Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie die beiden noch folgenden Teile enthalten Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet “Postevangelikal”?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist “Progressive Theologie”?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift “Was ist eigentlich postevangelikal?”:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und inhaltlich kritisierbar (in der Theologie spricht man von “Sachkritik”), wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge [3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründ- und erkennbar. Orthodoxe Lehrüberzeugungen werden zunehmend subjektiviert (d.h. sie werden als mögliche Denkvarianten anderen progressiven Überzeugungen gegenübergestellt [5]), oder es wird ihnen offen widersprochen. Dieser Verlust des gemeinsamen dogmatischen Kerns wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für problematisch gehalten, weil die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert wird, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignissen aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [6]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift “Was ist progressive Theologie?”:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Woran liegt das? Warum breitet sich postevangelikal/progressive Theologie so rasant im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aus?

Damit befasst sich Teil 2 dieser dreiteiligen Artikelserie.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] So schreibt zum Beispiel Karsten Hüttmann, der 2022 1. Vorsitzender des Christival war, im Buch „THEOLAB – Jesus, Himmel, Mission“ in seinem Artikel über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu: „Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Die verschiedenen Motive sind jeweils eher als Ergänzung statt als Widerspruch zu verstehen, denn es sind und bleiben letztlich unsere menschlichen Versuche, zu beschreiben, warum Jesus am Kreuz (für uns) starb. … Für Luther war z. B. die Frage nach einem gnädigen Gott noch der Dreh und Angelpunkt seiner Lehren, und für viele Menschen ist auch heute noch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld existenziell. Für andere ist es aber vor allem die selbsterlittene Ungerechtigkeit (hier kann das Sterben Jesu u. a. als Solidarität Gottes mit den Leidenden erlebt werden) oder der Kampf mit der Selbstannahme und der Unsicherheit angesichts der eigenen Existenz (und das Kreuz demzufolge ein Zeichen der absoluten Liebe und bedingungslosen Annahme).“

[6] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

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