sind wir Augenzeugen einer neuen Reformation, die noch grundlegender und weitreichender sein wird als zur Zeit Martin Luthers. Um alles in der Welt will ich Teil dieser Geschichte sein!
Siehe auch: 95 neue Thesen für eine Reformation der Kirche