Der traurige Niedergang meiner Kirche

Diesen Artikel schreibe ich mit traurigem Herzen. Ich liebe das reiche Erbe meiner evangelischen Kirche. Und ich liebe meine lokale evangelische Gemeinde, in der ich mit überaus wertvollen Geschwistern verbunden bin. Aber ich kann nicht schweigend darüber hinweggehen, was in meiner Kirche vor sich geht.

Dass die evangelische Kirche in Bezug auf ihre Mitgliederentwicklung förmlich implodiert, kann man jeden Tag in den Medien lesen. Persönlich halte ich die Prognose, dass die Mitgliederzahlen sich bis 2060 halbieren, für viel zu optimistisch. Es ist offenkundig, dass das Zerfallstempo zunimmt. Hinzu kommt: Schon jetzt gibt es eine Zweidrittelmehrheit in unserem Land, die sich für eine Abschaffung der Kirchensteuer ausspricht. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Stimmung nicht irgendwann in entsprechende politische Entscheidungen mündet. Dann werden viele evangelische Gemeinden, die im Moment noch durch Kirchensteuermittel künstlich am Leben gehalten werden, ein schnelles Ende finden. Kürzlich habe ich von einer Stadt erfahren, in der die evangelische Kirche 52 Gebäude besitzt, von denen sie schon jetzt 39 abstoßen muss. Zugleich wird überall die Zahl der Pfarrstellen erheblich gekürzt.

All das wäre nicht weiter schlimm. Dass die sogenannte “Volkskirche” wieder zur Freiwilligenkirche wird, ist letztlich nur eine Rückkehr zur Normalität. So war die Kirche am Anfang der Christenheit. Und so ist sie es bis heute in den allermeisten Teilen der Welt. Die evangelische Kirche hätte trotzdem Zukunft, wenn sie das Engagement von gläubigen Laien erfolgreich fördern würde. Meine Erfahrung ist jedoch: Die Mächtigen der Kirche achten nach wie vor strikt auf das theologische Monopol von genau der universitären Theologie, wegen der heute kaum noch jemand weiß, was die Botschaft der Kirche eigentlich ist und worin ihr Daseinszweck besteht. So wird jeder geistliche Aufbruch im Keim erstickt.

Kulturchristentum, Esoterik und politischer Aktivismus

Neulich war ich bei einem Abendkonzert in einer Kirche. Die Menschen strömten. Aufgeführt wurde die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. Die Texte waren geprägt vom tiefen Glauben an das Evangelium vom stellvertretenden Sühneopfer. Am Ausgang stand ein großes Plakat. Es wollte den Besuchern 10 Gründe näherbringen, die für die Kirchenmitgliedschaft sprechen. Da war von Besinnung die Rede, von Solidarität, von Gemeinsamkeit, von Werten und von „kultureller Aufgeschlossenheit“. Was allerdings fehlte, war das Evangelium. Die Kirche wirbt für sich selbst statt für Jesus. Das klappt offenbar nicht besonders gut. Außer mir schien sich niemand für das Plakat zu interessieren.

Derweil wird auf „evangelisch.de“ Werbung für die okkulten Praktiken einer Hexe gemacht, scheinbar ohne dass irgendjemand protestiert. Und auf der EKD-Synode gibt es stehende Ovationen für eine säkulare „Klimaaktivist*in“ der sogenannten „Letzten Generation“. Auch die zahlreichen Gesetzesbrüche dieser Gruppierung sowie die Ablehnung durch weite Teile der Politik und der Bevölkerung hindern die EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich nicht daran, sich weiterhin öffentlich mit dieser Gruppe zu solidarisieren. Dabei müsste eigentlich jeder wissen: Eine “Volkskirche”, die sich mit einer kleinen säkularen und radikalen Minderheit solidarisiert, ist zwangsläufig keine Volkskirche mehr. Kein Wunder, dass der EKD die Frommen ebenso weglaufen wie die ganz normalen Bürger, die diesen polarisierenden politischen Aktivismus nicht länger mit Kirchensteuern unterstützen wollen.

Taufe für alle: Ist das die Rettung?

Um dem Abwärtstrend entgegenzuwirken, treibt die Kirche jetzt eine Taufaktion voran. Unter dem Slogan „Viele Gründe, ein Segen, Deine Taufe“, schreibt die EKD:

„Du bist geliebt!“ Das ist Gottes Zusage an jedes Menschenkind. Die Taufe bestätigt das: Ob kleine Kinder getauft werden, Erwachsene oder Jugendliche vor der Konfirmation – durch die Taufe wird ihnen allen zugesprochen: Du gehörst zu Jesus Christus, Jesus Christus hat dich erlöst.“

Auf Plakaten und Bannern wird verkündet: “Weil Du ein Segen bist”, bist Du und Dein Kind eingeladen zur Taufe. Auf der zugehörigen Internetseite (www.deinetaufe.de) erschöpfen sich sämtliche Texte in bedingungslosem Zuspruch. Biblisch/Reformatorische Begriffe wie Umkehr, Jesusnachfolge, Schuld, Sünde, Vergebung (1. Petrus 3,21), Rettung oder Rechtfertigung sucht man vergeblich. Stattdessen wird konsequent das Bild erzeugt: Wer getauft ist, der ist und bleibt ein Kind Gottes. Dabei wird „Taufe“ im Grunde mit „Segen“ gleichgesetzt – so wie man ein Schiff “tauft”, damit es heil durch alle Gewässer kommt. Irgendwelche Vorbedingungen für eine Erwachsenentaufe? Die Notwendigkeit, dass nach einer Kindertaufe später der persönliche Glaube hinzukommen muss? Komplette Fehlanzeige.

Man muss kein Theologe sein, um zu wissen, dass eine solche „Taufrettungstheologie“ zentralen Aussagen des Neuen Testaments grundlegend widerspricht. Denn da heißt es ja: „Wer glaubt und sich taufen lässt, den wird Gott retten. Wer nicht glaubt, den wird Gott verurteilen.“ (Markus 16, 16) In Römer 10, 9 schreibt Paulus: „Wenn du also mit deinem Mund bekennst: »Jesus ist der Herr!« Und wenn du aus ganzem Herzen glaubst: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt!« Dann wirst du gerettet werden.“ Die Bibel ist glasklar: Taufe ohne Jesusnachfolge rettet nicht.

Aber kann sie vielleicht die Kirche retten?

Eine weichgespülte Botschaft macht die Kirche nicht attraktiver

Alexander Garth beschreibt in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“, warum der Versuch einfach nicht funktioniert, die Kirche durch Glättung ihrer Botschaft attraktiv zu machen:

„Das Resultat der Anpassung ist ein weichgespültes Evangelium und eine profillose Kirche. … Dennoch verstärkt sich der Trend zum Kirchenaustritt. Die Logik geht nicht auf. Der Nivellierungskurs führt zu einer Banalisierung des Glaubens. Kaum einer weiß noch, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht – außer natürlich für das, wofür auch der gesellschaftliche Mainstream steht. Aber dafür braucht es keine Kirche. Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab.“

Tatsächlich entspricht es auch meiner Wahrnehmung, dass Christen wie Nichtchristen diese Taufinitiative eher als einen krampfhaften Versuch zur Gewinnung von Kirchensteuerzahlern empfinden. Das nagt nicht nur weiter an der Glaubwürdigkeit der Kirche (ich kenne Menschen, die genau wegen dieser Aktion jetzt aus der Kirche austreten). Wenig überraschend ist, dass zugleich die evangelistischen Bemühungen immer spärlicher werden. Was sollte auch die evangelistische Botschaft sein, wenn man doch zugleich mit aller Kraft das Bild vermittelt, dass jeder Getaufte von Gott angenommen, gesegnet und fest mit ihm verbunden ist und dass Christsein und Christwerden mit Umkehr, Sündenvergebung und praktischer Jesusnachfolge („Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“) nichts zu tun hat?

Schon Dietrich Bonhoeffer war deshalb der Meinung, dass es der Kirche nicht nutzt, sondern massiv schadet, wenn sie den Menschen Versöhnung mit Gott verspricht, ohne sie in die Nachfolge des Herrn Jesus Christus zu rufen:

Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. … Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderten Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. … Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. … In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. … Wie die Raben haben wir uns um den Leichnam der billi­gen Gnade gesammelt, von ihr empfingen wir das Gift, an dem die Nachfolge Jesu unter uns starb. … Sie hat uns den Weg zu Christus nicht geöffnet, sondern verschlossen. Sie hat uns nicht in die Nachfolge gerufen, sondern in Ungehorsam hart gemacht. … Der glimmende Docht wurde unbarmherzig ausgelöscht. Es war unbarmherzig, zu einem Menschen so zu reden, weil er, durch solches billiges Angebot verwirrt, seinen Weg verlassen musste, auf den ihn Christus rief, weil er nun nach der billigen Gnade griff, die ihm die Erkenntnis der teuren Gnade für immer versperrte. … Das Wort von der billigen Gnade hat mehr Christen zugrunde gerichtet als irgendein Gebot der Werke.

Das sind harte Worte. Und doch glaube ich: Wir müssen sie heute wieder hören. Wer glaubt, dass ich mit diesem Artikel jetzt auch zu diesen Leuten gehöre, die sich am Untergang der Kirche regelrecht zu freuen scheinen und die sich selbst wohl fühlen beim hämischen Kirchenbashing, der irrt sich. Ich leide unter dieser Situation. Und gerade deshalb halte ich es für wichtig, dass wir Frommen in der Kirche diese Missstände offen ansprechen. Ulrich Parzany schrieb vor nicht allzu langer Zeit: “Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.“ Wir Frommen neigen dazu, um des lieben Friedens willen alles still zu ertragen. Aber ich glaube nicht, dass das immer eine Tugend ist. Allzuoft hat es auch mit Menschenfurcht oder mit persönlichen, vielleicht sogar finanziellen Abhängigkeiten zu tun. Die letzten Jahre haben gezeigt: Unser Schweigen hat es nicht besser gemacht, im Gegenteil: Es ist alles noch schlimmer geworden. Die Kirche steht mehr denn je am Abgrund. Und es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, warum in den Freikirchen und in der katholischen Kirche scheinbar so Viele der evangelischen Kirche auch noch nacheifern wollen.

Es gibt ein Fundament, auf dem die Kirche bestehen kann

Ohne Frage haben wir der evangelischen Kirche und dem Erbe eines Martin Luther und anderer Reformatoren unfassbar viel Gutes zu verdanken. Ich erlebe vor Ort, welch große missionarische Möglichkeiten es in dieser Kirche lange Zeit gab und mancherorts immer noch gibt. Ich kenne evangelische Gemeinden, die bis heute blühen, weil es immer noch Pfarrer und Laien gibt, die alles tun, um Menschen in Wort und Tat das Evangelium zu bringen und sie in die Nachfolge Jesu zu rufen. Aber gerade wegen diesen wundervollen Geschwistern bitte ich die Verantwortlichen meiner Kirche: Kehrt um. Besinnt euch auf das Erbe, auf dem diese Kirche gebaut ist:

Sola Scriptura: Allein die Schrift hat die höchste Autorität.

Sola Gratia: Allein durch Gnade werden wir gerettet.

Sola Fide: Allein durch Glauben findet man diese Gnade.

Solus Christus: Christus allein ist unser Herr, Retter und Erlöser.

Soli Deo Gloria: Gott allein gehört alle Ehre.

Ich weiß nicht, ob und wie lange es noch eine evangelische Kirche geben wird. Aber mein Trost und meine Hoffnung ist: Ihre Fundamente sind nicht vergessen. Im Gegenteil: Die Kirche Jesu, die auf diesen starken Fundamenten steht, ist vielerorts quicklebendig. Zu ihr gehören alle, die diesem Jesus folgen, wie die Schrift ihn uns bezeugt. Sie organisieren sich immer wieder neu und sie tragen die Fackel weiter. Diese Kirche Jesu wächst und gedeiht – weltweit und auch in Deutschland. Ihr gehört die Zukunft.

5 Gedanken zu „Der traurige Niedergang meiner Kirche“

  1. Danke für Ihre Analyse, schonungslos und schockierend. Deshalb vielleicht auch heilsam, sofern dem Geist unseres Herrn auch Raum gegeben wird. Lebendige Fische schwimmen gegen den Strom. Der Herr möge sich unser aller erbarmen.

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  2. Mal wieder ein typischer Mix von berechtigter Kritik und Sorge einerseits und vollkommen undifferenzierter, blinder Rechthaberei andererseits. Wenn Evangelikale keine besseren Theologen ausbilden als DAS, gilt für mich: Lieber gar keine Kirche als eine evangelikale dieses Zuschnitts.

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    • Mal wieder so ein Kommentar, der keinerlei inhaltliche Argumente transportiert, sondern nur wilde Vorwürfe und Verdächtigungen. Wer keine besseren Kommentare schreiben kann als DAS, dem rate ich: Lieber gar keine Kommentare.

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    • Ich teile diese Sichtweise, selbst evangelikal aufgewachsen mit Gemeindegründergroßvätern. Diese Kritik an der Letzten Generation ist billig und falsch. Da setzen sich Menschen kreativ für Gottes Schöpfung ein, und man kommt ganz altbacken konservativ mit Gesetzesbrüchen und Kritik aus “der Bevölkerung”. Ich bin mir sicher, Jesus würde MIT auf der Straße sitzen. Auf Wutbürger, die sich daran aufregen, kann eine Kirche problemlos verzichten. Und es ist typisch, dass die Evangelikalen in ihrem trotzigen Immer-Dagegen und Konservativer-als-alle-anderen-Spiel sich darüber aufregen.

      Ich weiß nicht, wie oft ich die Worte von der “billigen Gnade” von meinem theologisch gebildeten Vater gehört habe, einem der hartherzigsten und cholerischsten Menschen, den ich je kennengelernt habe, nachsichtig nur bei sich selbst, aber bei niemand anderem. Ja, die Gnade Gottes IST “billig” – sie wird verschenkt, einfach so, und zwar an SÜNDER, genau an die!

      Mir fällt immer wieder auf, wieviele Evangelikalen einfach nur hartgesottene Pharisäer sind.
      Jesus würde mit ihnen so wütend umgehen, wie zu seiner Lebenszeit mit den Pharisäern um sie herum.

      Ich erlebe IN der evangelischen Kirche, in die ich als lebenslange Freikirchlerin in meinen 40er Jahren eingetreten bin, wesentlich mehr Christentum als jemals vorher in all den vielen Gemeinden, die ich besucht und zu denen ich gehört habe.

      Enttäuschender Blog, von dem ich mir viel mehr erhofft hatte.
      So, und jetzt können Sie über mich in “christlicher Nächstenliebe” so herziehen, wie Sie es mit obigem Kommentar gemacht haben. GENAU DAS meine ich mit Pharisäismus. Quod erat demonstrandum.

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  3. Moin Markus,

    vielleicht geht es so:
    – ihr bildet rechtzeitig einen gemeinnuetzigen Foerderverein (oder schliesst Euch einer zweiten Huelle/Mantel an, zB EC o.ae.?)
    – Spenden ermoeglichen dann ein lebendiges Gemeindeleben in Verbundenheit vor Ort, trotz kirchlicher Sparmassnahmen
    – wenn dann Pfarr-, Gemeinde-Stellen entsprechend gekuerzt werden, koennten diese ggfs mit Teilzeitvertraegen aus dem eV aufgestockt, spaeter ganz angestellt werden?

    Es gibt ja va zwei Moeglichkeiten wie es weiter gehen koennte:
    a) Zerbruch, kreative Zerstoerung; mit etwas Neuem danach (ausser-kirchlich?)
    b) Staerkung des Lebendigen, ggfs Erneuerung und parallel Absterben von wildem Fleisch/Krebs

    a) war historisch das Normale, b) eher die Ausnahme?
    b) stelle ich mir auch deshalb schwierig vor, weil ja stets der ganze Wasserkopf/die Strukturkosten von dem verbliebenen, schneller-schrumpfenden Rest getragen werden muss.
    Dazu fallen mir folgende Plattheiten ein: “If panic, panic first”? oder “How Did You Go Bankrupt? Two Ways. Gradually and Then Suddenly …”

    Wichtig ist doch nur, dass Gott sein Reich baut und seine (uebergemeindliche) Braut reinigt, erhaelt, hinzu fuegt. Vielleicht denkt Gott va in Menschenherzen, nicht in kirchlichen Strukturen? (auch wenn es menschlich gesehen als “schade”/”Verschwendung” erscheint).

    LG und den Mut nicht verlieren, Joerg

    PS: rechtzeitig mal mit Untergrundkirchen, Kleingruppen, Dezentralisierung beschaeftigen. Normal ist Verfolgung, unnormal sind Gross-Kirchen?!

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