„Die ganze Welt ist vor Gott schuldig.“ (3,19b)
Diesen Satz muss man erst einmal sacken lassen. Wieder einmal nimmt Paulus für sich in Anspruch, Gottes Sicht der Dinge zu kennen. Und diese Sicht ist wenig schmeichelhaft. Ausführlich malt Paulus aus, in welches Verhalten wir Menschen abgerutscht sind, weil wir Gott nicht anerkennen wollen:
„Sie hielten es nicht für wichtig, Gott anzuerkennen. Deshalb hat Gott sie ihrer schändlichen Gesinnung ausgeliefert. Daher tun sie, was sich nicht gehört. Sie strotzen vor Unrecht, Bosheit, Habgier und Schlechtigkeit. Sie sind voller Neid, Mordlust, Streitsucht, Hinterhältigkeit, Heimtücke, Verleumdung und übler Nachrede. Sie verachten Gott, sind gewalttätig, hochmütig und prahlerisch. Im Bösen sind sie erfinderisch und ihren Eltern gegenüber ungehorsam.“ (1,28-30)
Auffällig ist dabei die Aussage, worin Gottes Gericht über uns Menschen besteht: Gott lässt uns einfach machen. Er liefert uns unserer eigenen Gesinnung aus. Und die ist laut Paulus „schändlich“.
Paulus lässt alle Illusionen platzen
Das ist der ultimative Tiefschlag für uns Menschen. Denn schließlich sind wir doch so gerne der Meinung, wir könnten mit Vernunft und Humanismus uns selbst helfen und unser eigenes Paradies errichten. Doch Paulus hört nicht auf, diese Illusion vollständig platzen zu lassen:
„Juden und Griechen befinden sich gleichermaßen in der Gewalt der Sünde. So steht es auch in der Heiligen Schrift: „Keiner ist gerecht – nicht ein Einziger. Keiner ist einsichtig, keiner fragt nach Gott. Alle sind sie von ihm abgefallen, allesamt sind sie verdorben. Es gibt keinen, der etwas Gutes tut! Auch nicht einen Einzigen!“ (3,9b-12)
Auch sich selbst nimmt Paulus dabei überhaupt nicht aus:
„Ich dagegen bin als Mensch ganz von meiner menschlichen Natur bestimmt. Ich bin mit Haut und Harren an die Sünde verkauft. … Ich weiß: So wie ich von Natur aus bin, wohnt in mir nichts Gutes. Der Wille zum Guten ist bei mir zwar vorhanden, aber nicht die Fähigkeit, es zu tun. … Obwohl ich das Gute tun will bringe ich nur Böses zustande. … Und dieses Gesetz macht mich zu seinem Gefangenen. Es ist das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern steckt. … Aber so wie ich von Natur aus bin, diene ich dem Gesetz der Sünde.“ (7,14b,18,21b,23b,25b)
Entsprechend haben wir Menschen überhaupt keine Chance, aus uns selbst heraus ein gottgefälliges Leben zu führen: „Wer also von seiner menschlichen Natur bestimmt ist, kann Gott unmöglich gefallen.“ (8,8)
Spricht Paulus den Menschen Wert und Würde ab?
Mehr Provokation geht nicht. Spätestens beim Lesen dieser Sätze wird klar, warum die „Gute Nachricht“ von Paulus oft so schlecht bei den Hörern ankam. Wer will sich schon gerne ein derart vernichtendes Urteil sagen lassen?
Und tatsächlich müssen wir die Frage stellen: Wertet Paulus hier die Menschen nicht ab? Spricht er ihnen nicht den Wert und die Würde ab? Raubt er den Menschen nicht den Selbstwert und das Selbstbewusstsein? Will er etwa, dass alle Menschen nur noch in einer gebückten Büßerhaltung durchs Leben gehen? Und inwiefern soll das dann noch eine „Gute Nachricht“ sein?
Jedoch gilt auch hier, was bereits bei der Botschaft des Gerichts galt: Wäre diese Diagnose aus der Luft gegriffen, um Menschen klein und gefügig zu machen, dann wäre sie hochgradig verwerflich. Wenn sie jedoch zutrifft, dann wäre es verwerflich, sie zu verschweigen. Ein Arzt, der bei der Diagnose nicht schonungslos ehrlich ist, findet auch keine Therapie, die wirklich heilen kann. Deshalb lautet die entscheidende Frage: Hat Paulus recht?
Der Realitäts-Check: Ist der Mensch wirklich böse?
Seit Jahrtausenden treibt Philosophen schon diese Frage um: Warum verhalten sich Menschen böse? Auf diese Frage gibt es prinzipiell 2 mögliche Antworten:
- Die Menschen tragen in ihrem Kern etwas Böses, das unabhängig von den Umständen immer wieder unweigerlich die Oberhand gewinnt.
- Die Menschen sind im Kern eigentlich gut, nur die widrigen Umstände können sie böse machen.
Weit populärer ist natürlich die zweite These. Kein Politiker dürfte äußern, dass Menschen im Kern böse sind. Auch in Kirchen hört man das kaum noch. Stattdessen hat es immer wieder Versuche gegeben, böses menschliches Verhalten durch böse Umstände zu erklären. Daraus entstand die Vorstellung: Wenn Gesellschaften von Machtstrukturen und ungleicher Besitzverteilung befreit werden, so dass sich niemand benachteiligt fühlt, dann wird das Gute im Menschen zum Vorschein kommen. Dann werden Alle Allen helfen, um diese Erde zu einem sehr guten Ort zu machen. Der Kommunismus ist das populärste Beispiel für diesen Traum.
Jedoch sind derartige Versuche bislang allesamt kläglich gescheitert. Alle Hoffnungen auf ein menschengemachtes kommunistisches Paradies haben sich nicht nur zerschlagen. Sie endeten in grauenvollen Tragödien. Sehr viel mehr Wohlstand ist hingegen in kapitalistischen Systemen entstanden. Wenn Paulus recht hat mit seiner Diagnose, dann ist das kein Wunder. Denn der Kapitalismus setzt im Kern auf den Egoismus des Menschen, der ihn antreibt, etwas für sich selbst zu erreichen. Offenbar bringen Menschen auf Dauer nur dann Leistung, wenn sie selbst davon profitieren, nicht aber wenn sie nur für die Allgemeinheit etwas Gutes tun sollen. Zudem zeigt die Erfahrung, dass in rein kapitalistischen Systemen die Unternehmer ihre Arbeiter schnell rücksichtslos ausbeuten. Gut, dass wir in Deutschland mittlerweile eine umfangreiche Sozialgesetzgebung eingeführt haben, um die Unternehmer zu zwingen, nicht nur in die eigene Tasche zu wirtschaften!
Auch bei den politischen Systemen zeigt sich, dass das biblische Menschenbild zutrifft: Eigentlich wäre eine Monarchie mit einem guten und weisen Herrscher wesentlich effizienter als eine träge Demokratie. Jedoch erweist sich die Demokratie deshalb als das wesentlich bessere Modell, weil in ihr sämtliche Machthaber und Kräfte von anderen Machthabern und Kräften kontrolliert werden und allesamt einem gemeinsamen Gesetz unterstellt sind. Und die Geschichte hat bewiesen: Wenn Machthaber nicht fürchten müssen, im Zweifelsfall bestraft und abgesetzt zu werden, werden sie schnell zu selbstgefälligen Ignoranten, die das Volk ausbeuten. Den guten König, der einfach nur das Beste für sein Volk will und ein Diener der Menschen ist, gibt es offenkundig nur im Märchen.
Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens
Das von Paulus proklamierte Menschenbild, das sich beginnend mit 1. Mose 8, 21 („Der Mensch ist böse von Jugend auf“) quer durch die ganze Bibel zieht, hat sich also auch in der Geschichte immer wieder bestätigt. Wir tun deshalb gut daran, eine realistische Politik zu fördern, die das Böse im Menschen berücksichtigt. Wir sollten niemals denen glauben, die behaupten, dass das Paradies ausbricht, wenn wir nur die bösen Umstände beseitigen. Denn Paulus macht klar: Das Herz unserer Probleme ist das Problem des menschlichen Herzens. Unsere bösen Umstände sind primär eine Folge der menschlichen Verstrickung in böse Gedanken und Taten. Die einzig wirklich tragfähige und nachhaltige Basis für echte Gesellschaftstransformation ist die Transformation unseres menschlichen Herzens.
Wie gut also, dass Paulus uns keinen Honig ums Maul schmiert. Stattdessen fordert er uns auf, uns ihm anzuschließen in seinem Eingeständnis: „So wie ich von Natur aus bin, wohnt in mir nichts Gutes.„ Das klingt schmerzhaft. Aber wenn Paulus recht hat, dann schaffen wir mit diesem Eingeständnis die entscheidende Grundlage für das Beste, was uns überhaupt passieren kann. Paulus nennt es die „Erlösung aus Gnade“. Darum geht es in der nächsten fundamentalen These des Römerbriefs.