Grenzen der Einheit? Einheit ohne Grenzen?

Gedanken zu einem AUFATMEN-Gespräch zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl

Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das ist zweifellos eine Schlüsselfrage für die evangelikale Bewegung in Deutschland. In einer Serie von Artikeln haben Thorsten Dietz und Stephanus Schäl über diese Frage gesprochen.[1] Beide sind einflussreich im allianzevangelikalen Umfeld.[2] In welche Richtung denken sie? Kann man manches auch anders sehen? Gibt es fehlende Aspekte? Ein Beitrag zu einer Diskussion, die dringender denn je geführt werden muss.

Warum tun wir uns so schwer mit der Einheit, für die Jesus doch so intensiv gebetet hat? Zurecht weisen Schäl und Dietz darauf hin: Es sind allzuoft ganz menschliche Abgründe, die unsere Einheit untergraben. Wenn Machtstreben sich verbindet mit der Unfähigkeit, zwischen biblischer Aussage und eigener Bibelauslegung zu unterscheiden, dann kann Einheit nicht gelingen. Zudem betonen beide: Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus sei Einheit ja schon Realität. Wir gehören zur gleichen Familie, egal ob wir uns lieben oder streiten. Deshalb sollten wir doch miteinander statt übereinander reden, Vorurteile und „Lagerdenken“ vermeiden, vom Kampf- in den Dialogmodus wechseln und stets die Begrenztheit der eigenen Perspektive im Blick behalten. Wenig hilfreich sei es, zwischen „innen” und „außen” bzw. zwischen „uns” und „ihnen” zu unterscheiden. Wir sollten Einheit nicht zerreden, sondern sie lieber erfahrbar werden lassen im Einsatz für gemeinsame Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche.

Ein fehlender Aspekt: Zurückweisung von falscher Lehre

All das lässt sich biblisch gut begründen. Allerdings findet man im Neuen Testament einen weiteren Aspekt zum Thema Einheit, der in der Artikelserie fehlt: Die notwendige Zurückweisung falscher Lehre. In den 7 Sendschreiben der Offenbarung nimmt dieses Thema sogar den größten Raum ein. Einige Briefe im NT (insbesondere der Judasbrief) sind regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehre. Das „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15, 7) steht im Neuen Testament durchgängig auf dem Fundament der apostolischen Lehre als einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage:

„Ich bitte euch aber, Brüder, nehmt euch vor denen in Acht, die von der Lehre abweichen, wie ihr sie gelernt habt! Sie rufen nur Spaltungen hervor und bringen den Glauben der Geschwister in Gefahr. Geht ihnen aus dem Weg!“ (Römer 16, 17)

Falsche Lehre wird von Paulus also ausdrücklich als Spaltungsursache benannt. Auch deshalb findet er so harte Worte, wenn am Evangelium etwas verändert wird (Galater 1, 8+9). Und er scheut sich nicht, für die Verteidigung des Evangeliums auch übereinander zu reden (zum Beispiel über die Verfehlungen von Petrus in Galater 2, 11-14).

Biblische Offenbarung als Basis für starke Mitte?

Schäl schreibt deshalb zurecht:

„Christliche Einheit braucht … das Festhalten an der biblischen Offenbarung als zuverlässige Richtlinie für Lehre und Leben. Wo die Bibel nicht mehr norma normans, also normierende Norm für Glauben, Theologie und Ethik ist, verkommt die Einheit zur Beliebigkeit.“

Und Thorsten Dietz ergänzt: „Eine starke Mitte kann sehr, sehr viel Buntes und Verschiedenes aushalten.“ Die Frage ist nur: Wie soll die verbindende starke Mitte definiert und der Inhalt der „normierenden Norm“ festgestellt werden, wenn wir zwar „Festhalten an der Wahrheit der Bibel“, aber zugleich wissen, „dass unsere eigene Perspektive auf diese Wahrheit begrenzt, stückhaft und unvollständig ist“ (Stephanus Schäl)?

Schäl schlägt einen Minimalkonsens vor: „Wir gruppieren uns um Christus, so wie er uns in der Bibel beschrieben wird. Und: Ich glaube, Einheit ist wirklich nicht möglich, wenn wir in Zweifel ziehen, dass die Offenbarung Gottes Grundlage für unser ganzes Denken ist.“ Reicht der so formulierte Bezug auf Christus, Bibel und Offenbarung, um zu gemeinsamen, verbindenden Kernüberzeugungen zu gelangen?

Vertrauen in die Haltung statt in prüfbare theologische Aussagen

Leider zeigt das Gespräch von Dietz und Schäl, wie auch solche konservativ klingenden Formulierungen unterlaufen werden können. Dietz greift die Aussagen von Schäl zwar zustimmend auf. Er kommentiert jedoch zugleich:

„Gemeinsamkeit kann nur dort entstehen, wo man einander den Glauben glaubt. … Einheit ist möglich, wo wir einander zugestehen, dass die Bibel für uns die Grundlage des Glaubens ist, … Ja, es gibt erhebliche Unterschiede, wie wir die Bibel auslegen und verstehen. Welche Worte wir heute für die Dreieinigkeit Gottes finden, ob und wie wir von Gottes Offenbarung reden und wie wir sie ins Verhältnis setzen zur Vielfalt der Religionen heute“.

Zunächst fällt auf: Die oberste Priorität hat hier nicht die biblische Norm, sondern das Vertrauen in die Haltung des Anderen. Wir sollen einfach glauben, dass für unser Gegenüber die Bibel die Grundlage ist – unabhängig davon, wie er die Bibel versteht und auslegt. Und unabhängig davon, wie bzw. ob überhaupt (!) er von Gottes Offenbarung redet.

Offenbarung und Sexualethik: Spezialfragen ohne Bekenntnisrang?

Zugleich warnt Dietz davor, „alle möglichen Spezialfragen, wie ich die Offenbarung verstehe oder wie ich Sexualethik deute, zu Bekenntnisrang hochzupushen.“ Hier ist wohlgemerkt nicht vom Buch der Offenbarung die Rede, sondern allgemein vom Offenbarungshandeln Gottes. Dazu bekennt schon das Nicäno-Konstantinopolitanum: Wir glauben an den Heiligen Geist, der … gesprochen hat durch die Propheten“. Und die deutsche evangelische Allianz formuliert in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben.“ Zur Sexualethik stellt sie klar: Der Mensch … ist als Mann und Frau geschaffen.“ Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Hier muss man nichts mehr pushen. Aussagen zu diesen Themen haben schon längst Bekenntnisrang.[3]

In seinem Buch „Menschen mit Mission“ hatte Dietz formuliert: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Aber auch dieses maximal verknappte Bekenntnis kann in seinen Augen offenkundig keine Grundlage für eine gemeinsame starke Mitte sein. Im Gegenteil: Er warnt ausdrücklich davor, einige der dort formulierten Aussagen festzuschreiben.

Die Zusammenfassung der gemeinsamen Botschaft aller Christen, die Dietz in AUFATMEN dann selbst zu formulieren versucht[4], kommt tatsächlich ohne die Themen Sünde und Schuld, die Trennung des Menschen von Gott, Jesu Opfertod als alleinige Grundlage für Vergebung und den Freispruch in Gottes Gericht und auch ohne die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist aus – alles Themen, die die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis für unaufgebbar wichtig hält. Die Allianz bekennt sich zudem in aller Klarheit zur Zentralität des stellvertretenden Sühneopfers – Dietz hingegen hat es schon 2019 in einem Worthausvortrag weitgehend relativiert.[5]

Die evangelische Kirche ist nicht beliebig

Trotzdem wendet sich Dietz gegen den Verdacht der Beliebigkeit in kirchlichen Kreisen:

„Viele Dinge werden dort sehr ernst genommen. Es wird z.B. sehr intensiv darüber diskutiert, ob man überhaupt noch Fleisch anbietet in kirchlichen Tagungshäusern. Es wird über Tempolimit und Tierschutz und Frauenrechte und die Rechte von Transmenschen geredet. Ich kenne in den Landeskirchen keine Menschen, die sagen würden: „Ich finde Beliebigkeit super, soll doch jeder, wie er will.”

Diese Aussage kann ich nur bestätigen. Schon 2020 habe ich ganz ähnlich geschrieben: „Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen.“[6] Beliebigkeit gibt es zwar nicht in der Kirche. Aber die Themen, bei denen in der Kirche Entschiedenheit gefordert wird, haben nur wenig mit den zentralen Bekenntnissen der Christenheit zu tun. Und bei diesen Themen ist definitiv noch weniger Einheit unter Christen zu gewinnen als bei den zentralen Glaubensfragen.

Besonders deutlich wurde das in der Abschlusspredigt zum letzten evangelischen Kirchentag von Pastor Quinton Ceasar. Darin hatte er geäußert:

„Wir können nicht mehr warten. … Die Zeit ist jetzt, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff. … es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.“

Was für eine proklamative Botschaft! Von Dialogbereitschaft und Wissen um die Begrenztheit der eigenen Perspektive keine Spur. Trotzdem kommentiert Dietz in einer Kirchenzeitung hocherfreut: „Schön, dass der Kirchentag den Mut hatte, mit einer so herausfordernden Botschaft zu schließen!“[7] In einem Facebookpost schreibt er zudem: „Gott steht jenseits der Geschlechterdifferenz. Gott ist weder Mann noch Frau. Und zugleich sind Mann und Frau zu seinem Bilde geschaffen (Gen 1, 27). Genau das ist doch der Sinn von Queer, jenseits der binären Geschlechterlogik. Und genau darum ist es für queere Menschen so tröstlich, sich das vor Augen zu führen. Wenn sie zum Bilde Gottes geschaffen sind und Gott queer ist, dann ist Gott wirklich ein safe place, das Gegenteil von dem, was sie in vielen Kirchen erfahren haben. Das ist für viele reinstes Evangelium.“

Polarisierung statt Annäherung

Diese Begeisterung für die Abschlusspredigt des Kirchentags bringe ich nur schwer zusammen mit den Aussagen von Dietz in AUFATMEN, in denen er sich Annäherung wünscht:

„Lasst uns wenigstens nicht mehr kaputt machen. Wir sehen, wie schlimm es werden kann und können daraus lernen: In die Richtung wollen wir auf keinen Fall weiter. Es müsste wieder zurück an runde Tische.“

Ich möchte Dietz diesen Wunsch gerne glauben. Aber Tatsache ist aus meiner Sicht: Es gab in letzter Zeit wohl kaum eine Predigt wie die von Quinton Ceasar, die so viel Zusammenhalt kaputt gemacht und Polarisierung unter Christen vorangetrieben hat. Denn während Ceasar seine Positionen als moralisch alternativlos darstellt, ist für zahlreiche Christen klar: Die Gesetzesbrüche und die angstmachenden Botschaften der sogenannten „Letzten Generation“ sind inakzeptabel. Das von der EKD finanzierte Rettungsschiff „Sea watch 4“, das unter einer linksradikalen Flagge fährt, ist kein passender Ausdruck von christlicher Diakonie und Nächstenliebe. Und zum Thema „Gott ist queer“ schreibt der Vorsitzende der deutschen evangelischen Allianz Reinhardt Schink:

„Gott lässt sich von uns nicht in ein bestimmtes “Raster” pressen, um menschliche, zumeist ideologische, Interessen theologisch zu legitimieren. Es gibt in der Geschichte leider viel zu viele Beispiele davon: Gott als Judenfeind, Gott als Antikatholik, Gott als Nationalist („Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern), Gott als Kommunist oder Antikommunist, Gott als Kolonialist, Gott als weißer Mann, Gott als männlich, weiblich oder “queer”. Den heiligen Gott in so ein Raster pressen zu wollen, ist eine völlig unangemessene und häufig blasphemische Vorstellung. All dies ist Gott nicht. Vielmehr zieht sich durch die gesamte Bibel wie ein roter Faden das Bekenntnis: Gott ist heilig.“

Deutlicher könnten die Gegensätze kaum sein.

Einheit ohne Grenzen? Jedenfalls nicht beim Thema Sexualethik!

Führt die Offenheit von Dietz nicht zu einer grenzenlosen Ökumene? Dietz antwortet:

„Die Grenze ist da, wo Menschen unfähig sind, ihre Bibelauslegung von der Bibel selbst zu unterscheiden … und wo unterschiedliche ethische Erkenntnisse das Christusbekenntnis an Gewicht überbieten.“

Demnach scheint grenzenlose Einheit tatsächlich möglich zu sein. Denn natürlich wird kein einigermaßen reflektierter Christ behaupten, dass seine Bibelauslegung 1:1 mit der tatsächlichen Aussageabsicht der Bibel übereinstimmt. Und kein Christ wird ethische Fragen über das Christusbekenntnis stellen.

Bemerkenswerterweise ist es aber Thorsten Dietz selbst, der an anderer Stelle der These von der grenzenlosen Einheit widerspricht. In der live auf dem Kirchentag aufgenommenen Podcastfolge 24 von „Karte und Gebiet“ sagt Dietz: Innergemeindliche „Einheit in Vielfalt“ oder „versöhnte Verschiedenheit“ kann beim Thema „Ehe für alle“ unmöglich funktionieren. Denn das wäre ja „versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen“.[8] Dietz bestätigt damit, worauf viele Konservative seit langem hinweisen: Wo progressive Sexualethik in einer bislang konservativen Gemeinde Raum gewinnt, da gibt es auf Dauer nur 2 Möglichkeiten: Entweder setzt sich eine der beiden Positionen durch. Oder es muss irgendeine Form von Trennung geben. Grenzenlose Einheit ist gerade auch bei Progressiven unmöglich, wenn es um die Sexualethik geht.

Das wurde zuletzt auch deutlich in einem Gottesdienst der Gemeinde „UND Marburg“, die unter anderem geleitet wird von Tobias Faix, dem Podcastpartner von Thorsten Dietz. In der Predigt wurde die These vertreten: Die „Aufregung“ um die Predigt von Quinton Ceasar und seinen Satz „Gott ist queer“ zeige, wie viel „Queerfeindlichkeit“ es immer noch unter Christen gebe. Von Offenheit für andere Positionen auch hier keine Spur, stattdessen die Unterstellung niedriger Motive. Das hört sich für mich nicht so an, als ob man hier wieder runde Tische mit Konservativen sucht.

Tiefe theologische Gräben

Zugleich wurden die Gottesdienstbesucher von UND-Marburg aufgefordert, beim „Vater-Unser“ den Begriff „Vater“ durch eine beliebige andere Anrede zu ersetzen. Es ist schon bemerkenswert: Während es in progressiven Kreisen fast als Verbrechen gilt, die selbstgewählten Pronomen einer Person zu ignorieren, setzt man sich bei der Anrede Gottes großzügig darüber hinweg, wie Gott selbst angesprochen werden möchte: „Ihr sollt vielmehr so beten: Unser Vater…“ (Matth. 6, 9)

Hinzu kommt: Gott kann natürlich unmöglich „queer“ sein in dem Sinne, wie der Begriff im Allgemeinen verwendet wird. Denn anders als wir Menschen hat Gott kein biologisches Geschlecht, mit dem er sich in Spannung befinden könnte. Er hat auch kein wie auch immer geartetes sexuelles Begehren. Zugleich macht Jesus deutlich, dass Gott mit der „binären Geschlechterlogik“ offenbar keinerlei Probleme hat:

„Habt ihr nie gelesen”, erwiderte Jesus, “dass Gott die Menschen von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hat? Und dass er dann sagte: ‘Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden völlig eins sein.’? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Und was Gott so zusammengefügt hat, sollen Menschen nicht scheiden!”“ (Matthäus 19, 4-6)

Die Ehe von Mann und Frau ist für Jesus offenkundig eine Idee des Schöpfers – weshalb Scheidung für ihn normalerweise nicht in Frage kommen kann. Thorsten Dietz hingegen schreibt im Medienmagazin PRO: „Die Ehe ist keine christliche Idee. … Für Christen gilt: Der Wunsch nach Ordnung ist eng verknüpft mit Konservatismus. Zu dieser Ordnung gehört auch die Familie. Kurz gesagt: Je unruhiger die Welt, desto größer der Wunsch nach Erhalt und Ordnung. Die Ehe ist ein Ordnungsmittel. So erkläre ich mir den Hype darum.“[9] Der Ehe-„Hype“ des „Konservatismus“ ist also eine Folge von Ordnungssehnsucht? Auch diese Unterstellung niedriger Motive empfinde ich nicht gerade als Beitrag zum respektvollen Dialog. Und die Beispiele mögen zeigen: Hier werden theologische Wege eingeschlagen, die Evangelikale unmöglich mitgehen können – denn sie wären dann nicht mehr evangelikal.

Wie geht es weiter?

Wie werden wir wohl in 20 Jahren auf diese konfliktreiche Zeit zurückblicken? Schäl äußert dazu: „Ich glaube, wir schauen entspannter zurück, so wie wir jetzt auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, als die charismatische Bewegung aufkam. Heute schmunzelt man und ärgert sich ein bisschen.“ Sind also die Auseinandersetzungen unserer Zeit nur ein Sturm im Wasserglas, der sich mit der Zeit von selbst wieder legen wird?

Ich halte Schäl‘s Vergleich für fragwürdig. Denn genau wie Volker Gäckle (Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell) nehme auch ich wahr, dass die heutigen Konflikte viel zentralere Themen betreffen als der Streit um Charismen:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ [10]

Die Konflikte, die jetzt auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld aufbrechen, sind also im Kern die gleichen Konflikte, die im letzten Jahrhundert schon einmal im kirchlichen Umfeld aufbrachen. Im Zentrum standen damals wie heute die zentralen Fragen nach dem Schrift- und Offenbarungsverständnis, nach der Christologie und nach der Kreuzestheologie. Diese Konflikte haben sich nicht wieder beruhigt, im Gegenteil: Jahrzehnte später nutzt die EKD ihre noch verbliebene Macht mehr denn je, um Evangelikale von den Ausbildungsstätten und Leitungsgremien fernzuhalten.

Aus gutem Grund haben die evangelikalen Leiter im kirchlichen Umfeld damals gespürt: Wir müssen Parallelstrukturen bauen! So entstanden wunderbare evangelikale Verlage, Medien, Werke, Gemeinschaften und Großveranstaltungen, von denen auch ich sehr stark profitiert habe. Ich glaube nicht, dass diese evangelikalen Pioniere vom Lagerdenken getriebene Spalter waren. Denn sie hatten für ihre Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, handfeste Gründe:

Eine Theologie, die den Missionsauftrag entkernt

Mission und Evangelisation ist und bleibt das Herzensanliegen der Evangelikalen. Doch die Kirche fremdelt seit langem damit. Im Buch „Mission Zukunft“ fiel auch Michael Diener auf: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“Und Alexander Garth bemerkt: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ Die Gründe für diese Missionsphobie der EKD werden in diesem Buch überaus deutlich. So schreibt zum Beispiel der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ Gleich mehrfach wird ein Satz des Theologen Fulbert Steffensky zitiert:

„Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes. Mission heißt zeigen, was man liebt.“

War Paulus auf seinen Missionsreisen also „absichtslos“ unterwegs gewesen? Wollte er in erster Linie die Welt bereisen und anderen Menschen nur bei Gelegenheit von seinem schönen Lebenskonzept erzählen? Bernhard Meuser hält zurecht dagegen: „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ Diese auf dem Missionsbefehl basierende Perspektive ist in der EKD komplett verloren gegangen. Kein Wunder, dass evangelikale Pioniere auf Parallelstrukturen setzen mussten angesichts einer um sich greifenden Theologie, die mit Mission im biblischen Sinn vollständig inkompatibel ist.

Im Gespräch zwischen Schäl und Dietz könnte man hingegen den Eindruck bekommen: Die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche wäre so klar, dass man darüber die theologischen Differenzen zurückstellen könnte.[11] Das erlebe ich tatsächlich vollkommen anders. Ich kenne keine Definition des Evangeliums und des Sendungsauftrags der Kirche, die in meiner evangelischen Kirche konsensfähig wäre und zugleich von Evangelikalen mitgetragen werden könnte. Mir zeigt das: Wenn unsere Theologie nicht in der Lage ist, den Bekenntniskern des Christentums zu schützen, dann gehen auch die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung verloren. Dann hat die Kirche keine Zukunft. Oder bildlich gesprochen: Wer auf die Praxis fokussieren will, während zugleich die zentralen theologischen Grundlagen verschwimmen, der ist wie ein Kapitän, der sich auf dem sinkenden Boot aufs Fischen konzentriert, statt das Leck zu verschließen.

Bibel und Bekenntnis sind unverzichtbar für Einheit in Vielfalt

Für gelingende Einheit in Vielfalt und für eine starke missionarische Dynamik ist deshalb eine verbindende Bekenntnisgrundlage (wie das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum oder die Glaubensbasis der evangelischen Allianz) unverzichtbar. Dabei muss klar sein: Bekenntnisse bilden natürlich immer auch eine Grenze! Sie sorgen für ein „innen“ und „außen“ und für die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“.

Selbstverständlich sind Christen allen Menschen in Liebe zugewandt. Aber die Zugehörigkeit zur Einheit der Familie Gottes gilt nun einmal nur den Jüngern Jesu, die alles halten wollen, was Jesus uns geboten hat (Matthäus 28, 19). Die Lehre und Gebote Jesu finden wir ausschließlich in der Bibel. Es stimmt zwar, dass unser Verständnis der biblischen Aussagen manchmal undeutlich ist und Stückwerk bleibt. Aber in allen zentralen und heilsrelevanten Fragen sind die biblischen Aussagen doch so klar, dass Christen sie immer wieder in eindeutigen Bekenntnissen fassen und festschreiben konnten. Wenn aber selbst diese wenigen, allerzentralsten Bekenntnissätze in Frage gestellt werden, dann lässt das ganz offenkundig auf ein Bibelverständnis schließen, in dem die Bibel faktisch keine „normierende Norm“ mehr ist.

Die Geschichte der Christenheit zeigt: Die Bibel kann der Christenheit eine gemeinsame, verbindende Basis und eine starke Mitte geben, die uns hilft, viele randständige Differenzen fröhlich auszuhalten. Das gilt aber nur, wenn wir an dem Bibelverständnis festhalten, das die Bibel selbst bezeugt und das schon für die ersten Kirchenleiter galt: Die Bibel IST Offenbarung. Sie enthält oder bezeugt sie nicht nur. Hinter allen ihren Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Deshalb ist dieses Buch kein widersprüchliches und fehlerhaftes Durcheinander, sondern eine verlässliche und weithin verständliche Einheit. Wenn unser Schriftverständnis aber dazu führt, dass der Bekenntniskern verschwimmt, dann versandet auch die Einheit. Deshalb finden wir die orientierunggebende Zurückweisung falscher Lehre und das bekenntnishafte Benennen von Grenzen der Einheit nicht umsonst immer wieder im Neuen Testament. Beides ist unverzichtbar für ein gelingendes Miteinander und für eine starke, missionarische Kirche Jesu.

Mein Votum ist deshalb: Lasst uns beides wieder ganz neu schätzen lernen und praktizieren. Nicht aus Rechthaberei, Lagerdenken oder Machtstreben. Sondern aus Liebe zu den Menschen, zur Kirche Jesu und zu unserem Herrn, dem wir gemeinsam folgen.


Fußnoten:

[1] „Einheit oder Einheitlichkeit?“ In Aufatmen 2023, Ausgabe 2 (S. 52-58) und 3 (S. 44-47)

[2] Stephanus Schäl ist Dozent für Altes Testament an der Bibelschule Brake. Er ist stellvertretender Sprecher des Konvents der Evangelischen Allianz in Deutschland und Teil der EAD-Mitgliederversammlung. Prof. Dr. Thorsten Dietz lehrte bis 2022 als Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er unter anderem zuständig für die Erwachsenenbildung der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz. Medial präsent ist er vor allem durch seine Arbeit bei RefLab, als einer der Hauptreferenten der Mediathek Worthaus, beim Podcast „Karte und Gebiet“ (gemeinsam mit Tobias Faix) sowie durch diverse Bücher (zuletzt Menschen mit Mission, SCM R. Brockhaus 2022). Seit 2020 ist er Mitglied des Trägervereins des ERF.

[3] Zur Sexualethik wird zudem z.B. im Helvetischen Bekenntnis und im Westminster Bekenntnis einiges ausgesagt, siehe dazu der Artikel „Das reformierte Glaubensbekenntnis zur Ehe für alle“ im Blog Daniel Option.

[4] Wörtlich schreibt Dietz: „Alle Kirchen verbindet der Glaube: Wir haben etwas wirklich Gutes zu erzählen und zu feiern. Die Jesus-Geschichte des Neuen Testaments wurde für die ersten Nachfolgenden ein Brennpunkt, in dem die Befreiungsgeschichten Israels zusammenliefen. Und zugleich öffneten sie sich zu einer umfassenden Einladung an alle Menschen, in diesem Jesus das unbedingte Ja Gottes des Schöpfers zu finden. Diese Botschaft von der großen Bejahung ist bis heute die Gründungsgeschichte der Christenheit, die es in immer neuen kreativen Formen weiterzuerzählen gilt.“

[5] Der Worthausvortrag „Der Prozess – Warum ist Jesus gestroben?“ von Thorsten Dietz (10.6.2019, worthaus.org/mediathek/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/) wurde ausführlich zusammengefasst und kommentiert in: Markus Till: „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“, in „Glauben &Denken heute“, Ausgabe 1/2020, S. 25-31, PDF-Download unter: blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf  

[6] Im AiGG-Blogartikel „Wie gelingt Einheit in Vielfalt“, 12.12.2020, blog.aigg.de/?p=5332 

[7] In: „Ist Gott queer?“, 16.6.2023, www.meine-kirchenzeitung.de/c-aktuell/ist-gott-queer_a41301

[8] So sagt er im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Er schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“ , so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] In: „Theologe Thorsten Dietz: Die Ehe ist keine christliche Idee“, Christliches Medienmagazin PRO, 18.6.2023, www.pro-medienmagazin.de/theologe-thorsten-dietz-die-ehe-ist-keine-christliche-idee/

[10] Volker Gäckle: „Windstille, Wandel und Gottes Wirken“, in „Lebendige Gemeinde“ 4/2021, S. 14, online unter https://lebendige-gemeinde.de/wp-content/uploads/2021/12/LG_2021_04_ChristusBewegung.pdf

[11] So sagt Schäl u.a. zu Dietz: „Ich finde, du setzt da einen ganz wichtigen Akzent: „Für alle Kirchen und Verbände dürfte das die entscheidende Herausforderung sein: Einheit nicht zu zerreden, sondern im Einsatz für gemeinsame Ziele erfahrbar werden zu lassen. Zentrale Bedeutung hat die Besinnung auf die gemeinsame Sendung der Kirche.” Ich schreibe ja, dass wir vom Kampf zum Dialogmodus gehen müssen. Und du setzt noch einen drauf: Wir müssen zum Sendungsmodus kommen. Ich finde das Ringen, das eher theoretische Ringen wichtig, aber der Punkt ist ja nicht, dass wir uns in einem Diskurs auf Einheit einigen, sondern dass wir als Kirche Jesu das umsetzen, was wir leben sollen.“

Wie bleiben wir Menschen mit Mission? 10 Fragen – und ein persönliches Fazit

„Schon der griechische Philosoph Platon wusste, dass den Geschichtenerzählern die Welt gehört“, schreibt Markus Spieker in Übermorgenland. Thorsten Dietz ist ohne Zweifel ein Meister darin, historische Puzzlestücke zu einem Bild zusammenzufügen und daraus ein „Narrativ“, d.h. eine Geschichtsdeutung zu entwickeln. Einige dieser Bilder sind ihm m.E. gut gelungen. Sie können dazu beitragen, dass Menschen, die von außen auf die Evangelikalen schauen, ein sehr viel differenzierteres und positiveres Bild bekommen als die platt evangelikalenfeindlichen Bilder, die man immer wieder in den Medien findet. Dafür bin ich Thorsten Dietz dankbar. Andere Geschichten hingegen empfinde ich eher als misslungen. Schiefe Narrative können leider selbst wieder ein Grund für Polarisierung sein.

Bei der Frage, wie gelungen die Dietz’sche Landkarte eigentlich ist, war für mich am Ende eine Frage von besonderer Bedeutung: Wo verorte ich mich eigentlich selbst auf dieser Landkarte der Evangelikalen, die Thorsten Dietz gezeichnet hat? Die Antwort fällt mir nicht leicht. Ich habe starke Wurzeln im Pietismus, die mir sehr kostbar sind. Ich habe mich zugleich viele Jahre im charismatischen Umfeld bewegt und die „Lobpreisszene“ mit meinen Liedern mit beleben dürfen. Ich bin Landeskirchler und schätze unser evangelisches Erbe bis heute sehr. Ich habe aber auch eine freikirchliche Phase hinter mir und bin nach wie vor oft und gerne im freikirchlichen Bereich unterwegs. In den letzten Jahren habe ich mich stark im Umfeld bekenntnisorientierter Christen bewegt und dort viele kostbare Geschwister kennen gelernt. Zugleich bin ich ein leidenschaftlicher Allianz-Evangelikaler geblieben. Es hat mich schon immer begeistert, wenn Christen unterschiedlichster Prägung und Herkunft zusammenkommen, um Jesus gemeinsam anzubeten und dieses eine Evangelium zu bezeugen. Wenn ich den Text der Lausanner Verpflichtung von 1974 lese, geht mir das Herz auf. Da mein ältester Bruder und seine Frau seit vielen Jahren in der Mission tätig sind, hat mich dieser Fokus auf Mission durch Wort und Tat stark geprägt. Zugleich verstehe und teile ich die Sorge, dass die auf Bekehrung zielende Mission aus dem Fokus gerät, wenn sozialpolitische Themen immer mehr in den Vordergrund rücken. Ich teile eine eher pessimistische Sicht auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und bin überzeugt, dass vor allem der zunehmende Verlust des Leitbilds der traditionellen Familie bittere Konsequenzen haben wird. Zugleich bin ich aber auch sehr hoffnungsvoll und zuversichtlich in Bezug auf die weitere Entwicklung der Kirche Jesu. Gott hat immer wieder neue Aufbrüche geschenkt. Ich glaube, dass er das wieder tun kann.

Mir scheint: Mit dieser Merkmalskombination passe ich zu keiner Region auf der Dietz’schen Landkarte so richtig. In meinem Umfeld kenne ich viele Christen, die über sich ganz Ähnliches berichten könnten. Mein Eindruck ist deshalb, dass insbesondere dieser angebliche Gegensatz zwischen einheitsgesinnten Allianz-Evangelikalen und streitbaren „Bekenntnisevangelikalen“ so nicht existiert. Viele Christen sind der Tradition von Allianz und Lausanne völlig treu geblieben. Sie spüren aber zugleich, dass entscheidende Grundlagen dieser gesunden Mischung aus bibelorientierter Verkündigung und praktischer Nächstenliebe wegzubrechen drohen. Gerade aus Liebe zur Allianz und aufgrund ihrer Leidenschaft für Mission in Wort und Tat engagieren sie sich für die Bewahrung der gemeinsamen, verbindenden Glaubensgrundlagen.

Im Verlauf dieser Artikelserie habe ich 10 Fragen gestellt, über die wir uns dringend gemeinsam klar werden sollten. Ich möchte sie hier noch einmal etwas zugespitzt formulieren:

  1. Stehen wir weiter fröhlich zu den Kernmerkmalen, die uns als Evangelikale verbunden haben?
  2. Sehen wir weiterhin unser „Erfolgsgeheimnis“ darin, dass wir in erster Linie eine Bibel- und Gebetsbewegung sind?
  3. Halten wir daran fest, dass die Bibel nicht nur Menschenwort, sondern auch ganz offenbartes Wort Gottes ist?
  4. Betreiben wir Wissenschaft weiterhin bewusst auf der Basis eines biblischen Weltbilds, auch wenn uns das die eine oder andere akademische Türe verschließt?
  5. Wollen wir widersprechende Lehren integrieren oder sprechen wir es offen an, wenn eine Lehre zentralen biblischen Aussagen und Bekenntnissen widerspricht?
  6. Versuchen wir, unsere Gesellschaft durch Anpassung zu gewinnen oder durch die Kombination aus profilierter Eigenständigkeit und aufopferungsvoller Liebe?
  7. Wollen wir uns trotz politischer Differenzen um Jesus und das Evangelium sammeln und dabei eine respektvolle Debattenkultur vorleben?
  8. Wollen wir Mission und Evangelisation in Wort und Tat als zentralen Auftrag der Kirche Jesu im Fokus behalten?
  9. Lassen wir es zu, dass die neuen bekenntnisorientierten Sammlungsbewegungen die evangelikale Welt befruchten dürfen?
  10. Wollen wir Einheit durch immer mehr Pluralität gewinnen oder halten wir gerade um der Einheit willen an unseren zentralen Bekenntnissen fest?

Ich hoffe, dass sich die Gespräche über diese Fragen weiter intensivieren. Denn ich glaube tatsächlich: Wir Evangelikale stehen hier vor echten Weichenstellungen, deren Bedeutung wir kaum überschätzen können.

Das letzte Wort will ich aber Thorsten Dietz überlassen. Ein Zitat aus diesem Buch hat mich so ermutigt, dass ich damit diese Artikelserie gerne beschließen möchte. Ich werde dieses Zitat auch zukünftig gerne all denen vorhalten, die heute ein Ende der evangelikalen Bewegung prognostizieren, weil sie angeblich zu weltfremd, zu naiv und zu eng ist:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese. (S. 92)

Wie ermutigend! Eine Kirche, die auf Gott und sein Wort vertraut und sich von ihm zu den Menschen senden lässt, hat immer Zukunft!

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Diese Artikelserie kann hier auch als PDF heruntergeladen werden!

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 10: Wie kann angesichts wachsender Pluralität heute noch Einheit in Vielfalt gelingen?

Das Wort »evangelikal« verliert an Trennschärfe. (S. 449) Diese Beobachtung von Thorsten Dietz hat Konsequenzen im Gepäck. Ein Verlust an „Trennschärfe“ bedeutet ja immer auch ein Verlust an Profil. Damit wird zwangsläufig auch das gemeinsame, verbindende Anliegen unschärfer.

Dietz berichtet, dass es Billy Graham und John Stott noch in beeindruckender Weise gelungen war, das gemeinsame Anliegen deutlich zu machen und zugleich verbindend zu wirken: Graham konnte zuspitzen, ohne zu spalten. Stott konnte integrieren, ohne zu verwässern. (S. 79) Sehr verbindend wirkte auch die evangelischen Allianz: Die Evangelische Allianz war und ist im Ursprung kein Lager der völlig Gleichgesinnten, sondern eine ökumenische Bewegung, die unterschiedliche Gläubige mit gemeinsamen Anliegen, Zielen und Werten zusammenführen will. (S. 449) Das ist ohne Zweifel in den vergangenen Jahrzehnten in einem beeindruckenden Ausmaß gelungen. Die große Frage ist: Wie kann das angesichts wachsender Pluralität auch zukünftig gelingen?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Zur Strategie der Evangelischen Allianz schreibt Thorsten Dietz: Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat. (S. 40) Wer sich heute die Glaubensbasis der deutschen evangelischen Allianz durchliest, findet in der Tat nur wenige Sätze, die den verbindenden Kern knapp zusammenfassen: Der dreieinige Schöpfer. Der Mensch als Gottesebenbild, der als Mann und Frau geschaffen ist und eine unverwechselbare Würde hat. Der stellvertretende Opfertod Jesu für die Befreiung von Sünde und Freispruch im Gericht. Der auferweckte Jesus als einziger Weg zu Gott. Der Heilige Geist, durch den wir neu geboren werden, Gott erkennen und Dienstgaben empfangen. Die Gemeinde als Ort der Verkündigung des Evangeliums. Die sichtbare Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht. Die Bibel als geistinspirierte Offenbarungsurkunde und höchste Autorität.

Das heißt auch: Viele andere wichtige Fragen (z.B. zur Taufe oder zur „Ekklesiologie“) wurden um der Einheit willen ausgespart. Diese Mischung aus Klarheit im Kern und Weite in Randfragen ist ein Konzept, das von vielen Seiten befürwortet wird. So schreibt zum Beispiel Michael Diener in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“: Den evangelischen Landeskirchen … muss es ein Anliegen bleiben, das gemeinsam Identitätsstiftende so in den Mittelpunkt zu stellen, dass Unterschiede in einzelnen Sachfragen ausgehalten werden können.“ (S. 112) „Gerade weil die Grundsubstanz christlichen Glaubens, wie sie sich etwa in den altkirchlichen Bekenntnissen findet, uns vorgegeben ist, … gerade deshalb kann ich die Vielfalt annehmen und mich selbst als einen Teil davon verstehen.“ (S. 103) Ganz ähnlich formuliert auch Jürgen Mette in seinem 2019 erschienenen Buch „Die Evangelikalen“: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ (S. 107) Beide sagen also: Um Differenzen aushalten zu können, brauchen wir eine starke Übereinstimmung im Kern. Die „Grundsubstanz christlichen Glaubens“, wie sie z.B. in den altkirchlichen Bekenntnissen festgehalten wird, ist eine unverzichtbare Basis für vielfältige Einheit.

Diesen Aussagen kann ich nur rundum zustimmen. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Einheit der Kirche Jesu auf zwei Beinen steht: Wir brauchen zum einen eine authentisch gelebte Christusbeziehung, weil nur die Person Jesus Christus echte Herzenseinheit schafft. Eine dogmatische Übereinstimmung bei den zentralen Überzeugungen des christlichen Glaubens ist aber ebenso unverzichtbar. Entsprechend sind die ersten Bekenntnisse schon im Neuen Testament zu finden. Ganz offenkundig hat die junge Kirche von Beginn an gespürt: Wir müssen gemeinsam in Worte fassen, was wir glauben. Bekenntnisse hatten immer eine doppelte Funktion: Nach innen haben sie zur Vergewisserung des Glaubens beigetragen. Nach außen hatten sie eine abwehrende Funktion gegen falsche Lehren, die die Kirche unterwandern und spalten könnten. Deshalb waren Bekenntnisse zu den verbindlichen, gemeinsamen Kernüberzeugungen ohne Frage ein entscheidend wichtiger Beitrag zur einmaligen Erfolgsgeschichte der jungen christlichen Bewegung und zur Wahrung ihrer gemeinsamen Identität.

Es ist daher kein Wunder, dass die evangelische Kirche so viel an gemeinsamer Identität und Zusammenhalt verloren hat, da es ja gerade dort in Bezug auf die altkirchlichen Bekenntnisse schon lange keinen Konsens mehr gibt, im Gegenteil: Das Festhalten an der Jungfrauengeburt, an der leiblichen Auferstehung, an der Himmelfahrt oder an der sichtbaren Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht sind bestenfalls Minderheitspositionen an den kirchlichen theologischen Fakultäten.

Thorsten Dietz stellt sich auch die Frage, ob der Begriff „evangelikal“ verbindend wirken könnte: Evangelikal könnte ein Wort sein, das Menschen mit unterschiedlicher konfessioneller Identität verbindet. (S. 449) Die heutige Situation macht ihm allerdings diesbezüglich wenig Hoffnung: Wenn sich der nordamerikanische Trend verfestigt, dass „evangelikal“ überwiegend nicht mehr als religiöse, sondern primär als politische Kategorie verstanden wird, wäre das Konzept für weite Teile der Welt unbrauchbar. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das in Deutschland längst der Fall ist. Es wäre eine ungeheure Aufgabe für die Trägergruppen, die man einst als pietistisch, erwecklich, evangelikal etc. bezeichnet hat, wieder so etwas wie ein gemeinsames Identitätsgefühl auch auf den Begriff zu bringen. (S. 457/458) Wenn Thorsten Dietz recht hätte und der Begriff „evangelikal“ tatsächlich nachhaltig beschädigt wäre, dann hätte das laut dem Direktor der Internationalen Hochschule Liebenzell Volker Gäckle traurige Konsequenzen: »Wenn diese Selbstbezeichnung verschwindet, … dann gibt es nur noch Pietisten, Charismatiker, Freikirchler und konservative Protestanten, die aber nichts mehr verbindet und die sich folglich weiter atomisieren. Plötzlich wären wir alle wieder sehr klein und allein.« (S. 301) Sollten wir also darum kämpfen, dass der Begriff „evangelikal“ zukünftig wieder stärker verbindend wirken kann?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Es gibt meines Erachtens gute Gründe, anzunehmen, dass es noch nie der Begriff, sondern schon immer primär das gemeinsame Anliegen war, das die Evangelikalen verbunden hat. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, den Begriff „evangelikal“ ganz bewusst hochzuhalten aus den Gründen, die Volker Gäckle genannt hat. Aber es würde keinen Sinn machen, krampfhaft am gemeinsamen Etikett zu kleben, wenn das gemeinsame Anliegen erodiert.

Deshalb werde ich skeptisch, wenn Thorsten Dietz schreibt: Für die evangelikale Theologie der Gegenwart ist das eine Schlüsselfrage: Werden die Evangelikalen lernen, ihre geschichtlich gewachsene Vielfalt in theologischen Ansätzen zu akzeptieren? Oder wird sich die neuere Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit des gemeinsamen Bekennens in möglichst vielen Fragen durchsetzen? (S. 189)

Wir sind damit bei der zentralen Kernfrage angelangt, mit der diese Artikelserie eröffnet wurde und die Thorsten Dietz auch ganz ans Ende seines Buchs stellt: Finden wir Einheit vor allem durch die Akzeptanz von Vielfalt oder eher durch die Stärkung gemeinsamer Bekenntnisse? Diese entscheidende Kernfrage und Weichenstellung hat Thorsten Dietz ganz am Ende seines Buchs (S. 458/459) konkretisiert und personifiziert. Er schreibt:

  • Die Evangelikalen können sich entweder für den Kurs von Michael Diener entscheiden, den Dietz so beschreibt, dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen“.
  • Oder die Evangelikalen begeben sich auf den Kurs des „Netzwerks Bibel und Bekenntnis“, das laut Dietz darauf drängt, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Persönlich positioniert sich Thorsten Dietz so: Mein Herz schlägt für diejenigen, die lieber versöhnen, statt zu spalten. (S. 205) Wer mag ihm da nicht zustimmen? Jeder evangelikale Christ, der auch nur einigermaßen in der Tradition der Lausanner Bewegung steht und sich mit der evangelischen Allianz verbunden fühlt, wird diesen Satz von Herzen unterschreiben. Die große Frage ist nur: Welcher der beiden Wege bringt denn wirklich mehr versöhnte Einheit? Und welcher Weg führt am Ende zu mehr Spaltung?

Damit hängt auch die Frage zusammen: Hat Thorsten Dietz die finale Weggabelung auf seiner großen Landkarte richtig dargestellt? Hat er das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis richtig charakterisiert? Und geht es denn nur Michael Diener darum, dass wir Unterschiede zugunsten des missionarischen Zeugnisses aushalten sollen?

Klare Antwort: Nein. Und zwar aus drei Gründen:

Erstens will natürlich auch das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, dass Christen Differenzen aushalten, um den missionarischen Auftrag gemeinsam erfüllen zu können. Es ist ja ausgerechnet der Vollblutevangelist Ulrich Parzany, der das Netzwerks leitet und zugleich in den vergangenen Jahrzehnten wie niemand sonst Christen unterschiedlichster Couleur für gemeinsame Mission gewonnen hat. Ein Evangelist bemerkt ganz offenkundig zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn das Schriftvertrauen schwindet und Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.

Zweitens stehen Michael Diener und Thorsten Dietz ja keineswegs immer für das Ziel, „unterschiedliche moralische Überzeugungen auszuhalten“. Man kann die Anzahl an Publikationen, Podcasts und Vorträgen inzwischen kaum noch überschauen, in denen beide intensiv dafür kämpfen, dass sich auch konservative Evangelikale doch endlich für die Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Paare öffnen sollen. Auf der Homepage der Initiative „Coming-In“ schrieb Michael Diener: Es ist 20 nach 12, dass gerade konservative Kirchen und Gemeinschaften umkehren. Dafür setze ich mich ein – mit aller Kraft.” Das passt zu den Bußrufen, die (z.T. in Kombination mit beißender Polemik) bei Worthaus seit langem zu diesem Thema zu hören sind. Das beobachte ich generell: Wo in der Kirche nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen hoch bei ethischen und politischen Fragen. Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion.

Und drittens: Es geht bekenntnisorientierten Christen ja nicht darum, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und … durchsetzt. Das ist gar nicht nötig. Die evangelikalen Werke haben sich ja längst auf Bekenntnisse geeinigt, die man im Internet leicht nachlesen kann. Es geht bekenntnisorientierten Christen nicht darum, etwas durchsetzen. Es geht ihnen darum, etwas zu bewahren. Gerade weil die Allianz das gemeinsame Bekenntnis um der Einheit willen so knapp wie möglich formuliert hat, ist es ihnen umso wichtiger, an diesen wenigen, allerzentralsten Aussagen wirklich festzuhalten!

Bekenntnisorientierte Christen leiden also nicht so sehr an einer „Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit“. Gleich gar nicht sind sie getrieben von Angst, diese Eindeutigkeit zu verlieren, wie es ihnen fast mantraartig unterstellt wird. Es geht ihnen vielmehr darum, unserer vielfältigen Jesusbewegung die gemeinsame Basis, die gemeinsame Botschaft und das gemeinsame Anliegen zu erhalten. Deshalb arbeiten und beten sie dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann.

Es ist traurig, dass dieses zentrale Anliegen heutiger bekenntnisorientierter Christen in dem langen Buch von Thorsten Dietz im Grunde nirgends direkt thematisiert wird. An keiner Stelle wird darüber gesprochen, dass Aussagen des Apostolikums, des Nicäno-Konstantinopolitanums oder auch der Glaubensbasis der evangelischen Allianz auch mitten im allianz-evangelikalen Raum offen in Frage gestellt oder zumindest subjektiviert werden. Auch die Kernanliegen nach Bebbington wie z.B. die Notwendigkeit der Bekehrung werden vielfach öffentlich angezweifelt. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ und in meinem Blog habe ich diese Entwicklung anhand zahlreicher Beispiele beschrieben. Ich bin überzeugt: Die Frage, ob die Evangelikalen auch zukünftig Menschen mit Mission bleiben, wird sich gerade auch daran entscheiden, ob sie an ihren gemeinsamen Kernüberzeugungen festhalten, die dieses Wunder der Einheit in Vielfalt erst ermöglicht haben.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Welche zentralen, verbindenden Glaubensüberzeugungen sind uns unaufgebbar wichtig? Wollen wir uns neu verpflichten, diese Kernüberzeugungen, wie sie in den zentralen Bekenntnissen des Christentums oder in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz festgehalten werden, leidenschaftlich zu vertreten und im Bedarfsfall auch gegen Widerspruch zu verteidigen?

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit einem sehr persönlichen Fazit, 10 Fragen – und warum ich fest an die Zukunft der Evangelikalen glaube

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 9: Stehen „Bekenntnis-Evangelikale“ für eine Profilierung durch Abgrenzung?

Thorsten Dietz berichtet von inneren Spannungen der evangelikalen Bewegung in Deutschland … zwischen den auf Abgrenzung setzenden Bekenntnis-Evangelikalen und den stärker um Vermittlung und Dialog bemühten Allianz-Evangelikalen. Die bekennenden Evangelikalen definierten sich selbst in sehr starkem Gegensatz zur Entwicklung der evangelischen Landeskirchen. In ihrer Wahrnehmung wurde in den großen Kirchen das Zeugnis des Evangeliums zunehmend verdrängt von sozialer und diakonischer Tätigkeit. (S. 120)

In der Folge entstanden zahlreiche evangelikale Parallelstrukturen: Aufgrund ihrer apokalyptischen Weltwahrnehmung verfolgten die Bekenntnis-Evangelikalen in Deutschland auch keine grundsätzlich dialogoffene Linie wie die Lausanner Bewegung. Stattdessen setzten sie auf eine starke Verselbstständigung der eigenen Arbeitsbereiche in sogenannten Parallelstrukturen zu den etablierten kirchlichen Arbeitsbereichen. Die Entwicklung von Kirche und Gesellschaft erschien ihnen als unumkehrbar im Horizont eines endzeitlichen Gefälles. Daher verschwand auch jedes Interesse an Kooperation, Ausgleich oder Kompromiss mit den kirchlichen Gegnern. (S. 228)

Im 21. Jahrhundert sieht Dietz ähnliche Tendenzen auch im freikirchlichen Bereich: Insgesamt sind die miteinander verbundenen Bekenntnis-Initiativen im Raum der evangelikalen Bewegung heute nicht mehr primär gegen die Liberalisierung von Kirche und Gesellschaft gerichtet. Das wird vielmehr als nicht mehr zu ändernde Tatsache akzeptiert. Der Bekenntnisprotest der Gegenwart richtet sich gegen vermeintliche Tendenzen in freikirchlichen und pietistischen Werken. (S. 444)

Entsprechend bilden sich auch hier zunehmend Parallelstrukturen: »Freikirchlich« und »evangelikal« gehören vor allem in Deutschland längst nicht mehr zusammen. Sind die Freikirchen liberaler geworden? Ohne Frage haben viele die Entwicklungen der Gesamtgesellschaft mitvollzogen. Es sind vor allem konservative Gruppierungen, die diese Tendenzen als große Bedrohung empfinden. Paradoxerweise empfinden sie solche langjährigen Entwicklungstendenzen als spaltend, obwohl es in der Regel sie selbst sind, die Netzwerke, Organisationen oder Plattformen gründen, die die Abgrenzung von anderen Gruppierungen der gemeinsamen Gemeindewelt vorantreiben. (S. 443)

Ich habe mich beim Lesen dieser Absätze gefragt: Wurde denn das Zeugnis des Evangeliums in den Kirchen tatsächlich nur subjektiv in der Wahrnehmung bekenntnisorientierter Christen verdrängt? Schließlich berichtet ja auch Dietz von einer Selbstsäkularisierung der Kirchen, in der gewichtige Stimmen … ein Ende jeder auf Bekehrungen ausgerichteten Mission fordern (S. 72). War dann die Bildung evangelikaler Parallelstrukturen denn wirklich die Folge eines dialogzerstörenden, apokalyptischen Endzeitdenkens? Geht es neueren Bekenntnisgruppen wirklich nur um „vermeintliche Tendenzen“ in freikirchlichen und pietistischen Werken? Und sind die Gründer und Leiter von Bekenntnisgruppen denn wirklich verantwortlich für Spannungen und Spaltungen?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Dass es immer wieder Christen gab und gibt, die einseitig immer nur auf einen Abwehrkampf fokussiert sind und darüber zunehmend ihre Ausstrahlung und damit auch ihren Einfluss verlieren, ist ohne Zweifel richtig. Nach meiner Beobachtung ist es für Christen jeglicher Prägung eine ständige Versuchung, aus Ersatzidentitäten heraus zu agieren und sich primär aus der Abgrenzung zu definieren, statt von der Liebe Christi motiviert zu sein. Man kann zurecht fragen, ob nicht der Postevangelikalismus insgesamt seine Identität primär aus der Abgrenzung zum Evangelikalismus zieht.

Richtig ist auch, dass in den letzten hundert Jahren eine wachsende Kluft entstanden ist zwischen Evangelikalen einerseits und der universitären Theologie samt der von ihr geprägten Werke andererseits. In der Folge sind zahlreiche evangelikale Parallelstrukturen entstanden. Viele davon haben bis heute große Ausstrahlung und Einfluss. Es waren jedoch bei weitem nicht nur spezielle „Bekenntnis-Evangelikale“ sondern Evangelikale jeglicher Couleur, die Medien und Verlage ins Leben riefen, kirchentagsähnliche Großveranstaltungen veranstalteten, eigene Ausbildungsstätten und freie Gemeinden gründeten und auch innerhalb der Landeskirchen zunehmend selbständige, gemeindliche Strukturen entwickelten.

Aber was waren die Motive dieser evangelikalen Pioniere? Waren sie stur auf Abgrenzung aus? Thorsten Dietz schreibt: Evangelikale haben es in Deutschland mit einer großen Anzahl studierter Theologen zu tun, die zum großen Teil Evangelikale kaum kennen oder explizit ablehnen. (S. 63) Wer sich jedoch in den Veröffentlichungen universitärer Theologie auf die Suche nach einer Auseinandersetzung mit evangelikaler Theologie macht, wird so gut wie nichts finden. (S. 192) Vor allem die universitäre Theologie scheint das Phänomen komplett ignorieren zu wollen. Raedel spricht von einer regelrechten „Ekelschrank“, die jedes Ernstnehmen evangelikaler Ansätze zu verbieten scheint. (S. 199/200) Evangelikale wurden im letzten Jahrhundert also zunehmend damit konfrontiert, dass eine evangelikalendistanzierte oder sogar -feindliche universitäre Theologie sämtliche kirchliche Leiter prägen durfte.

Diese Theologie hat sich zudem vollständig von Fragen der persönlichen Frömmigkeit gelöst: In den historisch-protestantischen Kirchen kann man von einer fast abgeschlossenen Entwicklung sprechen, dass die wissenschaftliche Theologie und der Glaube der normalen Christen so gut wie keine Berührungspunkte mehr haben. Persönliche Frömmigkeit und universitäre Reflexion des Glaubens gehören zu völlig unterschiedlichen Sphären. (S. 201) Eine Theologie, die nichts mit dem persönlichen Glauben zu tun hat, ist für Evangelikale auch deshalb so schmerzhaft, weil sie überzeugt sind: Wenn die Worte des Predigers nicht das zum Ausdruck bringen, was er mit seiner Existenz verkörpert, wird sein Zeugnis keine Durchschlagkraft haben. (S. 436)

Es gab also gute Gründe, warum evangelikale Pioniere sagten: Solange eine Theologie die Kirche dominiert, mit der die Kirchen leergepredigt wurden und die unsere Anliegen ignoriert oder gar verächtlich macht, bleibt uns kein anderer Weg, als uns in Parallelstrukturen zu sammeln und eigene Orte zu schaffen für gegenseitige Ermutigung und für den (missionarischen) Dienst an Anderen. Sie haben diese Strukturen mit größtem Engagement weitgehend ohne den Geldsegen aus den üppig bestückten Kirchensteuertöpfen geschaffen. Ich bin ihnen dafür in höchstem Maße dankbar! Ich fände es empörend, die großartigen Pioniere dieser enorm segensreichen evangelikalen Parallelstrukturen als Spalter darzustellen.

Ein gewaltiges Problem ist für die Evangelikalen dabei immer gewesen, dass die Kirchen ausgerechnet im entscheidenden Zukunftsfeld der Pfarrerausbildung sämtliche Bemühungen um Anerkennung alternativer Strukturen mit aller Härte blockiert haben. Das ist bis heute so – trotz Pfarrermangel und trotz der zunehmenden Akademisierung freier Ausbildungsstätten. Dass so viele Evangelikale trotz dieses fest zementierten Machtmonopols in der Landeskirche geblieben sind, beweist gerade ihren enormen Einheitswillen.

Angesichts der zentralen Zukunftsbedeutung der Ausbildungsstätten ist es keine Randnotiz, wenn Thorsten Dietz schildert, dass einige freie Ausbildungsstätten sich zunehmend der universitären Theologie annähern: Faktisch aber gibt es inzwischen zunehmend Spannungen zwischen Ansätzen, die für einen produktiven Austausch mit der wissenschaftlichen Theologie offen sind, und solchen Positionen, die sich als radikaler Gegenentwurf zu allen Erscheinungen der Universitätstheologie verstehen. (S. 201) In den meisten Werken der Konferenz der missionarischen Ausbildungsstätten“ gilt: Ein fundamentaler Gegensatz zur Universitätstheologie wird nicht mehr behauptet. (S. 268)

Angesichts der Schlüsselrolle, die die theologische Entwicklung an den Ausbildungsstätten zur Entwicklung in den Landeskirchen gespielt hat, muss man Thorsten Dietz zustimmen, wenn er schreibt: Für die Entwicklung der Evangelikalen in Deutschland ist es eine Schlüsselfrage, ob und wie sich der Umgang mit der Theologie weiterentwickeln wird. (S. 203) Ja, es stimmt ohne Zweifel: Die theologische Entwicklung in den freien Ausbildungsstätten, in den evangelikalen Verlagen und Medien sowie in den Gremien der evangelikalen Werke und Verbände muss die Evangelikalen unbedingt interessieren! Theologische Verschiebungen kann man eine Zeit lang ignorieren oder marginalisieren. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie durchschlagen auf die praktische Gemeindearbeit. Exemplarisch deutlich wurde das im letzten Jahr durch Aussagen im Buch „glauben lieben hoffen“ (einer Handreichung für die freikirchliche Jugendarbeit), die letztlich den Kern des Evangeliums umdeuteten. Das zeigt erneut: Theologie ist wichtig! Wer Debatten um theologische Fragen pauschal als spalterische Rechthaberei abtut und fordert, dass die Evangelikalen sich doch lieber auf Evangelisation und Nächstenliebe konzentrieren sollen, der übersieht, dass genau hier zentrale Weichen für die Zukunft gestellt werden.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Leider wird im Buch nicht klar, wer mit dem Begriff „Bekenntnis-Evangelikale“ eigentlich gemeint sein soll? Einige der Bekenntnisinitiativen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind und besonders stark auf Abgrenzung bedacht waren, wollten ja ganz bewusst gar keine Evangelikale sein! Zugleich waren alle Evangelikale natürlich schon immer bekenntnisorientiert in dem Wissen: Die zentralen Bekenntnisse sind eine unaufgebbare Grundlage des Christentums. Viele der Evangelikalen, die sich heute für die Gültigkeit und Bewahrung zentraler Bekenntnisse engagieren, schätzen sich selbst als klassische Allianz-Evangelikale ein (siehe dazu auch das Fazit zu dieser Artikelserie). Der Begriff ist also schon prinzipiell problematisch – weshalb ich ihn auch nicht übernommen habe.

Meine Erfahrung ist auch nicht, dass die heutigen inneren Spannungen der evangelikalen Bewegung“ zwischen „Bekenntnis-Evangelikalen“ und „Allianz-Evangelikalen“ bestehen. Ich beobachte vielmehr: Die Spannungen wachsen vor allem dort, wo postevangelikale und progressive Strömungen ins evangelikale Spektrum integriert werden sollen, obwohl diese sich von den evangelikalen Kernüberzeugungen distanzieren.

Thorsten Dietz versucht, die „Bekenntnis-Evangelikalen“ bzw. die „konservativen Evangelikalen“ nicht nur über ihre Positionen, sondern auch über ihre Motive zu definieren: Konservative Evangelikale des Westens sind zutiefst umgetrieben von der wachsenden Säkularisierung ihrer Länder. Sie sehen in der Hinwendung zu sozialen und politischen Fragestellungen eine Weichenstellung, die viele Kirchen zunehmend auf einen Weg der Selbstsäkularisierung gebracht hat. Sie kämpfen für den eindeutigen Vorrang der evangelistischen Verkündigung, weil sie sich darin einen Damm erhoffen gegen Verweltlichung in den eigenen Reihen. (S. 126) Die Spannung zur Mehrheitsgesellschaft wird nicht nur in Kauf genommen, sondern immer wieder stark betont, um eine christliche Identität in Abgrenzung zur Welt aufrecht erhalten zu können. (S. 350) Die Ablehnung von Feminismus und gesellschaftlichem Mainstream dient konservativen Evangelikalen nach wie vor zur Profilierung als Gegenkultur zu weltlichen Entwicklungen. (S. 418, Hervorhebungen nachträglich)

Sind „konservative Evangelikale“ also getrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und Profilierung? Ich frage mich bei solchen Sätzen: Woher will Thorsten Dietz das eigentlich wissen? Schließlich kann niemand in die Herzen schauen. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen sich von niedrigen Motiven leiten lassen oder sich schlicht deshalb für den Vorrang der evangelistischen Verkündigung engagieren, weil im Missionsbefehl nun einmal der Kernauftrag der Kirche liegt. Niemand weiß, wie viele Christen sich aus Liebe zur Kirche für die Wahrung der Bekenntnisse engagieren, weil sie der Überzeugung sind, dass es Kirche und Christentum ohne Bekenntnisse schlicht nicht geben kann. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen die wachsende Distanz ihrer Positionen zur Mehrheitsgesellschaft zwar schmerzvoll und mit Trauer zur Kenntnis nehmen, aber trotzdem ihre Liebe zu den Menschen behalten. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen ihre Differenzen zu gesellschaftlichen Trends zwar offen ansprechen, weil sie davon überzeugt sind, dass das Evangelium menschenfreundlichere Positionen bietet als zum Beispiel das Credo der „sexuellen Vielfalt“, aber dass es ihnen dabei nicht um Profilierung durch Abgrenzung sondern um ein zutiefst positives Anliegen geht: Die Vision einer leidenschaftlichen Jesus-, Gebets- und Bibelbewegung, die auch schon im Neuen Testament in Teilen eine Gegenkultur zur sie umgebenden Gesellschaft bildete – gerade auch im Feld der Sexualethik.

So gut und wichtig es ist, Gefahren und Fehlentwicklungen offen anzusprechen, so problematisch ist es, über niedrige Motive zu spekulieren. Das trägt doch immer zu Klischeebildung und Polarisierung bei – und ist das Gegenteil von Brückenbau. Wer möchte, dass das wachsende Phänomen der neuen Sammlungsbewegungen nicht zu wirklichen Spaltungen führt, der muss sich vielmehr auf die Frage konzentrieren: Haben diese Bewegungen auch berechtigte Anliegen, auf die wir hören und die wir aufnehmen sollten? Das fehlt mir leider im Buch von Thorsten Dietz.

Umso mehr freue ich mich darüber, dass nach meiner Wahrnehmung immer mehr evangelikale Leiter offen nach den Motiven und Anliegen der neuen Sammlungsbewegungen fragen und verstehen, dass diese Leute eben nicht nur randständige, abgrenzungssüchtige „Fundamentalisten“ sind, sondern vielfach ganz in der Tradition von Lausanne und der evangelikalen Aufbrüche des letzten Jahrhunderts stehen. Sie bestätigen, dass diese Gruppen nicht nur auf „vermeintliche Tendenzen“, sondern auf reale theologische Verschiebungen hinweisen, die nicht nur Randthemen sondern den innersten Kern des Glaubens betreffen. Sie nehmen wahr, dass die aus dem universitären Raum altbekannte Verächtlichmachung evangelikaler Positionen durch Formate wie „Worthaus“ jetzt auch im freikirchlichen Raum angekommen ist. Auf der Basis dieser Offenheit entstehen fruchtbare Gespräche und ein hilfreiches Ringen um einen gesunden Kurs der evangelikalen Werke und Gemeinschaften. Diese Entwicklung erfüllt mich mit Hoffnung.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie gehen wir mit neuen bekenntnisorientierten Sammlungsbewegungen um? Stempeln wir sie ab durch Klischees über niedrige Motivationen oder hören wir offen auf ihre Erfahrungen und Anliegen? Lassen wir es zu, dass diese Bewegungen die evangelikale Bewegung befruchten können?

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 10: Wie kann angesichts wachsender Pluralität heute noch Einheit in Vielfalt gelingen?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 8: Fremdeln die Evangelikalen mit ihrem sozialen Auftrag?

Worin liegt eigentlich der Auftrag der Kirche Jesu? Der „Missionsbefehl“ in Matthäus 28 stand schon immer im Zentrum, wenn es um diese Frage ging. Es gibt jedoch auch Texte im Neuen Testament, die einen anderen Schwerpunkt legen. In Matthäus 25, 31-46 lehrt Jesus, dass das entscheidende Kriterium im letzten Gericht die Frage sein wird, wer sich Menschen in Not zugewandt und ihnen praktisch geholfen hat. Seitdem hat immer wieder die Frage für Spannungen gesorgt, wie die Themen Evangelisation, Gemeindebau und praktische Hilfe zu gewichten sind? Thorsten Dietz berichtet von Konflikten schon im 19. Jahrhundert:

Nun wurden die Gräben tiefer, aus vielfältigen Gründen. Das vom baptistischen Theologen Walter Rauschenbusch (1861-1918) entwickelte Konzept des Social Gospel, dem zufolge sich die Kirchen ausdrücklich um Gesellschaftsreformen zugunsten der Armen bemühen sollten, stieß unter den Evangelikalen auf starke Ablehnung. Noch stärker gilt das für eine moderne Theologie, die die Anerkennung der Naturwissenschaften einschließlich der Evolutionslehre und die Anwendung der Methodologie der modernen Geschichtswissenschaften auch für die Bibelauslegung verbindlich machen wollte. Die zunehmenden Gräben zwischen den Frömmigkeitsprägungen führen nun zu vielen Trennungen und Spaltungen in Gemeinden, Kirchen, Ausbildungsstäten und Missionswerken. (S. 31)

Im 20. Jahrhundert berichtet Thorsten Dietz von einer Öffnung und Selbstsäkularisierung der Kirchen: In der Ökumene setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein erweiterter Missionsbegriff durch. Zunehmend gilt auch der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit als Teil der Mission. Sozialpolitische Schwerpunkte treten zunehmend ins Zentrum Kirchlicher Kommunikation. … Gewichtige Stimmen fordern ein Ende jeder auf Bekehrungen ausgerichteten Mission. (S. 72)

Der Lausanner Kongress unter der Leitung von Billy Graham und John Stott wollte diese Fehlentwicklungen korrigieren und klarstellen: Evangelisation und Mission ist der Auftrag, dem die Kirche zuallererst verpflichtet ist. Jedoch darf die Wortverkündigung nicht gegen praktische Hilfe für Menschen in Not ausgespielt werden. Beides ist unaufgebbar wichtig. Wort und Tat gehören zusammen.

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Dietz arbeitet gut heraus, was ich selbst auch aus der Geschichte des württembergischen Pietismus kenne: Viele Evangelikale waren auch Sozialreformer. (S. 106) Es waren oftmals pietistisch geprägte Unternehmer, die sich besonders um die sozialen Belange ihrer Mitarbeiter gekümmert und dadurch neue Standards für eine soziale Marktwirtschaft gesetzt haben. In aller Welt haben Missionare Waisenhäuser, Schulen und Krankenhäuser gegründet, Brunnen gebaut und auf vielfältige Weise für bessere Lebensverhältnisse gesorgt. Markus Spieker berichtet im Buch „Übermorgenland“ von deutschen Missionaren, die bis heute in fernen Ländern für ihr Lebenswerk in höchstem Ansehen stehen: „Es waren … christliche Missionare, die in Indien und anderen asiatischen Ländern die ersten Mädchenschulen eröffneten. Gleichberechtigung ist deshalb eine christlich-abendländische Errungenschaft.“ (S. 136) In seinem Buch „Jesus. Eine Weltgeschichte“ schildert er in beeindruckender Weise, wie die frühen Christen die teils menschenverachtende antike Kultur grundlegend transformiert haben. Werte wie Nächstenliebe oder der Einsatz für den Schutz der Schwächeren, die auf uns heute wie selbstverständlich wirken, waren eine christliche Innovation!

Thorsten Dietz berichtet zudem, dass Billy Graham höchstpersönlich bereits in den 1950er-Jahren Rassentrennung bei seinen Veranstaltungen unterbunden hat. Und1974 übte der konservative Evangelikale Francis Schaeffer massive Kritik an jeder Form von Rassismus. Diese Linie zieht sich durch die Lausanner Geschichte. (S. 290) Auch die Pfingstbewegungen waren in vielen Ländern, vor allem in Südamerika, offensichtlich Teil eines positiven gesellschaftlichen Wandels. (S. 152) Die Abschaffung der Sklaverei, die durch den tiefgläubigen William Wilberforce vorangetrieben wurde, ist ein weiteres leuchtendes Beispiel für gesellschaftstransformatorisches Wirken von Christen.

Äußerst beeindruckend waren für mich auch die Schilderungen des indischen Philosophen Vishal Mangalwadi, der in seinem „Buch der Mitte“ berichtet, wie die Verbreitung eines von der Bibel geprägten Glaubens auch zu weitreichenden gesellschaftlichen Transformationen geführt und letztlich den heutigen Westen sehr wesentlich geprägt hat. Diese wunderbare Segensspur darf die Kirche Jesu niemals aus dem Blick verlieren.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Thorsten Dietz berichtet, dass es auch nach Lausanne bis in die Gegenwart hinein immer wieder Konflikte zur Frage nach der richtigen Gewichtung von „Wort und Tat“ gab: Auf einer Jahrestagung des Arbeitskreises für evangelikale Mission (AeM) prallten die Positionen aufeinander. Der Evangelist Ulrich Parzany bekannte sich grundsätzlich zum Lausanner Konsens, dass »Wort und Tat gleichermaßen zur Sendung Gottes« gehören. In den Landeskirchen aber sei eine klare Tendenz zu beobachten: Im Namen eines umfassenden Missionsverständnisses wird die Diakonie immer weiter professionalisiert und ausgebaut, während missionarische und evangelistische Stellen abgebaut werden. Im Blick auf die neue evangelikale Betonung ganzheitlicher Mission habe er ein Déjà-vu-Erlebnis angesichts der kirchlichen Ersetzung der Mission durch Diakonie und den Wunsch, »dass die evangelikale Bewegung nicht 50 Jahre später das Gleiche macht.« Tobias Faix hingegen stellte klar, dass es gar nicht um eine solche Konkurrenz gehe. Da gehöre »beides rein, sowohl die Evangelisation, die Wortverkündigung, als auch die soziale Tat.« (S. 121)

Parzany und Faix sind sich also völlig einig darin, dass Wort und Tat zusammengehören. Man fragt sich deshalb beim Lesen: Warum wird die Äußerung von Faix eigentlich mit dem Wort „hingegen“ eingeleitet? Insgesamt scheint mir die Darstellung der Debatte um das Miteinander von Wort und Tat einen falschen Drall zu haben. Die zentrale Auseinandersetzung, die schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu ähnlichen Konflikten geführt hat, drehte sich ja kaum um die Frage, ob zum Missionsauftrag auch praktische Hilfe, Diakonie und Engagement für Mensch und Umwelt gehört. Ich kenne persönlich niemand, der das bestreitet. Die zentrale Auseinandersetzung dreht sich immer wieder um die Frage: Verlieren wir die Balance, weil wir die auf Bekehrung ausgerichtete Mission und Evangelisation aus dem Fokus verlieren?

Thorsten Dietz stellt die moderne „Transformationstheologie“ indirekt in die Tradition der Lausanner Bewegung. Aber wird von dieser theologischen Denkschule wirklich die Lausanner Ausgewogenheit zwischen auf Bekehrung ausgerichtete Mission und Engagement für praktische Hilfe weitergeführt? Es liegt nicht an mir, das abschließend zu bewerten. Die Lektüre des „Handbuchs Transformation“ (herausgegeben von Tobias Faix und Tobias Künkler von der CVJM Hochschule Kassel) lässt bei mir jedochFragen aufkommen:

  • Ist die dort vorzufindende apokalyptische Ausgangsbasis nicht genau das, was Thorsten Dietz an den angeblich so pessimistischen Evangelikalen kritisiert, wenn z.B. Jürgen Harder schreibt: „So ist »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten« keine ferne Dystopie, sondern bereits jetzt im Gange.“ (S. 33/34)
  • Wird hier nicht genau die Zusammenarbeit mit politischen und gesellschaftlichen Kräften zur Umformung der Gesellschaft gesucht, die Thorsten Dietz bei den Evangelikalen als so gefährlich ansieht? Gerhard Wegner formuliert in diesem Buch Sätze wie die folgenden: „Transformation … setzt wichtige gesellschaftliche Kräfte voraus, die nicht nur entschieden etwas Neues schaffen, sondern ebenso entschieden Altes zerstören. … Zudem gilt, dass die beharrenden Kräfte, wie schon die leninistische Revolutionstheorie behauptete, nicht mehr die Schalthebel der Macht bedienen können.“ Reformen reichen nicht für das „Ziel der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur.“ (S. 277 ff.) Mir läuft bei solchen Sätzen ein kalter Schauer über den Rücken. Ich bin immer noch ein wenig fassungslos, dass so etwas Eingang gefunden hat in ein Buch, das von Dozenten einer CVJM-Hochschule herausgegeben wurde.

Am wichtigsten ist mir aber die Frage: Kann man die im Handbuch Transformation favorisierte „Öffentliche Theologie“ im Stile des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm wirklich in die Tradition der Lausanner Bewegung stellen? Im Buch „Mission Zukunft“ schrieb Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ (S.72) Damit ist aber Mission im Sinne der Lausanner Bewegung tot. Denn evangelikale (und christliche!) Mission muss immer das Ziel haben, dass mit dem Herzen geglaubt und mit dem Mund bekannt wird, dass Jesus der auferstandene Herr ist (Römer 10,9-10). Es verwundert deshalb nicht, dass Alexander Garth im gleichen Buch berichtet: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ (S.292) Es ist genau dieses Absterben der missionarischen Dynamik, vor der Evangelikale immer wieder warnen. Sie werden diesen Weg niemals mitgehen können, weil es dabei um ihr innerstes Kernanliegen geht. Dabei ist ihnen bewusst: Mit politischen Apellen und Moralismus allein ist aus neutestamentlicher Sicht ohnehin keine echte Transformation zu erreichen. In vielen Erweckungsbewegungen war Gesellschafts­transformation nur eine sekundäre Folge davon, dass immer mehr Menschen Erneuerung in Christus erfahren haben. Diese Herzenstransformation hat sich dann ausgewirkt auf das diakonische Engagement und auf die Ethik des Miteinanders in Familien, Unternehmen, Organisationen und Administrationen.

Evangelikale haben immer im Blick: Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens, das in Sünde verstrickt ist und Erlösung braucht. Zur Lösung dieses Problems hatte die Kirche noch nie politische Agitation im Fokus, sondern immer die Herzenstransformation von Menschen in Christus mithilfe all der Dinge, die mir im „Handbuch Transformation“ leider viel zu kurz kommen: Evangelisation, Gebet, Verkündigung von Gottes Wort, persönliche Christusnachfolge und Aufbau christuszentrierter Gemeinschaften.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wollen wir auch zukünftig Mission und Evangelisation als zentralen Auftrag der Kirche im Fokus behalten und dabei die enge Verbindung zwischen Wortverkündigung und praktischer Hilfe bewahren?

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Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 9: Stehen „Bekenntnis-Evangelikale“ für eine Profilierung durch Abgrenzung?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 7: Haben die Evangelikalen ein Problem mit „Rechts“(-populismus)?

Diesen Artikel wollte ich ursprünglich gar nicht schreiben. Denn persönlich bin ich der Meinung: Christen sollten sich sammeln um Jesus, Bibel und Bekenntnis. In politischen Fragen werden sie niemals einer Meinung sein. Stattdessen sollten sie ein Vorbild darin sein, auch bei großen Meinungsdifferenzen respektvoll miteinander im Gespräch zu bleiben.

Thorsten Dietz ist aber der Meinung, dass das Thema Rechtspopulismus unbedingt ganz oben auf die Tagesordnung der Evangelikalen gehört: Ich sehe in der rechtspopulistischen Versuchung die größte Gefahr der Evangelikalen in der Gegenwart. (S. 301) Hinter dieser Überzeugung steht ein Ereignis, dass aus der Sicht von Thorsten Dietz „ein weltgeschichtlicher Einschnitt“ (S. 278) war: Die Ära Trump ist eine Zäsur. Denn durch die rückhaltlose Unterstützung seiner Präsidentschaft durch die überwältigende Mehrheit der Evangelikalen wurde die öffentliche Wahrnehmung des Evangelikalismus für die Gegenwart neu justiert. Evangelikale werden in der amerikanischen Öffentlichkeit weit überwiegend durch ihre politische Einstellung definiert. Für die besten Kenner ihrer Geschichte ist die Marke »evangelikal« dadurch mindestens beschädigt. (S. 51)

Während es im vorherigen Artikel um den Rückzug der Evangelikalen aus der Gesellschaft ging, steht hier der gegenteilige Vorwurf im Raum: Evangelikale wollen zur politischen Macht greifen und damit ihre rechten Positionen durchboxen. Auch in Deutschland sieht Dietz eine „christliche Rechte“. Dietz zitiert den evangelischen Theologen Martin Fritz, der deren Positionen wie folgt beschreibt:

Die Moderne wird als Auflösung von moralischen und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten begriffen. Angesichts dieser Auflösungstendenzen wird die Notwendigkeit eindeutiger Normen gefordert. … Linke Politik wird als Gängelung empfunden. Die Wahrung der eigenen Grundrechte wird stark betont. Der gesellschaftliche Kulturwandel wird im weitesten Sinne als kulturmarxistisch empfunden. Die Geschichte Osteuropas ist sehr präsent. »Nie wieder Sozialismus« ist eine weitverbreitete Überzeugung. …. Verwurzelung in der Heimat ist wichtig. … Insbesondere der Islam ist ständiger Gegenstand prinzipieller Abgrenzung. Der Islam gilt als demokratieunfähig. … Die Auflösung klassischer Geschlechterrollen gilt als große Gefahr. Vor allem die mögliche Verwirrung der eigenen Kinder in der Schule wird gefürchtet. … Rechts ist für Fritz ein klassisch-konservatives Christentum im Modus des Kulturkampfes. Zur rechten Ideologie gehört der Kampfcharakter, der Verzicht auf das Ziel, gemeinsam mit allen und für alle Gesellschaft zu gestalten. (S. 297/298) Und Dietz ergänzt: Mit ihren Idealen und ihren Bündnisgenossen ist die christliche Rechte im Kern antidemokratisch. (S. 304) Dadurch unterscheiden sie sich fundamental von „Konservativen“, denn sie zeichnen sich eher durch hohe Grundwerte in Fragen wie Staatsvertrauen und Fortschrittszuversicht aus. (S. 299)

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Die Versuchung der Kirche, sich mit der politischen Macht zu verbünden, ist uralt. Seit der „konstantinischen Wende“ im vierten Jahrhundert zieht sich dieses Problem durch die europäische Kirchengeschichte. Er hat dem Evangelium immer wieder enorm geschadet. Thorsten Dietz empfiehlt m.E. zurecht, sich davon abzuwenden. Nicht erwähnt wird leider, dass das natürlich vor allem für die Volkskirchen dramatische Konsequenzen hätte!

Natürlich sollen sich Christen als demokratische Bürger positiv in den Staat einbringen und ihn nach Kräften mitgestalten. Der Versuchung, spezifisch christliche Positionen nicht über den Weg der Verkündigung, sondern durch Machtmittel durchsetzen zu wollen, sollte die Christenheit aber strikt widerstehen. Wir sehen gerade wieder in Russland, in welch furchtbaren (und berechtigten!) Misskredit das die Kirche bringt. Die Kirche Jesu ist immer gebunden an das Wort Jesu: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36) Wir sollten alles, was in unserer Macht steht, dazu beitragen, dass „evangelikal“ auch zukünftig für leidenschaftliche Jesusnachfolger steht – und nicht für ein spezielles politisches Milieu.

Dafür sollten wir auch die Mahnung von Markus Spieker beachten: „Jesus-Nachfolge und Wut-Rhetorik passen nicht zusammen.[1] Wenn wir als Christen unsere politische Meinung einbringen, dann sollten wir nicht nur durch inhaltlich fundierte, durchdachte Äußerungen auffallen, sondern zugleich auch durch unseren respektvollen Tonfall. Wenn sich die Gesellschaft zunehmend nur noch anschreit, dann sollten wir vorleben, wie eine gute, demokratische Debattenkultur aussehen kann.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Beim Lesen der Zitate von Martin Fritz habe ich mich gefragt: Gehöre ich denn auch zur „christlichen Rechten“? Tatsächlich muss ich „gestehen“: Die Wahrung der Grundrechte ist mir sehr wichtig. Ich finde: Die Geschichte Osteuropas sollte uns allen sehr präsent sein. Und ist denn der Satz »Nie wieder Sozialismus« angesichts der furchtbaren Entwicklungen in Venezuela, in den sozialistischen Regimen im ehemaligen „Ostblock“ und angesichts der grauenvollen Blutspur in den kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts eine anrüchige Position? Gibt es nicht gute Gründe, Heimatverwurzelung für eine wertvolle Grundlage für eine gesunde Identifikation mit unserem Gemeinwesen zu halten? Gibt es im weltweiten und im historischen Islam nicht wirklich Anzeichen für antidemokratische (und antisemitische!) Tendenzen, auf die auch liberale Muslime mahnend hinweisen? Und ja, ich gebe zu: Meine Fortschrittszuversicht ist begrenzt. Gegen einen schamgrenzenüberschreitenden Sexualkundeunterricht bin auch ich schon demonstrieren gegangen. Und bestimmte Konkretionen linker Politik, wie zum Beispiel die „Gendersprache“, empfinde ich nicht nur aus sachlichen Gründen als Irrweg sondern tatsächlich als Gängelung. Laut Umfragen scheint es einem großen Teil der Bevölkerung ähnlich zu gehen.

Natürlich ist es wichtig, nicht auf üble politische Vereinfacher hereinzufallen. Aber trägt die Verknüpfung solcher Meinungen mit Adjektiven wie „antidemokratisch“ nicht nur weiter zur Spaltung der Gesellschaft und zur Vergiftung der notwendigen Diskurse bei? Muss man nicht auch diese Positionen ernst nehmen und einbeziehen, wenn man „gemeinsam mit allen und für alle Gesellschaft … gestalten“ möchte? Und wäre es umgekehrt nicht gerade wichtig, dass sich die intellektuellen Eliten einmal selbstkritisch dem Vorwurf der „Gängelung“ stellen, statt vorschnell die „rechte Keule“ zu schwingen?

In seinem Buch „Übermorgenland“ stellt Markus Spieker die These auf: „Heute sind es der Duktus, der Jargon, die Attitüde der »politisch korrekten Avantgarde«, die bodenständigen Gemütern die Galle überlaufen lassen. Aus diesem Frust speit sich der Erfolg populistischer Politiker, die ihn zum neuen Klassenkampf stilisieren.“ (S. 162) Tatsächlich wird mittlerweile in breiten gesellschaftlichen Kreisen diskutiert, dass die „Woke-Culture“ mit ihrem gruppenbezogenen identitätspolitischen Ansatz einen aggressiven Kulturkampf führt, der stark zur wachsenden Polarisierung beiträgt (siehe z.B. der vielbeachtete Text von Wolfgang Thierse oder der Bericht der ehemaligen New-York-Times Journalistin Bari Weiss).

Carl Trueman ist in seinem Artikel „über das Versagen der evangelikalen Eliten“ der Meinung, dass diese Dynamik auch bei der Wahl von Donald Trump eine viel zu wenig beachtete Rolle spielte. In dem Bemühen, die Verächter des Christentums zu besänftigen, war es laut Trueman für viele evangelikale Leiter „nur zu einfach, das simplifizierte progressive Narrativ zu übernehmen: Jeder einzelne Trump-Wähler ist ein ignoranter Fanatiker und, wenn er sich zum Christentum bekennt, auch ein Heuchler. Der Gedanke, dass nicht alle, die für Trump gestimmt haben, dies mit Begeisterung taten, hatte keinen Platz in der Interpretation der säkularen Elite von 2016; und er passte auch nicht in das therapeutische Narrativ, das von vielen Anti-Trump-Christen übernommen wurde. … Zuzugeben, dass Trumps Sieg kein Produkt des weißen christlichen Nationalismus oder eines ähnlich simplen Konstrukts war, hätte ein schmerzhaftes Maß an Gewissensprüfung und Selbstkritik seitens der leitenden Schichten der Gesellschaft im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen erfordert. Und das machte die beiden extremen Lager, Trump und Anti-Trump, ähnlich in ihrer moralischen Klarheit, mit der jedes glaubte, seine Gegner zu verstehen.“

Bei aller notwendigen evangelikalen Selbstkritik in Bezug auf die Vorgänge rund um Donald Trump: Die Versuchung ist offenbar auf allen Seiten groß, weniger vor der eigenen Haustüre zu kehren, sondern lieber empört auf Andere zu zeigen. Erfreulicherweise räumt Thorsten Dietz an anderer Stelle im Buch ein, dass Donald Trump auch für viele weiße Evangelikale durchaus kein Traumkandidat war, sondern schlicht das kleinere Übel. Noch schöner wäre es gewesen, wenn er erwähnt hätte, dass es durchaus auch populäre weiße Evangelikale gab (wie z.B. John Piper), die sich öffentlich von Trump distanziert haben.

Bleibt noch die Frage: Ist (politische) Polarisierung wirklich vornehmlich ein Problem der Evangelikalen? Der US-Amerikaner Trevin Wax berichtet von einem Forschungsprojekt, das auf Basis zahlreicher Recherchen und Interviews zu dem Schluss kommt: Es sind eher die „progressiven“ Christen, die ihre Identität über Politik definieren, während konservative Christen ihre Identität eher in der Theologie finden. Progressive Christen sind deshalb auch weniger als konservative Christen dazu bereit, über abweichende politische Auffassungen hinwegzusehen. Zudem berichtet Wax: „Die allgemeine Auffassung ist, dass theologisch konservative Christen in einer Blase von Gleichgesinnten verharren. Aber die Untersuchungen von Yancey und Quosigk haben das Gegenteil gezeigt. Es sind theologisch progressive Christen, die sich mit homogen denkenden Gleichgesinnten umgeben, und ein Teil dieser Homogenität definiert sich durch eine »überwältigend negative« Sicht auf konservative Christen. … In der Tat ist die progressive Sicht der Konservativen so düster, dass sich Progressive eher mit Muslimen als mit konservativen Christen verbunden fühlen.“ Das hat Konsequenzen für die Frage, was progressive Christen unter Mission verstehen: „Die meisten progressiven Christen … haben … nicht das Bedürfnis, andere zu ermutigen, … den christlichen Glauben anzunehmen. Der Kern ihrer Religion beruht auf den Werten der Integration, der Toleranz und der sozialen Gerechtigkeit. … Die Menschen, die am meisten der “Bekehrung” bedürfen, sind deshalb nicht Ungläubige, sondern konservative Christen.“

Diese Ergebnisse mögen für Manche überraschend klingen. Inwieweit sie auf Deutschland übertragbar sind, habe ich an anderer Stelle diskutiert. In diesem Artikel will ich am Ende vor allem Mut machen zu dem, was ich eingangs schon betont habe: In politischen Fragen sollten Christen Vorbild darin sein, sich von vereinfachender Wutrhetorik fernzuhalten, Meinungsdifferenzen auszuhalten und respektvoll im Gespräch zu bleiben. Unser gemeinsamer, verbindender Fokus sollte immer das biblisch bezeugte Evangelium von Jesus Christus sein. Meine Wahrnehmung ist, dass das unter konservativen Christen nicht schlechter gelingt als unter „Progressiven“ oder „Liberalen“.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wollen wir uns von politischen Vereinfachern und düsterer, verächtlichmachender Kampfrhetorik distanzieren, uns zugleich aber trotz politischer Differenzen um Jesus und um das Evangelium sammeln und die gemeinsame Verbreitung des Evangeliums in den Vordergrund stellen?

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[1] Markus Spieker: Übermorgenland, Fontis Verlag 2019, S. 113

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 8: Fremdeln die Evangelikalen mit ihrem sozialen Auftrag?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 6: Ziehen sich die Evangelikalen zunehmend von der Gesellschaft zurück?

Thorsten Dietz nimmt unter den Evangelikalen zwei unterschiedliche Strömungen wahr: Hier die missionarische Glaubensbewegung, die ganz vom positiven Ziel der Evangelisation beflügelt wird; dort die soziale Gruppe, die ihren Glauben sehr stark durch Abgrenzung von der modernen Gesellschaft bestimmt. (S. 337) Bei einigen konservativen Gläubigen diagnostiziert Dietz eine bekenntnis-evangelikale Logik des generellen Misstrauens gegen die moderne Gesellschaft. (S. 230)

Für dieses Misstrauen macht Dietz zwei Quellen aus: Wir haben gesehen, wie die Evangelikalen durch apokalyptisches Denken und fundamentalistische Theologie teilweise eine massive Entbettung gegenüber ihrer Umgebungskultur durchlaufen haben. (S. 303) Der Pessimismus und die „Entbettung“ mündet für Dietz schließlich in einen Kulturkampf: Es gibt auch in Deutschland den kulturpessimistischen Evangelikalismus, der sich seinen Aktivismus nur als Kampf gegen andere und vor allem gegen die liberale Gesellschaft vorstellen kann. (S. 366)

Aus der Sicht von Thorsten Dietz handelt es sich hier um ein absolut zentrales Problem, das über die Zukunft des Evangelikalismus entscheiden wird: In der deutschen evangelikalen Bewegung dürfte die umfassende Schlüsselfrage sein: Wie verhalten sich Evangelikale zur modernen Welt, zur Entwicklung der modernen Wissenschaften, zur Demokratie mit ihrer Gründung auf die Grundfreiheiten des Menschen, wie sie im Bekenntnis zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten zum Ausdruck kommen? (S. 366) Die Auseinandersetzung mit der Moderne in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit ist die Aufgabe der Stunde. (S. 361)

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Dietz schreibt: Kulturpessimismus aus Prinzip ist für viele Evangelikale eine große Versuchung geworden. … Zunehmend entzweit ein solcher Kulturpessimismus auch die deutschen Evangelikalen. (S. 369) Fakt ist: Die Polarisierung und das wachsende Misstrauen zwischen den verschiedenen Filterblasen im Internet ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es betrifft damit natürlich auch die Evangelikalen. Dazu kommt: Es ist tatsächlich eine Versuchung, die eigene Identität durch die Abgrenzung von Anderen zu definieren. Mit öffentlicher Kritik kann man eine Menge Klicks generieren. Für Christen muss aber auch klar sein: Durch Kritik allein kommt niemand zum Glauben und wächst keine Gemeinde. Bewegungen, die nur von der Kritik an anderen leben, können zwar kurz Aufmerksamkeit erzeugen, aber sie werden dann auch ziemlich schnell unattraktiv und unfruchtbar. Davon zeugt auch die Entwicklung mancher Bekenntnisgruppen der vergangenen Jahrzehnte. Kein Wunder, dass Ulrich Parzany immer wieder fragt: Was treibt uns eigentlich an? Rechthaberei? Oder Retterliebe? Wer Menschen gewinnen will, muss die Menschen lieben und hoffnungsvoll auf sie zugehen. Wer überall nur noch Niedergang, Abfall und Verblendung sieht, kann sich nur noch in seiner Burg einigeln. Frucht entsteht aus einer solchen Haltung nicht.

Für die Zukunft wünscht sich Thorsten Dietz eine evangelikale Bewegung, die vor allem an dem erkannt wird, wofür sie eintritt. Eine Dafür-Bewegung und keine Dagegen-Bewegung. (S. 455) Nun haben es Evangelikale nicht in der Hand, wie Andere sie beschreiben. Christliche Bewegungen wurden seit jeher immer wieder verspottet und verzerrt dargestellt. Aber es bleibt in der Tat die Verantwortung der Evangelikalen, auf ihre Herzenshaltung zu achten. Unser Motiv und unsere Leidenschaft muss immer primär von der Liebe zu Gott und zu den Menschen geprägt sein, statt vom verzweifelten Kampf gegen Zersetzung und Gefahren.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Ohne Zweifel gibt es christliche Milieus mit einer Tendenz zu einseitig kulturpessimistischen Sichtweisen und selbstverschuldeter gesellschaftlicher Isolation. Wie verbreitet das ist, kann im Moment wohl niemand seriös sagen. Dietz berichtet zwar zutreffend von den enormen Bucherfolgen mit falschen apokalyptischen Spekulationen. Aber haben diese Bücher wirklich prägenden Einfluss erlangt? Sind sie gar mehrheitsfähig geworden (S. 233), wie Dietz meint? Meine Beobachtung ist eher: Auch viele konservative Leiter warnen vor vorschnellen Endzeitspekulationen. Die Erinnerung an falsche Prophetien und endzeitliche Szenarien ist doch überall recht lebendig.

Eine andere Herausforderung besteht darin, dass das Denken der intellektuellen Eliten unserer Gesellschaft sich immer stärker von christlichen Vorstellungen entfernt, wie auch Dietz feststellt: In der Moderne zeigt sich eine immer stärkere Auseinanderentwicklung der traditionell christlichen Kultur und der säkularen Gesellschaft. (S. 426) Der Journalist Markus Spieker berichtet in seinem Buch „Übermorgenland“ gar, dass „gerade in den akademischen Kreisen … eine undifferenzierte Christenphobie … weit verbreitet“ ist.[1] Das stellt Christen vor eine schwierige Frage: Sollten Christen gegen diese Entwicklungen ankämpfen? Oder sollten sie sich mehr anpassen, um nicht noch mehr ausgegrenzt zu werden? Der US-amerikanische Autor und Professor für Bibel- und Religionswissenschaften Carl R. Trueman bestätigt in seiner brillanten Zeitanalyse über „Das Versagen der evangelikalen Eliten“[2] das von Dietz beschriebene Problem des kulturellen Rückzugs. Zugleich weist er auf eine andere Versuchung hin, die Thorsten Dietz in seinem Buch nicht in den Blick nimmt:

„Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen das Christentum seinen Platz in der Gesellschaft bedroht sieht. Wenn es sich an den Rand gedrängt sieht, entstehen zwei Versuchungen. Die erste ist ein wütendes Anspruchsdenken, ein Impuls, die ganze Welt anzuprangern und sich in die kulturelle Isolation zurückzuziehen. Im frühen 20. Jahrhundert bot der amerikanische Fundamentalismus ein gutes Beispiel für diese Tendenz … Die zweite Tendenz ist subtiler und verführerischer. Während sie den Anschein erweckt, für die Wahrheit zu kämpfen, passt sie das Christentum dem Zeitgeist an. Während fundamentalistisches Fäusteballen die Versuchung der weniger gebildeten Masse ist, übt Anpassung auf die einen Reiz aus, die einen Platz am Tisch der gesellschaftlichen Elite suchen. Und diese Elite-Aspiranten geben oft den Massen die Schuld, wenn ihre Einladung an den hohen Tisch nicht zustande kommt.“

Trueman schildert eine Reihe von Versuchen, das Christentum mit den intellektuellen Eliten zu versöhnen, ohne dabei die Substanz des christlichen Glaubens preiszugeben. Dabei werde heute aber etwas Grundlegendes übersehen: „Das Hochschulwesen ist heute weitgehend das Land der „Woken“. … Die kultivierten Verächter des Christentums von heute halten dessen Lehren nicht für intellektuell unplausibel, sondern für moralisch verwerflich. Der Mainstream des modernen Denkens hat die Lehren von der Sündhaftigkeit des Menschen und der Sühne Christi als unvereinbar mit der menschlichen Autonomie und Freiheit angesehen.“

Solche unüberbrückbaren Differenzen mit gesellschaftlichen Überzeugungen sind für Christen nichts Neues. Paul Bruderer berichtet im Blog „Daniel Option“, dass schon die Lebensweise der ersten Christen „eine radikale Alternative darstellte zu den sexualethischen Werten der römischen Kultur.“ Diese christliche Gegenkultur hat der Kirche zwar Verfolgung, zugleich aber auch Profil und Zulauf eingebracht. Deshalb sollten Christen auch heute „den Mut haben, ihre Sexualethik nicht von der Gesellschaft abzuleiten, sondern von der judeo-christlichen Weltanschauung, die uns in der Bibel sichtbar gemacht wird.“ Markus Spieker hält dies auch aus praktischen Gründen für angebracht: „Je mehr ich mich mit den Folgen der sogenannten sexuellen Revolution beschäftige, vor allem für Kinder und Jugendliche, desto verstörender finde ich die Bilanz.“ (S. 221) „Die Leidtragenden des erotischen »Anything Goes« sind gerade diejenigen, die am meisten angewiesen sind auf bedingungslose Fürsorge. Wer bezweifelt, wie schädlich sich die Selbstfindungs-Expeditionen mancher Eltern auf Kinder auswirken, muss sich nur in jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder beim Kinderhilfswerk »Arche« umsehen.“ (S. 228) Slogans wie … »Mein Bauch gehört mir« signalisieren … nicht den Aufbruch in eine natürliche Autonomie, sondern die Entfremdung der Menschen von ihrer wahren Natur.“ (S. 222)

Mit pessimistischem Kulturkampf hat die hier zum Ausdruck kommende Distanz zu philosophischen und (sexual-)ethischen Trends nichts zu tun. Carl Trueman warnt auf Basis seiner kirchengeschichtlichen Analyse sogar explizit davor, den Konflikt zu sehr entschärfen zu wollen: „Das Christentum sagt der Welt, was sie nicht hören will. Wir sollten nicht erwarten, von denen umarmt zu werden, deren Gedanken und Taten den Wahrheiten unseres Glaubens widersprechen. Wir sollten auch nicht versuchen, unseren Glauben schmackhafter zu machen, sonst verliert das Salz seinen Geschmack. Sich den Forderungen der Welt anzupassen ist ein Irrweg.“

Meine Empfehlung an die Evangelikalen ist deshalb, keinesfalls den Fehler der liberalen Kirchen zu wiederholen. Wer sich auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung ständig anpasst und für alles offen ist, marginalisiert sich selbst. Überleben werden am Ende nur solche christliche Strömungen, die sich einerseits selbstkritisch eigenen Fehlern stellen, die zugleich aber fröhlich und hoffnungsvoll ein klares biblisches Profil behalten – auch wenn ihnen das Ausgrenzung und Verachtung einbringt.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie können wir uns davor schützen, im Blick auf unsere Gesellschaft weder in eine profillose Anbiederung noch in ein destruktives Grundmisstrauen zu verfallen? Wollen wir neu nach vertiefter biblischer Orientierung und Erfüllung mit dem Geist der Wahrheit suchen, der uns sowohl prophetische Schärfe wie auch aufopferungsvolle Liebe verleiht, die niemals die Hoffnung verliert? Sind wir bereit, gesellschaftliche Ausgrenzung notfalls auszuhalten?

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[1] Markus Spieker: Übermorgenland, Fontis Verlag 2019, S. 282

[2] Carl R. Trueman: „The Failure of Evangelical Elites“, FirstThings 11/2021, in Teilen übersetzt und kommentiert in: „Warum die Woke-Culture die Evangelikalen spaltet“ (blog.aigg.de/?p=5882)

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 7: Haben die Evangelikalen ein Problem mit „Rechts“(-populismus)?

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Wie bleiben wir Menschen mit Mission 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?

Das Thema Wissenschaft spielt auch im Kapitel über die sogenannten „Postevangelikalen“ eine wichtige Rolle. Gleich zweimal äußert Dietz: Postevangelikale legen (großen) Wert auf intellektuelle Redlichkeit. (S. 316 und 326) Konkret bedeutet das:

  • Sie halten zwar am Offenbarungsglauben und an der Heiligen Schrift fest. Sie setzen sich aber ab von einer Entwicklung innerhalb des Evangelikalismus, die die Irrtumslosigkeit der Bibel zum zentralen Maßstab der Bibeltreue gemacht hat. (S. 316)
  • Postevangelikale distanzieren sich vom Fundamentalismus im Allgemeinen und vom fundamentalistischen Schriftverständnis im Besonderen. … Sie lehnen den Kreationismus ab. (S. 326)
  • Sie bejahen die evangelikale Bewegung, insofern sie eine Selbstbehauptung des christlichen Glaubens im Zeitalter zunehmender Säkularisierung war. Es sind die massiven antimodernen Haltungen, denen sie widersprechen: dem apokalyptischen Geist, der die Moderne pauschal eines unaufhaltsamen Niedergangs bezichtigt; dem fundamentalistischen Versuch, die Bibel als Grundlage eines Weltbildes zu verwenden, das sich von der wissenschaftlichen Welterkenntnis der Gegenwart unabhängig macht, und schließlich dem Bestreben, mit politischen Mitteln eine autoritäre Gegenkultur zu errichten, die klassische Hierarchien der Geschlechter und Kulturen gegen die Gleichheitsideale der Neuzeit aufrechtzuerhalten versucht. (S. 329)

Demnach wären es nicht etwa die Postevangelikalen, die sich von evangelikalen Überzeugungen entfernt haben. Es gäbe vielmehr unter Evangelikalen negative Trends, die Postevangelikale nicht mitgehen wollen, um intellektuell redlich leben und glauben zu können. Dietz stellt gar die Frage: Handelt es sich beim Postevangelikalismus also um Erfahrungen des Glaubenswachstums?[1] (S. 326) Er will sich aber diesbezüglich nicht festlegen: Müsste man daher sagen, dass es eigentlich umgekehrt ist: Wenden sich Postevangelikale nicht von der evangelikalen Bewegung … ab, sondern nur von seinen fundamentalistischen Entstellungen? … Mein Vorschlag ist an dieser Stelle, Postevangelikale weder als liberale Abtrünnige noch als Flüchtende vor dem Fundamentalismus zu betrachten. Für zusammenfassende Bewertungen des Spektrums ist es noch zu früh. (S. 320)

Dietz äußert sich durchaus auch kritisch über Postevangelikale, wenn er schreibt: Bisweilen kommen sie dabei im Umgang mit der Heiligen Schrift zu einer Beliebigkeit, die weit hinter dem zurückbleibt, was in allen nicht evangelikalen Kirchengemeinschaften betont wird. Die Verbindlichkeit der Bibel als Grundlage von Glauben und Leben ist keine evangelikale oder fundamentalistische Idee. In den neutestamentlichen Texten sind die heiligen Schriften Israels keine bloßen Meinungsäußerungen. Wenn Postevangelikale im Gegensatz zum bisherigen Fundamentalismus ihr freies Verhältnis zur Bibel betonen, die sie für gute Literatur halten, aber nicht als Autorität in irgendeinem Sinne, ist das keine liberale Theologie, sondern kaum noch christliche Theologie. (S. 326/327) Sind einige Postevangelikale in ihrem Umgang mit der Bibel also noch liberaler als die großen Kirchen? Richtig ist, dass kirchliche Bekenntnisse der Bibel eine hohe Autorität einräumen und dass Pfarrer im Ordinationsgelübde darauf verpflichtet werden. Meine Beobachtung ist aber auch: In der universitären theologischen Praxis wird die biblische Autorität vielfach noch viel weitergehender verworfen als ich das aus postevangelikalen Äußerungen kenne.

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Thorsten Dietz schreibt: Allzu oft wurden Menschen vermeintlich absolute Wahrheiten im Namen der Bibel entgegengehalten, die lediglich auf menschlich allzu menschlichen Festlegungen beruhten. Auf solche Zumutungen mit Vertrauensverweigerung zu reagieren, ist gesund und notwendig. (S. 327) Dieses Problem kenne ich aus vielen Begegnungen mit Postevangelikalen, die mir gezeigt haben: Manche evangelikale Milieus leiden tatsächlich unter Enge, Denkfeindlichkeit sowie unter dem manipulativen Einfluss von Machtmenschen, die ihre ganz persönliche Bibelauslegung zum autoritativen Maßstab für alle machen wollen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass nicht wenige Gruppierungen stark von einzelnen charismatischen Leiterpersönlichkeiten geprägt sind. Dazu schreibt Dietz: Diese charismafreundliche Religionsstruktur ist höchst missbrauchsanfällig. Mit dieser Ambivalenz umzugehen ist eine der großen Herausforderungen der evangelikalen Welt. (S. 437) Die Skandale um evangelikale Leitungspersönlichkeiten beweisen, dass Dietz hier einen wichtigen Punkt anspricht.

Richtig ist auch, dass viele Postevangelikale auf intellektuelle Redlichkeit besonderen Wert legen und dass sie deshalb den akademischen Anspruch universitärer Theologie für attraktiv halten. Die Frage ist nur: Ist progressive bzw. liberale Theologie intellektuell wirklich befriedigender als seriöse evangelikale Theologie? Legen Evangelikale denn wirklich pauschal weniger Wert auf intellektuelle Redlichkeit als Postevangelikale?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Ich selbst gehöre definitiv zu denen, die unmöglich auf Dauer gegen ihren Intellekt anglauben könnten. Natürlich gibt es Fragen, auf die ich in meinem Welt-, Gottes- und Menschenbild keine Antwort weiß. Ich bin jedoch der Meinung: Es gibt im Moment kein einziges Welterklärungsmodell, das nicht mit massiven Problemen zu kämpfen hätte. Mit ungeklärten Fragen müssen wir alle leben. Auch in postevangelikalen Denksystemen fallen nicht nur mir erhebliche Dissonanzen und Widersprüche auf. Oft begegnen mir dort auch Argumentationen, die eher gefühlsgeleitet statt sachorientiert sind. Könnte es sein, dass es hier manchmal weniger um mehr intellektuelle Redlichkeit geht, sondern schlicht um die Frage: Wem vertraue ich auf Basis meiner Erfahrungen und Denkvoraussetzungen mehr?

Was mir bei allen Überlegungen von Thorsten Dietz zum Thema Postevangelikalismus ganz grundsätzlich fehlt, ist die simple und naheliegende Frage: Treffen denn die vier evangelikalen Grundmerkmale nach Bebbington (Bekehrung, Aktivismus, Biblizismus, Kreuzeszentrierung) noch auf die Postevangelikalen zu? Dietz fokussiert als Beispiel für ein postevangelikales Milieu auf die Hörerschaft des Podcasts „Hossa Talk“ von Jakob Friedrichs und Gottfried Müller. Gerade hier lässt sich zeigen, dass diese Merkmale deutlich verlassen werden. So äußert zum Beispiel Thorsten Hebel in Folge 5 („Ex-Evangelisten unter sich“): „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. … Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren.“ Stattdessen schildert er ein Bekehrungsverständnis, das auch der Postevangelikale Rolf Krüger beschreibt: „Ziel von Mission ist … nicht ein Religionswechsel, sondern ein Gesinnungswechsel.“ Mehrfach wird im Hossa Talk die These vertreten, dass Muslime keine Christen werden müssen, um gerettet zu sein. Und mehrfach wird dort das Verständnis des Kreuzestodes als stellvertretendes Sühneopfer in aller Deutlichkeit verworfen.

Auch in der Worthaus-Mediathek findet man Vorträge, in denen das stellvertretende Sühneopfer (teils in drastischer Deutlichkeit) verworfen[2] oder zumindest subjektiviert[3] wird. Zudem gibt es eine Reihe von Vorträgen, in denen auch zentrale biblische Aussagen in Frage gestellt werden. Diese Differenzen mit evangelikalen Kernüberzeugungen kommentiert Dietz, der gemeinsam mit Siegfried Zimmer inzwischen der prominenteste Vertreter von Worthaus ist, nur knapp mit den Worten: Obwohl bei Worthaus inzwischen circa 30 Theologinnen und Theologen aufgetreten sind, die ein breites Spektrum der Theologie abdecken, von denen aber so gut wie kaum jemand liberal im engeren Sinne ist, gilt Worthaus bei manchen Evangelikalen als liberale Gefahr, als Bedrohung für bibeltreue Gemeinden, als ein Phänomen, an dem sich die Meinungen spalten. (S. 334) Richtig daran ist: Die Worthaus-Referenten sind mehrheitlich nicht „liberal“ im Sinne der universitären Definition für liberale Theologie (laut der auch Rudolf Bultmann kein liberaler Theologe war). Aber wenn Siegfried Zimmer z.B. äußert, dass Jesus nichts vorhersehen konnte[4], oder wenn er mosaische Gesetze als Männer- und Priesterphantasien bezeichnet[5], dann wird deutlich: Diese Theologie ist trotzdem weit liberaler als evangelikale Theologie! Siegfried Zimmer warnt sogar explizit vor dem Evangelikalismus mit den Worten: „Auf keinen Fall evangelikal!“ Seine Vorträge sind durchzogen mit herabwürdigenden Äußerungen über Evangelikale und ihre Positionen. Kein Wunder, dass Worthaus tatsächlich vielerorts zu Streit und Spaltung führt, wie mir seit meinen Blogartikel zum Thema „Worthaus“ immer wieder aus dem ganzen Land berichtet wird.

Auf Seite 317 schreibt Thorsten Dietz: Sind Postevangelikale also auf dem Weg zu einem liberalen Christentum? Aus Tomlinsons Sicht ist diese Frage ein typisches Problem evangelikaler Wahrnehmungsverengung. … In der Bindung an ein solches Entweder-oder-Denken liege eine Grenze des bisherigen Evangelikalismus. Angesichts des kulturellen Wandels werden Evangelikale zunehmend sprachunfähig. Es stimmt ohne Zweifel, dass die Evangelikalen zunehmend sprachunfähig werden. Aber liegt das wirklich an ihrer fehlenden „Ambiguitätstoleranz“ gegenüber postevangelikalen Positionen?

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Artikel aus dem Jahr 2021 von Volker Gäckle, dem Leiter der Internationalen Hochschule Liebenzell. Er berichtet, dass das Klima im evangelikal-pietistischen Umfeld längst nicht mehr nur wegen der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität „gereizt und nicht selten überhitzt“ ist. Die Debatte drehe sich um viel zentralere Themen: „Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ Auch Steffen Kern schrieb 2019 im Buch „Mission Zukunft“: „Selbst in den zentralsten Glaubens- und Lebensfragen werden viele unsicher. Was früher manchmal so klar schien, scheint auf einmal zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Kirchen und Gemeinden, die Haltungen und Positionen werden pluraler, Orientierung zu finden immer schwieriger. Darum verfallen wir über Frömmigkeitsgrenzen hinweg ins Schweigen.“ [Unterstreichung nachträglich]

Nicht fehlende Toleranz, sondern im Gegenteil ausufernde Pluralität ist demnach der Grund, warum Evangelikale ihre Einheit und ihre Sprachfähigkeit verlieren. Wenn Postevangelikale ins evangelikale Spektrum integriert werden, obwohl sie sich offen von den zentralen Kernmerkmalen der evangelikalen Bewegung distanzieren, dann hat das zwangsläufig negative Folgen für die Einheit, die Sprachfähigkeit und die missionarische Dynamik der Evangelikalen.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie gehen wir als Evangelikale um mit Menschen, die ihre evangelikalen Überzeugungen hinter sich lassen? Wollen wir einerseits aus den Erfahrungen lernen, die bei diesen Menschen die evangelikalen Überzeugungen ins Wanken brachten? Wollen wir andererseits gerade auch ihnen gegenüber fröhlich und mutig zu dem stehen, was uns Evangelikalen unaufgebbar wichtig ist – und uns somit auch in Bezug auf die Differenzen ehrlich machen?

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Fußnoten:

[1] Dietz hebt dabei auf die Entwicklungsmodelle nach James Fowler oder Brian McLaren ab.

[2] So äußert Dr. Thomas Breuer in seinem Worthaus-Vortrag über die Bedeutung des Kreuzestodes: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

[3] „Subjektivierung“ steht für die Position: Das stellvertretende Sühneopfer ist eine von vielen möglichen Deutungen des Kreuzes, an die man glauben kann, wenn das persönlich als stimmig empfunden wird.

[4] „Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. Meint ihr, dass Jesus alle Details, alles klar war? Er ist schon ein normaler Mensch, bitte!“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Der Prozess vor Pilatus“ (53:20)

[5] „3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Jesus und die blutende Frau“ (37:00)

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 6: Ziehen sich die Evangelikalen zunehmend von der Gesellschaft zurück?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 4: Machen sich die Evangelikalen durch ihren Umgang mit der Wissenschaft unglaubwürdig?

Ein großes Problem am „Fundamentalismus“ ist für Thorsten Dietz: Wer sich auf diesen Weg einlässt, muss mit einer Fülle kognitiver Dissonanzen leben; oder entsprechend viel verdrängen und abblenden … Auf diesem Weg befindet man sich in einem permanenten geistigen Krieg – nach außen und vielleicht manchmal noch stärker nach innen. (S. 276) Diese drastische Diagnose stellt Thorsten Dietz vor allem in Bezug auf solche Christen, die die Evolutionstheorie ablehnen und mit einer jungen Erde rechnen, die erst einige tausend Jahre alt ist: Der Kurzzeitkreationismus kann nur im Zusammenhang mit einer globalen Verschwörungserzählung vertreten werden. (S. 248)

Der Vorwurf eines falschen Umgangs mit der Wissenschaft wird von Dietz aber noch grundsätzlicher formuliert: Evangelikale wollten Theologie und Wissenschaft betreiben. Vielfach haben sie jedoch die Strukturen einer eigenen Wissenschaftswelt errichtet, die sich bis heute von den Standards allgemeiner Wissenschaftlichkeit abschottet. Das aber ist nicht Sinn und Wesen wissenschaftlicher Forschung. (S. 174) Wie konnte es dazu kommen? Dazu schreibt Thorsten Dietz: Die klassische Theologie konnte seit der frühen Christenheit stets so etwas wie ein allgemein anerkanntes Weltbild voraussetzen, in dem die Realität des Göttlichen als gegeben galt. Im 18. Jahrhundert galt eine solche Weltsicht als Metaphysik, die nicht mehr zu überzeugen vermochte. Durch den Wegfall einer allgemeingültigen Metaphysik veränderte sich das Ansehen der Religion. Im allgemeinen Bewusstsein galt sie nun als subjektiv und persönlich. Die moderne Theologie bemühte sich um eine Erneuerung ihres Denkens in Anerkennung dieses Endes der Metaphysik. (S. 176)

Die Konsequenz diese Bemühung war: Die Theologie hat sich einem naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriff gebeugt, wonach man in der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich nicht mit Ursachen rechnen darf, die jenseits des Natürlichen liegen. „Bibelkritik“ bedeutete fortan zumeist auch „Wunderkritik“. Das wunderkritische Paradigma hat weitreichende Konsequenzen:

  • Wundererzählungen können prinzipiell keinen historischen Charakter haben.
  • Den biblischen Autoren kann entgegen dem biblischen Selbstanspruch nur ein natürlich-menschlicher Horizont zugetraut werden.
  • Texte mit eingetroffenen Prophetien (z.B. Jesu Vorhersage der Zerstörung des Tempels) müssen zwangsläufig auf die Zeit nach Eintreffen der Prophetie datiert werden – mit allen Konsequenzen für die Frage nach Autor, Adressaten, Umfeld und Aussageabsicht der Texte und nicht zuletzt für die Glaubwürdigkeit der Bibel, die die Echtheit von Wundern, Vorhersagen und Offenbarung ja immer wieder behauptet.

Diesem Paradigmenwechsel in der Theologie sind die Evangelikalen nicht gefolgt. Haben sich die Evangelikalen damit von der seriösen Wissenschaft verabschiedet? Sollten sie ihren Wissenschaftsbegriff schleunigst korrigieren, um wieder glaubwürdig zu sein?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Thorsten Dietz schreibt: Die Naturwissenschaften sind auf Grundlage der christlichen Überzeugung entstanden, dass Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat, die von vernünftigen Wesen wie uns erkennbar sind. Wissenschaftsskepsis ist ein Bruch mit der Christentumsgeschichte. (S. 248) Tatsächlich geht die Bibel von einer strikten Trennung zwischen Schöpfung und Schöpfer aus. Sie warnt die Menschen immer wieder davor, in pantheistischer Weise Elemente der Natur als göttlich anzubeten. Gott wohnt nicht in den Bäumen und nicht in den Sternen. Deshalb ist die naturwissenschaftliche Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen bei der Erforschung unserer Welt absolut sinnvoll.

Richtig ist auch: Manche Evangelikale machen es sich im Umgang mit der Bibel zu leicht. So ist z.B. für das richtige Verständnis von Texten immer die Frage nach der Textgattung zu beachten. Die Frage, ob eine biblische Aussage historisch oder als Bildrede bzw. Metapher gemeint ist, ist zuweilen nicht leicht zu beantworten – und kann deshalb auch unter Evangelikalen zurecht kontrovers diskutiert werden. Gleiches gilt für die manchmal sehr komplexe Frage, inwieweit eine Aussage situations- und zeitbezogen gemeint ist oder ob sie zeitübergreifende Wahrheit vermitteln möchte.

Ganz wichtig ist dabei: Christen sollten sich niemals scheuen, sich ehrlich den wissenschaftlichen Fakten zu stellen. Genau das hat mich beeindruckt, als ich im Teenageralter erstmals die Studiengemeinschaft Wort und Wissen besucht habe. Ich fuhr auf das W+W-Schülerwochenende in der festen Annahme, dort Gesinnungsgenossen für den von mir neu entdeckten „Kreationismus“ zu finden. Umso überraschter war ich, als sich dort die Gesichter bei diesem Begriff eher verdunkelten. Mit einem populistisch geprägten Kreationismus, der vorschnell Dinosaurierspuren als Menschenspuren verkauft, wollte man hier nichts zu tun haben. Stattdessen sprach man lieber offen und ehrlich darüber, welche Fakten den eigenen Überzeugungen widersprechen. Gut so!

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Thorsten Dietz schreibt: Die Naturwissenschaften fragen nach dem Was und Wie unserer Welt. Theologie hingegen fragt nach dem Grund und Zweck unseres Daseins. … Gott ist kein Teil dieser Welt, sondern ihr Grund und ihr Ziel. (S. 268) Korrekt ist: Empirische Wissenschaft arbeitet mit Beobachtung und Experiment. Mit diesen Mitteln kann man das „Was“ und „Wie“ der Natur sehr gut erforschen. Wer mit diesen Mitteln jedoch auch Aussagen über das „Woher“ und „Wohin“ machen möchte und Gott zudem prinzipiell aus dem Weltlauf ausschließt, begeht eine Grenzüberschreitung. Empirische Naturwissenschaft kann prinzipiell nichts über singuläre Ereignisse in der Vergangenheit aussagen, da sie weder beobachtbar noch experimentell reproduzierbar sind. Sie kann deshalb unmöglich ausschließen, dass Gott gemäß dem biblischen Weltbild diese Welt erschuf und dass er punktuell immer wieder in das Weltgeschehen eingegriffen hat.

Seltsam ist: Thorsten Dietz spricht einerseits davon, dass Gott die Welt nach vernünftigen Gesetzen geschaffen hat. Zugleich stellt er die Wirksamkeit eines intelligenten Designers in Frage mit den Worten: Die Zweckhaftigkeit einer Formation wird als Beweis bzw. Hinweis gedeutet für einen Zwecksetzer. Diese Frage nach möglichen Zwecken unterläuft freilich die zentrale naturwissenschaftliche Frage nach dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis.” (S. 247) Also wie jetzt? War die Entstehung des Menschen das Ergebnis eines zweckhaft wirkenden Gottes? Oder war hier kein „Zwecksetzer“ im Spiel? Es erstaunt mich immer wieder, wie leichtfüßig der fundamentale Widerspruch zwischen der zielorientierten Wirksamkeit eines Schöpfers und den ziellosen materiellen Prozessen übergangen wird. Wie konnte denn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen, wenn zugleich bei der Entstehung des Menschen ausschließlich ziellose Ursache-Wirkungs-Ketten am Werk gewesen sein sollen?

Dietz schreibt weiter: “Insofern ist es eine wissenschaftstheoretische Diskussion, ob dieses Argument [dass Zweckhaftigkeit auf einen Zwecksetzer hindeutet] überhaupt in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen darf oder ob es sich um eine religionsphilosophische Betrachtung handelt. Solche Diskussionen können und müssen natürlich geführt werden; an ihrem Ort sind sie völlig legitim. Nicht selten wird dieses Argument allerdings gebraucht, um die Glaubwürdigkeit der Evolutionslehre insgesamt zu diskreditieren. (S. 247) Über die Frage, ob die feinabgestimmten Naturkonstanten, die extrem ausgeklügelten molekularen Maschinen und biologischen Baupläne, die codierte und zielgerichtet wirksame Information der DNA oder Phänomene wie Geist, Schönheit und Moral nicht zwingend auf die Wirksamkeit eines intelligenten Designers hinweisen, wird in der Tat vor allem in den USA intensiv diskutiert – und zwar bei weitem nicht nur in religiösen Kreisen! Die empirischen Hinweise, dass z.B. eine lebende Zelle unmöglich durch materielle Selbstorganisationsprozesse entstehen kann, sind mittlerweile überwältigend klar. Das nagt natürlich zwangsläufig auch an der Glaubwürdigkeit einer materialistisch gedachten Evolutionstheorie. Wer diese Diskussion nur auf eine philosophische Debatte begrenzen will, schränkt letztlich die freie Wissenschaft als offene Suche nach der besten Erklärung ein.

Angesichts der wissenschaftlichen Fortschritte haben Christen heute mehr denn je gute Gründe, am biblischen Weltbild festzuhalten und skeptisch zu sein gegenüber einem grenzüberschreitenden Wissenschaftsbegriff, der Gott auch in den Ursprungsfragen prinzipiell als Ursache ausschließen möchte. Diese Haltung hat nichts mit Verschwörungstheorien oder Wissenschaftsskepsis zu tun. Sie knüpft vielmehr an die Erfolgsgeschichte der Wissenschaftspioniere an, die nach Naturgesetzen suchten, weil sie fest an einen Gesetzgeber glaubten. Es wäre ein klarer Bruch mit der Christentumsgeschichte und mit dem biblischen Zeugnis, die Wirksamkeit Gottes auch in den Ursprungsfragen ausschließlich auf eine transzendente Sphäre zu beschränken und in der Bibelwissenschaft prinzipiell nie mit dem offenbarenden und wunderwirkenden Eingreifen Gottes zu rechnen.

Angesichts der desaströsen Folgen des wunderkritischen Paradigmas für Theologie und Kirche erschrecke ich, wenn Thorsten Dietz schreibt: In den meisten Werken der Konferenz der missionarischen Ausbildungsstätten“ gilt: „Ein fundamentaler Gegensatz zur Universitätstheologie wird nicht mehr behauptet. Man vertritt auch keine »theistische Evolution« … Aus heutiger theologischer Sicht ist es ein Kardinalfehler, Gott wie einen Faktor des Weltgeschehens verrechnen zu wollen. (S. 268) Wird demnach auch in freien Ausbildungsstätten zunehmend Wissenschaft im Rahmen eines wunderkritischen Paradigmas betrieben und vermittelt? Ist Gott dort kein Faktor des Weltgeschehens mehr? Dass dem in Teilen durchaus so sein könnte, wurde mir zuletzt deutlich bei der Lektüre des freikirchlich geprägten Buchs „glauben lieben hoffen“ über die Grundlagen des christlichen Glaubens. Auch hier wird die Wirkung eines Schöpfers vollständig auf eine transzendente Ebene verschoben: „Jedes Schöpfungs­werk lässt sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen.“ (S. 37) Das Leben auf der Erde ist ein „vermutlich einzigartiger kosmischer Glücksfall.“ (S. 42) Zugleich wird in diesem Buch vorhersehende Prophetie (und damit auch Christus im Alten Testament), die Jungfrauengeburt und das stellvertretende Sühneopfer in Frage gestellt oder offen abgelehnt. Wieder zeigt sich: Die Akzeptanz des wunderkritischen Paradigmas in der Ursprungsforschung und in der Bibelwissenschaft hat weitreichende Konsequenzen auch für die innersten Kernüberzeugungen des Christentums! Die Evangelikalen tun deshalb gut daran, ganz bewusst am biblischen Weltbild festzuhalten und auf dieser Basis Wissenschaft zu betreiben – ganz in der erfolgreichen Tradition der christlichen Wissenschaftspioniere.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie wollen wir als Evangelikale Wissenschaft betreiben? Wollen wir festhalten am biblischen Weltbild? Wollen wir weiter der biblischen Botschaft glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat, dass er zuweilen Wunder tut und seinen Knechten sich selbst und die Zukunft offenbart?

Weiterführend:

Umfangreich erläutert habe ich das Thema in 2 Vorträgen in der Mediathek offen.bar:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 3: Haben die Evangelikalen ein Fundamentalismusproblem?

Thorsten Dietz berichtet: „Fundamentalismus“ ist in der öffentlichen Wahrnehmung ähnlich geächtet wie Rassismus oder Antisemitismus. Die Diagnose „Fundamentalist“ bedeutet deshalb von Anfang an eine Ausgrenzung (S. 238). Wie sehr er damit recht hat, zeigen Äußerungen wie die des SPD-Manns Michael Roth, der twitterte, dass islamische Hassprediger so wenig zu Europa gehörten wie evangelikaler Fundamentalismus. Warum progressive und liberale Theologen trotzdem weiterhin konservative Christen mit diesem vergifteten Begriff belegen, wäre eine eigene Diskussion wert.

Beim Lesen von „Menschen mit Mission“ habe ich mich immer wieder gefragt: Bin ich in den Augen von Thorsten Dietz ein Fundamentalist? Mir schien zunächst, dass ich mich entspannen kann. Dinge, die für mich völlig selbstverständlich sind, wie z.B. die Nutzung moderner Technologie, zeitgemäßer Medien und Musik oder die Zusammenarbeit mit vielen Gläubigen für die Evangelisation beschreibt Dietz als Abkehr vom Fundamentalismus (S.  241). Ein fundamentalistisches Bibelverständnis fordert laut Dietz, dass alle biblischen Beschreibungen … als Wahrheit akzeptiert werden, ohne Unterscheidung von wörtlicher, metaphorischer oder symbolischer Ebene. (S. 242) Ein solches Bibelverständnis halte ich nicht nur für blanken Unsinn, es ist mir in meiner langen evangelikalen Karriere eigentlich noch nie bewusst begegnet.

Verunsichert wurde ich dann aber doch, als ich las, dass man unter Fundamentalismus ein Schriftverständnis versteht, dasdie völlige Irrtumslosigkeit und Widerspruchsfreiheit der Bibel behauptet. Ins Fragen kam ich auch beim Lesen der Passagen, in denen Dietz als Gegenposition zum Fundamentalismus den Prediger und Evangelist Gerhard Bergmann mit den Worten zitiert, dass es in der Bibel »Legenden, Mythen und Sagen, zwischen historischen und naturwissenschaftlichen Irrtümern« gebe“, kombiniert mit der Behauptung: »Alle Verfasser [der Bibel] sind Kinder ihrer Zeit. Sie leben im Weltbild und den Vorstellungen ihrer Tage.« … »Die Bibel ist Gottes Wort, und zwar als Zeugnis von Gottes Offenbarung.« (S. 258). Muss ich solche Thesen gut finden, um kein Fundamentalist zu sein?

Für Dietz gilt jedenfalls: Der Fundamentalismus ist wie sein Bibelverständnis keine traditionell christliche Position. Er ist ein junges Phänomen und entsteht in Reaktion auf die Moderne. Dieses Phänomen ist nicht konservativ, es ist reaktiv; es reagiert auf eine Moderne, die als radikale Verneinung des Christentums empfunden wird. (S. 275)

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Bibelleser müssen beachten, dass das Wahrheitsverständnis der biblischen Autoren ein anderes sein kann als unser heutiges Wahrheitsverständnis. Dietz zitiert dazu den Theologen Heinzpeter Hempelmann: Der Wahrheitsbegriff der „Inerrancy-Konzeption“ in den sogenannten „Chicago-Erklärungen“ sei der moderne, aus rationalistischem Geist formulierte Begriff mathematischer Richtigkeit (S. 265). Das passt für Hempelmann nicht zum Wahrheitsbegriff der Bibel. Tatsächlich verwirft auch die erste Chicago-Erklärung die Ansicht, dass man von der Bibel „moderne technische Präzision“ erwarten dürfte (Artikel XIII).

Ähnlich argumentiert auch der Theologe Armin Baum. In seinem offen.bar-Vortrag über das historische Wahrheitsverständnis des Neuen Testaments erläutert er: Aus antiker Sicht galt es als wahr, eine Rede sinngemäß zu zitieren. Heute erwarten wir von einem Zitat hingegen eine wortwörtliche Übereinstimmung, wenn es als wahr gelten soll. Mit solchen Differenzen im Wahrheitsverständnis müssen wir also rechnen.

Dietz warnt zudem vor falschen Motivationen für bibeltreue Haltungen: Das absolute Vertrauen auf die Bibel ist die Kehrseite eines totalen Misstrauens gegenüber der modernen Welt. (S. 274) Ich finde es wichtig, sich solchen Anfragen selbstkritisch zu stellen. Die Bibel taugt nicht als Kompensation für eine immer verwirrendere Welt. Wie verbreitet solche Fehlhaltungen sind, scheint mir allerdings pure Spekulation zu sein. Nach meiner Wahrnehmung ist auch sehr konservativen Christen zumeist bewusst, dass die Bibel nicht immer leicht zu verstehen ist und an vielen Stellen unterschiedlich ausgelegt werden kann – weshalb sie natürlich auch kein Hort endgültiger Klarheit in sämtlichen Fragen ist. Sofern der Satz von Thorsten Dietz als feste Zuschreibung gemeint ist, müsste man ihn zumindest in seiner Pauschalität entschieden zurückweisen.

Richtig ist aber: Es gibt unter Evangelikalen die Gefahr, spezielle Bibelauslegungen zum Maßstab für Alle zu machen. Das ist immer dann besonders problematisch, wenn Machtmenschen in einer Gemeinschaft ihre spezielle Bibelauslegung missbrauchen für Manipulation und Machtmissbrauch. Solche zerstörerische Dynamiken habe ich selbst erlebt. Und in Gesprächen mit Postevangelikalen habe ich leider immer wieder davon gehört. Wir sollten deshalb immer streng darauf achten, unter der Schrift zu bleiben. Weder dürfen wir uns selbst zum Richter über richtig und falsch in der Bibel machen. Noch sollten wir meinen, immer ganz genau zu wissen, wie die Bibel im Einzelnen auszulegen ist.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

In seinem Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“ hat Thorsten Dietz die Annahme einer unfehlbaren Bibel deutlich kritisiert, ebenso wie sein Worthaus-Kollege Siegfried Zimmer, der davon ausgeht, dass die Bibel „hunderte von Fehlern“ enthält. Wer dem nicht zustimmen kann, hat laut Zimmer ein „fundamentalistisches Bibelverständnis“. Ist die Annahme, dass die Bibel unfehlbar oder irrtumslos ist, also ein Kennzeichen für einen modernen, „reaktiven“ Fundamentalismus?

Natürlich muss der Begriff „Unfehlbarkeit“ sorgfältig definiert und gegen Missverständnisse und Übertreibungen abgegrenzt werden. Grundsätzlich ist aber die Annahme, dass die kanonischen Schriften irrtums- oder fehlerlos sind, alles andere als eine moderne Erfindung. Man findet sie zum Beispiel bei den apostolischen Vätern, bei Augustinus und bei Luther[1]. In der Neuzeit lesen wir in der Lausanner Verpflichtung von 1974 über die Autorität von Gottes Wort: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es verkündigt.“ Im Jahr 2016 freute sich die weltweite evangelische Allianz, dass sie mit der katholischen Kirche in Bezug auf die „Irrtumslosigkeit der Schrift“ völlig übereinstimmt.

Noch wichtiger ist: In der Bibel selbst ist nirgends von Fehlern, Irrtümern oder Widersprüchen in den Heiligen Schriften die Rede, im Gegenteil: Durchgängig gelten die Texte als vom Geist Gottes inspiriert. Entsprechend wird ihnen ausnahmslos höchste Autorität beigemessen. Der Theologe Gerhard Maier schrieb in seinem Buch “Biblische Hermeneutik”: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“ (S. 83) Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“ (S. 150) Für sie war also klar: Wenn die Schrift etwas sagt, dann spricht Gott selbst. Entsprechend bekennt die Deutsche Evangelische Allianz: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes.“

Auch neutestamentliche Texte werden schon in der Bibel selbst auf das Autoritätsniveau der alttestamentlichen Schriften gehoben (2.Petr.3,16; Offb.22,18-19). Eine Trennung zwischen Schrift und Offenbarung, in der biblische Texte nur noch ein menschlich-kritisierbares „Zeugnis von Gottes Offenbarung“ sind oder ein „Kanon-im-Kanon-Ansatz“ ist aus der Bibel nirgends ableitbar. Gerhard Maier stellt vielmehr klar: „So etwas wie unsere kritische Theologie gegenüber der Schrift wäre weder für Jesus noch für die jüdischen Schriftgelehrten seiner Zeit denkbar gewesen.“[2]

Wer davon ausgeht, dass die ganze Schrift von Gott inspiriert ist, kann in der Bibel zwar durchaus gegensätzlich erscheinende Pole erkennen, die gesunde Spannungsfelder erzeugen. Klar ist aber auch: Würden biblische Autoren einander hart widersprechen, dann wäre der Offenbarungscharakter und die Einheit der Schrift verloren. Dann könnte DIE Bibel nichts sagen. Sie könnte kein Maßstab für Glaube und Leben sein.

Heinzpeter Hempelmann schrieb deshalb: „Die Bibel ist nicht teilweise Wort Gottes, in anderen Teilen bloß Menschenwort … Es maßte sich ja einen ‚Gottesstandpunkt‘ an, wer in ihr unterscheiden wollte zwischen Gottes- und Menschenwort … Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.[3] Diese Position hat mit einem randständigen, weltflüchtigen Fundamentalismus nichts zu tun. Sie ist nicht einmal spezifisch evangelikal. Sie ist biblisch, reformatorisch – und weithin christlich[4].

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wollen wir uns einerseits hüten vor der Versuchung, eigene Auslegungen der Bibel als unhinterfragbare Wahrheiten darzustellen? Wollen wir andererseits festhalten am reformatorischen Prinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, weil sie als Gottes heiliges, verlässliches Wort die letzte Autorität hat?

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[1] „Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Martin Luther in: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520). Einschränkend muss man sagen, dass Luther durchaus Zweifel an manchen Aussagen im Neuen Testament äußerte. Dabei ging es ihm aber nicht um Bibel- sondern um Kanonkritik, wie der Theologe Clemens Hägele erläutert. Luther konnte die Apostolizität mancher NT-Bücher anzweifeln. Aber „mit einer apostolischen Fehlleistung rechnet er nicht.“

[2] Gerhard Maier im Vortrag „Der Offenbarungscharakter der Schrift“ gehalten am 27.9.21 für die Mediathek offen.bar (https://youtu.be/EFYqmRdRTZI)

[3] Heinzpeter Hempelmann: Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut. Zum Ansatz einer Schriftlehre, die von der Schrift selbst zu lernen sucht, in: Theologische Beiträge 33 (2002) 4, S. 179–196, Abschnitt 2.5 und 3.2

[4] Gerhard Maier berichtet: Die Trennung zwischen Offenbarung und biblischem Text hat sich erst nach der Aufklärung durchgesetzt. Die Auffassung, dass die biblischen Texte ein menschliches „Produkt der Kirche“ seien, „hätte während vier Fünftel der Kirchengeschichte keine Chance gehabt, als christlich bewertet zu werden.“ In: Biblische Hermeneutik, S. 106

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 4: Machen sich die Evangelikalen durch ihren Umgang mit der Wissenschaft unglaubwürdig?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.