Kultur der Barmherzigkeit

Tübingen ist ein schönes Städtchen. Es macht Spaß, dort zu arbeiten. Mit Boris Palmer haben wir einen interessanten Bürgermeister, der keine Auseinandersetzung scheut. Letzte Woche wurde er am Rande einer Demonstration von einem Steinewerfer am Kopf getroffen. Auch wenn ich politisch Boris Palmer nicht gerade nahestehe erschreckt mich so eine Nachricht.

Leider greift die Kultur des Steinewerfens um sich. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider beklagt gar eine  “Atmosphäre des Bloßstellens, des Niedermachens, des Draufschlagens”. In der Tat: Fast regelmäßig werden Verantwortungsträger Opfer eines medialen Spießrutenlaufens. Die Demontage von Bundespräsident Wulf war ein trauriger Höhepunkt. Aber auch die Tränen von Kanzlerkandidat Steinbrück haben Bände darüber gesprochen, wie brutal und gnadenlos öffentliche Verantwortungsträger traktiert werden. Und obwohl ich nie FDP-Wähler war fand ich auch den beißenden Spott und die Häme, die z.B. in der heute-show über der abgewählten FDP ausgegossen wurde, geradezu unerträglich.

Aber es geht nicht nur um Prominente. Unternehmer werden als „Bosse“ verschrien, Polizisten als „Bullen“, Hausfrauen und Mütter (für mich die größten Helden unserer Gesellschaft!) als „Heimchen am Herd“, denen man eine „Herdprämie“ bezahlen muss. Unsere scheinbar tabulose Gesellschaft hat neue Tabus geboren, deren Übertretung aggressiv geahndet wird. Das haben zuletzt die Teilnehmer des Marschs für das Leben erfahren müssen, die es gewagt haben, öffentlich das „Recht“ auf freie Abtreibung in Frage zu stellen und die dafür zwar nicht mit Steinen aber mit Farbbeuteln und Kondomen beworfen wurden.

Die Geschädigten dieser Kultur des Steinewerfens sind wir alle. Denn es sind ja gerade auch die Stützen unserer Gesellschaft, die da demontiert werden. Leider sind wir auch in der christlichen Szene alles andere als frei davon. Leiten macht einsam – das gilt allzu oft auch in Kirchen, Gemeinden und christlichen Werken. Es ist manchmal ernüchternd zu hören, was Leiter sich so alles an beißender Kritik anhören müssen. An mir selbst merke ich, wie schnell man zynisch, ärgerlich oder überheblich wird. Es ist gar nicht leicht, sein Herz rein zu halten, wenn man Berichte über (angebliche) Fehler Anderer hört.

Jesus hat die Fehler auch gesehen. Er sah die Sünde der Ehebrecherin. Er hat sie nicht kleingeredet oder ignoriert. Aber er hat sich mutig dazwischengeworfen, als die Steinewerfer ihr an den Kragen gehen wollten. »Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen!« hat er gesagt und damit die Ankläger dazu gebracht, ihre Steine in desteine Herzn Sand fallen zu lassen. Damit hat Jesus ein radikales Zeichen gesetzt. Er will eine Kultur der Barmherzigkeit! Und er hat uns daran erinnert, dass wir ALLE Fehler machen und ALLE von der Barmherzigkeit Gottes und unserer Mitmenschen leben.

Es tut mir ganz gut, mich manchmal daran zu erinnern, wie schräg ich selbst zeitweise drauf war. Wie sehr ich Menschen verletzt habe! Welche verqueren Meinungen ich hatte. Und Gott allein weiß, welche dunklen Motivationen und Irrtümer mich heute noch beeinflussen. Er hätte schon oft allen Grund gehabt, mich abzuschreiben. Aber Gott hatte und hat Geduld mit mir. Statt mich zu verurteilen hat er mir immer wieder aufgeholfen. Gott sei Dank!

Davon lebe ich: Von der Gnade, Vergebung und Barmherzigkeit Gottes und meiner Mitmenschen. Jesus, bitte hilf mir, dass auch ich gnädig bin. Dass ich den Stein fallen lasse, den ich auf andere Menschen schleudern will. Und dass ich mich so wie Du mutig dazwischen werfe, wenn Andere gesteinigt werden sollen. Lass mich ein Friedensstifter sein und einer, der mit der richtigen Herzenshaltung kämpft – für eine jesusmäßige Kulturrevolution. Für eine Kultur der Gnade und der Barmherzigkeit.

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