Die verlorene Kraft des Evangeliums

„Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht. Denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ (Römer 1, 16)

Dieser Vers ist meine Konfirmationsspruch. Der darin enthaltene Begriff „Evangelium“ wurde in der Antike verwendet, wenn der Kaiser oder der König eine wichtige gute Nachricht zu verkünden hatte. Ein militärischer Sieg zum Beispiel. Oder die Geburt eines Thronfolgers. Paulus will mit diesem Begriff offenkundig deutlich machen: Auch ich habe eine ganz entscheidende, frohe Botschaft vom König aller Könige Jesus Christus zu verkünden. Eine Botschaft, für die ich mich nicht schämen muss. Denn es handelt sich um eine heilbringende, rettende und seligmachende Botschaft, die allen Menschen gilt. Die große Frage ist nur: Wenn Paulus doch einfach nur eine frohe Botschaft zu verkünden hatte, warum wurde er dann immer wieder vertrieben, eingesperrt, geschlagen und gesteinigt? Warum wurde er am Ende sogar umgebracht?

Dieser Artikel gehört zum offen.bar-Vortrag “Die verlorene Kraft des Evangeliums”:

Warum löste das Evangelium weltweit so viel Widerstand aus? Und warum wird es bei uns hingegen als harmlos und banal empfunden?

Diese Frage stellt sich auch heute noch. Weltweit werden hunderte Millionen von Christen verfolgt. Warum eigentlich? Christen sind bekanntermaßen ein fröhliches und friedliches Völkchen. Sie reden gerne und viel von der Liebe Gottes. Sie werden durch ihren Glauben verpflichtet, die Autoritäten ihres Landes zu respektieren. Niemand müsste vor Christen Angst haben. Warum also löst diese frohe Evangeliumsbotschaft einen derart drastischen Widerstand aus? Warum wird weltweit die Bibel in vielen Ländern verboten?

Und noch eine Frage stellt sich: Der Römerbrief ist historisch gesehen wohl der wirkmächtigste und einflussreichste Brief, der je geschrieben wurde. Kein Brief hat die Kultur der westlichen Welt so geprägt wie dieser Brief. Die Botschaft von Paulus wirkte ein Stück weit wie ein Manifest. Sie enthielt revolutionäre Botschaften: Dass jeder Mensch eine gottgegebene Würde hat. Dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Dass man deshalb armen, kranken und schwachen Menschen helfen sollte. Das war damals völlig neu! Bis zur Ausbreitung des Christentums galten Eroberer als Helden, ganz egal, wie grausam und grauenvoll sie vorgegangen sind. Dass wir heute Friedensstifter feiern, die sich für das Wohl von Ausgegrenzten und Schwachen einsetzen, geht allein auf das Christentum zurück, nicht auf römische oder griechische Philosophen.

Aber wenn man sich heute in unserem Land umschaut, könnte man meinen: Diese Botschaft interessiert kaum noch jemand. Das Wort „Evangelium“ hört man in kirchlichen Kreisen zwar noch des Öfteren. Aber irgendwie lässt es die Leute kalt. Das Evangelium wird bestenfalls als nette, herzerwärmende Botschaft wahrgenommen, die doch zugleich aber harmlos, marginal und belanglos erscheint.

Die große Frage ist: Warum löst diese Botschaft, mit der Paulus doch so unfassbar viel bewegt hat, heute nur noch Schulterzucken aus? Könnte es sein, dass mit der heutigen Verkündigung des Evangeliums irgendetwas nicht stimmt? Könnte es sein, dass das Evangelium, das wir heute verkünden, oft nicht mehr übereinstimmt mit der Evangeliumsbotschaft von Paulus? Und wenn das stimmen sollte: Was genau haben wir denn verändert an diesem Evangelium?

Ich finde, man kann die Bedeutung dieser Frage kaum überschätzen. Denn tatsächlich bin ich überzeugt: Der Bedeutungsverlust der Kirche Jesu in unserem Land hat so einiges, vielleicht sogar hauptsächlich damit zu tun, dass wir das Evangelium von Paulus geglättet, verharmlost, entschärft und entstellt haben. Ich möchte diese These belegen anhand von 7 Eckpfeilern des Evangeliums im Römerbrief, die Antwort geben auf 7 Grundfragen der Menschheit. Ich hoffe, dass ich dabei deutlich machen kann: Diese 7 Eckpfeiler haben auch heute noch absolut nichts von ihrer Brisanz, Schärfe und Kraft verloren. Wenn wir eine Kirche Jesu wollen, die Salz und Licht ist in diesem Land, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir eine klare Sicht haben über die folgenden 7 Grundaussagen der Evangeliumsbotschaft im Römerbrief.

7 Grundfragen der Menschheit – 7 Eckpfeiler des Evangeliums im Römerbrief

Die erste Grundfrage, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet, heißt:

1. Gibt es objektive Wahrheit über Gott?

Diese Frage galt in Europa lange Zeit als entschieden. Die wissenschaftliche Revolution in der westlichen Welt basierte auf der grundlegenden Annahme: Es gibt Wahrheit und Irrtum. Und nur die Wahrheit wird uns freimachen. So steht es zum Beispiel auf einem zentralen Gebäude der Universität Freiburg: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Auf Basis des Jesusworts in Johannes 8, 32 sollte damit deutlich werden: Wir müssen die Wahrheit herausfinden! Denn nur die Orientierung an der Realität wird am Ende dazu führen, dass unser Leben besser wird. Dieses Prinzip galt damals nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern für alle Fakultäten und Disziplinen, einschließlich der Theologie.

Heute müssen wir jedoch beobachten, dass diese Grundlage des Denkens ins Wanken gerät. Fast überall kann man heute die These hören: Jeder soll doch nach seiner eigenen Façon selig werden. Persönliche Religiosität ist O.K., solange sie nicht den Anspruch erhebt, dass Andere das Gleiche glauben sollten. In der Postmoderne geht man davon aus: In Glaubensfragen ist Wahrheit nur subjektiv gültig, niemals objektiv. Wer im religiösen Bereich die Existenz von allgemeingültigen Wahrheiten vertritt, die für alle Menschen gleichermaßen gelten sollen, der liegt nicht nur falsch. Der ist auch intolerant und gefährlich. Der gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Man darf deshalb in der Postmoderne zwar seine persönlichen Glaubensüberzeugungen haben. Aber dabei muss klar sein: Diese Überzeugungen gelten nur für Dich persönlich. Für Andere kann eine völlig andere Überzeugung genauso richtig sein.

Wie sieht das Paulus? Der erste Eckpfeiler seines Evangeliums sagt:

Es gibt Wahrheit und Irrtum. Nur der Glaube an die Wahrheit rettet!

Gleich in den ersten beiden Versen des Römerbriefs schreibt Paulus dazu:

„Es schreibt Paulus, ein Sklave von Christus Jesus, berufen zum Apostel und dazu bestimmt, Gottes Freudenbotschaft bekannt zu machen. Dieses Evangelium hat Gott schon im Voraus durch seine Propheten in heiligen Schriften angekündigt.“ (Römer 1, 1-2)

Paulus stellt also klar: Was ihr hier lest, ist nicht einfach nur eine Idee oder ein Vorschlag von mir, über den man diskutieren kann. Ich bin ein Diener von Jesus Christus. Ich bin zum Apostel, also zum Sendboten Gottes berufen. Von ihm bin ich dazu bestimmt, nicht meine, sondern GOTTES Gute Nachricht zu verkünden. Und das ist eine Nachricht, die Gott schon im Voraus durch die Propheten angekündigt hat. Was für ein ungeheuerlicher Anspruch! Letztlich sagt Paulus: Achtung! Diese Botschaft ist nicht von dieser Welt. Wir haben es mit göttlicher Wahrheit zu tun. Und das Grundproblem der Menschheit liegt darin, dass sie genau diese göttliche Wahrheit verworfen hat.

In Römer 1, 25 schreibt Paulus: „Die Menschen tauschten die Wahrheit Gottes gegen die Lüge.“ Für ihn ist also klar: Es gibt auch bei der Frage nach Gott richtig und falsch. Es gibt auch bei der Frage nach Gott objektiv gültige Wahrheiten und Realitäten, die für alle Menschen gelten! Und jede Aussage, die dieser Wahrheit widerspricht, ist nicht einfach nur eine alternative Wahrheit. Nein, sie ist falsch. Sie ist ein Irrtum. Und Paulus unterstellt sogar, dass es Menschen gibt, die diese falschen Aussagen wissentlich in die Welt setzen. Er sagt: Diese Aussagen sind eine Lüge.

Das ist natürlich harter Tobak. Und schon hier merken wir, wie hochaktuell und brisant die Botschaft von Paulus bis heute ist. Denn Paulus macht damit klar: Sein Evangelium steht ganz grundlegend auf dem Konzept von Wahrheit und Irrtum. Es basiert auf dem Anspruch, dass hier eine objektive Wahrheit verkündet wird, die für alle Menschen gilt, unabhängig davon, ob sie diese Wahrheit verstehen und akzeptieren oder nicht. Die Idee, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, wäre zwar bequem. Sie klingt nett und tolerant. Aber sie passt in keiner Weise zur Botschaft von Paulus. Der Gedanke, dass sich jeder selbst eine Religion zusammen zimmern kann, die sich für ihn am besten anfühlt, ist für Paulus genauso absurd, wie der Gedanke, dass Du gegen Deine Krankheit einfach die Pille nimmst, die Dir am besten schmeckt. Das kannst Du ja gerne machen. Aber gesund machen wird Dich nur die Pille, die tatsächlich genau den Wirkstoff enthält, der genau die Krankheit bekämpft, die Du tatsächlich in der Realität hast. Die Wirksamkeit der Pille hängt von der objektiven Wahrheit der Diagnose ab, nicht von Geschmacksfragen. Ganz genauso geht es Paulus um die Frage: Was ist objektiv aus Gottes Sicht tatsächlich die Wahrheit über Gott und über die Welt? An welcher Realität müssen wir uns orientieren, damit uns wirklich geholfen werden kann?

Auch mit dem zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums gibt Paulus eine Antwort auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

2. Woher kommen wir?

Dazu schreibt Paulus in Römer 1, 19-22:

„Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen bekannt, weil Gott es ihnen längst vor Augen gestellt hat. Seine unsichtbare Wirklichkeit, seine ewige Macht und göttliche Majät sind nämlich seit Erschaffung der Welt in seinen Werken zu erkennen. Die Menschen haben also keine Entschuldigung. Trotz allem, was sie von Gott wussten, ehrten sie ihn aber nicht als Gott und brachten ihm auch keinerlei Dank. Stattdessen verloren sich ihre Gedanken ins Nichts, und in ihrem uneinsichtigen Herzen wurde es finster. Sie hielten sich für Weise und wurden zu Narren. Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschten sie mit Bildern von sterblichen Menschen, mit Abbildern von Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren.“

Wir können auf dieser Grundlage den zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums wie folgt zusammenfassen:

Die Schöpfung beweist, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient!

Die Beweisführung von Paulus für diesen Eckpfeiler ist denkbar einfach und für jeden Menschen sofort verständlich. Paulus sagt ganz simpel: Schau Dich um in der Natur. Was siehst du da? Du siehst überall Geschöpfe. Und wo es Geschöpfe gibt, da muss es einen Schöpfer geben. Auch wir sagen heute noch: Wo es eine Uhr gibt, da muss es einen Uhrmacher geben. Wo es ein Kunstwerk gibt, da muss es einen Künstler geben. Und Paulus schlussfolgert weiter: Wenn es einen Schöpfer gibt, dann hat unser Schöpfer auch unsere Verehrung verdient. Wir sind schließlich heute immer noch der Meinung, dass der Schöpfer eines Kunstwerks es verdient hat, dass sein Name genannt und geehrt wird. Auch heute noch würde niemand ein Konzert geben mit einer wundervollen Symphonie, ohne dazu zu sagen, wer diese Symphonie komponiert hat. Es wäre völlig absurd, sich stattdessen vor den Notenblättern zu verneigen, weil sie uns diese Symphonie vorgegeben haben. Aber Paulus sagt: Genau das tun die Menschen! Sie verneigen sich vor den Geschöpfen statt vor dem Schöpfer. Sie verneigen sich vor Bildern und Statuen. Wie absurd! Sie sind zu Narren geworden!

Heute halten wir uns für klüger. Wir verneigen uns nicht mehr vor Statuen und Bildern. Sind wir heute also besser als die Menschen damals? Na ja. Wir verneigen uns zwar nicht mehr vor Bildern und Statuen. Aber wir verneigen uns trotzdem nicht vor dem Schöpfer. Wir verneigen uns einfach vor gar niemandem mehr. Wir sagen: Es gibt gar keinen Schöpfer. Es ist alles von selbst durch Zufall entstanden. Das ist, wie wenn wir am Ende der Symphonie sagen würden: Wahrscheinlich hat ein Zufallsgenerator die Noten aufs Papier gezaubert. Wir brauchen keinem Komponisten die Ehre geben. Es gibt ja keinen. Ist das wirklich besser als das, was die Menschen zur Zeit von Paulus getan haben?

Tatsache ist: Wir leben wir in einer Welt, in der seit gut 200 Jahren Heerscharen von Wissenschaftlern versucht haben, die simple Beweisführung von Paulus zu widerlegen. In der akademischen Welt wird die Beweisführung von Paulus heute als „Intelligent Design“ bezeichnet. „Intelligent Design“ besagt ganz einfach: Die Natur weist Eigenschaften auf, die darauf hinweisen, dass sie von einem intelligenten Designer konzipiert worden sein muss. Dafür gibt es in der Tat sehr starke Argumente. Trotzdem wird heutzutage diese Sichtweise eher lächerlich gemacht und als unwissenschaftlicher Unfug dargestellt. Das ist bemerkenswert. Denn zugleich wussten wir noch nie so gut wie heute, wie viele Hinweise auf einen Schöpfer in der Welt existieren: Die Feinabstimmung der Naturkonstanten, die codierte Information der DNA, die molekularen Maschinen in unseren Zellen, die extreme Komplexität der biologischen Baupläne, dazu die Realität von Bewusstsein, Geist, Schönheit und Moral: All das sind natürlich extrem starke Hinweise darauf, dass es einen Schöpfer geben muss, der all das erschaffen hat. Denn alle unsere Experimente zeigen wieder und wieder, dass solche Dinge nicht von selbst entstehen. Die Vorstellung, unsere Welt könnte durch eine „Selbstorganisation der Materie“, also durch ziellose materielle Prozesse von selbst entstanden sein, ist angesichts unserer Kenntnisse über die Beschaffenheit der Welt heute mehr denn je absurd.

Trotzdem ehren wir den Schöpfer nicht. Warum nicht? Könnte es sein, dass das auch damit zusammenhängt, dass die Existenz eines Schöpfers die Autonomie der Geschöpfe in Frage stellen würde? Ein Schöpfer könnte uns ja womöglich eine Schöpfungsordnung mitgegeben haben, an die wir uns halten müssten. Könnte es sein, dass wir lieber autonom sein wollen? Könnte es sein, dass wir lieber selbst bestimmen wollen, wer wir sind und wie wir leben wollen?

Tatsache ist: Die Argumentation von Paulus steht bis heute unwiderlegt im Raum. Wer die Schöpfung sieht und dem Schöpfer trotzdem die Ehre verweigert, muss sich vorwerfen lassen, vor der offenkundigen Wahrheit davon zu rennen. Wir haben bis heute allen Grund, uns von diesem simplen Argument von Paulus provozieren, herausfordern und in Frage stellen zu lassen.

Nun könnte man natürlichauch sagen: Ja, ich erkenne ja an, dass es wohl einen Schöpfer geben muss. Aber das hat für mich keine Konsequenzen. Denn dieser Schöpfer hat sich bei mir noch nicht gemeldet. Also kann ich trotzdem weiterhin so leben, wie ich das für richtig halte. Wer das tut, den konfrontiert Paulus mit dem 3. Eckpfeiler seines Evangeliums, der wieder eine Antwort gibt auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

3. Gibt es eine letzte Gerechtigkeit?

Oder anders gefragt: Kommen all die Ausbeuter und Gewalttäter und Betrüger einfach so davon? Oder wird eines Tages die schreiende Ungerechtigkeit dieser Welt noch einmal richtig gestellt?

Im Moment scheint kaum noch jemand zu glauben, dass es diese letzte Gerechtigkeit geben wird. Das war früher anders. Christen haben regelmäßig im apostolischen Glaubensbekenntnis bekannt: „Von dort wird er kommen, zu richten, die Lebenden und die Toten.“ Heute scheint die Vorstellung vom letzten Gericht immer mehr in der Versenkung zu verschwinden – auch in den Kirchen.

Diese Entwicklung führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Die einen fangen an, sich in einen ganz verbissenen Kampf für Gerechtigkeit zu begeben, weil sie sagen: Es gibt keinen Gott, der am Ende für Gerechtigkeit sorgt. Das müssen wir schon selber machen. Da reicht es heute auch nicht einmal mehr, dass jeder die gleichen Chancen hat. Nein, es muss sogar Gleichheit und Gleichstellung hergestellt werden. Gleich viele Männer und Frauen müssen in verantwortlichen Positionen sein. Und wenn sich das nicht von selbst einstellt, dann muss das mit Quoten erzwungen werden.

Die andere Konsequenz ist das Verschwinden von Gottesfurcht. In einer bekannten Zeitung erschien vor Kurzem ein Artikel mit dem Titel: „Warum ich gerne klaue“. Darin rechtfertigt sich der Autor für seine permanenten Diebstähle. Der Gedanke, dass er anderen Menschen damit schadet, kommt ihm nicht. Gleich gar nicht kommt ihm in den Sinn, dass seine Diebstähle irgendwann noch einmal vor einem göttlichen Gericht verhandelt werden könnten. Das zeigt: Der Schrei nach Gerechtigkeit ist in unserer heutigen Gesellschaft zwar groß. Dabei gilt aber: Wir wollen selbst die Richter sein! Wir wollen selbst entscheiden, was wir für gerecht halten und was nicht. Genau diesem Denken widerspricht Paulus ganz direkt, wenn er schreibt:

„Rechnest Du wirklich damit, dem Urteil Gottes entgehen zu können? … Du bist starrsinnig und im tiefsten Herzen nicht bereit, dich zu ändern. Und so ziehst du dir selbst mehr und mehr den Zorn Gottes zu bis zum Tag des Zorns. Das ist der Tag, an dem Gott sich als gerechter Richter offenbart. Gott wird allen das geben, was sie für ihre Taten verdienen. … Über jeden Menschen, der Böses tut, lässt er Not und Verzweiflung hereinbrechen. … Denn Gott richtet ohne Ansehen der Person.“ (Römer 2, Verse 3b,5,6,9,11)

Paulus lässt also überhaupt keinen Zweifel am dritten Eckpfeiler seines Evangeliums:

Es kommt ein Tag, an dem alles noch einmal vor dem Richterstuhl Gottes auf den Tisch kommt!

Paulus macht hier völlig klar: Diesem Gott entgeht nichts. Und dieser Gott wird zornig angesichts unseres ungerechten, egoistischen Verhaltens, mit dem wir uns und anderen Menschen schaden. Dieser Gott wird eines Tages alle unsere Taten ans Licht bringen und im Gericht für Gerechtigkeit sorgen.

Obwohl Paulus sich hier so eindeutig äußert, hört man diese Botschaft heute kaum noch von den Kanzeln. Selbst innerhalb der Kirche wird oft gesagt: Man darf doch mit solchen Gerichtsandrohungen nicht aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft machen. Das klingt einleuchtend. Das Problem ist nur: Jesus lehrt das letzte Gericht. Und Paulus lehrt es auch. In aller Deutlichkeit! Will Paulus die Menschen etwa einschüchtern? Will er sie manipulieren, um sie bei der christlichen Stange zu halten?

Tatsache ist: Düstere Warnungen dieser Art wären natürlich hochgradig verwerflich, wenn jemand sie bewusst erfunden hätte, um Menschen Angst zu machen und zu manipulieren. Aber wenn die Aussicht real ist, dass es einen göttlichen Richter gibt, der uns am Ende für unser Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen wird, dann wäre die Sachlage genau umgekehrt. Dann wäre es verwerflich, auf die Warnung zu verzichten! Dann müssten diejenigen schuldig gesprochen werden, die für die Warnung verantwortlich waren, sie aber – aus welchen Gründen auch immer – verschwiegen haben. Und für Paulus ist völlig klar: Das finale Gericht über alle Taten der Menschheit ist eine Realität. Es wäre fatal und verantwortungslos, das zu verschweigen.

Zumal diese Botschaft ja auch eine Hoffnungsbotschaft ist, und zwar für all die Unterdrückten, Ausgebeuteten, Bedrängten und Betrogenen dieser Welt, die von keinem weltlichen Gericht Gerechtigkeit erwarten können. Es wäre doch katastrophal, wenn wir diesen Menschen sagen müssten: Nichts und niemand wird sich jemals für das Unrecht interessieren, das dir widerfahren ist. Die gute Nachricht des Evangeliums ist aber: Am Ende kommt alles noch einmal auf den Tisch! Am Ende wird Recht gesprochen. Und diese Nachricht bleibt eine Bedrohung, eine Provokation und ein Ärgernis für Alle, die es sich bequem machen wollen in einer Welt ohne Gott, ohne Gericht, ohne Strafe, ohne Konsequenzen. Und sie nagt natürlich noch mehr als die Botschaft vom Schöpfer an der Autonomie des Menschen. Denn hier hören wir die Botschaft: Am Ende werden wir alle noch einmal konfrontiert mit dem, was wir getan haben, welchen Menschen wir geschadet haben und was wir damit angerichtet haben. Paulus macht also Allen einen dicken Strich durch die Rechnung, die nach dem Motto leben: Ich lebe mein Leben wie ich will und dafür muss ich mich vor niemand rechtfertigen.

Damit stellt sich aber jetzt die Frage: Müssen wir denn etwas befürchten in diesem letzten göttlichen Gericht? Oder können wir diesem Gericht beruhigt entgegen sehen, solange wir ein halbwegs ordentliches Leben führen, unsere Steuern zahlen, uns um unsere Familie kümmern und soweit es geht zu allen nett und freundlich sind? Damit kommen wir zur 4. Grundfrage der Menschheit, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet:

4. Was ist die Ursache für das Drama der Menschheit?

Woran liegt es eigentlich, dass wir Menschen nicht einfach friedlich zusammenleben können? Warum bauen wir uns nicht einfach gemeinsam ein Paradies auf Erden? Warum haben wir stattdessen Krieg und Konflikte, Streit, Neid, Armut und Hunger, obwohl die Ressourcen der Erde doch locker für alle reichen würden? Warum ist das so?

Auf diese herausfordernde Frage gibt es sehr verschiedene Antworten. Vor allem in der Zeit der Aufklärung war eine Reihe von Philosophen der Meinung: Der Kern unseres Problems ist, dass wir die menschliche Vernunft viel zu lange begrenzt haben durch religiöse Autoritäten, durch angebliche heilige Schriften oder durch Traditionen, die doch längst überkommen sind. Wenn wir endlich die Vernunft nicht länger einschränken, dann wird schon bald der menschliche Fortschritt eine wunderbare Welt erschaffen. Aber nach der Aufklärung folgten die beiden schlimmsten Weltkriege aller Zeiten, begleitet vom entsetzlichen Massenmord an den Juden. Es ist erschreckend, wie viele Gelehrte in Deutschland dieses menschenverachtende Gedankengut unterstützt und befürwortet haben. Ganz offenkundig ist unsere menschliche Vernunft bei weitem nicht so verlässlich, wie manche Philosophen das behauptet haben.

Andere Leute im kommunistischen Umfeld vertraten die Position: Der Kern des Problems sind die ungerechten Umstände! Menschen sind böse, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wenn wir die Ungerechtigkeit beseitigen, dann wird das Gute im Menschen hervorkommen und wir werden uns gemeinsam das Paradies auf Erden errichten. Die kommunistischen Systeme haben aber leider nicht das Paradies sondern eine beispiellose Blutspur hinterlassen.

Was sagt nun Paulus zu dieser Frage? Der 4. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet: Nicht die Beschränkung der Vernunft, nicht die ungerechten Umstände, sondern…

Wir selbst sind der Kern unserer Probleme!

Oder anders ausgedrückt: Das Herz des Problems ist das Problem des menschlichen Herzens, das zutiefst verstrickt ist in sündiges, egoistisches Verhalten. In Römer 1, 28-30 schreibt Paulus:

„Sie hielten es nicht für wichtig, Gott anzuerkennen. Deshalb hat Gott sie ihrer schändlichen Gesinnung ausgeliefert. Daher tun sie, was sich nicht gehört. Sie strotzen vor Unrecht, Bosheit, Habgier und Schlechtigkeit. Sie sind voller Neid, Mordlust, Streitsucht, Hinterhältigkeit, Heimtücke, Verleumdung und übler Nachrede. Sie verachten Gott, sind gewalttätig, hochmütig und prahlerisch. Im Bösen sind sie erfinderisch und ihren Eltern gegenüber ungehorsam.“

Deutlicher kann man es nicht sagen. Besonders niederschmetternd für uns Menschen: Das Gericht Gottes besteht darin, dass er uns einfach unserer eigenen Gesinnung ausliefert. Er lässt uns einfach machen, wie wir denken und wollen. Gott muss uns nicht aktiv bestrafen. Wir Menschen bereiten uns schon selbst gegenseitig die Hölle auf Erden, wenn Gott uns einfach nur in die Autonomie entlässt, die wir so lautstark verlangen. Diese Aussage ist tatsächlich der ultimative Tiefschlag für uns Menschen. Mehr Provokation geht eigentlich nicht.

Aber Paulus setzt noch einen drauf: „Juden und Griechen befinden sich gleichermaßen in der Gewalt der Sünde. So steht es auch in der Heiligen Schrift: „Keiner ist gerecht – nicht ein Einziger. Keiner ist einsichtig, keiner fragt nach Gott. Alle sind sie von ihm abgefallen, allesamt sind sie verdorben. Es gibt keinen, der etwas Gutes tut! Auch nicht einen Einzigen!“ (Römer 3, 9-12) Und in Römer 7, 14 macht Paulus deutlich, dass er sich selbst hier überhaupt nicht ausnimmt: „Ich weiß: So wie ich von Natur aus bin, wohnt in mir nichts Gutes.“ Spätestens beim Lesen dieser Sätze wird klar, warum die „Gute Nachricht“ von Paulus oft so schlecht angekommen ist. Wer will sich denn schon gerne ein derart vernichtendes Urteil ausstellen lassen? Tatsächlich könnte man Paulus fragen: Muss das wirklich sein? Könntest Du Deine Botschaft nicht ein wenig netter vermitteln?

Ich selbst würde diese Botschaft von Paulus jedenfalls nicht ungefiltert jedem Mitmenschen einfach so aufs Brot schmieren. Aber eigentlich gilt hier doch genau das Gleiche, was schon bei der Botschaft des Gerichts galt: Wäre diese Diagnose aus der Luft gegriffen, um Menschen klein und gefügig zu machen, dann wäre sie hochgradig verwerflich. Aber wenn sie zutrifft, dann wäre es verwerflich, diese Diagnose zu verschweigen. Ein Arzt, der bei der Diagnose nicht schonungslos ehrlich ist, findet auch keine Therapie, die wirklich heilen kann. Ein guter Arzt muss ehrlich sein, auch wenn die Wahrheit erschütternd ist. Sonst wäre er kein guter Arzt. Und deshalb lautet die entscheidende Frage: Hat Paulus recht mit seiner niederschmetternden Diagnose?

Paulus steht mit seiner Position in der Bibel nicht alleine da. Dieses pessimistische Menschenbild zieht sich quer durch die ganze Bibel. Das beginnt schon in 1. Mose 8, 21: „Der Mensch ist böse von Jugend auf.“ Immer und immer wieder schildert die Bibel, wie die Menschen sich verrennen in zerstörerischen Verhaltensweisen, in Lug und Trug, in Ausbeutung und Gewalt.

Aber wie sieht es aus, wenn wir heute auf unsere Welt und in unsere Geschichte schauen? Müssen wir nicht ehrlicherweise sagen, dass die Diagnose von Paulus zutrifft? Auch heute müssen wir überall auf der Welt auf unseren Geldbeutel und unsere Wertsachen aufpassen. Überall in der Welt wird Polizei und eine ordnende Staatsmacht benötigt, um das Böse in Schach zu halten. Wir Menschen haben es nirgends je geschafft, ein System zu entwickeln, in dem einfach alle Menschen gut miteinander umgehen. Keine Systemänderung hat dazu geführt, dass plötzlich überall der gute Kern des Menschen die Oberhand gewinnt.

Ganz offenkundig schaffen wir Menschen es einfach nicht, uns unser eigenes Paradies zu bauen. Der gute König, der einfach nur das Beste für sein Volk will, existiert nur im Märchen. Sex, Macht und Geld korrumpiert uns Menschen. Die Demokratie ist gerade deshalb eine so gute Staatsform, weil in ihr jede Macht von anderen Mächten kontrolliert wird und im Zweifelsfall abgesetzt werden kann. Deshalb bin ich der Meinung: Die Geschichte hat wieder und wieder bewiesen, dass Paulus recht hat mit seiner Diagnose.

Aber wenn es stimmt, dass wir Menschen Sünder sind und Schuld auf uns laden, folgt daraus die nächste große Grundfrage der Menschheit:

5. Wer erlöst uns von Schuld und Scham?

Ich höre oft die These, dass der moderne Mensch sich nicht mehr interessieren würde für die Frage nach der Erlösung von Schuld. Die Menschen würden sich doch gar nicht mehr schuldig fühlen. Also brauchen sie auch keine Erlösung. Meine Beobachtung ist offen gesagt eine völlig andere. Erst kürzlich hat sich ein Bekannter von mir in den Urlaub verabschiedet. Er hatte eine tolle Reise geplant auf einen anderen Kontinent, eine Kombination aus Flugreise und Rundreise mit einem Mietwagen. Aber am Ende unseres Gesprächs sagte er: Ich habe ja so ein schlechtes Gewissen! Ich zerstöre damit doch das Klima! Welche Welt hinterlasse ich meinen Nachkommen?

Meine Wahrnehmung ist: Schuld ist tatsächlich gerade jetzt wieder ein riesengroßes Thema in unserer westlichen Welt! Wir sind schuld am Klimawandel. An der Umweltverschmutzung. Am Artensterben. An Armutsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir sind schuld an ungerechten Lieferketten. An Diskriminierung, Rassismus und Kolonialismus. Wir könnten die Reihe noch lange fortsetzen.

Schuld und Moral hat Konjunktur in unserer Gesellschaft. Sogar die Witze von Otto Waalkes werden heute offenbar als so diskriminierend empfunden, dass man vor ihnen warnen muss. Winnetou wird aus den Medien verbannt, weil das ja kulturelle Aneignung sei. Das Problem daran ist: Wenn der Moralismus derart stark wird, dann hat auch Schuld und Scham Hochkonjunktur. Denn wer von uns ist denn noch in Ordnung, wenn sogar Otto Waalkes und Winnetou, die Helden unserer Kindheit, Diskriminierer sind?

Eine Antwort unserer Zeit lautet: Vielleicht können wir uns ja freikaufen! Wir könnten parallel zur Flugbuchung für ein Aufforstungsprojekt spenden. Oder wir werden Veganer. Oder wir verzichten auf Kinder, um CO2 zu sparen. Oder wir schmücken uns mit Regenbogenfarben und bauen sogar Sternchen und Sprechpausen in unsere Sprache ein, um ja niemand zu vergessen oder zu verletzen. Die Frage ist nur: Wird das reichen? Werden wir dadurch erlöst von Schuld und Scham? Paulus hat dazu eine überaus klare Position. Der 5. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir können uns nicht selbst erlösen. Allein aus Gnade werden wir gerettet!

Paulus hat dazu im Römerbrief revolutionäre Sätze geprägt, die später auch die Reformation vorangetrieben haben:

„Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt.“ (Römer 3, 28) „Wenn es aber aus Gnade geschah, dann spielen die eigenen Taten dabei keine Rolle. Sonst wäre die Gnade ja nicht wirklich Gnade.“ (Römer 11, 6)

Für Paulus gilt also: Kein noch so frommes oder gut gemeintes Werk bringt mir Erlösung, im Gegenteil: Jede Leistung, mit der ich mir ein gutes Gewissen oder gar Gottes Gunst verdienen will, wirft mich aus der Spur des gesunden, rettenden Glaubens, der allein auf die unverdiente Gnade Gottes setzt und der sagt: Ich kann mich nicht selbst erlösen. Aber ich bin von Gott angenommen, weil Jesus alles Notwendige bereits getan hat. Ich bin gerecht, weil Gott am Kreuz für mich Gerechtigkeit erworben hat und sie mir ohne mein Zutun schenkt. Das ist das Evangelium. Das ist Rechtfertigung allein aus Gnade.

Die große Not unserer Gesellschaft ist demnach, dass sie diese Gnade nicht kennt und dass sie diese Gnade auch gar nicht haben will. Ich kann das verstehen. Ich will ja auch lieber sitzen bleiben auf dem hohen Ross meiner Selbstgerechtigkeit. Ich will auch lieber Lohn für meine Leistung statt gnädig beschenkt zu werden. Die Gnade, die Gott uns anbietet, ist demütigend! Denn sie sagt uns: Wir sind so schuldig, dass ein anderer für uns sterben muss. Wir sind so hoffnungslos verloren, dass ein anderer am Kreuz die Suppe auslöffeln muss, die wir eingebrockt haben. Wie demütigend ist das! Und wie erlösend zugleich! Denn jetzt hängt meine Erlösung nicht mehr von mir ab und von meinen guten Vorsätzen, die ich doch morgen wieder fallen lasse. Jetzt werde ich wirklich befreit von Schuld und Scham. Denn was Jesus am Kreuz getan hat, ist genug – ein für alle Mal. Das ist wirklich, wirklich gute Nachricht. Das ist echtes, befreiendes Evangelium.

Darauf könnten Kritiker jetzt allerdings antworten: Ernsthaft? Unsere Schuld wird einfach so vergeben? Wir bekommen einfach so einen Freibrief und können ansonsten weitermachen wie bisher? Das soll die ganze christliche Botschaft sein? Tatsächlich ist das noch nicht die ganze Botschaft. Der 6. Eckpfeiler im Evangelium von Paulus gibt wieder Antwort auf eine große Grundfrage der Menschheit:

6. Was macht uns zu besseren Menschen?

Oder anders gefragt: Wie können wir Menschen uns bessern im Umgang mit uns selbst und mit anderen? Diese Frage bewegt viele Menschen. Wenn wir in eine Buchhandlung gehen, können wir dazu zahlreiche Ratgeber finden. Der Tenor vieler dieser Bücher lautet in etwa so: Folge deinem Herzen! Werde du selbst! Entdecke Dein Potenzial! Nimm Dein Leben in die Hand! Dann kannst du über dich hinauswachsen! Dann kannst du dich selbst und deine Umwelt verändern! Dann wirst du glücklich, zufrieden und erfolgreich!

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Einfach nur ein gutes Buch kaufen, und schon geht es aufwärts in meinem Leben. Aber funktioniert das wirklich? Paulus macht uns wenig Hoffnung, im Gegenteil: Der 6. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir werden verändert durch die Erneuerung unseres Herzens!

Und Erneuerung bedeutet für ihn: Unser altes Leben muss sterben, damit ein neues Leben geboren werden kann. In Römer 6, 6-8+11 schreibt Paulus dazu:

„Wir wissen doch: Der alte Mensch, der wir früher waren, ist mit Christus am Kreuz gestorben. Dadurch wurde der Leib vernichtet, der im Dienst der Sünde stand. Jetzt sind wir ihr nicht mehr unterworfen. Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr. Wir sind nun also mit Christus gestorben. Darum glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. … Genau das sollt ihr auch von euch denken: Für die Sünde seid ihr tot. Aber ihr lebt für Gott, weil ihr zu Christus Jesus gehört.“

Paulus knüpft hier an seine These an, dass alle Menschen unter dem Diktat der Sünde stehen. Das heißt: Wir können unseren Lebensstil nicht einfach so ändern. Jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Die Chance, die Gott uns anbietet, besteht vielmehr darin, dass wir unser bisheriges Leben mit Christus am Kreuz „sterben“ lassen, damit Raum für ein neues Leben entsteht, das nicht mehr unter dem Diktat der Sünde steht. Erst durch dieses Sterben und dieses Neuwerden wird die Sündenverstrickung durchbrochen.

Wir finden diesen Gedanken auch bei Jesus: Im Gespräch mit Nikodemus sagt er in Johannes 3, 3: Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen. Entsprechend spricht Paulus auch an anderen Stellen immer wieder von einem alten und einem neuen Menschen (z.B. Epheser 4, 22-24). In Galater 2, 20 geht er sogar so weit, zu sagen: „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“

Das heißt: Beim Evangelium von Paulus geht es gerade nicht darum, die inneren Potenziale zu heben. Im Gegenteil: Hier geht es darum, unser bisheriges Wesen sterben zu lassen. Und Sterben heißt: Loslassen. Aufgeben. Ich hänge meinen Stolz, meine Selbstgerechtigkeit und meinen Eigensinn an den Nagel. Ich gehe innerlich und äußerlich auf die Knie und sage zu Gott: Ich kann es nicht! Ich brauche Deine Kraft! Ich lasse mich taufen, um mein altes Wesen in den Tod zu geben und in der Kraft des Heiligen Geistes ein neues Leben beginnen. Ich bete um die Fülle des Heiligen Geistes, damit ER ein neues Wesen, einen christusgemäßen Charakter in mir wachsen lässt, geprägt von Liebe statt Gleichgültigkeit, Freude statt Zynismus, Freundlichkeit statt Ungeduld, Güte statt Härte, Treue statt Egoismus, Selbstbeherrschung statt Faulheit.

Das mag von außen so aussehen, als ob jemand einfach nur sein Verhalten ändert. Aber Christen sind überzeugt: Hinter dieser äußerlich sichtbaren Veränderung steht Gott selbst, der durch den Heiligen Geist unsere Herzen erneuert. Genau das hat Gott durch die Propheten angekündigt. In Jeremia 31, 33 sagt Gott: „Doch dies ist der neue Bund, den ich an jenem Tag mit dem Volk Israel schließen werde, spricht der Herr. Ich werde ihr Denken mit meinem Gesetz füllen, und ich werde es in ihr Herz schreiben.“ Gott schenkt uns ein neues Herz, das die Gebote Gottes liebt und sie von Herzen gerne lebt.

Damit sind wir beim 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus, der uns eine Antwort auf die folgende grundlegende Menschheitsfrage gibt:

7. Wie werden wir Menschen wirklich frei?

Unsere Antwort darauf lautet normalerweise: Wir werden frei, indem wir uns von Zwängen entledigen. Freiheit bedeutet: Menschen müssen sich nach nichts und niemandem mehr richten. Sie bestimmen ihr Leben selbst. Freiheit bedeutet Autonomie, also die Befreiung von äußeren Zwängen und Regeln.

Aber die große Frage ist: Macht Autonomie uns Menschen wirklich frei? Paulus sagt dazu zwar einerseits: Ja, es stimmt, Christen sind zur Freiheit berufen. Er spricht sogar von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Römer 8,21). Nur: Diese Freiheit ist gerade das Gegenteil von Autonomie. Der 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus lautet:

Jesus ist Herr! Freiheit und Gehorsam gehören zusammen!

Wir finden diesen Eckpfeiler gleich zu Beginn des Römerbriefs. Da schreibt Paulus einen Satz, der so gar nicht zur Freiheit des Menschen zu passen scheint: „Was ich verkünde, ist die gute Nachricht von Jesus Christus, unserem Herrn! … Sie sollen Christus gehorsam sein, den Glauben annehmen und so seinem Namen Ehre machen.“ (Römer 1, 4b+5b) Und in Römer 6, 17 fügt Paulus hinzu: „Dank sei Gott! Denn früher wart ihr Diener der Sünde. Aber jetzt gehorcht ihr von ganzem Herzen der Lehre, auf die ihr verpflichtet worden seid.“ Christen sollen also gehorsam sein! Sie gehören nicht sich selbst, im Gegenteil: „Denn wir gehören zu Christus Jesus, unserem Herrn.“ (Römer 6, 23) Das ist also buchstäblich das Gegenteil von Autonomie. Wir gehören nicht uns selbst. Wir gehören Jesus.

Bibelleser sollte das eigentlich nicht überraschen. Denn in den Evangelien wird ja immer wieder deutlich: Die Botschaft Jesu drehte sich im Kern um ein Königreich. Immer und immer wieder sagt er: Ändert euch. Kehrt um. Denn das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes ist nahe. Jesus lehrt uns beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Und Jesus betont: „MIR ist alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde.“ (Matthäus 28,18) Und „wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote befolgen.“ (Johannes 14, 15) Da wird also ein ganz klarer Herrschaftsanspruch formuliert! Aber wie passt diese Botschaft von der notwendigen Unterordnung unter die Herrschaft Jesu dazu, dass Christen frei sind?

Genau darauf gibt Paulus in den Kapiteln 6-8 des Römerbriefs eine ganz klare Antwort. Im Kern sagt er: Eine souveräne Freiheit im Sinne einer völligen Unabhängigkeit gibt es für uns Menschen nicht. Niemals. Für niemand von uns! Wir Menschen sind immer von etwas bestimmt – entweder vom Geist Gottes oder aber von unserer menschlichen, in Sünde verstrickten Natur. Die Wahrheit ist laut Paulus also paradox: Je mehr wir uns von Gott frei machen wollen, umso mehr werden wir zu Gefangenen und Getriebenen unserer Wünsche, Süchte, Begierden und der Erwartungen anderer Menschen. Aber je mehr wir uns der Herrschaft Jesu unterordnen, umso mehr dürfen wir erleben, wie ER unsere Füße auf weiten Raum stellt und uns in wahre Freiheit führt.

Der Einstieg in die Freiheit besteht also gerade nicht darin, dass wir uns von allen Geboten entledigen. Im Gegenteil: Die Freiheit beginnt dort, wo wir uns freiwillig unter die Herrschaft Gottes begeben. Christen nennen Jesus ganz bewusst und mit Freude „Herr“. Und Gott schenkt ihnen wachsende Freude daran, ein Leben zu führen, das seinen Geboten und Ordnungen entspricht – nicht aus Zwang und Druck sondern aus dem Erleben, dass Gottes Gebote keine einengenden Schikanen sind, sondern dass es sich um heilsame Hilfen zum Leben handelt. Und Gottes Geist schenkt uns die Kraft und das Verlangen, in diesen heilsamen Ordnungen zu leben. DAS führt uns in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Ist das nicht großartig?

Das Evangelium erklärt und provoziert die Welt

Ich hoffe, ich konnte zeigen: Das Evangelium ist tatsächlich viel mehr als eine nette Botschaft von der grenzenlose Liebe Gottes. Der bekannte englische Schriftsteller C.S. Lewis hat einmal geschrieben:

„Ich glaube an Christus, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.“

Genau so geht es mir, wenn ich auf diese 7 Punkte schaue. Sie zeigen mir nicht nur, wer und wie Gott ist. Im Licht dieser Botschaft kann ich auch mich selbst erkennen. Ich kann erkennen, welche Würde ich habe als sein Geschöpf. Aber ich verstehe auch, wie tief ich verstrickt bin in Sünde und was diese Sünde in meinem Leben anrichtet. Ich verstehe, wie rettungsbedürftig ich bin. Und ich verstehe immer besser, was in dieser Welt geschieht und warum sie so ist, wie sie ist. Mir fallen so viele Belege und Erfahrungen ein, die mir zeigen: Ja, dieses Evangelium ist tatsächlich wahr. Diese Diagnose trifft zu. Und deshalb kann ich mich auch darauf verlassen, dass in diesem Evangelium die heilende und rettende Botschaft enthalten ist, die mir tatsächlich hilft. Deshalb kann ich mit Freude mein Leben auf diese Botschaft bauen. Darin liegt für mich die ganze Kraft und Schönheit des Evangeliums.

Zudem wird in diesen 7 Punkten deutlich, warum dieses Evangelium zu allen Zeiten auf so viel Widerstand gestoßen ist. Ja, das Evangelium ist sehr gute Nachricht. Es ist rettende Nachricht, wenn wir verstanden haben, wie rettungsbedürftig wir sind. Aber solange wir der Meinung sind, dass wir eigentlich soweit ganz in Ordnung sind, ist dieses Evangelium pure Provokation. Und es steht damals wie heute im grundlegenden Widerspruch zu vielen Denkweisen, die in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlich sind.

Es ist nun einmal ein riesiger Unterschied, ob …

… wir die Wahrheit in uns selbst finden oder ob sie von außen auf uns zukommt und uns gegenübertritt.

… wir selbst und unsere subjektiven Erfahrungen der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis sind, oder ob der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis objektive Wahrheiten sind, die Gott uns in der Bibel offenbart.

… die Schöpfung nur auf ziellose Zufallsprozesse hinweist, die uns in unserer Autonomie in keiner Weise stören, oder ob die Schöpfung auf einen Schöpfer hinweist, der unsere Verehrung verdient.

… wir selbst beurteilen, was gerecht ist, oder ob wir uns bewusst sind, dass wir uns eines Tages vor dem Richterstuhl Gottes verantworten müssen, wo wir nach Gottes Maßstäben beurteilt werden und nicht nach unseren eigenen Maßstäben.

… das Grundproblem der Menschheit die bösen Umstände sind oder ob wir selbst das Problem sind, weil unser eigenes Herz hoffnungslos verstrickt ist in Sünde.

… wir uns selbst erlösen wollen durch moralisches Verhalten oder ob uns Erlösung ausschließlich durch Gnade geschenkt wird durch das Erlösungswerk Jesu am Kreuz.

… wir bessere Menschen werden, indem wir unsere eigenen Potenziale entfalten oder ob wir unseren alten Menschen am Kreuz in den Tod geben, damit der Heilige Geist uns ein neues Herz schenken kann und wir von neuem geboren werden.

… wir frei werden durch das Ablegen von äußeren Zwängen oder ob wir ganz im Gegenteil frei werden durch die Unterordnung unter die gute und heilsame Herrschaft Jesu!

Mir macht diese Gegenüberstellung zwischen dem Evangelium von Paulus und den Denkweisen in unserer Gesellschaft deutlich: Die gute Nachricht, die Paulus damals so viel Widerstand eingebracht hat, ist seither nicht populärer geworden. Auch heute noch steht sie so ziemlich gegen alles, was in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlicher Mainstream ist. Paulus hat damals geschrieben, dass seine Botschaft eine Torheit ist und ein Ärgernis ist (1. Korinther 1, 23). Diese Gegenüberstellung zeigt: Das hat sich bis heute nicht geändert.

Welches Evangelium predigen wir?

Umso mehr frage ich mich: Predigen wir in unseren Kirchen und Gemeinden wirklich das paulinische Evangelium? Konkret gefragt: Sprechen wir über Wahrheit und Irrtum? Oder wollen wir lieber niemand auf die Füße treten in Bezug auf seine persönlichen religiösen Vorstellungen? Sprechen wir darüber, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient? Sprechen wir darüber, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass Gott uns im Gericht verurteilen muss? Machen wir deutlich, dass wir uns aus diesem Zustand nicht selbst retten können und dass wir deshalb von neuem geboren werden müssen? Rufen wir dazu auf, vor Jesus die Knie zu beugen und ihn zum Herrn unseres Lebens zu machen? Oder geht es uns letztlich um – vielleicht sogar fromme – Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung? Stehen wir und unsere Bedürfnisse im Zentrum unserer Botschaft oder steht Jesus und seine Herrschaft im Mittelpunkt?

Dieses Evangelium hat offenkundig noch nie dem Zeitgeist entsprochen. Dieses Evangelium kann und wird uns auch heute noch Widerspruch einbringen. Aber vergessen wir nicht: Trotzdem ist genau dieses Evangelium die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten! Es war dieses Evangelium, das einst das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden und die Welt umgekrempelt hat. Es ist dieses Evangelium, das bis heute alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute verfolgt, bekämpft und unterdrückt wird. Ich bin überzeugt: Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat und den unsere Gesellschaft so dringend braucht! Denn dieses Evangelium operiert nicht an den Symptomen der menschlichen Probleme herum. Dieses Evangelium geht an die Wurzel der Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben. Und die Wurzel der Probleme ist und bleibt unser Herz, das in Sünde verstrickt ist.

Nachhaltige Gesellschaftstransformation bringt nur das Evangelium

So viele Erweckungsbewegungen der Vergangenheit haben bewiesen: Echte Gesellschaftstransformation entsteht nicht durch Aktivismus oder Umstürze sondern durch die Transformation der Herzen, die nur das Evangelium bewirken kann. Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft, weil es wahr ist, weil es eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit ist, weil es die richtige Diagnose über den Zustand von uns Menschen stellt und weil es uns deshalb auch die richtige Therapie bringt.

Und deshalb habe ich eine dringende Bitte an unsere Gemeinde- und Kirchenleiter, Verkündiger und Theologen: Bitte predigt genau dieses Evangelium, das Paulus gepredigt hat! Ich bin überzeugt, dass ihr feststellen werdet: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist. Im Gegenteil, ich bin mir sicher: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem Evangelium entfernen! Denn die Menschen spüren, dass jede andere Botschaft oberflächlich bleibt. Ein abgespecktes Evangelium mag nett und eingängig klingen, aber die Menschen spüren, dass es unsere Probleme nicht löst, dass es nur eine dünne Suppe ist, von der sich niemand ernähren kann. Aber das biblische Evangelium ist kraftvoll. Es macht den Menschen Mut und Hoffnung. Dieses Evangelium erneuert die Herzen und damit auch ganze Familien, Betriebe und Gemeinschaften. Deshalb lasst uns gemeinsam alles dafür tun, um diesen kostbaren Schatz zu hüten und zu bewahren. Und lasst uns gemeinsam mit Leidenschaft und Freude dieses Evangelium den Menschen und der Welt verkünden.

Das Manifest (8): Auch wenn die Antithesen populärer sind – bitte predigt genau dieses Evangelium!

Wenn man den 7 Thesen des Römerbriefs ihre Antithesen gegenüberstellt, ergibt sich ein verblüffend aktuelles Bild:

These des Römerbriefs Antithese
Es gibt Wahrheit und Irrtum. Nur der Glaube an die Wahrheit rettet! Jeder kann nach seiner Façon selig werden. Wahrheit ist subjektiv. Wer allgemeingültige Wahrheiten vertritt, ist intolerant.
Die Schöpfung beweist, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient! Es gibt keinen Schöpfer, dem wir Ehre schulden. Die Welt ist durch ziellose Prozesse von selbst entstanden.
Es kommt ein Tag, an dem alles noch einmal auf den Tisch kommt! Der Mensch ist autonom und muss sich vor niemand rechtfertigen.
Wir selbst sind der Kern unserer Probleme! Der Mensch ist im Kern gut. Wenn wir die Ungerechtigkeiten beseitigen, werden wir auch gut miteinander umgehen.
Wir können uns nicht selbst erlösen. Allein aus Gnade werden wir gerettet! Wir sind in Ordnung, wie wir sind, und auch Gott findet uns gut, wenn wir uns moralisch verhalten.
Wir brauchen Erneuerung statt Veränderung! Wir können und sollen uns selbst und die Welt verändern.
Jesus ist Herr! Freiheit und Gehorsam gehören zusammen! Wir sind frei, um uns selbst zu finden und zu verwirklichen.

Diese Tabelle finde ich aus zwei Gründen spannend:

Erstens zeigt sich: Die gute Nachricht, die Paulus damals so viel Widerstand einbrachte, ist seither nicht populärer geworden. Auch heute noch steht sie so ziemlich gegen alles, was in unserer Gesellschaft scheinbar normaler Mainstream ist. Die Botschaft von Paulus ist noch immer eine Torheit und ein Ärgernis (1.Kor.1,23).

Zweitens frage ich mich beim Lesen dieser Tabelle: Wird in unseren Kirchen und Gemeinden wirklich das paulinische Evangelium gepredigt? Konkret gefragt:

  • Sprechen wir über Wahrheit und Irrtum? Oder wollen wir niemand in Bezug auf seine persönlichen religiösen Vorstellungen auf die Füße treten?
  • Stehen wir dazu, dass die Welt von Gott geschaffen ist? Oder stimmen wir mit ein, dass die Geschöpfe Produkte von Evolution, Zufall und natürlicher Auslese sind, um nicht als unwissenschaftlich zu gelten?
  • Sprechen wir darüber, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass Gott uns im Gericht verurteilen muss? Machen wir deutlich, dass wir uns aus diesem Zustand nicht selbst retten können und deshalb aus Gnade gerettet und neu geboren werden müssen?
  • Rufen wir dazu auf, vor Jesus die Knie zu beugen und ihn zum Herrn unseres Lebens zu machen? Oder geht es uns letztlich um (fromme) Selbstbestätigung, Selbstverwirklichung und die Befriedigung unserer Bedürfnisse?

Wie auch immer unsere Praxis aussieht – ich habe eine dringende Bitte an unsere Gemeinde- und Kirchenleiter, Verkündiger und Theologen:

Predigt bitte genau dieses Evangelium, das Paulus gepredigt hat!

Ich bin überzeugt, dass ihr feststellen werdet: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist. Im Gegenteil: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem Evangelium entfernen.

Das absolut erstaunliche ist ja: Obwohl dieses Evangelium offenkundig noch nie dem Zeitgeist entsprochen hat, ist es trotzdem die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten. Es war dieses Evangelium, das einst das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden und die Welt vollkommen umgekrempelt hat. Es ist dieses Evangelium, das bis heute alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute oft verfolgt und unterdrückt wird.

Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft. Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat. Wir sollten alles tun, um diesen Schatz gemeinsam zu hüten und ihn leidenschaftlich der Welt zu präsentieren.


Übersicht und Einleitung: 7 fundamentale Thesen des Römerbriefs

Maleachi: Das teure Evangelium

Was ist eigentlich „das Evangelium“? Das erstaunliche ist: Es ist so simpel, dass man es in einem kurzen Satz zusammenfassen kann:

„So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen sondern das ewige Leben haben.“ (Johannes 3, 16)

Doch um sich der Größe und Tiefe dieser Botschaft zu nähern, braucht man die komplette Bibel – und man lernt dabei sein Leben lang nicht aus.

Wichtig ist dabei gerade auch das Alte Testament, denn es bildet den notwendigen Hintergrund, vor dem das Evangelium erst seine Strahlkraft und seinen revolutionären Charakter gewinnt. Ohne diesen Hintergrund verkommt es zum billigen Abklatsch. Besonders deutlich wird das im letzten Buch des Alten Testaments: Die Schrift des Propheten Maleachi liest sich wie ein Fazit des Alten Bundes und wie ein Cliffhanger, der dem Evangelium den Boden bereitet. Deshalb lohnt es sich, intensiv das Bild zu betrachten, das der Prophet Maleachi vom Menschen und seinem Verhalten zeichnet.

Das Buch Maleachi: 5 Ansagen von einem genervten Gott?

Wenn jemand genervt ist, dann lässt das meist tief blicken. Unmut legt tiefe emotionale Schichten frei. Bei den Ansprachen Gottes im Buch Maleachi gewinnt man fast den Eindruck: Gott ist genervt. Er lässt seinem Unmut freien Lauf – und er erlaubt uns dadurch einen tiefen Blick in sein Herz und in die Abgründe unseres menschlichen Daseins.

5 Punkte wirft Gott dem Volk Israel vor:

  1. „Ihr verachtet mich.“ (1,6)
  2. „Ihr jammert.“ (2,13)
  3. „Ihr werdet lästig.“ (2, 17)
  4. „Ihr habt mich betrogen.“ (3,8)
  5. „Ihr habt mich beleidigt.“ (3,13)

Ganz schön harter Tobak! Aber was steckt hinter diesen Vorwürfen? Da Gott mit dieser Rückfrage rechnet, stellt er sie bei jedem Vorwurf immer gleich selbst. Bei den Antworten wird es dann so richtig interessant…

„Ihr verachtet mich“: Pseudoopfer und Verfälschung von Gottes Botschaft

Gott bemängelt, dass die Menschen ihm Opfertiere bringen, die krank und verletzt sind – und deshalb ohnehin geschlachtet werden müssten. Ein Pseudoopfer also. Entlarvend ist Vers 8: „Bringt doch einmal eurem Statthalter solche Gaben! Wird er euch dann etwa noch freundlich und wohlwollend begegnen?“ Ein herausfordernder Vergleich, der sagt: Ihr habt faktisch vor Gott weniger Respekt als vor Menschen. Da frage ich mich: Wie ist das mit mir und meinem Gottes-Dienst? Was fürchte ich mehr: Das Urteil von Menschen oder von Gott? Und wie viel Zeit und Aufmerksamkeit schenke ich Gott? Gebe ich ihm die beste Zeit meines Tages oder schiebe ich ihn – wenn überhaupt – irgendwo rein, wenn ich sowieso gerade „tote Zeit“ überbrücken muss? Was würde mein Partner oder ein guter Freund sagen, wenn wir ihm so viel (oder wenig) Aufmerksamkeit schenken würden?

Den Vorwurf der Verachtung richtet Gott aber vor allem auch an geistliche Leiter. Respektvoll wäre es, Gottes Botschaft unverfälscht weiter zu geben (2,6). Predigt heißt in Gottes Augen, ein „Bote des Herrn, des Allmächtigen“ zu sein (2,7)! Damals wusste jeder: Wehe dem königlichen Boten, wenn er die Botschaft des Königs verfälscht, um den Menschen nach dem Mund zu reden (2,9). Was für eine eindringliche Warnung an alle Verkündiger! Es ist in Gottes Augen eben kein Kavaliersdelikt, etwas anderes zu predigen als das, was Gottes Wort lehrt und verkündigt.

„Ihr jammert“: Ausbleibende Gebetserhörung wegen seelischer Gewalt

Gott gibt offen zu, dass er den Gottesdienst Israels nicht erhört: „Ihr weint und jammert, weil er von euren Opfern nichts wissen will.“ (2,13b) Warum ist Gott da so ablehnend? Die Begründung ist hochaktuell:

„Weil der Herr Zeuge war zwischen dir und der Frau deiner Jugend. Doch du bliebst ihr nicht treu, obwohl sie deine Lebensgefährtin war, mit der du den Bund geschlossen hast. … Hüte dich deshalb bei deinem Leben und brich der Frau deiner Jugend nicht die Treue. „Denn ich hasse die Scheidung!“, spricht der Herr, der Gott Israels. „Das ist, als ob man sich eines Gewaltverbrechens schuldig macht.“ (2,14-16)

Viele Menschen tun sich heute schwer mit der Vorstellung von einem zornigen Gott. Ich frage mich: Haben sich diese Menschen je in Gottes Position versetzt? In der damaligen Gesellschaft war es ein existenzielles Drama für eine Frau, von ihrem Mann verlassen zu werden. Zur menschlichen Demütigung kam die blanke existenzielle Not. Kein Wunder, dass Gott hier Scheidung mit einem Gewaltverbrechen gleichsetzt. Wie könnte ein Gott der Liebe nicht zornig werden, wenn seine geliebten Geschöpfe so grausam behandelt werden?

Gottes Worte müssten uns Menschen des 21. Jahrhunderts, in dem Scheidung eine Normalität zu sein scheint, eigentlich in den Ohren klingeln: „Ich. hasse. Scheidung.“ Punkt. Und zwar nicht weil Gott ein Moralapostel ist. Sondern wegen der psychischen Gewalt gegenüber einem verlassenen, entwurzelten Partner und – noch schlimmer – gegenüber entwurzelten und gespaltenen Kindern. Gott fühlt den Schmerz der Verlassenen und Verstoßenen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn er dann von unserem Gottesdienst nichts wissen will.

„Ihr werdet lästig“: Ignoranz gegenüber Gottes Perspektive

Als ob das nicht schlimm genug wäre, setzen die Menschen aber noch eins drauf und behaupten: „Der Herr freut sich an Menschen, die Böses tun und hat Gefallen an ihnen. Oder: Wo ist denn der Gott, der richtet?“ (3, 17) Das klingt zunächst komisch. Wer sagt denn so etwas? Aber mal ehrlich: Ist das nicht auch bei uns heute gang und gäbe? Menschen haben ihren Partner verlassen, weil sie sich in jemand anderes verliebt haben. Aber wir sprechen ihnen trotzdem Gottes Segen zu. Dass Gott vielleicht auch ein zorniger Richter sein könnte, kommt uns nicht einmal in den Sinn.

Ich höre förmlich den Widerspruch: Niemand darf Andere verurteilen! Wer bist Du, dass Du über andere, deren Lebensmodell gescheitert ist, den Stab brichst? Ja, das stimmt, das darf ich nicht. Ich bin nicht der Richter. Über niemanden. Erst recht, weil das Leben wirklich komplex ist. Und schließlich ist niemand fehlerfrei, ich zuletzt. Ich kenne Fälle, in denen Scheidung tatsächlich unumgänglich und not-wendend war. Aber solche Ausnahmen ändern nichts daran, dass wir uns Gottes Wort stellen müssen: Er spürt den Schmerz der Verlassenen und Verstoßenen. Er empfindet Untreue als Gewalt. Jeder der von einem ihm wichtigen Menschen verlassen und fallen gelassen wurde weiß, dass Gott damit absolut recht hat. Und so wenig wir über andere richten dürfen, so wenig steht es uns zu, Gott verfügbar zu machen und seinen Segen vorschnell zu verteilen, wo Gott in Wahrheit zornig ist statt zu segnen.

„Ihr habt mich betrogen“: Fehlendes Vertrauen in Gottes Versorgung

Und dann geht es Gott auch noch um das liebe Geld. Gott fühlt sich betrogen, weil die Israeliten nicht den Zehnten von ihrem Besitz abgeben. Gottes Worte dazu sind bemerkenswert:

„Stellt mich doch damit auf die Probe“, spricht der allmächtige Herr, „ob ich nicht die Fenster des Himmels für euch öffnen und euch mit unzähligen Segnungen überschütten werde!“ (3,10b)

Mit anderen Worten: Versucht es doch einmal, mir zu vertrauen! Testet mich! Gott wünscht sich nicht gezwungenen Gehorsam. Er wünscht sich Vertrauen. Ein Vertrauen, das er segnen und belohnen kann, für das er uns beschenken und mit Gutem überschütten kann. Der Ungehorsam, der Gott beleidigt, ist die direkte Folge von fehlendem Vertrauen in Gottes überbordende Großzügigkeit.

„Ihr habt mich beleidigt“: Fehlendes Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit

Gottes Gericht kommt. Er wird Gerechtigkeit herstellen. Es beleidigt Gott, das in Abrede zu stellen: „Ihr sagt: Welchen Wert hat es, Gott zu dienen? … Den Gottlosen geht es viel besser.“ (3,14a+15a) Stimmt. Gottes Geduld führt zum Glück dazu, dass nicht auf jedes Vergehen sofort Strafe folgt. Von dieser Geduld Gottes leben wir alle. Trotzdem ist es Gott ein großes Anliegen, in Bezug auf „alle, die Ehrfurcht vor ihm hatten und seinen Namen achteten“ klar zu stellen:

„An dem Tag, an dem ich handle, werden sie mir gehören“, spricht der allmächtige Herr. „Ich werde sie verschonen, wie ein Vater sein Kind verschont, das ihn achtet. Dann werdet ihr den Unterschied zwischen den Gerechten und den Gottlosen, zwischen denen, die Gott dienen, und denen, die dies nicht tun, erkennen.“ (3,16b-18)

Es gibt keinen Schwamm-drüber-Gott. Von diesem postmodernen Mythos sollten wir uns schnellstens und gründlich verabschieden Alles, was wir tun, alle unsere Entscheidungen haben Konsequenzen. Es kommt alles noch einmal auf den Tisch. Aber es gibt Gnade und Vergebung, für alle, die ihn achten und ihm vertrauen. Das ist Evangelium!

Reinigung und Umkehr kommt vor dem Kommen Gottes

Christen beten: „Dein Reich komme!“ Sie sehnen sich nach dem Anbruch von Gottes Friedensreich. Das Buch Maleachi macht deutlich: Das Reich Gottes kommt – aber nicht einfach so. Es bricht nicht ohne eine vorherige Reinigung an:

„Siehe! Ich sende meinen Boten, damit er mir den Weg ebnet. … Bevor der große und schreckliche Tag des Herrn kommt, sende ich euch den Propheten Elia. Er wird die Herzen der Väter ihren Kindern und die Herzen der Kinder ihren Vätern zuwenden, damit ich bei meinem Kommen nicht das Land vernichten muss.“ (3,1+23-24)

Auch diese Botschaft zieht sich quer durch die Bibel: Gottes Heiligkeit und unsere Sündhaftigkeit sind vollkommen inkompatibel. Wir sündigen Menschen sterben und vergehen in Gottes heiliger Gegenwart. Wenn Gott kommt, dann ist das deshalb nicht einfach nur schön und nett. Sein Erscheinen führt zu einer „schrecklichen“ Konfrontation zwischen seiner Heiligkeit und unserer Sünde. Deshalb muss Sünde, Ungerechtigkeit und das Böse zurückgedrängt werden, bevor Gott unter den Menschen wohnen kann. Sonst würde Gottes Kommen in einem vernichtenden Gericht enden.

Genau das war der Auftrag von Johannes, dem Täufer, der hier angekündigt wird. Er rief die Menschen zur Umkehr. Es ging ihm dabei nicht nur um die formale Einhaltung frommer Regeln sondern ganz praktisch um ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit sowie um das praktische Gelingen des menschlichen Miteinanders (nachzulesen in Lukas 3, 10-14). Und das erste, worauf Gott hierbei ganz offenkundig schaut, ist die Frage, ob Eltern ihre Kinder lieben und umgekehrt. Das zeigt Gottes Sichtweise: Wenn nicht einmal die allergrundlegendste menschliche Verbindung von Eltern und Kindern funktioniert, dann ist menschliches und gesellschaftliches Miteinander im Kern gescheitert.

Gerade diese Schwerpunktsetzung des liebevollen Miteinanders von Eltern und Kindern, das Gott im letzten Satz des Alten Testaments so prominent in den Mittelpunkt stellt, sollte uns eigentlich heute ganz besonders erschüttern. Leben wir doch in einer Gesellschaft, in der…

Menschen Preise dafür bekommen, dass sie Müttern helfen, ihre ungeborenen Kinder zu töten.

… selbst bekannte kirchliche Vertreter fordern, dass Werbung für Abtreibung legalisiert werden soll.

… auch bekannte christliche Redner die menschenverachtende These vertreten, dass das menschliche Leben erst mit dem ersten Atemzug beginnen würde, was – konsequent zu Ende gedacht – bedeuten würde, dass man Kinder im Mutterleib bis kurz vor der Geburt töten kann.

… immer mehr Kinder schon Wochen nach der Geburt in Fremdbetreuung gegeben wird, obwohl wir immer wieder von Fachleuten gesagt bekommen, wie schädlich das ist.

Mütter regelrecht gemobbt werden, wenn sie sich selbst um ihre Kinder kümmern wollen.

offen davon geträumt wird, biologische Elternschaft am besten ganz abzuschaffen.

Aber genau hier beginnt Gottes Heilsmission: Die Liebe in der Familie, die Liebe zwischen Kindern und Eltern ist Gott im wahrsten Sinne des Wortes heilig. Offenkundig ist die Familie in Gottes Augen die Keimzelle der Liebe. Von hier aus kann sie sich in die ganze Gesellschaft hinein heilsam ausbreiten. Aber wenn die Liebe in der Familie stirbt, dann wird auch die Gesellschaft kalt. Kein Wunder, dass Familie schon immer ein ganz besonders umkämpfter Bereich war.

Das Buch Maleachi zeigt: Wir Menschen schaffen es nicht!

Das Buch Maleachi zieht am Ende des Alten Testaments ein eindeutiges Fazit: Ihr Menschen schafft es nicht aus eigener Kraft! Eure menschengemachten Gottesdienste sind oberflächlich. Ihr verfälscht meine Botschaft, weil ihr lieber den Menschen nach dem Mund redet. Ihr wollt, dass ich Gebete erhöre, obwohl ihr gleichzeitig gewalttätig mit Schwächeren umgeht. Und ihr behauptet auch noch, ich würde das gutheißen. Ihr seid nicht in der Lage, mir und meiner Großzügigkeit zu vertrauen. Und ihr bezweifelt, dass ich am Ende Gerechtigkeit herstellen werde. Ja: Ihr schafft es nicht einmal, innerhalb eurer Familien liebevolle Beziehungen zu leben. Ihr Menschen seid gescheitert. Ihr könnt euch nicht selbst helfen. Deshalb komme ich, um euch zu retten aus eurer Verlorenheit.

Diese Botschaft gilt noch heute. Sie ist die Basis und das notwendige Hintergrundbild für das Evangelium von der Erlösung. Die Beispiele, die Maleachi verwendet, sind allesamt so hochaktuell, dass sie uns zeigen sollten: Die aufgeklärte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist nicht besser als das Israel aus der Zeit des alten Bundes. Das Wesen des Menschen hat sich nicht verändert. Deshalb leuchtet das Evangelium auch heute noch genauso hell, wenn wir begreifen, wie dunkel unsere Verlorenheit ohne Gott ist. Der Umstand, dass wir heute so wenig vom Jubel der Erlösten in der Kirche hören, hat entscheidend damit zu tun, dass wir so oft ausblenden, wie groß unser menschliches Versagen ist und wie erlösungsbedürftig wir tatsächlich sind. Wer das Alte Testament und das Buch Maleachi nicht im Blick hat, kann das Evangelium nur falsch verstehen.

Ein teures Evangelium statt billiger Gnade

Dietrich Bonhoeffer hat den Begriff von der „billigen Gnade“ geprägt. Billige Gnade ist „Predigt der Vergebung ohne Buße, … Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz.“ Billige Gnade heißt: Wir glauben, von Gott getätschelt zu werden, während wir trotzdem unser eigener Herr bleiben und weitermachen wie wir wollen. Die Bibel kennt keine derartige Botschaft. Sie predigt ein teures Evangelium, das uns unseren Stolz und unseren Eigensinn kostet, das uns zum Kreuz führt, wo unser alter Mensch mit Christus sterben darf, damit Gott unser steinernes Herz durch ein geisterfülltes fleischernes Herz ersetzen kann. Ein billiges Evangelium, das die Hintergrundbotschaft des Alten Testaments verschweigt, ist deshalb ein anderes, ein falsches, ein banalisiertes, belangloses und kraftloses Evangelium, das zwar keinen Anstoß erregt, das aber am Ende auch niemand interessiert und niemand verändert. Ein teures Evangelium wird immer Anstoß erregen. Es wird immer Widerspruch und Ablehnung hervorrufen. Aber nur ein teures Evangelium bringt Gottes erneuernde, rettende und erlösende Kraft.

Es ist Zeit, dieses strahlende, kraftvolle, schöne und erlösende Evangelium neu zu entdecken, das uns die Bibel als Ganzes präsentiert. Ich möchte ein Mensch sein, dem man abspürt, wie unendlich lieb und teuer mir dieses teure Evangelium ist. Auch deshalb liebe ich meinen Konfirmationsspruch so sehr:

„Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ (Römer 1, 16)


Die Zitate dieses Artikels entstammen der Neues Leben Übersetzung. Es empfiehlt sich, die angegebenen Bibelstellen nachzuschlagen. Oder wie wäre es, das Buch Maleachi einfach mal zu lesen, in einem Rutsch, ganz ungefiltert…?

Weiteführend dazu:
“Billige Gnade ist der Todfeind der Kirche” – ein hochaktueller und aufrüttelnder Text von Dietrich Bonhoeffer

Das Evangelium: Gottes Zorn und Gottes Gnade

Was wir aus dem Buch der Klagelieder lernen können

„Die Gnade des Herrn nimmt kein Ende! Sein Erbarmen hört nie auf, jeden Morgen ist es neu. Groß ist seine Treue.“ (Klagelieder 3, 22-23)

Ist das nicht ein wunderschöner Bibelvers? Gott ist endlos gnädig, treu und voller Erbarmen. Wie wahr! Leider ist der Kontext, in dem dieser berühmte Vers steht, weit weniger bekannt. Und der ist regelrecht schockierend! Der Vers steht ziemlich genau in der Mitte des Buchs der Klagelieder, das wahrscheinlich auf den Propheten Jeremia zurückgeht. Beklagt wird darin die Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar (2. Chronik 36, 17-21).

Besonders spannend wird dieser tieftraurige Text, wenn man sich beim Lesen die Frage stellt: Worin liegt eigentlich die Ursache für den katastrophalen Untergang Jerusalems? Wer ist schuld an dem Desaster? König Nebukadnezar vielleicht, der Jerusalem mutwillig zerstört hat? Oder lag es an der Unfähigkeit der israelischen Führung? So würden wir heute ja reden: Die Kriegstreiber sind schuld! Und natürlich die Politiker!

Aber das verblüffende an den Klageliedern ist: Hier wird ausschließlich Einer als Verursacher der Katastrophe dargestellt: Gott!

„Der Herr hat seinen Zorn wie dunkle Wolken über Jerusalem geworfen. Die Herrlichkeit Israels warf er vom Himmel zur Erde. Selbst seinen eigenen Tempel hat der Herr am Tag seines Zorns nicht verschont. Erbarmungslos hat der Herr jedes Haus in Israel zerstört.“ (Kl. 2,1-2a)

Die Szenen, die als Folge von Gottes Zorn geschildert werden, sind grauenvoll:

„Sie liegen in den Straßen – Junge und Alte, Mädchen und Jungen, vom Schwert erschlagen. Du hast sie in deinem Zorn erschlagen, du hast sie ohne Erbarmen umgebracht.“ (Kl. 2, 21)

Schließlich versteigt sich der Autor der Klagelieder sogar zu dem Satz: „Kommt nicht Böses und Gutes aus dem Mund des Allerhöchsten?“ (Kl. 3,38)

Böses aus dem Munde Gottes!? Kann das denn sein??? Ist dieses Buch also eine große Anklage gegen Gott? Das wäre angesichts des schrecklichen Leids ja durchaus naheliegend. Aber Gott wird hier nicht die Schuld gegeben. Gott ist zwar der Verursacher der Katastrophe, aber schuld daran ist das Volk Israel. Nicht Gott war untreu sondern:

„Wir, wir haben die Treue gebrochen und sind widerspenstig gewesen“ (Kl. 3, 42)

„Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr. Wir aber tragen ihre Schuld.“ (Kl. 5, 7)

Angeklagt werden deshalb besonders auch die Propheten Israels:

„Deine Propheten haben dich betrogen und dir falsche Bilder ausgemalt. Sie haben nicht einmal versucht, dich vor dem Exil zu bewahren, indem sie dir deine Sünden vorhielten. Stattdessen weissagten sie Lügen und verführten dich.“ (Kl. 2, 14)

Wegen der Schuld des Volkes bringt Gott also schweres Unglück über Israel. Wie kann das sein, wenn Gottes Erbarmen doch niemals aufhört? Ist das nicht ein Widerspruch? Oder vielleicht ein Hinweis darauf, dass etwas mit unserem Gottesbild nicht stimmt?

Beim Lesen von Klagelieder 3, 22 fällt mir immer sofort die bekannte Vertonung dieses Verses ein. Ich habe dieses wunderschöne Lied schon so oft angestimmt. Allerdings ist darin nicht von „Gnade“ sondern von „Güte“ die Rede: „Die Güte des Herrn hat kein Ende, kein Ende. Sein Erbarmen hört niemals auf…“

Natürlich ist die Übersetzung mit “Güte” nicht falsch. Auch Luther übersetzt mit diesem Begriff. Trotzdem: „Güte“ ist etwas Anderes als „Gnade“. Güte steht für ein freundliches, geduldiges Wesen. Gnade hingegen ist das Erlassen meiner Schuld, obwohl ich eigentlich verurteilt werden müsste. Und leider beobachte ich oft in meiner Kirche, dass Gott als jemand dargestellt wird, der immerzu gütig, freundlich, sanft, ermutigend und aufbauend ist, ganz egal wie wir uns verhalten. Von Zorn und Strafe ist keine Rede. Das klingt zwar schön, passt aber leider gar nicht zu dem Bild, das uns quer durch die Bibel von Gott gezeichnet wird: Der Gott der Bibel ist eben kein netter Opa im Himmel, der die Irrungen und Wirrungen der Menschen geduldig weglächelt. In seiner Gegenwart kann Sünde nicht bestehen. Menschen, die Gott begegnen, fürchten sich, zittern, fallen wie tot zu Boden. Der Zorn dieses Gottes kann in ein hartes, furchtbares Gericht münden. Und wer die Offenbarung aufschlägt merkt: Diesen zornigen, richtenden Gott finden wir nicht nur im Alten sondern genauso im Neuen Testament. Im Hebräerbrief lesen wir sogar: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebr. 10, 31).

Dass Gott immer wieder zornig wird sollte uns nicht verwundern. In der Bibel wird vielfach beklagt, wie viel Leid wir Menschen uns gegenseitig zufügen und wie wir gerade auch die Schwächsten (die „Fremden, Witwen und Waisen“) unterdrücken, betrügen und berauben. Was würden wir an Gottes Stelle tun, wenn wir uns all diese Grausamkeiten permanent ungefiltert anschauen müssten? Gott wäre kein Gott der Liebe, wenn er angesichts von Gewalt und Betrug an seinen geliebten Geschöpfen nicht irgendwann zornig werden und letztlich auch praktisch zeigen würde, dass Verbrechen Konsequenzen haben. Und wer von uns könnte sagen, dass er nicht vielfach verstrickt ist in Vorgänge, die anderen Menschen schaden und Gewalt antun? Ich könnte das nicht.

Aber genau hier kommt der Begriff der Gnade ins Spiel. Gnade heißt nicht: Gott bleibt jederzeit nett zu mir, egal was ich mir und Anderen antue. Gnade heißt: Ich hätte es eigentlich verdient, von Gottes Zorn getroffen zu werden. Aber ich werde unverdient vor Gottes Gericht verschont und darf trotz meiner Schuld (ewig) leben.

Das ist Rettung. Das ist Erlösung.

Zurück zum Vers am Beginn dieses Artikels: Erst vor dem Hintergrund des düsteren Kontexts von Gottes Zorn und Gericht leuchtet dieser wunderschöne Vers so unglaublich hell. Ohne diesen Kontext hingegen bleibt er oberflächlich und seicht. Die biblische Botschaft lautet eben nicht: Gott ist immer nett zu Dir, deshalb sei auch immer nett zu Deinen Mitmenschen. Solche moralischen Appelle klingen zwar schön. Aber sie helfen nicht, weil sie nicht an die Wurzel unseres Problems gehen, nämlich an unser sündhaftes, unheilbar in Egoismus und Stolz verstricktes Wesen, das auch beim besten Willen nicht immer so nett sein kann, wie das erforderlich wäre, um Niemandem zu schaden.

Wir müssen wieder lernen, genau so zu denken wie der Autor der Klagelieder:

  • Gott selbst bringt Gericht über uns.
  • Nicht Gott, nicht andere Menschen, sondern wir selbst sind schuld daran, weil unser Verhalten im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel schreit.
  • Nur Gottes Gnade kann uns vor Gottes berechtigtem Zorn und Gericht retten.

Als Christen wissen wir: Diese Gnade ist allein in Jesus zu finden und in seinem Tod am Kreuz, wo Gottes Zorn ihn an unserer Stelle getroffen hat. Deshalb rufen wir alle Menschen: Komm zum Kreuz! Bekenne dort Deine Schuld! Finde Gnade und Leben in dem Blut, das Jesus dort für Dich vergossen hat. Werde neu durch den Heiligen Geist.

Ist das Evangelium also doch auch eine Drohbotschaft und nicht nur Frohbotschaft? Nein. Niemand kommt zu Jesus, weil man ihm mit Gericht und Hölle droht. Gott wird zwar manchmal zornig. Aber im Kern seines Wesens ist er Liebe – durch und durch. Diese unermessliche, niemals endende Liebe Gottes steht immer im Vordergrund und im Mittelpunkt der christlichen Botschaft. Aber Gottes Liebe ist eben nicht billig sondern teuer. Sie kostet ihn und uns etwas:

  • Gott hat dafür bezahlt durch das von ihm selbst am Kreuz vergossene Blut.
  • Und uns kostet sie unseren Stolz. Sie holt uns vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit, weil wir zugeben müssen, dass wir uns eben nicht selbst erlösen können sondern dass ein Anderer unsere Suppe auslöffeln muss und dass wir Gnade brauchen.

Die Liebe Gottes tätschelt uns nicht nur. Am Kreuz zeigt uns Jesus die Größe seiner Liebe – aber auch die Tiefe unserer Abgründe. Seine Güte will uns zur Umkehr leiten (Römer 2,4) – weil er uns retten will. So wie damals Jeremia Israel retten wollte mit seinem Ruf zur Umkehr.

Das ist wahrlich gute Botschaft. Das ist wahres Evangelium.


Titelbild: Eduard Bendemann: Die trauernden Juden im Exil, 1832

Siehe auchDas Kreuz – Stolperstein der Theologie – Warum Jesus für uns sterben musste

Andere Fragen – anderes Evangelium?

„Wie kann meine Sünde vergeben werden?“ „Wie finde ich Gnade vor Gott?“ „Wie komme ich in den Himmel?“ Zur Zeit Martin Luthers waren das brandheiße Fragen, die viele Menschen beschäftigten – so sehr, dass sie sogar bereit waren, Geld für Ablassbriefe zu bezahlen, um Vergebung, Gnade und den Himmel zu finden. Martin Luthers Lehre, dass allein der Glaube uns rettet und Vergebung bringt, war eine phantastische Antwort auf die brennenden Fragen der damaligen Zeit. Luther hat für die damaligen Menschen eine Brücke gebaut über einen reißenden Strom von weit verbreiteten Ängsten vor den Folgen ihrer Schuld, den die Kirche mit ihrem Ablasshandel zusätzlich geschürt hat.

Der reißende Strom von damals ist heute höchstens noch ein kleines Rinnsal, für das kein Mensch mehr eine Brücke braucht. Sünde beschäftigt die Menschen höchstens noch in Bezug auf falsche Ernährung. Außerdem steht für die meisten Menschen fest: Falls es Gott gibt, dann ist es in jedem Fall ein lieber Gott, der mich niemals in die Hölle schmeißen würde.

Der Fluss der Fragen und Ängste fließt heutzutage anderswo. Da geht es um die Suche nach Identität, nach Selbstannahme, nach Sinn, nach Orientierung und nach tragfähigen Beziehungen. Statt unter ihrer Schuld leiden die Menschen unter Scham und Angst vor Ablehnung, die durch das ständige Vergleichen mit Anderen in den sozialen Netzwerken gefördert wird. Brauchen diese neuen Fragen und Nöte also ganz neue Antworten? Müssen wir vielleicht ganz neue Brücken bauen statt die alte Brücke der Reformationszeit zu renovieren und zu modernisieren? Braucht unsere heutige Gesellschaft ein anderes oder zumindest ein anders formuliertes Evangelium als die Gesellschaft Martin Luthers?

Tatsächlich lesen wir bei Paulus, dass es ihm auf seinen Missionsreisen äußerst wichtig war, genau darauf zu achten, welche Fragen die Menschen bewegen und womit sie sich beschäftigen. Er suchte nach guten Anknüpfungspunkten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen (Apostelgeschichte 17, 23). Das zeigt: Die Orientierung an den Fragen der Menschen ist in der Tat wichtig für unsere missionarische Arbeit. Und auch in Deutschland sind wir ja längst wieder in einer Missionssituation, die sich von der Situation des Paulus kaum unterscheidet.

Trotzdem scheint mir die Frage nach gelingender Kommunikation und nach passenden Antworten für die Bedürfnisse der Menschen nicht im Mittelpunkt des Neuen Testaments zu stehen. Denn die Frage ist ja: Warum war denn die erste Generation der Christen eigentlich so erfolgreich? Warum wächst heute das Evangelium wie verrückt in absolut christenfeindlichen Gesellschaften wie z.B. dem Iran oder China? Mein Eindruck ist: Ganz bestimmt nicht deshalb, weil dort das Evangelium eine passende Antwort auf vorherrschende menschliche Bedürfnisse bietet. Gerade in der Verfolgungssituation entzieht das Evangelium Sicherheit, statt Sicherheit zu geben. Es entzieht Gemeinschaft, statt Gemeinschaft zu geben. Wenn die neuen Christen aus ihren Familien ausgestoßen und gesellschaftlich geächtet werden entzieht das Evangelium Schutz und Annahme statt Schutz und Annahme zu geben. Es bringt gesellschaftliche Schande über die Menschen statt ihnen die Scham zu nehmen.

Schauen wir uns doch einmal die Schlüsselsätze aus den extrem erfolgreichen Botschaften der Apostel an: „In keinem anderen Namen ist das Heil!“ (Apg. 4, 12) „Kehrt um!“ (Apg. 2, 38) Dieser Absolutheits- und Wahrheitsanspruch, der dem damaligen gesellschaftlichen Konsens komplett widersprach, sowie das grundlegende Infragestellen des bisherigen Lebensstils der Menschen – all das war noch nie populär. Das war noch nie Antwort auf die Fragen der Menschen. Das war im Gegenteil schon immer ein provokatives und polarisierendes Ärgernis, das nur deshalb so erfolgreich war, weil die Zeugnisgeber eine so enorme Ausstrahlung hatten und so glaub-würdig waren.

Das Evangelium stellt ja gerade nicht den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Ideen, Ängsten und Fragen in den Mittelpunkt sondern den gekreuzigten Christus und die Botschaft, dass wir mit Christus am Kreuz sterben müssen, damit Erneuerung möglich wird. Erst durch diese Erneuerung, diese Neugeburt durch Taufe und Heiliger Geist, beginnt das Evangelium, auch Bedürfnisse nach Annahme, Liebe, Versorgung, Gemeinschaft, Identität, Zukunft, Sicherheit, Selbstwert usw. zu stillen. Aber ohne diese Erneuerung bleiben alle Versprechen nach Bedürfnisstillung theologische Kopfgeburten und leere Versprechen, mit denen man gerade in der Verfolgungssituation erst gar nicht zu kommen braucht.

Zudem sehe ich, dass gerade bei uns so viele Gemeinden daran leiden, dass immer mehr Gemeindeglieder die Erwartung haben, dass die Gemeinde ihre Bedürfnisse stillen soll. Das führt zwangsläufig zu unrealistischen Erwartungen und zu einer Überforderung der Gemeindemitarbeiter. Solange unsere Gemeinden nur Konsumenten hervorbringen und keine geistlichen Selbstversorger, die ihre Bedürfnisse aus einem eigenen authentischen geistlichen Leben heraus stillen können, bleibt Gemeindearbeit ein zähes Geschäft, in dem die einen unzufrieden sind und die anderen in den Burnout getrieben werden.

Das Evangelium stellt ja gerade nicht den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Ideen, Ängsten und Fragen in den Mittelpunkt sondern den gekreuzigten Christus und die Botschaft, dass wir mit Christus am Kreuz sterben müssen, damit Erneuerung möglich wird.

Deshalb bin ich überzeugt davon: Unsere lahmende Kirche kann nur dann erfolgreich werden, wenn Sie das Geheimnis der Erneuerung in Christus durch das Kreuz und den Heiligen Geist wieder entdeckt und wenn daraus authentische, glaubwürdige Gläubige und schließlich auch Gemeinschaften wachsen, in denen die Menschen so sichtbar verändert und erneuert werden, dass sogar die Esoteriker neidisch werden (Apg. 8, 18). Um im Bild vom Fluss und der Brücke zu bleiben: Der entscheidende Fluss, den das Evangelium überbrückt, hat sich nie verändert und er wird sich nie verändern, bis Jesus wiederkommt: Das ist die Sündhaftigkeit des Menschen, der es aus eigener Kraft eben niemals schafft, Solidarität, Liebe, Gemeinschaft, Selbstlosigkeit, Freiheit usw. zu leben. Deshalb ist auch die Brücke des Evangeliums im Kern seit 2.000 Jahren in aller Welt und in allen Kulturen die gleiche: Jesus erlöst uns aus unserem alten Leben der Verstrickung in die weltlichen Denk- und Verhaltensmuster, indem wir unser Leben in den Tod geben (Taufe!), um uns aus Gnade mit Vergebung beschenken und durch den Heiligen Geist erneuern zu lassen. Die Erlösung von Scham, die Zusicherung des Angenommenseins und die Erneuerung der Identität und des Selbstwerts ist in der Bibel immer Folge der Erlösung von unserer Schuld, die im Kern in unserem ichbezogenen Leben besteht, das Gott und seinen Herrschaftsanspruch ignoriert. Wenn wir zu ihm umkehren und unsere Sünden waschen im Blut des Lammes, dann können wir ohne Scham und Angst vor dem Thron Gottes stehen (1.Joh.1,7; Offb.7,14) und in seiner Liebe Annahme und Selbstwert finden.

Der entscheidende Fluss, den das Evangelium überbrückt, hat sich nie verändert und er wird sich nie verändern bis Jesus wiederkommt: Das ist die Sündhaftigkeit des Menschen, der es aus eigener Kraft eben niemals schafft, Solidarität, Liebe, Gemeinschaft, Selbstlosigkeit, Freiheit usw. zu leben.

Den schwersten Schaden nimmt die Kirche immer dann, wenn sie das Ärgernis des Kreuzes beseitigt, weil sie den Lebensstil der Menschen nicht mehr in Frage stellen will, und wenn sie stattdessen ihre verloren gegangene Kraft und Ausstrahlung mit dem Versuch kompensieren will, das Evangelium mit den säkularen Strömungen kompatibel zu machen. Das kann niemals funktionieren. Gerade für die Klugen und Intellektuellen ist das Evangelium doch die größte Provokation (1. Kor. 1, 20), weil es die Weisheit dieser Welt und den dahinter stehenden menschlichen Stolz komplett in Frage stellt. Bevor wir uns also ausgiebig mit Soziologie und Kommunikationsstrategien befassen, steht die Kirche zunächst vor einer anderen Aufgabe: Wie können wir zurückkehren zu unserer ersten Liebe zu Christus? (Offb. 3, 5) Wie können wir Anbetung, Gebet und Hören auf Gottes Wort neu beleben, damit unser Glaube wieder lebendiger, leidenschaftlicher, dadurch auch authentischer und glaub-würdiger wird? Denn eine Botschaft, die wir nicht existenziell leben, wird gerade in der heutigen Zeit niemals nachhaltigen Eindruck bei den Menschen hinterlassen.

Bevor wir uns also ausgiebig mit Kommunikationsstrategien befassen steht die Kirche zunächst vor einer anderen Aufgabe: Wie können wir zurückkehren zu unserer ersten Liebe zu Christus?

Jesus hat zudem zum Ausdruck gebracht, dass unsere Einheit miteinander der entscheidende Schlüssel ist, dass die Welt glaubt (Joh. 17, 21). Ich habe es so oft erlebt: Wo Christus die gelebte Mitte ist, da wächst Einheit wie von selbst (Kol. 2, 19). Nur authentisches Christsein und geistgewirkte Einheit gibt unserem Zeugnis in der Welt die notwendige Glaubwürdigkeit.

Wenn die Kirche sich auf diese Punkte konzentriert und dann zusätzlich noch über kluge Kommunikation und Anknüpfungspunkte in der konkreten Missionssituation nachdenkt, dann ist das ein gutes i-Tüpfelchen zu der Frage, wie wir unsere Gesellschaft mit dem Evangelium erreichen können. Wenn die Kirche sich aber auf das i-Tüpfelchen konzentriert, dann sehe ich wenig Chancen auf echte missionarische Aufbrüche.

Biblische Stolperstellen: Ein „fluchender“ Paulus?

“Aber selbst wenn wir oder ein Engel vom Himmel euch ein Evangelium predigen würden, das anders ist, als wir es euch gepredigt haben, der sei verflucht.”
(Galater 1, 8)

Meine Güte Paulus. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Es ist ja O.K., dass Du Deine Überzeugungen vertrittst. Man kann beim Ringen um die Wahrheit ruhig auch mal streiten. Aber Andere verfluchen? Geht gar nicht! Vor allem nicht in unserer heutigen Zeit, in der doch jeder nach seiner Façon selig werden soll und exklusive Wahrheiten grundsätzlich als gefährlicher, friedensgefährdender Fundamentalismus gelten. Mit so einem Satz würdest Du Dir heute jedenfalls einen heftigen Shitstorm zuziehen.

Aber fragen wir doch zuerst einmal: Was hat Paulus eigentlich genau gesagt?

Das griechische Wort „Anathema“ knüpft an den alttestamentlichen „Bann“ an und zeigt an, dass etwas dem Gericht Gottes ausgeliefert wird. Johannes sagt inhaltlich ganz am Ende der Bibel im Grunde genau das gleiche: Jedem, der die Botschaft dieses Buches ändert, drohen die Gerichtsplagen Gottes (Offb.22,18-19). Bemerkenswert ist: Paulus „flucht“ nicht einfach verächtlich über Andere. Er stellt sich selbst mit unter diese Gerichtsdrohung (“Aber selbst wenn wir oder ein Engel…”). Auch ihn soll also das Gericht Gottes treffen, wenn er etwas Falsches predigt!

Das bringt uns zu der Frage: Warum hat Paulus das gesagt?

Ich stelle mir gerade folgenden Skandal vor: Eine Firma, die Rettungsringe herstellt, hat beim Material gespart. Die Rettungsringe sehen immer noch genauso aus und schwimmen auch auf dem Wasser. Aber durch das billige Material gehen sie unter, sobald sich jemand daran festhält.

Man will sich den Shitstorm kaum ausmalen, den sich diese Firma – völlig zurecht – zuziehen würde. Mehr noch: Die Verantwortlichen gehören vor Gericht! Sie müssen verklagt und hart verurteilt werden. Denn mit ihrem Verhalten haben sie Menschenleben gefährdet!

Mit diesem Bild wird die heftige Aussage von Paulus verständlich. Ganz offensichtlich haben ihn die folgenden Überzeugungen tief geprägt:

  • Die Menschen sind ernsthaft gefährdet. Sie können verloren gehen. Es geht um ihr (ewiges) Leben!
  • Das Evangelium ist eine dringend notwendige Rettungsbotschaft (Röm.1,16)!
  • Nur das richtige Evangelium rettet! Dieses einzig richtige Evangelium hat der Apostel direkt von Gott empfangen (Gal 1,11-121.Thess.2,13).
  • Ein verändertes Evangelium rettet nicht! Am Evangelium etwas zu ändern bedeutet, Menschen in falscher Sicherheit zu wiegen und womöglich in den Untergang zu treiben.

Das „Anathema“ unterstreicht also die Dringlichkeit, Göttlichkeit, Exklusivität und den Rettungscharakter der apostolischen Evangeliumsbotschaft.

Manche moderne Theologen mögen das anders sehen. Sie mögen diesen Exklusivismus ablehnen und stattdessen betonen, dass es doch eine Vielzahl von Deutungen, Auslegungen und Wahrheiten gäbe. Sie mögen auch diese Dringlichkeit verwerfen und glauben, dass Gottes Liebe am Ende so oder so alle Menschen retten wird. Das ist natürlich legitim. Aber sie sollten dann nicht so tun, als ob sie nur die Theologie von Paulus in die heutige Zeit übersetzen. Sie sollten vielmehr offen und ehrlich sagen, dass ihre Botschaft sich grundlegend von der paulinischen Theologie unterscheidet. Sie sollten offen sagen, dass das ein anderes Evangelium ist.

Um im Bild zu bleiben: Wenn manche moderne Theologen schon den Rettungsring ändern, dann sollten sie nicht so tun, als würden sie ein modernisiertes Original verkaufen sondern eindeutig und klar das Firmenlogo tauschen, damit Jeder sofort sehen kann: Das ist ein anderer Ring von einer anderen Firma! Dann können die Menschen selbst entscheiden, welchen „Hersteller“ sie für vertrauenswürdig halten. Dann können sie selbst entscheiden ob sie lieber nach dem Ring des Apostels oder der modernen Theologen greifen.

Ich habe mich übrigens bereits entschieden.

Siehe auch:

  • Christus allein! – Für Christen objektiv oder subjektiv wahr? Und was die Kirche dazu sagt…

Weitere “biblische Stolperstellen”:

Change! Ein Plädoyer für eine Kirche mit Profil

“Change!” Im Wahlkampf von Barack Obama hat dieses Schlagwort die Massen elektrisiert. Offenbar lassen wir uns leicht von Parolen begeistern, die uns vorgaukeln, dass eine andere Politik uns mehr Sicherheit und Wohlstand geben könnte. Aber immer folgt zwangsläufig die Ernüchterung. Denn Politiker haben auch beim besten Willen nur sehr beschränkte Möglichkeiten, die Lebensumstände ihrer Wähler zu verbessern. Für tiefgreifende Veränderungen müssten sich die Herzen der Menschen ändern. Aber Politiker dürften es sich niemals erlauben, die Herzenshaltung ihrer Bürger in Frage zu stellen.

Genau wie die Politik wagt es auch die Kirche kaum noch, Menschen zu hinterfragen und zur Umkehr zu rufen. Beim Thema Familie spricht sie zwar ganz viel über Toleranz und Vielfalt – aber kaum noch über Verfehlungen wie Ehebruch und Untreue. Die Kirche ist begeistert, dass Jesus die Steinigung der Ehebrecherin verhindert hat. Aber niemals würde sie heute einer Ehebrecherin sagen, dass sie mit dem Sündigen aufhören soll.

Offenbar spürt die Kirche, wie fremd und unattraktiv ihre kulturellen Formen für viele Menschen geworden sind. Um nicht vollends ins Abseits zu geraten möchte sie deshalb wenigstens ihre Botschaft möglichst glatt und eingängig gestalten, damit sie keinen Anstoß erregt. Aber hilft das der Kirche wirklich?

Wäre es nicht höchste Zeit, genau den umgekehrten Weg zu gehen? Sollten wir nicht so schnell wie möglich die kulturellen Hürden entfernen und – wie Luther – hinsichtlich unserer Sprache und Musik dem Volk “aufs Maul schauen” – dafür aber unsere Botschaft wieder schärfen und den Ruf zur Umkehr nicht länger den Umweltschützern und Gesundheitsaposteln überlassen?

Jesus hatte den Menschen damals jedenfalls ihr Fehlverhalten klar vor Augen gehalten: Geld, Sex, Gier, Hochmut, Heuchelei, Unbarmherzigkeit, Unbelehrbarkeit… alle menschlichen Abgründe hat er offen angesprochen, manchmal sogar in einer drastischen Deutlichkeit, die zu unserem Bild vom liebevollen Jesus gar nicht so recht passen will. Und niemand hat so oft über die Hölle gesprochen wie Jesus – ein völliges NoGo heutzutage.

Erstaunlicherweise hat er damit trotzdem die Massen mobilisiert. Offensichtlich haben die Menschen gemerkt, dass in seiner Botschaft eine gewaltige Chance für sie alle lag: Wirkliche, tiefgreifende Veränderung und ein festes Fundament für ihr Leben statt leerer Versprechungen! Und sie haben gespürt: Wenn Jesus sie zur Umkehr ruft tut er das nicht, weil er ein kleinlicher Spiel- und Spaßverderber oder ein spießiger Prinzipienreiter ist. Er tut es aus Liebe!

„Wem viel vergeben ist, der liebt viel“, hat Jesus einmal gesagt. Anders ausgedrückt: Liebe und Leidenschaft für Jesus entsteht dort, wo Menschen ihre Fehler und Sünden erkennen und Gottes Vergebung und Gnade in Anspruch nehmen. Das erklärt die Leidenschaft vieler Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Sünde und Gnade zentrale Themen waren. Das erklärt aber auch die Lauheit und Lieblosigkeit der heutigen Christenheit, die selbstgerecht glaubt, darauf verzichten zu können.

Ein Weichspülevangelium, das nur Gottes Liebe und nicht auch seine Heiligkeit kennt, erregt zwar keinen Anstoß. Aber es ist auch belanglos. Jesus war kein netter Softie, der alles weggelächelt hat. Als seine Botschafter sollten wir das auch nicht sein. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Menschen auf der Titanic mit Säuselmusik zu berieseln. Wir sollen sie in die Rettungsboote rufen!

Das geht allerdings nicht von oben herab. Wir können niemand zur Umkehr rufen ohne zu wissen, wie schwach und fehlerhaft wir selber sind. Wenn wir es aber in einer demütigen, jesus-mäßigen Haltung tun werden wir zwar immer noch einige Menschen verschrecken (das hat Jesus manchmal auch getan). Aber was unendlich viel wichtiger ist: Wir werden viele Menschen damit retten! DAS ist es, was am Ende zählt.

Siehe auch: