Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind

Ich bin nur selten in Portalen wie der „Achse des Guten“ (achgut.com) unterwegs. So manches, was dort vertreten wird, scheint mir reißerisch und einseitig zu sein. Aber letzte Woche wurde ich auf einen Artikel hingewiesen, der mich nachdenklich gemacht hat. Unter der Überschrift „Das Dilemma der Ukraine-Debatte“ berichtet Annette Heinisch, dass sie die Kriegs- und Expansionspolitik von Wladimir Putin seit Jahren kritisch beobachtet. Und jetzt fragt sie sich: Warum stehen in ihrem Umfeld plötzlich so viele Menschen auf der Seite Putins? Ihre Erklärung lautet:

„Nach Corona ist nichts mehr, wie es war. War das Vertrauen in die Politik schon vorher erschüttert, so ist es nun bei vielen vollends verschwunden. Sagt die Regierung hü, muss hott richtig sein, so die landläufige Meinung. Sind führende Vertreter des harten Corona-Kurses nun für Waffenlieferungen an die Ukraine, dann muss das falsch sein. Schließlich haben diese Herrschaften ihr mangelndes Urteilsvermögen hinreichend unter Beweis gestellt.“ 

Auch mir fällt auf: Die teils hochaggressive Ausgrenzung von Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollten, hat tiefe Wunden hinterlassen. Ich kann das nach einigen Gesprächen, die ich mit solchen Personen geführt habe, sehr gut nachvollziehen. Der Umgang mit der Corona-Pandemie muss unbedingt kritisch aufgearbeitet werden. Befassen müssen wir uns m.E. auch mit der Frage, warum “sich ein Teil der Bevölkerung vom Weltbild vieler öffentlich-rechtlichen Journalisten nicht repräsentiert fühlt” und warum „es heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine einzige profilierte konservative Stimme mehr“ gibt, wie der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo aus meiner Sicht treffend schreibt. Es ist kein Wunder, dass Menschen das Vertrauen verlieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Position übergangen oder an den Rand gedrängt wird.

Aber unabhängig davon, wie man im Einzelnen zu den Coronamaßnahmen, dem Verhalten der Medien und zum Ukrainekrieg steht: Richtig scheint mir zu sein, dass unsere Gesellschaft unter einem zunehmenden Vertrauensverlust leidet. Und das ist ein echtes Problem. Natürlich ist es wichtig, dass mündige Bürger die Institutionen und Medien des Landes kritisch begleiten. Aber ein Grundmisstrauen, das allen Vertretern von Staat, Institutionen und Medien prinzipiell nur noch argwöhnisch oder ablehnend gegenübertritt, ist destruktiv. Bürgermeister, Schulleiter und Polizisten können ein Lied davon singen, wie schwer ihre Arbeit wird, wenn ihnen immer mehr Ablehnung oder gar Wut entgegenschlägt. Eine funktionierende Gesellschaft lebt davon, dass es ordnende Kräfte gibt, denen die Bevölkerung ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringt. Der Verfall dieses Vertrauens schadet letztlich uns allen.

Bei einigen Menschen werden diese Schäden besonders sichtbar. Ich muss da zum Beispiel an einen gläubigen jungen Mann denken, den wir vor ein paar Monaten auf eine Geburtstagsfeier eingeladen hatten. Er war überzeugt davon, dass man in den gängigen Medien grundsätzlich völlig falsch informiert wird. Zugleich vertrat er lautstark derart abenteuerliche Weltverschwörungs­theorien, dass wir ihn aus Rücksicht auf andere Gäste wohl zukünftig nicht mehr einladen können. Bei uns blieb der Eindruck zurück: Verschwörungstheorien können einzelne Menschen ebenso vergiften wie das Miteinander.

Deshalb sollte es uns nicht gleichgültig sein, wenn in unserer Gesellschaft Kräfte am Werk sind, die solche Theorien aktiv verbreiten und damit das ohnehin schon beschädigte Vertrauen weiter aushöhlen. Die Thesen klingen ja immer wieder ähnlich: Wir werden vergiftet durch Gase, die Flugzeuge am Himmel versprühen („Chemtrails“). Im Rahmen eines „Great Reset“ wollen internationale Eliten die Macht übernehmen und jeden Privatbesitz enteignen. Die Corona-Pandemie samt der Impfkampagne ist nur Mittel zum Zweck, um Menschen kontrollieren zu können. Amerikaner haben die Zwillingstürme selbst gesprengt. Und im Ukraine-Krieg verteidigt sich Putin nur gegen die viel aggressiveren Amerikaner…

Botschaften dieser Art finden sich vielfach im Internet. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es tatsächlich echte Verschwörungen geben kann. Jedoch würde ich allen, die solche Theorien regelmäßig für realistisch halten, gerne eine Frage stellen: Wenn man wirklich nichts glauben kann, was die sogenannten „Mainstreammedien“ berichten, warum sollten dann „alternative Medien“ vertrauenswürdiger sein?

Auf einem der einschlägigen YouTube-Kanäle fiel mir auf: Es wird immer wieder auch Werbung für „RT Deutsch“ gemacht, dem deutschsprachigen Ableger des russischen staatlichen Nachrichtensenders RT (ehemals Russia Today). Der Sender vermittelt nicht nur die sehr speziellen Sichtweisen Putins über den grausamen Ukraine-Krieg und die Rolle Amerikas. Er verbreitet zudem auch weitere Verschwörungstheorien. Dazu muss man wissen: Diktatoren wie Putin haben ein Interesse daran, andere Länder durch Polarisierung und wachsendes Misstrauen in die Institutionen zu destabilisieren. Letztlich ist das nichts anderes als eine perfide Form von Kriegsführung. Es ist wichtig, dass wir nicht darauf hereinfallen.

Aber leider ist meine Beobachtung: Auch Christen sind gegen problematische Einflüsse dieser Art nicht immun. Das könnte auch daran liegen, dass viele Christen sich mit bestimmten Positionen an den Rand gedrängt fühlen: Ablehnung von Abtreibung, ein traditionelles Familienbild, das Festhalten an der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau und die daraus folgende Ablehnung der „Gender-Ideologie“ – solche Positionen werden in vielen Medien und in der Parteienlandschaft leider immer weniger vertreten und nicht selten diffamiert. Umso mehr freut man sich natürlich, wenn man Sprachrohre findet, die diese Positionen noch hochhalten. Endlich wird man mal wieder in seiner Ansicht bestätigt. Und es tut ja scheinbar gut, wenn endlich einmal diejenigen vorgeführt werden, die ansonsten uns Christen immer wieder vorführen.

Leider können uns solche Gefühle den Blick dafür verstellen, dass einige dieser „Sprachrohre“ aus Quellen schöpfen, die absolut nicht vertrauenswürdig sind. Und leider verlieren nicht wenige Christen auch die Sensibilität für den oft unsachlichen, verletzenden und damit destruktiven Stil und Tonfall solcher Leute.

Die Folgen sind immer wieder ähnlich: Zunehmende Polarisierung. Wachsendes Misstrauen. Eine Verrohung der Debatten. Eine immer pessimistischere Grundhaltung. Politische Themen bekommen eine immer höhere Priorität und rauben die Kraft und Leidenschaft für Mission, Gemeindebau und Evangelisation. Und spätestens, wenn Christen sich gedrängt fühlen, ihre Mitchristen mit ihren sehr speziellen Sichtweisen „missionieren“ zu müssen, dann wird die Gemeinschaft im Hauskreis oder in der Gemeinde zunehmend schwieriger. Nicht wenige christliche Leiter und Gemeinden wurden in den letzten Jahren durch solche Dynamiken schwer belastet.

Die Frage ist deshalb: Wie reagieren wir darauf, wenn wir in unserem Umfeld solche Tendenzen beobachten?

Ich glaube: Wir brauchen zum einen ganz schlicht mehr Information und mehr Medienkompetenz. Wir müssen unsere Mitchristen dafür sensibilisieren, dass es im Internet Quellen gibt, die uns zwar auf den ersten Blick gefallen mögen, bei genauerem Hinsehen aber toxisch und gefährlich sind. Hier haben auch christliche Leiter eine wichtige Aufgabe. Es braucht Menschen, die sich die Zeit nehmen, sich mit solchen Quellen zu beschäftigen und sachlich und differenziert über die Gefahren zu informieren. Wir brauchen einen nüchternen Dienst der Unterscheidung, der uns hilft, problematische Inhalte aufzudecken.

Zweitens sollten wir uns alle gemeinsam vornehmen, uns nicht nur einseitig in bestimmten Meinungsnischen und Filterblasen zu informieren. Denn wer das tut, wird nicht nur einseitig informiert und immer festgefahrener in seinen Positionen. Mindestens ebenso schlimm ist, dass man die Fähigkeit verliert, sinnvoll mit Menschen aus anderen Milieus und Meinungsspektren zu kommunizieren. Das ist ja eines der großen Probleme unserer Gesellschaft: Debatten funktionieren nicht mehr, weil man in völlig verschiedenen Welten lebt. Wir Christen sollten es besser machen und beim Medienkonsum immer wieder über den eigenen Tellerrand blicken, um zu verstehen, wie Andere ticken und was sie bewegt.

Weiterhin gilt auch hier, was in Bezug auf so viele Gefahren gilt: Die lebendige Beziehung mit Jesus und miteinander ist ein wichtiger Schutz. Verschwörungstheorien sind immer auch Identitätsangebote. Sie haben unterschwellig das zweifelhafte Versprechen im Gepäck: Wer darauf hört, gehört zu den Wissenden, die miteinander eine verschworene Gemeinschaft bilden und die der manipulierten Masse überlegen sind. Wer eine feste Identität in Christus und zudem eine gesunde Gemeinschaft mit anderen Christen hat, ist auf solche zweifelhafte Identitätsangebote nicht angewiesen.

Zudem meine ich: Wir sollten alle gemeinsam beitragen zur Deeskalation und zu einer Kultur der Gnade. Mir fällt die tieftraurige Geschichte des ehemaligen sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing ein, der wegen früherer Verbindungen und Publikationen als „rechts“ eingestuft und gnadenlos öffentlich angegangen wurde. Das hat ihn nicht nur sein Amt (und womöglich auch seine Gesundheit) gekostet, sondern in der ganzen Kirche in unübersehbarem Ausmaß Vertrauen und Miteinander zerstört. Deshalb rate ich: Unser Blick auf Andere sollte von Hoffnung geprägt sein statt von Verdächtigung und Misstrauen. Konzentrieren wir uns auf Sachargumente, statt Menschen vorschnell zu verurteilen und auszugrenzen.

Und schließlich: Lasst uns füreinander beten und eng an Jesus Christus bleiben. ER ist unsere Hoffnung. Er ist mächtiger als die mächtigsten Verschwörer und die schlimmsten Verführer. Wer auf ihn schaut, versinkt nicht in Angst vor unheimlichen Machenschaften oder bedrohlichen Extremisten. Meine Erfahrung ist: Wer unsere Gesellschaft und die Kirche Jesu zum Guten verändern möchte, muss es aus dem Frieden heraus tun, den wir nur in der Nähe unseres souveränen Herrn finden, der alles unter Kontrolle hat. Aufgeregter oder gar aggressiver Aktivismus hingegen bewirkt oft das Gegenteil dessen, was man bekämpfen will.