Die verlorene Heiligkeit wieder entdecken

Eindrücke aus dem Buch „Majestät“ von Rainer Harter

„Gott ist Liebe.“ (1. Johannes 4, 8+16)

Nur zweimal finden wir diese enorm wichtige Aussage in der Bibel. Sie hat sie unsere heutige Theologie stark geprägt – zurecht. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Heißt das, dass Gott immer nett und entgegenkommend ist? Geht er jederzeit nachsichtig und großzügig mit uns um? Hat er immer nur mutmachende und aufrichtende Worte für uns? In seinem Buch „Majestät“ macht der Autor Rainer Harter deutlich: Man kann die Liebe Gottes nur dann richtig verstehen, wenn man zugleich eine weitere zentrale Eigenschaft Gottes im Blick behält:

„Heilig, heilig, heilig ist der HERR.“ (Jesaja 6,3; Offb. 4,8)

Meine Wahrnehmung ist: Diese Eigenschaft Gottes kommt in vielen Predigten heute eher selten vor. Rainer Harter schreibt sogar: „Die postmoderne Kirche hat die Erkenntnis und Erfahrung von Gottes Heiligkeit in weiten Teilen verloren. Dadurch ist der unfassbare, geheimnisvolle, unbezähmbare und majestätische Gott zu einer diffusen „Macht“ für die einen und zu einer Art spirituellem Übervater für die anderen geworden. Dem Begriff „Gott“ wurde die ihm innewohnende Herrlichkeit, Gewalt, Wildheit und Kraft genommen, die uns die Bibel beschreibt. Damit wurde uns der Weg zu einem „hausgemachten Gottesbild“ gebahnt, welches zum Verlust des Staunens, der Ehrfurcht und der Dankbarkeit geführt hat.“ (S. 19) Harter untermauert diese Einschätzung durch eine US-amerikanische Studie, die im Ergebnis das Bild eines Leibes Christi zeichnet, „dessen Glieder zu einer Gemeinde gehören und die Bibel lesen, das Konzept oder die Bedeutung der Heiligkeit jedoch nicht verstehen, sich persönlich nicht nach Heiligkeit ausstrecken und deshalb wenig oder nichts dafür tun, um ihr nachzujagen.“ (S. 25)

Die Heiligkeit Gottes: Eine zentrale Botschaft der Bibel

Neu ist dieses Problem nicht. Auch Billy Graham fiel schon auf: „Wir haben den Blick für die Heiligkeit und Reinheit Gottes heute weitestgehend verloren. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir Sünde so leicht tolerieren.“ (S. 54) Eigentlich ist das erstaunlich. Denn in der Bibel ist die Heiligkeit Gottes ein enorm wichtiges Thema: „Die Aussage, dass Gott heilig ist, ist zentral und unersetzlich für den christlichen Glauben. Es ist die Grundbotschaft der Heiligen Schrift. … Eine weitere die Heiligkeit betreffende biblische Grundaussage, … die sich durch die gesamte biblische Geschichte zieht, ist die Feststellung, dass der Mensch seit dem Sündenfall nicht mehr heilig ist.“ (S. 54/56) „Die Bibel lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Gedanke der göttlichen Heiligkeit eines ihrer wichtigsten Grundkonzepte ist. Wäre Gott nicht heilig und wäre er nicht in der Lage zu heiligen, gäbe es keine Schuld, weil ohne einen klaren Maßstab auch nichts als Abweichung gelten könnte. Aber es gäbe auch keine Vergebung und schon gar keine Möglichkeit für den Menschen, Jesus ähnlicher zu werden. Dies alles steht und fällt mit der Frage nach Gottes Heiligkeit. Würden wir Gott in unserem Denken und Handeln seiner Heiligkeit berauben, würden wir zugleich dem christlichen Glauben eine seiner zentralen Grundlagen nehmen. Dann ergäbe unser Glaube keinen Sinn mehr.“ (S. 52) Harter tritt zudem dem Gerücht entgegen, dass die Heiligkeit Gottes vor allem ein Thema des Alten Testaments sei: „Nirgendwo im Neuen Testament gibt es einen Hinweis darauf, dass Jesus die Heiligkeit des Vaters oder den Aufruf Gottes an seine Kinder, ein heiliges Leben zu führen, in irgendeiner Form abgemildert hätte.“ (S. 30)

Der Verlust der Heiligkeit hat Konsequenzen

Es ist angesichts dieses beeindruckenden biblischen Befunds kein Wunder, dass der Verlust der Heiligkeit Gottes weitreichende Konsequenzen für viele Aspekte unseres Glaubens hat: „Selbst die Gnade Gottes wirkt billig und seine Liebe bekommt den Anschein, selbstverständlich zu sein, wenn wir sie nicht aus dem Blickwinkel seiner Heiligkeit betrachten. Alles wird schal und im schlimmsten Fall empfinden wir sogar Langeweile bei einem so wunderbaren Satz wie „Gott liebt dich“, wenn wir nicht eine Ahnung davon haben, wer und wie er ist.“ (S. 20) Harter sieht zudem einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust der Heiligkeit und der Lauheit in unserem christlichen Leben: „Ein … ausschließlich zum „lieben Vater“ degradierter Gott weckt kaum Leidenschaft in uns.“ (S. 34) Deshalb ist es aus der Sicht von Harter „unklug, die Ehrfurcht vor Gottes Heiligkeit zugunsten einer falsch verstandenen Niederschwelligkeit in unseren Gottesdiensten abzuschaffen. Spätestens wenn wir damit anfangen, diejenigen Eigenschaften und Worte Gottes, die in unseren Augen nicht mehr zeitgemäß oder für uns schwer verständlich sind, bewusst zu verschweigen oder gar zu verleugnen, sind wir der Versuchung erlegen, uns einen Gott nach unserem Bilde zu schaffen. … Mit guten Absichten laden wir Menschen zu uns ein und präsentieren ihnen ein unrealistisches Gottesbild, das aus einer Mischung von „gutem Onkel“ und „Kumpel im Alltag“ besteht. Das Credo lautet nicht mehr: „Wir glauben an einen heiligen Gott“, sondern „Gott will, dass es uns gut geht“. Der Verlust der Heiligkeit macht Kirche letztlich zu einer fantasievoll ausgestalteten Umkreisung des Menschen um sich selbst.“ (S. 29)

Der Verlust der Heiligkeit hat auch für unsere Gottesdienste weitreichende Konsequenzen: „Ohne die Realität des Heiligen in unserer Mitte müssen wir Wege finden, um Kirche durch andere Dinge attraktiv zu machen. … Verlieren wir die Realität der Heiligkeit aus dem Blick, werden unsere Gottesdienste bald zu „Menschendiensten“, in denen ein „Evangelium light“ präsentiert wird und das Empfangen im Vordergrund steht, während die Verehrung Gottes und das Geheimnisvolle ausgeblendet werden.“ (S. 27/28) Harter stellt sogar in Frage, ob ein Gottesdienst, in dem die Heiligkeit Gottes keine zentrale Rolle spielt, überhaupt noch etwas mit dem wahren Gott zu tun hat: „Alle Engel und die seltsamen Wesen sowie die geheimnisvollen Ältesten reagieren in Gottes Nähe ausschließlich mit Ehrfurcht und Anbetung. Denken Sie jetzt im Vergleich dazu noch einmal an unsere Gottesdienste. Wir behaupten zwar, dass wir Gott dort begegnen, doch scheint diese Begegnung wenig Ehrfurcht, Kapitulation oder echte Herzensanbetung in uns zu wecken. Das Staunen über die Heiligkeit Gottes ist uns verloren gegangen. Gott ist uns zum Gewohnten geworden. Oder ist es vielleicht gar nicht Gott, an den wir uns da gewöhnt haben? … Eine traurige Armut und Hilflosigkeit liegen über so manchen Kirchengemeinden. Programme und Aktivitäten können das staunende Erleben der Heiligkeit Gottes einfach nicht ersetzen.“ (S. 95)

Ein falsches Konzept von Heiligung

Aber woran liegt es eigentlich, dass die Heiligkeit Gottes und der Ruf zur Heiligung derart aus der Mode gekommen ist? Rainer Harter schreibt: „Es gibt durchaus die Angst, unsere über Jahre erworbene Freiheit der Gnade wieder zu verlieren und zurück in alte Systeme zu fallen, die uns eher geknechtet als frei gemacht haben. Tatsächlich beanspruchten manche der alten Formen vordergründig, zur Heiligkeit zu führen, in der Realität hatten sie aber viel mehr mit einem leistungsorientierten oder sogar unterdrückenden Glauben zu tun als mit der Heiligkeit, die Gott meint.“ (S. 42) Diese Beobachtung kann ich nur bestätigen. Leider geschieht es immer wieder, dass Christen und Gemeinden die Notwendigkeit zur Heiligung auf einen moralischen Appell reduzieren, der uns unter Druck bringt und uns überfordert. Dabei ist der Prozess der Heiligung in der Bibel nicht das Ergebnis menschlicher Anstrengung sondern ein Wirken und ein Geschenk Gottes: „Alles Verändernde kommt von Gott alleine.“ (S. 191) Diese Veränderung beginnt nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit einer Kapitulation: „Lassen Sie uns damit aufhören, nach außen heiliger wirken zu wollen, als wir es sind. In der Regel sind wir nämlich nicht so heilig, wie wir uns gerne sehen möchten oder wie andere uns wahrnehmen. Einige Ausdrucksformen unserer Heiligkeit sind nichts anderes als Scheinheiligkeit. Lassen wir das lieber gleich. Stattdessen steht am Beginn des Weges eine Kapitulation; wir geben zu, dass wir aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, wie Jesus zu werden. Wir sind völlig von Gott und seiner Hilfe abhängig. … Im Neuen Testament wird deutlich, dass nur Gott selbst durch das vollkommene Opfer seines eigenen Sohnes ein neues Leben für uns möglich machen und uns heiligen kann.“ (S. 168)

Diese Kapitulation beinhaltet auch die Erkenntnis: Nicht wir ändern unser Leben aus eigener Kraft, sondern ER verwandelt unser Leben in sein Bild, wenn wir im Aufschauen zu ihm unser Leben führen: „Verabschieden Sie sich also besser gleich vom ungesunden Unterdrücken und starten Sie mit einer Strategie, die wesentlich besser funktioniert: Vertrauen Sie sich Gottes Hilfe an. Tun Sie, was die Bibel Ihnen rät, um wie Jesus zu werden: Schauen Sie ihn an. Beim Lesen der Bibel, im stillen Gebet, im Nachdenken über seine Worte, indem Sie sich in eine biblische Person hineinversetzen und nachspüren, wie deren Begegnung mit Jesus war. … Anstatt sich anzustrengen, nutzen Sie Ihre Zeit und Energie lieber dafür, Gott besser kennenzulernen. Nehmen Sie sich Zeit, um ihn in seiner Schönheit zu betrachten. Wenn Sie erst einmal gesehen haben, wie schön er ist, und gespürt haben, wie sehr er Sie liebt, werden Sie sich nicht mehr so leicht mit Ersatzlösungen zufriedengeben. In der Nähe Gottes wird in Ihnen eine geheimnisvolle Kraft aufsteigen, die Sie nach und nach entdecken lässt: Ich habe mich wirklich verändert.“ (S. 166/167) Wenn Gott uns beschenkt, können wir sehr viel leichter die sündigen Dinge loslassen, die uns selbst und Anderen schaden: „Wer gelernt hat, durch Gottes Liebe in seiner Seele satt zu werden, wird in die Lage versetzt, plötzlich Dinge loslassen zu können, die zuvor sehr bedeutend für sein Leben waren, die aber vielleicht zur Sammlung seiner Ersatzlösungen gehört haben oder schlicht Sünde sind.“ (S.186)

Ein weitere Grundlage für einen gesunden Prozess der Heiligung ist die Entscheidung, dass Jesus der Herr unseres Lebens sein soll: „Es ist Zeit für eine Palastrevolution. Anstatt weiter den König „ICH“ unseren Herrn sein zu lassen, sollten wir den König der Heiligkeit wählen, der uns heil machen kann und durch uns seine Heiligkeit in diese Welt bringen möchte.“ (S. 204)

Die Heiligkeit Gottes: Ein Schlüssel für gesunden Glauben und eine attraktive Kirche

Heiligung ist also möglich. Und die Bibel macht immer wieder deutlich: Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens als Nachfolger Jesu:

„Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin.“ (3. Mose 11,44; 19,2; 1.Petr. 1,16)

Rainer Harter schreibt dazu: „Eine Kirche ohne Heiligkeit kann nicht Kirche Jesu sein. Wenn die Menschen draußen die verändernde Kraft der Gnade Gottes nicht an uns sehen können, werden sie auch nicht auf die Idee kommen, dass Gott mit uns ist, und nicht nach ihm fragen. Kirche muss „anders“ sein, um attraktiv für Menschen zu sein, die Gott noch nicht kennen. Kirche muss Anleitung dafür geben, wie ihre Mitglieder ein Leben der Heiligung führen können, um so von Jesus zu zeugen. Wir sind schlechte Botschafter, wenn wir unsere Botschaft vergessen haben und denjenigen, der uns gesandt hat, nur aus der Ferne kennen. Vielfach stehen wir als Kirche heute vor den Menschen dieser Welt und versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Doch wenn die grundlegende und lebensverändernde Wahrheit über Gottes Wesen und die daraus resultierenden Handlungen Gottes nicht mehr verstanden und gepredigt werden und deshalb unser eigenes Leben nicht von ihm zeugt, wird das auf Dauer nicht funktionieren. Was wir wirklich brauchen, ist die Gegenwart des heiligen Gottes. Wir brauchen sie in unseren Familien und an unserem Arbeitsplatz, in unseren Versammlungen und Gottesdiensten. Wenn Menschen dann in Berührung mit dem Geheimnis seines Wesens und seiner Kraft kommen, werden Gemeinden wieder wachsen, und das Evangelium wird unsere Städte durchdringen.“ (S. 208/209)

Wie wahr! Ich kann deshalb das neu aufgelegte Buch „Majestät“ von Rainer Harter nur von Herzen empfehlen und hoffe, dass dieser wichtige Impuls weite Verbreitung findet.

Das Buch „Majestät“ von Rainer Harter kann hier direkt vom Gebetshaus Freiburg bezogen werden:
https://www.gebetshaus-freiburg.org/product-page/buch

Die verlorene Kraft des Evangeliums

„Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht. Denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ (Römer 1, 16)

Dieser Vers ist meine Konfirmationsspruch. Der darin enthaltene Begriff „Evangelium“ wurde in der Antike verwendet, wenn der Kaiser oder der König eine wichtige gute Nachricht zu verkünden hatte. Ein militärischer Sieg zum Beispiel. Oder die Geburt eines Thronfolgers. Paulus will mit diesem Begriff offenkundig deutlich machen: Auch ich habe eine ganz entscheidende, frohe Botschaft vom König aller Könige Jesus Christus zu verkünden. Eine Botschaft, für die ich mich nicht schämen muss. Denn es handelt sich um eine heilbringende, rettende und seligmachende Botschaft, die allen Menschen gilt. Die große Frage ist nur: Wenn Paulus doch einfach nur eine frohe Botschaft zu verkünden hatte, warum wurde er dann immer wieder vertrieben, eingesperrt, geschlagen und gesteinigt? Warum wurde er am Ende sogar umgebracht?

Dieser Artikel gehört zum offen.bar-Vortrag “Die verlorene Kraft des Evangeliums”:

Warum löste das Evangelium weltweit so viel Widerstand aus? Und warum wird es bei uns hingegen als harmlos und banal empfunden?

Diese Frage stellt sich auch heute noch. Weltweit werden hunderte Millionen von Christen verfolgt. Warum eigentlich? Christen sind bekanntermaßen ein fröhliches und friedliches Völkchen. Sie reden gerne und viel von der Liebe Gottes. Sie werden durch ihren Glauben verpflichtet, die Autoritäten ihres Landes zu respektieren. Niemand müsste vor Christen Angst haben. Warum also löst diese frohe Evangeliumsbotschaft einen derart drastischen Widerstand aus? Warum wird weltweit die Bibel in vielen Ländern verboten?

Und noch eine Frage stellt sich: Der Römerbrief ist historisch gesehen wohl der wirkmächtigste und einflussreichste Brief, der je geschrieben wurde. Kein Brief hat die Kultur der westlichen Welt so geprägt wie dieser Brief. Die Botschaft von Paulus wirkte ein Stück weit wie ein Manifest. Sie enthielt revolutionäre Botschaften: Dass jeder Mensch eine gottgegebene Würde hat. Dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Dass man deshalb armen, kranken und schwachen Menschen helfen sollte. Das war damals völlig neu! Bis zur Ausbreitung des Christentums galten Eroberer als Helden, ganz egal, wie grausam und grauenvoll sie vorgegangen sind. Dass wir heute Friedensstifter feiern, die sich für das Wohl von Ausgegrenzten und Schwachen einsetzen, geht allein auf das Christentum zurück, nicht auf römische oder griechische Philosophen.

Aber wenn man sich heute in unserem Land umschaut, könnte man meinen: Diese Botschaft interessiert kaum noch jemand. Das Wort „Evangelium“ hört man in kirchlichen Kreisen zwar noch des Öfteren. Aber irgendwie lässt es die Leute kalt. Das Evangelium wird bestenfalls als nette, herzerwärmende Botschaft wahrgenommen, die doch zugleich aber harmlos, marginal und belanglos erscheint.

Die große Frage ist: Warum löst diese Botschaft, mit der Paulus doch so unfassbar viel bewegt hat, heute nur noch Schulterzucken aus? Könnte es sein, dass mit der heutigen Verkündigung des Evangeliums irgendetwas nicht stimmt? Könnte es sein, dass das Evangelium, das wir heute verkünden, oft nicht mehr übereinstimmt mit der Evangeliumsbotschaft von Paulus? Und wenn das stimmen sollte: Was genau haben wir denn verändert an diesem Evangelium?

Ich finde, man kann die Bedeutung dieser Frage kaum überschätzen. Denn tatsächlich bin ich überzeugt: Der Bedeutungsverlust der Kirche Jesu in unserem Land hat so einiges, vielleicht sogar hauptsächlich damit zu tun, dass wir das Evangelium von Paulus geglättet, verharmlost, entschärft und entstellt haben. Ich möchte diese These belegen anhand von 7 Eckpfeilern des Evangeliums im Römerbrief, die Antwort geben auf 7 Grundfragen der Menschheit. Ich hoffe, dass ich dabei deutlich machen kann: Diese 7 Eckpfeiler haben auch heute noch absolut nichts von ihrer Brisanz, Schärfe und Kraft verloren. Wenn wir eine Kirche Jesu wollen, die Salz und Licht ist in diesem Land, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir eine klare Sicht haben über die folgenden 7 Grundaussagen der Evangeliumsbotschaft im Römerbrief.

7 Grundfragen der Menschheit – 7 Eckpfeiler des Evangeliums im Römerbrief

Die erste Grundfrage, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet, heißt:

1. Gibt es objektive Wahrheit über Gott?

Diese Frage galt in Europa lange Zeit als entschieden. Die wissenschaftliche Revolution in der westlichen Welt basierte auf der grundlegenden Annahme: Es gibt Wahrheit und Irrtum. Und nur die Wahrheit wird uns freimachen. So steht es zum Beispiel auf einem zentralen Gebäude der Universität Freiburg: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Auf Basis des Jesusworts in Johannes 8, 32 sollte damit deutlich werden: Wir müssen die Wahrheit herausfinden! Denn nur die Orientierung an der Realität wird am Ende dazu führen, dass unser Leben besser wird. Dieses Prinzip galt damals nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern für alle Fakultäten und Disziplinen, einschließlich der Theologie.

Heute müssen wir jedoch beobachten, dass diese Grundlage des Denkens ins Wanken gerät. Fast überall kann man heute die These hören: Jeder soll doch nach seiner eigenen Façon selig werden. Persönliche Religiosität ist O.K., solange sie nicht den Anspruch erhebt, dass Andere das Gleiche glauben sollten. In der Postmoderne geht man davon aus: In Glaubensfragen ist Wahrheit nur subjektiv gültig, niemals objektiv. Wer im religiösen Bereich die Existenz von allgemeingültigen Wahrheiten vertritt, die für alle Menschen gleichermaßen gelten sollen, der liegt nicht nur falsch. Der ist auch intolerant und gefährlich. Der gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Man darf deshalb in der Postmoderne zwar seine persönlichen Glaubensüberzeugungen haben. Aber dabei muss klar sein: Diese Überzeugungen gelten nur für Dich persönlich. Für Andere kann eine völlig andere Überzeugung genauso richtig sein.

Wie sieht das Paulus? Der erste Eckpfeiler seines Evangeliums sagt:

Es gibt Wahrheit und Irrtum. Nur der Glaube an die Wahrheit rettet!

Gleich in den ersten beiden Versen des Römerbriefs schreibt Paulus dazu:

„Es schreibt Paulus, ein Sklave von Christus Jesus, berufen zum Apostel und dazu bestimmt, Gottes Freudenbotschaft bekannt zu machen. Dieses Evangelium hat Gott schon im Voraus durch seine Propheten in heiligen Schriften angekündigt.“ (Römer 1, 1-2)

Paulus stellt also klar: Was ihr hier lest, ist nicht einfach nur eine Idee oder ein Vorschlag von mir, über den man diskutieren kann. Ich bin ein Diener von Jesus Christus. Ich bin zum Apostel, also zum Sendboten Gottes berufen. Von ihm bin ich dazu bestimmt, nicht meine, sondern GOTTES Gute Nachricht zu verkünden. Und das ist eine Nachricht, die Gott schon im Voraus durch die Propheten angekündigt hat. Was für ein ungeheuerlicher Anspruch! Letztlich sagt Paulus: Achtung! Diese Botschaft ist nicht von dieser Welt. Wir haben es mit göttlicher Wahrheit zu tun. Und das Grundproblem der Menschheit liegt darin, dass sie genau diese göttliche Wahrheit verworfen hat.

In Römer 1, 25 schreibt Paulus: „Die Menschen tauschten die Wahrheit Gottes gegen die Lüge.“ Für ihn ist also klar: Es gibt auch bei der Frage nach Gott richtig und falsch. Es gibt auch bei der Frage nach Gott objektiv gültige Wahrheiten und Realitäten, die für alle Menschen gelten! Und jede Aussage, die dieser Wahrheit widerspricht, ist nicht einfach nur eine alternative Wahrheit. Nein, sie ist falsch. Sie ist ein Irrtum. Und Paulus unterstellt sogar, dass es Menschen gibt, die diese falschen Aussagen wissentlich in die Welt setzen. Er sagt: Diese Aussagen sind eine Lüge.

Das ist natürlich harter Tobak. Und schon hier merken wir, wie hochaktuell und brisant die Botschaft von Paulus bis heute ist. Denn Paulus macht damit klar: Sein Evangelium steht ganz grundlegend auf dem Konzept von Wahrheit und Irrtum. Es basiert auf dem Anspruch, dass hier eine objektive Wahrheit verkündet wird, die für alle Menschen gilt, unabhängig davon, ob sie diese Wahrheit verstehen und akzeptieren oder nicht. Die Idee, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, wäre zwar bequem. Sie klingt nett und tolerant. Aber sie passt in keiner Weise zur Botschaft von Paulus. Der Gedanke, dass sich jeder selbst eine Religion zusammen zimmern kann, die sich für ihn am besten anfühlt, ist für Paulus genauso absurd, wie der Gedanke, dass Du gegen Deine Krankheit einfach die Pille nimmst, die Dir am besten schmeckt. Das kannst Du ja gerne machen. Aber gesund machen wird Dich nur die Pille, die tatsächlich genau den Wirkstoff enthält, der genau die Krankheit bekämpft, die Du tatsächlich in der Realität hast. Die Wirksamkeit der Pille hängt von der objektiven Wahrheit der Diagnose ab, nicht von Geschmacksfragen. Ganz genauso geht es Paulus um die Frage: Was ist objektiv aus Gottes Sicht tatsächlich die Wahrheit über Gott und über die Welt? An welcher Realität müssen wir uns orientieren, damit uns wirklich geholfen werden kann?

Auch mit dem zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums gibt Paulus eine Antwort auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

2. Woher kommen wir?

Dazu schreibt Paulus in Römer 1, 19-22:

„Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen bekannt, weil Gott es ihnen längst vor Augen gestellt hat. Seine unsichtbare Wirklichkeit, seine ewige Macht und göttliche Majät sind nämlich seit Erschaffung der Welt in seinen Werken zu erkennen. Die Menschen haben also keine Entschuldigung. Trotz allem, was sie von Gott wussten, ehrten sie ihn aber nicht als Gott und brachten ihm auch keinerlei Dank. Stattdessen verloren sich ihre Gedanken ins Nichts, und in ihrem uneinsichtigen Herzen wurde es finster. Sie hielten sich für Weise und wurden zu Narren. Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschten sie mit Bildern von sterblichen Menschen, mit Abbildern von Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren.“

Wir können auf dieser Grundlage den zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums wie folgt zusammenfassen:

Die Schöpfung beweist, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient!

Die Beweisführung von Paulus für diesen Eckpfeiler ist denkbar einfach und für jeden Menschen sofort verständlich. Paulus sagt ganz simpel: Schau Dich um in der Natur. Was siehst du da? Du siehst überall Geschöpfe. Und wo es Geschöpfe gibt, da muss es einen Schöpfer geben. Auch wir sagen heute noch: Wo es eine Uhr gibt, da muss es einen Uhrmacher geben. Wo es ein Kunstwerk gibt, da muss es einen Künstler geben. Und Paulus schlussfolgert weiter: Wenn es einen Schöpfer gibt, dann hat unser Schöpfer auch unsere Verehrung verdient. Wir sind schließlich heute immer noch der Meinung, dass der Schöpfer eines Kunstwerks es verdient hat, dass sein Name genannt und geehrt wird. Auch heute noch würde niemand ein Konzert geben mit einer wundervollen Symphonie, ohne dazu zu sagen, wer diese Symphonie komponiert hat. Es wäre völlig absurd, sich stattdessen vor den Notenblättern zu verneigen, weil sie uns diese Symphonie vorgegeben haben. Aber Paulus sagt: Genau das tun die Menschen! Sie verneigen sich vor den Geschöpfen statt vor dem Schöpfer. Sie verneigen sich vor Bildern und Statuen. Wie absurd! Sie sind zu Narren geworden!

Heute halten wir uns für klüger. Wir verneigen uns nicht mehr vor Statuen und Bildern. Sind wir heute also besser als die Menschen damals? Na ja. Wir verneigen uns zwar nicht mehr vor Bildern und Statuen. Aber wir verneigen uns trotzdem nicht vor dem Schöpfer. Wir verneigen uns einfach vor gar niemandem mehr. Wir sagen: Es gibt gar keinen Schöpfer. Es ist alles von selbst durch Zufall entstanden. Das ist, wie wenn wir am Ende der Symphonie sagen würden: Wahrscheinlich hat ein Zufallsgenerator die Noten aufs Papier gezaubert. Wir brauchen keinem Komponisten die Ehre geben. Es gibt ja keinen. Ist das wirklich besser als das, was die Menschen zur Zeit von Paulus getan haben?

Tatsache ist: Wir leben wir in einer Welt, in der seit gut 200 Jahren Heerscharen von Wissenschaftlern versucht haben, die simple Beweisführung von Paulus zu widerlegen. In der akademischen Welt wird die Beweisführung von Paulus heute als „Intelligent Design“ bezeichnet. „Intelligent Design“ besagt ganz einfach: Die Natur weist Eigenschaften auf, die darauf hinweisen, dass sie von einem intelligenten Designer konzipiert worden sein muss. Dafür gibt es in der Tat sehr starke Argumente. Trotzdem wird heutzutage diese Sichtweise eher lächerlich gemacht und als unwissenschaftlicher Unfug dargestellt. Das ist bemerkenswert. Denn zugleich wussten wir noch nie so gut wie heute, wie viele Hinweise auf einen Schöpfer in der Welt existieren: Die Feinabstimmung der Naturkonstanten, die codierte Information der DNA, die molekularen Maschinen in unseren Zellen, die extreme Komplexität der biologischen Baupläne, dazu die Realität von Bewusstsein, Geist, Schönheit und Moral: All das sind natürlich extrem starke Hinweise darauf, dass es einen Schöpfer geben muss, der all das erschaffen hat. Denn alle unsere Experimente zeigen wieder und wieder, dass solche Dinge nicht von selbst entstehen. Die Vorstellung, unsere Welt könnte durch eine „Selbstorganisation der Materie“, also durch ziellose materielle Prozesse von selbst entstanden sein, ist angesichts unserer Kenntnisse über die Beschaffenheit der Welt heute mehr denn je absurd.

Trotzdem ehren wir den Schöpfer nicht. Warum nicht? Könnte es sein, dass das auch damit zusammenhängt, dass die Existenz eines Schöpfers die Autonomie der Geschöpfe in Frage stellen würde? Ein Schöpfer könnte uns ja womöglich eine Schöpfungsordnung mitgegeben haben, an die wir uns halten müssten. Könnte es sein, dass wir lieber autonom sein wollen? Könnte es sein, dass wir lieber selbst bestimmen wollen, wer wir sind und wie wir leben wollen?

Tatsache ist: Die Argumentation von Paulus steht bis heute unwiderlegt im Raum. Wer die Schöpfung sieht und dem Schöpfer trotzdem die Ehre verweigert, muss sich vorwerfen lassen, vor der offenkundigen Wahrheit davon zu rennen. Wir haben bis heute allen Grund, uns von diesem simplen Argument von Paulus provozieren, herausfordern und in Frage stellen zu lassen.

Nun könnte man natürlichauch sagen: Ja, ich erkenne ja an, dass es wohl einen Schöpfer geben muss. Aber das hat für mich keine Konsequenzen. Denn dieser Schöpfer hat sich bei mir noch nicht gemeldet. Also kann ich trotzdem weiterhin so leben, wie ich das für richtig halte. Wer das tut, den konfrontiert Paulus mit dem 3. Eckpfeiler seines Evangeliums, der wieder eine Antwort gibt auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

3. Gibt es eine letzte Gerechtigkeit?

Oder anders gefragt: Kommen all die Ausbeuter und Gewalttäter und Betrüger einfach so davon? Oder wird eines Tages die schreiende Ungerechtigkeit dieser Welt noch einmal richtig gestellt?

Im Moment scheint kaum noch jemand zu glauben, dass es diese letzte Gerechtigkeit geben wird. Das war früher anders. Christen haben regelmäßig im apostolischen Glaubensbekenntnis bekannt: „Von dort wird er kommen, zu richten, die Lebenden und die Toten.“ Heute scheint die Vorstellung vom letzten Gericht immer mehr in der Versenkung zu verschwinden – auch in den Kirchen.

Diese Entwicklung führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Die einen fangen an, sich in einen ganz verbissenen Kampf für Gerechtigkeit zu begeben, weil sie sagen: Es gibt keinen Gott, der am Ende für Gerechtigkeit sorgt. Das müssen wir schon selber machen. Da reicht es heute auch nicht einmal mehr, dass jeder die gleichen Chancen hat. Nein, es muss sogar Gleichheit und Gleichstellung hergestellt werden. Gleich viele Männer und Frauen müssen in verantwortlichen Positionen sein. Und wenn sich das nicht von selbst einstellt, dann muss das mit Quoten erzwungen werden.

Die andere Konsequenz ist das Verschwinden von Gottesfurcht. In einer bekannten Zeitung erschien vor Kurzem ein Artikel mit dem Titel: „Warum ich gerne klaue“. Darin rechtfertigt sich der Autor für seine permanenten Diebstähle. Der Gedanke, dass er anderen Menschen damit schadet, kommt ihm nicht. Gleich gar nicht kommt ihm in den Sinn, dass seine Diebstähle irgendwann noch einmal vor einem göttlichen Gericht verhandelt werden könnten. Das zeigt: Der Schrei nach Gerechtigkeit ist in unserer heutigen Gesellschaft zwar groß. Dabei gilt aber: Wir wollen selbst die Richter sein! Wir wollen selbst entscheiden, was wir für gerecht halten und was nicht. Genau diesem Denken widerspricht Paulus ganz direkt, wenn er schreibt:

„Rechnest Du wirklich damit, dem Urteil Gottes entgehen zu können? … Du bist starrsinnig und im tiefsten Herzen nicht bereit, dich zu ändern. Und so ziehst du dir selbst mehr und mehr den Zorn Gottes zu bis zum Tag des Zorns. Das ist der Tag, an dem Gott sich als gerechter Richter offenbart. Gott wird allen das geben, was sie für ihre Taten verdienen. … Über jeden Menschen, der Böses tut, lässt er Not und Verzweiflung hereinbrechen. … Denn Gott richtet ohne Ansehen der Person.“ (Römer 2, Verse 3b,5,6,9,11)

Paulus lässt also überhaupt keinen Zweifel am dritten Eckpfeiler seines Evangeliums:

Es kommt ein Tag, an dem alles noch einmal vor dem Richterstuhl Gottes auf den Tisch kommt!

Paulus macht hier völlig klar: Diesem Gott entgeht nichts. Und dieser Gott wird zornig angesichts unseres ungerechten, egoistischen Verhaltens, mit dem wir uns und anderen Menschen schaden. Dieser Gott wird eines Tages alle unsere Taten ans Licht bringen und im Gericht für Gerechtigkeit sorgen.

Obwohl Paulus sich hier so eindeutig äußert, hört man diese Botschaft heute kaum noch von den Kanzeln. Selbst innerhalb der Kirche wird oft gesagt: Man darf doch mit solchen Gerichtsandrohungen nicht aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft machen. Das klingt einleuchtend. Das Problem ist nur: Jesus lehrt das letzte Gericht. Und Paulus lehrt es auch. In aller Deutlichkeit! Will Paulus die Menschen etwa einschüchtern? Will er sie manipulieren, um sie bei der christlichen Stange zu halten?

Tatsache ist: Düstere Warnungen dieser Art wären natürlich hochgradig verwerflich, wenn jemand sie bewusst erfunden hätte, um Menschen Angst zu machen und zu manipulieren. Aber wenn die Aussicht real ist, dass es einen göttlichen Richter gibt, der uns am Ende für unser Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen wird, dann wäre die Sachlage genau umgekehrt. Dann wäre es verwerflich, auf die Warnung zu verzichten! Dann müssten diejenigen schuldig gesprochen werden, die für die Warnung verantwortlich waren, sie aber – aus welchen Gründen auch immer – verschwiegen haben. Und für Paulus ist völlig klar: Das finale Gericht über alle Taten der Menschheit ist eine Realität. Es wäre fatal und verantwortungslos, das zu verschweigen.

Zumal diese Botschaft ja auch eine Hoffnungsbotschaft ist, und zwar für all die Unterdrückten, Ausgebeuteten, Bedrängten und Betrogenen dieser Welt, die von keinem weltlichen Gericht Gerechtigkeit erwarten können. Es wäre doch katastrophal, wenn wir diesen Menschen sagen müssten: Nichts und niemand wird sich jemals für das Unrecht interessieren, das dir widerfahren ist. Die gute Nachricht des Evangeliums ist aber: Am Ende kommt alles noch einmal auf den Tisch! Am Ende wird Recht gesprochen. Und diese Nachricht bleibt eine Bedrohung, eine Provokation und ein Ärgernis für Alle, die es sich bequem machen wollen in einer Welt ohne Gott, ohne Gericht, ohne Strafe, ohne Konsequenzen. Und sie nagt natürlich noch mehr als die Botschaft vom Schöpfer an der Autonomie des Menschen. Denn hier hören wir die Botschaft: Am Ende werden wir alle noch einmal konfrontiert mit dem, was wir getan haben, welchen Menschen wir geschadet haben und was wir damit angerichtet haben. Paulus macht also Allen einen dicken Strich durch die Rechnung, die nach dem Motto leben: Ich lebe mein Leben wie ich will und dafür muss ich mich vor niemand rechtfertigen.

Damit stellt sich aber jetzt die Frage: Müssen wir denn etwas befürchten in diesem letzten göttlichen Gericht? Oder können wir diesem Gericht beruhigt entgegen sehen, solange wir ein halbwegs ordentliches Leben führen, unsere Steuern zahlen, uns um unsere Familie kümmern und soweit es geht zu allen nett und freundlich sind? Damit kommen wir zur 4. Grundfrage der Menschheit, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet:

4. Was ist die Ursache für das Drama der Menschheit?

Woran liegt es eigentlich, dass wir Menschen nicht einfach friedlich zusammenleben können? Warum bauen wir uns nicht einfach gemeinsam ein Paradies auf Erden? Warum haben wir stattdessen Krieg und Konflikte, Streit, Neid, Armut und Hunger, obwohl die Ressourcen der Erde doch locker für alle reichen würden? Warum ist das so?

Auf diese herausfordernde Frage gibt es sehr verschiedene Antworten. Vor allem in der Zeit der Aufklärung war eine Reihe von Philosophen der Meinung: Der Kern unseres Problems ist, dass wir die menschliche Vernunft viel zu lange begrenzt haben durch religiöse Autoritäten, durch angebliche heilige Schriften oder durch Traditionen, die doch längst überkommen sind. Wenn wir endlich die Vernunft nicht länger einschränken, dann wird schon bald der menschliche Fortschritt eine wunderbare Welt erschaffen. Aber nach der Aufklärung folgten die beiden schlimmsten Weltkriege aller Zeiten, begleitet vom entsetzlichen Massenmord an den Juden. Es ist erschreckend, wie viele Gelehrte in Deutschland dieses menschenverachtende Gedankengut unterstützt und befürwortet haben. Ganz offenkundig ist unsere menschliche Vernunft bei weitem nicht so verlässlich, wie manche Philosophen das behauptet haben.

Andere Leute im kommunistischen Umfeld vertraten die Position: Der Kern des Problems sind die ungerechten Umstände! Menschen sind böse, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wenn wir die Ungerechtigkeit beseitigen, dann wird das Gute im Menschen hervorkommen und wir werden uns gemeinsam das Paradies auf Erden errichten. Die kommunistischen Systeme haben aber leider nicht das Paradies sondern eine beispiellose Blutspur hinterlassen.

Was sagt nun Paulus zu dieser Frage? Der 4. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet: Nicht die Beschränkung der Vernunft, nicht die ungerechten Umstände, sondern…

Wir selbst sind der Kern unserer Probleme!

Oder anders ausgedrückt: Das Herz des Problems ist das Problem des menschlichen Herzens, das zutiefst verstrickt ist in sündiges, egoistisches Verhalten. In Römer 1, 28-30 schreibt Paulus:

„Sie hielten es nicht für wichtig, Gott anzuerkennen. Deshalb hat Gott sie ihrer schändlichen Gesinnung ausgeliefert. Daher tun sie, was sich nicht gehört. Sie strotzen vor Unrecht, Bosheit, Habgier und Schlechtigkeit. Sie sind voller Neid, Mordlust, Streitsucht, Hinterhältigkeit, Heimtücke, Verleumdung und übler Nachrede. Sie verachten Gott, sind gewalttätig, hochmütig und prahlerisch. Im Bösen sind sie erfinderisch und ihren Eltern gegenüber ungehorsam.“

Deutlicher kann man es nicht sagen. Besonders niederschmetternd für uns Menschen: Das Gericht Gottes besteht darin, dass er uns einfach unserer eigenen Gesinnung ausliefert. Er lässt uns einfach machen, wie wir denken und wollen. Gott muss uns nicht aktiv bestrafen. Wir Menschen bereiten uns schon selbst gegenseitig die Hölle auf Erden, wenn Gott uns einfach nur in die Autonomie entlässt, die wir so lautstark verlangen. Diese Aussage ist tatsächlich der ultimative Tiefschlag für uns Menschen. Mehr Provokation geht eigentlich nicht.

Aber Paulus setzt noch einen drauf: „Juden und Griechen befinden sich gleichermaßen in der Gewalt der Sünde. So steht es auch in der Heiligen Schrift: „Keiner ist gerecht – nicht ein Einziger. Keiner ist einsichtig, keiner fragt nach Gott. Alle sind sie von ihm abgefallen, allesamt sind sie verdorben. Es gibt keinen, der etwas Gutes tut! Auch nicht einen Einzigen!“ (Römer 3, 9-12) Und in Römer 7, 14 macht Paulus deutlich, dass er sich selbst hier überhaupt nicht ausnimmt: „Ich weiß: So wie ich von Natur aus bin, wohnt in mir nichts Gutes.“ Spätestens beim Lesen dieser Sätze wird klar, warum die „Gute Nachricht“ von Paulus oft so schlecht angekommen ist. Wer will sich denn schon gerne ein derart vernichtendes Urteil ausstellen lassen? Tatsächlich könnte man Paulus fragen: Muss das wirklich sein? Könntest Du Deine Botschaft nicht ein wenig netter vermitteln?

Ich selbst würde diese Botschaft von Paulus jedenfalls nicht ungefiltert jedem Mitmenschen einfach so aufs Brot schmieren. Aber eigentlich gilt hier doch genau das Gleiche, was schon bei der Botschaft des Gerichts galt: Wäre diese Diagnose aus der Luft gegriffen, um Menschen klein und gefügig zu machen, dann wäre sie hochgradig verwerflich. Aber wenn sie zutrifft, dann wäre es verwerflich, diese Diagnose zu verschweigen. Ein Arzt, der bei der Diagnose nicht schonungslos ehrlich ist, findet auch keine Therapie, die wirklich heilen kann. Ein guter Arzt muss ehrlich sein, auch wenn die Wahrheit erschütternd ist. Sonst wäre er kein guter Arzt. Und deshalb lautet die entscheidende Frage: Hat Paulus recht mit seiner niederschmetternden Diagnose?

Paulus steht mit seiner Position in der Bibel nicht alleine da. Dieses pessimistische Menschenbild zieht sich quer durch die ganze Bibel. Das beginnt schon in 1. Mose 8, 21: „Der Mensch ist böse von Jugend auf.“ Immer und immer wieder schildert die Bibel, wie die Menschen sich verrennen in zerstörerischen Verhaltensweisen, in Lug und Trug, in Ausbeutung und Gewalt.

Aber wie sieht es aus, wenn wir heute auf unsere Welt und in unsere Geschichte schauen? Müssen wir nicht ehrlicherweise sagen, dass die Diagnose von Paulus zutrifft? Auch heute müssen wir überall auf der Welt auf unseren Geldbeutel und unsere Wertsachen aufpassen. Überall in der Welt wird Polizei und eine ordnende Staatsmacht benötigt, um das Böse in Schach zu halten. Wir Menschen haben es nirgends je geschafft, ein System zu entwickeln, in dem einfach alle Menschen gut miteinander umgehen. Keine Systemänderung hat dazu geführt, dass plötzlich überall der gute Kern des Menschen die Oberhand gewinnt.

Ganz offenkundig schaffen wir Menschen es einfach nicht, uns unser eigenes Paradies zu bauen. Der gute König, der einfach nur das Beste für sein Volk will, existiert nur im Märchen. Sex, Macht und Geld korrumpiert uns Menschen. Die Demokratie ist gerade deshalb eine so gute Staatsform, weil in ihr jede Macht von anderen Mächten kontrolliert wird und im Zweifelsfall abgesetzt werden kann. Deshalb bin ich der Meinung: Die Geschichte hat wieder und wieder bewiesen, dass Paulus recht hat mit seiner Diagnose.

Aber wenn es stimmt, dass wir Menschen Sünder sind und Schuld auf uns laden, folgt daraus die nächste große Grundfrage der Menschheit:

5. Wer erlöst uns von Schuld und Scham?

Ich höre oft die These, dass der moderne Mensch sich nicht mehr interessieren würde für die Frage nach der Erlösung von Schuld. Die Menschen würden sich doch gar nicht mehr schuldig fühlen. Also brauchen sie auch keine Erlösung. Meine Beobachtung ist offen gesagt eine völlig andere. Erst kürzlich hat sich ein Bekannter von mir in den Urlaub verabschiedet. Er hatte eine tolle Reise geplant auf einen anderen Kontinent, eine Kombination aus Flugreise und Rundreise mit einem Mietwagen. Aber am Ende unseres Gesprächs sagte er: Ich habe ja so ein schlechtes Gewissen! Ich zerstöre damit doch das Klima! Welche Welt hinterlasse ich meinen Nachkommen?

Meine Wahrnehmung ist: Schuld ist tatsächlich gerade jetzt wieder ein riesengroßes Thema in unserer westlichen Welt! Wir sind schuld am Klimawandel. An der Umweltverschmutzung. Am Artensterben. An Armutsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir sind schuld an ungerechten Lieferketten. An Diskriminierung, Rassismus und Kolonialismus. Wir könnten die Reihe noch lange fortsetzen.

Schuld und Moral hat Konjunktur in unserer Gesellschaft. Sogar die Witze von Otto Waalkes werden heute offenbar als so diskriminierend empfunden, dass man vor ihnen warnen muss. Winnetou wird aus den Medien verbannt, weil das ja kulturelle Aneignung sei. Das Problem daran ist: Wenn der Moralismus derart stark wird, dann hat auch Schuld und Scham Hochkonjunktur. Denn wer von uns ist denn noch in Ordnung, wenn sogar Otto Waalkes und Winnetou, die Helden unserer Kindheit, Diskriminierer sind?

Eine Antwort unserer Zeit lautet: Vielleicht können wir uns ja freikaufen! Wir könnten parallel zur Flugbuchung für ein Aufforstungsprojekt spenden. Oder wir werden Veganer. Oder wir verzichten auf Kinder, um CO2 zu sparen. Oder wir schmücken uns mit Regenbogenfarben und bauen sogar Sternchen und Sprechpausen in unsere Sprache ein, um ja niemand zu vergessen oder zu verletzen. Die Frage ist nur: Wird das reichen? Werden wir dadurch erlöst von Schuld und Scham? Paulus hat dazu eine überaus klare Position. Der 5. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir können uns nicht selbst erlösen. Allein aus Gnade werden wir gerettet!

Paulus hat dazu im Römerbrief revolutionäre Sätze geprägt, die später auch die Reformation vorangetrieben haben:

„Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt.“ (Römer 3, 28) „Wenn es aber aus Gnade geschah, dann spielen die eigenen Taten dabei keine Rolle. Sonst wäre die Gnade ja nicht wirklich Gnade.“ (Römer 11, 6)

Für Paulus gilt also: Kein noch so frommes oder gut gemeintes Werk bringt mir Erlösung, im Gegenteil: Jede Leistung, mit der ich mir ein gutes Gewissen oder gar Gottes Gunst verdienen will, wirft mich aus der Spur des gesunden, rettenden Glaubens, der allein auf die unverdiente Gnade Gottes setzt und der sagt: Ich kann mich nicht selbst erlösen. Aber ich bin von Gott angenommen, weil Jesus alles Notwendige bereits getan hat. Ich bin gerecht, weil Gott am Kreuz für mich Gerechtigkeit erworben hat und sie mir ohne mein Zutun schenkt. Das ist das Evangelium. Das ist Rechtfertigung allein aus Gnade.

Die große Not unserer Gesellschaft ist demnach, dass sie diese Gnade nicht kennt und dass sie diese Gnade auch gar nicht haben will. Ich kann das verstehen. Ich will ja auch lieber sitzen bleiben auf dem hohen Ross meiner Selbstgerechtigkeit. Ich will auch lieber Lohn für meine Leistung statt gnädig beschenkt zu werden. Die Gnade, die Gott uns anbietet, ist demütigend! Denn sie sagt uns: Wir sind so schuldig, dass ein anderer für uns sterben muss. Wir sind so hoffnungslos verloren, dass ein anderer am Kreuz die Suppe auslöffeln muss, die wir eingebrockt haben. Wie demütigend ist das! Und wie erlösend zugleich! Denn jetzt hängt meine Erlösung nicht mehr von mir ab und von meinen guten Vorsätzen, die ich doch morgen wieder fallen lasse. Jetzt werde ich wirklich befreit von Schuld und Scham. Denn was Jesus am Kreuz getan hat, ist genug – ein für alle Mal. Das ist wirklich, wirklich gute Nachricht. Das ist echtes, befreiendes Evangelium.

Darauf könnten Kritiker jetzt allerdings antworten: Ernsthaft? Unsere Schuld wird einfach so vergeben? Wir bekommen einfach so einen Freibrief und können ansonsten weitermachen wie bisher? Das soll die ganze christliche Botschaft sein? Tatsächlich ist das noch nicht die ganze Botschaft. Der 6. Eckpfeiler im Evangelium von Paulus gibt wieder Antwort auf eine große Grundfrage der Menschheit:

6. Was macht uns zu besseren Menschen?

Oder anders gefragt: Wie können wir Menschen uns bessern im Umgang mit uns selbst und mit anderen? Diese Frage bewegt viele Menschen. Wenn wir in eine Buchhandlung gehen, können wir dazu zahlreiche Ratgeber finden. Der Tenor vieler dieser Bücher lautet in etwa so: Folge deinem Herzen! Werde du selbst! Entdecke Dein Potenzial! Nimm Dein Leben in die Hand! Dann kannst du über dich hinauswachsen! Dann kannst du dich selbst und deine Umwelt verändern! Dann wirst du glücklich, zufrieden und erfolgreich!

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Einfach nur ein gutes Buch kaufen, und schon geht es aufwärts in meinem Leben. Aber funktioniert das wirklich? Paulus macht uns wenig Hoffnung, im Gegenteil: Der 6. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir werden verändert durch die Erneuerung unseres Herzens!

Und Erneuerung bedeutet für ihn: Unser altes Leben muss sterben, damit ein neues Leben geboren werden kann. In Römer 6, 6-8+11 schreibt Paulus dazu:

„Wir wissen doch: Der alte Mensch, der wir früher waren, ist mit Christus am Kreuz gestorben. Dadurch wurde der Leib vernichtet, der im Dienst der Sünde stand. Jetzt sind wir ihr nicht mehr unterworfen. Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr. Wir sind nun also mit Christus gestorben. Darum glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. … Genau das sollt ihr auch von euch denken: Für die Sünde seid ihr tot. Aber ihr lebt für Gott, weil ihr zu Christus Jesus gehört.“

Paulus knüpft hier an seine These an, dass alle Menschen unter dem Diktat der Sünde stehen. Das heißt: Wir können unseren Lebensstil nicht einfach so ändern. Jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Die Chance, die Gott uns anbietet, besteht vielmehr darin, dass wir unser bisheriges Leben mit Christus am Kreuz „sterben“ lassen, damit Raum für ein neues Leben entsteht, das nicht mehr unter dem Diktat der Sünde steht. Erst durch dieses Sterben und dieses Neuwerden wird die Sündenverstrickung durchbrochen.

Wir finden diesen Gedanken auch bei Jesus: Im Gespräch mit Nikodemus sagt er in Johannes 3, 3: Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen. Entsprechend spricht Paulus auch an anderen Stellen immer wieder von einem alten und einem neuen Menschen (z.B. Epheser 4, 22-24). In Galater 2, 20 geht er sogar so weit, zu sagen: „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“

Das heißt: Beim Evangelium von Paulus geht es gerade nicht darum, die inneren Potenziale zu heben. Im Gegenteil: Hier geht es darum, unser bisheriges Wesen sterben zu lassen. Und Sterben heißt: Loslassen. Aufgeben. Ich hänge meinen Stolz, meine Selbstgerechtigkeit und meinen Eigensinn an den Nagel. Ich gehe innerlich und äußerlich auf die Knie und sage zu Gott: Ich kann es nicht! Ich brauche Deine Kraft! Ich lasse mich taufen, um mein altes Wesen in den Tod zu geben und in der Kraft des Heiligen Geistes ein neues Leben beginnen. Ich bete um die Fülle des Heiligen Geistes, damit ER ein neues Wesen, einen christusgemäßen Charakter in mir wachsen lässt, geprägt von Liebe statt Gleichgültigkeit, Freude statt Zynismus, Freundlichkeit statt Ungeduld, Güte statt Härte, Treue statt Egoismus, Selbstbeherrschung statt Faulheit.

Das mag von außen so aussehen, als ob jemand einfach nur sein Verhalten ändert. Aber Christen sind überzeugt: Hinter dieser äußerlich sichtbaren Veränderung steht Gott selbst, der durch den Heiligen Geist unsere Herzen erneuert. Genau das hat Gott durch die Propheten angekündigt. In Jeremia 31, 33 sagt Gott: „Doch dies ist der neue Bund, den ich an jenem Tag mit dem Volk Israel schließen werde, spricht der Herr. Ich werde ihr Denken mit meinem Gesetz füllen, und ich werde es in ihr Herz schreiben.“ Gott schenkt uns ein neues Herz, das die Gebote Gottes liebt und sie von Herzen gerne lebt.

Damit sind wir beim 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus, der uns eine Antwort auf die folgende grundlegende Menschheitsfrage gibt:

7. Wie werden wir Menschen wirklich frei?

Unsere Antwort darauf lautet normalerweise: Wir werden frei, indem wir uns von Zwängen entledigen. Freiheit bedeutet: Menschen müssen sich nach nichts und niemandem mehr richten. Sie bestimmen ihr Leben selbst. Freiheit bedeutet Autonomie, also die Befreiung von äußeren Zwängen und Regeln.

Aber die große Frage ist: Macht Autonomie uns Menschen wirklich frei? Paulus sagt dazu zwar einerseits: Ja, es stimmt, Christen sind zur Freiheit berufen. Er spricht sogar von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Römer 8,21). Nur: Diese Freiheit ist gerade das Gegenteil von Autonomie. Der 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus lautet:

Jesus ist Herr! Freiheit und Gehorsam gehören zusammen!

Wir finden diesen Eckpfeiler gleich zu Beginn des Römerbriefs. Da schreibt Paulus einen Satz, der so gar nicht zur Freiheit des Menschen zu passen scheint: „Was ich verkünde, ist die gute Nachricht von Jesus Christus, unserem Herrn! … Sie sollen Christus gehorsam sein, den Glauben annehmen und so seinem Namen Ehre machen.“ (Römer 1, 4b+5b) Und in Römer 6, 17 fügt Paulus hinzu: „Dank sei Gott! Denn früher wart ihr Diener der Sünde. Aber jetzt gehorcht ihr von ganzem Herzen der Lehre, auf die ihr verpflichtet worden seid.“ Christen sollen also gehorsam sein! Sie gehören nicht sich selbst, im Gegenteil: „Denn wir gehören zu Christus Jesus, unserem Herrn.“ (Römer 6, 23) Das ist also buchstäblich das Gegenteil von Autonomie. Wir gehören nicht uns selbst. Wir gehören Jesus.

Bibelleser sollte das eigentlich nicht überraschen. Denn in den Evangelien wird ja immer wieder deutlich: Die Botschaft Jesu drehte sich im Kern um ein Königreich. Immer und immer wieder sagt er: Ändert euch. Kehrt um. Denn das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes ist nahe. Jesus lehrt uns beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Und Jesus betont: „MIR ist alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde.“ (Matthäus 28,18) Und „wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote befolgen.“ (Johannes 14, 15) Da wird also ein ganz klarer Herrschaftsanspruch formuliert! Aber wie passt diese Botschaft von der notwendigen Unterordnung unter die Herrschaft Jesu dazu, dass Christen frei sind?

Genau darauf gibt Paulus in den Kapiteln 6-8 des Römerbriefs eine ganz klare Antwort. Im Kern sagt er: Eine souveräne Freiheit im Sinne einer völligen Unabhängigkeit gibt es für uns Menschen nicht. Niemals. Für niemand von uns! Wir Menschen sind immer von etwas bestimmt – entweder vom Geist Gottes oder aber von unserer menschlichen, in Sünde verstrickten Natur. Die Wahrheit ist laut Paulus also paradox: Je mehr wir uns von Gott frei machen wollen, umso mehr werden wir zu Gefangenen und Getriebenen unserer Wünsche, Süchte, Begierden und der Erwartungen anderer Menschen. Aber je mehr wir uns der Herrschaft Jesu unterordnen, umso mehr dürfen wir erleben, wie ER unsere Füße auf weiten Raum stellt und uns in wahre Freiheit führt.

Der Einstieg in die Freiheit besteht also gerade nicht darin, dass wir uns von allen Geboten entledigen. Im Gegenteil: Die Freiheit beginnt dort, wo wir uns freiwillig unter die Herrschaft Gottes begeben. Christen nennen Jesus ganz bewusst und mit Freude „Herr“. Und Gott schenkt ihnen wachsende Freude daran, ein Leben zu führen, das seinen Geboten und Ordnungen entspricht – nicht aus Zwang und Druck sondern aus dem Erleben, dass Gottes Gebote keine einengenden Schikanen sind, sondern dass es sich um heilsame Hilfen zum Leben handelt. Und Gottes Geist schenkt uns die Kraft und das Verlangen, in diesen heilsamen Ordnungen zu leben. DAS führt uns in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Ist das nicht großartig?

Das Evangelium erklärt und provoziert die Welt

Ich hoffe, ich konnte zeigen: Das Evangelium ist tatsächlich viel mehr als eine nette Botschaft von der grenzenlose Liebe Gottes. Der bekannte englische Schriftsteller C.S. Lewis hat einmal geschrieben:

„Ich glaube an Christus, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.“

Genau so geht es mir, wenn ich auf diese 7 Punkte schaue. Sie zeigen mir nicht nur, wer und wie Gott ist. Im Licht dieser Botschaft kann ich auch mich selbst erkennen. Ich kann erkennen, welche Würde ich habe als sein Geschöpf. Aber ich verstehe auch, wie tief ich verstrickt bin in Sünde und was diese Sünde in meinem Leben anrichtet. Ich verstehe, wie rettungsbedürftig ich bin. Und ich verstehe immer besser, was in dieser Welt geschieht und warum sie so ist, wie sie ist. Mir fallen so viele Belege und Erfahrungen ein, die mir zeigen: Ja, dieses Evangelium ist tatsächlich wahr. Diese Diagnose trifft zu. Und deshalb kann ich mich auch darauf verlassen, dass in diesem Evangelium die heilende und rettende Botschaft enthalten ist, die mir tatsächlich hilft. Deshalb kann ich mit Freude mein Leben auf diese Botschaft bauen. Darin liegt für mich die ganze Kraft und Schönheit des Evangeliums.

Zudem wird in diesen 7 Punkten deutlich, warum dieses Evangelium zu allen Zeiten auf so viel Widerstand gestoßen ist. Ja, das Evangelium ist sehr gute Nachricht. Es ist rettende Nachricht, wenn wir verstanden haben, wie rettungsbedürftig wir sind. Aber solange wir der Meinung sind, dass wir eigentlich soweit ganz in Ordnung sind, ist dieses Evangelium pure Provokation. Und es steht damals wie heute im grundlegenden Widerspruch zu vielen Denkweisen, die in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlich sind.

Es ist nun einmal ein riesiger Unterschied, ob …

… wir die Wahrheit in uns selbst finden oder ob sie von außen auf uns zukommt und uns gegenübertritt.

… wir selbst und unsere subjektiven Erfahrungen der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis sind, oder ob der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis objektive Wahrheiten sind, die Gott uns in der Bibel offenbart.

… die Schöpfung nur auf ziellose Zufallsprozesse hinweist, die uns in unserer Autonomie in keiner Weise stören, oder ob die Schöpfung auf einen Schöpfer hinweist, der unsere Verehrung verdient.

… wir selbst beurteilen, was gerecht ist, oder ob wir uns bewusst sind, dass wir uns eines Tages vor dem Richterstuhl Gottes verantworten müssen, wo wir nach Gottes Maßstäben beurteilt werden und nicht nach unseren eigenen Maßstäben.

… das Grundproblem der Menschheit die bösen Umstände sind oder ob wir selbst das Problem sind, weil unser eigenes Herz hoffnungslos verstrickt ist in Sünde.

… wir uns selbst erlösen wollen durch moralisches Verhalten oder ob uns Erlösung ausschließlich durch Gnade geschenkt wird durch das Erlösungswerk Jesu am Kreuz.

… wir bessere Menschen werden, indem wir unsere eigenen Potenziale entfalten oder ob wir unseren alten Menschen am Kreuz in den Tod geben, damit der Heilige Geist uns ein neues Herz schenken kann und wir von neuem geboren werden.

… wir frei werden durch das Ablegen von äußeren Zwängen oder ob wir ganz im Gegenteil frei werden durch die Unterordnung unter die gute und heilsame Herrschaft Jesu!

Mir macht diese Gegenüberstellung zwischen dem Evangelium von Paulus und den Denkweisen in unserer Gesellschaft deutlich: Die gute Nachricht, die Paulus damals so viel Widerstand eingebracht hat, ist seither nicht populärer geworden. Auch heute noch steht sie so ziemlich gegen alles, was in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlicher Mainstream ist. Paulus hat damals geschrieben, dass seine Botschaft eine Torheit ist und ein Ärgernis ist (1. Korinther 1, 23). Diese Gegenüberstellung zeigt: Das hat sich bis heute nicht geändert.

Welches Evangelium predigen wir?

Umso mehr frage ich mich: Predigen wir in unseren Kirchen und Gemeinden wirklich das paulinische Evangelium? Konkret gefragt: Sprechen wir über Wahrheit und Irrtum? Oder wollen wir lieber niemand auf die Füße treten in Bezug auf seine persönlichen religiösen Vorstellungen? Sprechen wir darüber, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient? Sprechen wir darüber, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass Gott uns im Gericht verurteilen muss? Machen wir deutlich, dass wir uns aus diesem Zustand nicht selbst retten können und dass wir deshalb von neuem geboren werden müssen? Rufen wir dazu auf, vor Jesus die Knie zu beugen und ihn zum Herrn unseres Lebens zu machen? Oder geht es uns letztlich um – vielleicht sogar fromme – Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung? Stehen wir und unsere Bedürfnisse im Zentrum unserer Botschaft oder steht Jesus und seine Herrschaft im Mittelpunkt?

Dieses Evangelium hat offenkundig noch nie dem Zeitgeist entsprochen. Dieses Evangelium kann und wird uns auch heute noch Widerspruch einbringen. Aber vergessen wir nicht: Trotzdem ist genau dieses Evangelium die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten! Es war dieses Evangelium, das einst das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden und die Welt umgekrempelt hat. Es ist dieses Evangelium, das bis heute alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute verfolgt, bekämpft und unterdrückt wird. Ich bin überzeugt: Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat und den unsere Gesellschaft so dringend braucht! Denn dieses Evangelium operiert nicht an den Symptomen der menschlichen Probleme herum. Dieses Evangelium geht an die Wurzel der Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben. Und die Wurzel der Probleme ist und bleibt unser Herz, das in Sünde verstrickt ist.

Nachhaltige Gesellschaftstransformation bringt nur das Evangelium

So viele Erweckungsbewegungen der Vergangenheit haben bewiesen: Echte Gesellschaftstransformation entsteht nicht durch Aktivismus oder Umstürze sondern durch die Transformation der Herzen, die nur das Evangelium bewirken kann. Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft, weil es wahr ist, weil es eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit ist, weil es die richtige Diagnose über den Zustand von uns Menschen stellt und weil es uns deshalb auch die richtige Therapie bringt.

Und deshalb habe ich eine dringende Bitte an unsere Gemeinde- und Kirchenleiter, Verkündiger und Theologen: Bitte predigt genau dieses Evangelium, das Paulus gepredigt hat! Ich bin überzeugt, dass ihr feststellen werdet: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist. Im Gegenteil, ich bin mir sicher: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem Evangelium entfernen! Denn die Menschen spüren, dass jede andere Botschaft oberflächlich bleibt. Ein abgespecktes Evangelium mag nett und eingängig klingen, aber die Menschen spüren, dass es unsere Probleme nicht löst, dass es nur eine dünne Suppe ist, von der sich niemand ernähren kann. Aber das biblische Evangelium ist kraftvoll. Es macht den Menschen Mut und Hoffnung. Dieses Evangelium erneuert die Herzen und damit auch ganze Familien, Betriebe und Gemeinschaften. Deshalb lasst uns gemeinsam alles dafür tun, um diesen kostbaren Schatz zu hüten und zu bewahren. Und lasst uns gemeinsam mit Leidenschaft und Freude dieses Evangelium den Menschen und der Welt verkünden.

Die Bibel: Was ist das eigentlich? Die Frage nach dem Bibelverständnis

Dieser Artikel enthält das Skript zum offen.bar-Vortrag “Bibelverständnisse, ihre Konsequenzen und die Frage nach dem biblischen Bibelverständnis”, der am 20.06.2023 veröffentlicht wurde:

Warum gibt es auch im allianzevangelikalen Umfeld scheinbar immer mehr Misstrauen, Distanz und sogar Spaltungen? Zu dieser Frage gibt es viele Meinungen. Und doch setzt sich eine Erkenntnis immer stärker durch: Im Zentrum der Debatten und Konflikte steht letztlich die Frage nach dem Bibelverständnis. Denn dass Christen die Bibel an verschiedenen Stellen unterschiedlich auslegen, hat es schon immer gegeben. Und trotzdem hat zum Beispiel die Lausanner Bewegung gezeigt: Es ist möglich, eine starke, geeinte evangelistische Bewegung auf den Weg zu bringen trotz mancher Differenzen bei verschiedenen biblischen Auslegungsfragen.

Aber zunehmend wird deutlich: Beim Postevangelikalismus tun sich theologische Gräben auf, die grundsätzlicher sind und die man nicht mehr nur damit erklären kann, dass man einzelne Abschnitte in der Bibel unterschiedlich versteht und auslegt. Wenn die theologischen Gräben derart zentrale Glaubensfragen betreffen, dann hat das ganz offenkundig damit zu tun, dass man schon grundsätzlich ganz anders mit der Bibel umgeht und einen ganz verschiedenen Blick auf den Charakter und das Wesen der Bibel hat.

Ein grundsätzlich anderer Umgang mit der Bibel

Eigentlich ist diese Erkenntnis nicht neu für mich. Ich bin ja evangelisch. Natürlich ist mir schon vor langer Zeit aufgefallen, dass viele Theologen völlig anders mit der Bibel umgehen als ich das tue. Vor einigen Jahren hat mich das genauer interessiert. Deshalb habe ich mich in das „Arbeitsbuch zum Neuen Testament“ von Hans Conzelmann und Andreas Lindemann vertieft. Dieses Buch war lange Jahre an vielen theologischen Fakultäten im Einsatz als Grundlagenwerk für die Ausbildung von Pfarrern und Theologen. Viele heutige Leiter in der Kirche wurden also mit diesem Werk ausgebildet. Und ich habe mich gefragt: Wie genau wird da mit der Bibel umgegangen? In diesem Buch heißt es dazu:

„Die biblischen Texte werden methodisch nicht anders behandelt als andere literarische Zeugnisse, insbesondere solche der Antike. … Die Bibel enthält geschichtlich entstandene Dokumente, die – in großer Vielfalt theologischer Meinungen – den jüdischen bzw. christlichen Glauben bezeugen und darstellen.“[1]

Hier wird also gesagt: Als Bibelwissenschaftler gehen wir mit der Bibel so um wie mit jedem anderen Buch der Antike. Wir gehen davon aus, dass die Entstehung der Texte einem ganz normalen geschichtlichen Prozess zu verdanken ist. Entsprechend geht man davon aus, dass die Bibel nicht etwa Gottes Worte enthält. Stattdessen erwarten wir dort menschliche theologische Meinungen, und das in großer Vielfalt und somit auch Widersprüchlichkeit.

Das grundlegende Drama der evangelischen Kirche

Ich fand das aufschlussreich. Denn die Konsequenz dieser Herangehensweise an die Bibel ist natürlich weitreichend: Wenn die Bibel keine göttliche Offenbarung ist, sondern ein Buch wie jedes andere, dann können wir in der Bibel tatsächlich nur Meinungen über Gott finden. Aber mit widersprüchlichen Meinungen aus einer längst vergangenen Zeit kann man natürlich nichts Verlässliches herausfinden über den wahren Gott, über Jesus und über die ewigen Fragen. Denn über Gott wissen wir nun einmal ausschließlich das, was Gott uns offenbart! Es gibt über Gott keine andere Erkenntnisquelle.

Und das Problem der Kirche ist: Wenn sie keine Offenbarungsquelle hat, dann hat sie schlicht und einfach nichts zu sagen. Kirche hat keine Autorität aus sich selbst heraus. Kirche ist eine „Creatura verbi“, ein Geschöpf des Wortes Gottes. Sie entsteht daraus, dass Gott gesprochen hat. Sie hat keine eigene Botschaft, sondern sie ist nur ein Botschafter an Christi statt. Kirche kann nur deshalb Trost und Antworten auf die grundlegenden Ewigkeitsfragen der Menschen geben, weil sie aus einer göttlichen Erkenntnis- und Offenbarungsquelle schöpft. Und wenn diese Quelle fehlt, dann wird Kirche im wahrsten Sinne des Wortes trost-los, weil man Menschen mit Meinungen und Ideen nun einmal nicht trösten kann.

Tatsächlich bin ich der Überzeugung: Genau hier liegt das grundlegende Problem meiner evangelischen Kirche. Ohne die Bibel als Offenbarungsquelle hat sie kein Fundament mehr, auf dem sie stehen kann. Wenn die Bibel nur Meinungen enthält, dann können wir den Menschen eben auch nur von Meinungen berichten. Aber wir können ihnen nichts mehr sagen, worauf sie vertrauen, worauf sie sich verlassen können. DAS ist aus meiner Sicht das große, das entscheidende Drama meiner evangelischen Kirche. Und ich bin überzeugt: Solange sie ihre Leiter mit einem solchen Bibelverständnis ausbildet, wird es unmöglich wieder bergauf gehen können mit meiner Kirche.

Im Dschungel der zahllosen Bibelverständnisse

Das Beispiel zeigt, wie existenziell die Frage nach dem Bibelverständnis tatsächlich ist. Die Art, wie wir mit der Bibel umgehen, hat grundlegenden Einfluss auf unsere gesamte Theologie, auf unser Verständnis, was Christsein und Kirche eigentlich ist und welche Botschaft die Kirche verbreiten soll. Umso mehr möchte ich Dich einladen, jetzt einmal vertieft mit mir über die Frage nachzudenken: Welche verschiedenen Bibelverständnisse gibt es eigentlich? Und was sind die Konsequenzen, die sich daraus ergeben?

Für mich war es äußerst schwierig, mich bei diesem Thema orientieren zu können. Und ich glaube: So geht es vielen Menschen. Denn meine Erfahrung beim Umgang mit diesem Thema ist: Oft werden ganz verschiedene Bibelverständnisse mit ganz ähnlichen Begriffen beschrieben, so dass Leser oder Zuhörer kaum unterscheiden können, was da eigentlich gemeint ist. Oft werden Begriffe wie „Gottes Wort“ oder “Offenbarung” völlig unterschiedlich gefüllt. Und gerade dieser ganz unterschiedliche Gebrauch identischer Begriffe macht es so schwierig, sich bei dieser Frage zu orientieren.

Um trotzdem ein wenig mehr Licht in diesen Nebel zu bringen, möchte ich jetzt etwas tun, was eigentlich gar nicht geht. Denn das Thema Bibelverständnis ist natürlich ein ungeheuer weites Feld. Es gibt unfassbar viele verschiedene Bibelverständnisse und wir haben nicht ansatzweise die Zeit, all diese Bibelverständnisse in einem einzigen Vortrag zu durchdringen und zu diskutieren. Deshalb habe ich zusammen mit einem befreundeten Theologen versucht, ein paar Schneisen in dieses Dickicht zu schlagen und die wichtigsten Gruppen von Bibelverständnissen etwas schematisch und vereinfacht in eine Übersicht zu bringen. Dabei soll deutlich werden, welche grundlegenden Weichenstellungen in den einzelnen Bibelverständnissen vorgenommen werden und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Konkret möchte ich dir fünf verschiedene Bibelverständnisse skizzieren. Vier davon begegne ich relativ häufig in der einen oder anderen Variante. Eines begegnet mir nur ganz selten, aber es ist mir trotzdem wichtig, dass wir auch dieses Bibelverständnis mit aufnehmen, weil es uns hilft, die prinzipiell möglichen Weichenstellungen und die daraus folgenden Konsequenzen besser zu verstehen.

Fünf Bibelverständnisse im Vergleich

Das erste Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Gotteswort! Das heißt: So, wie Texte dastehen, sind sie uns voll und ganz von Gott gegeben worden. Zum Entstehungsprozess der biblischen Texte könnte man hier am ehesten sagen: Die biblischen Texte sind diktiert. Gott allein hat jedes Wort so vorgegeben, vollständig unabhängig von menschlichen Einflüssen. Das ist das Bibelverständnis, das mir in der Praxis sehr selten begegnet.

Das zweite Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Gotteswort und ganz Menschenwort! Martin Luther hat diese Sichtweise auf die Bibel einmal mit Jesus verglichen und gesagt: Jesus war beides: Ganz Mensch. Und ganz Gott. Und so ist auch die Bibel beides: Ganz Gotteswort. Und zugleich ganz Menschenwort. Das heißt: Die Bibel ist nicht etwa teilweise menschlich und teilweise göttlich. Nein, sie ist beides voll und ganz. Sie ist zum einen ganz Menschenwort, das heißt: Man merkt den Texten durchgängig den speziellen Stil und die Sichtweise des menschlichen Autors an. Und doch hat zugleich Gott dafür gesorgt, dass alle Texte das Wesen und die Wahrheit Gottes widerspiegeln.

Zum Entstehungsprozess der biblischen Texte würde man hier am ehesten sagen: Die Bibeltexte sind inspiriert. Das heißt: Hier haben Menschen geschrieben mit ihrer Perspektive, geprägt von ihrem Wesen und ihrem Charakter. Und doch waren sie zugleich so inspiriert vom Heiligen Geist, dass diese Worte auch ganz und gar Gottes Wesen und Gottes Wahrheit widerspiegeln.

Das dritte und das vierte Bibelverständnis will ich überschreiben mit dem Schlagwort: Die Bibel ist Gotteswort im Menschenwort. Hinter diesem Schlagwort können sich sehr verschiedene Bibelverständnisse verstecken, aber ich möchte damit heute vor allem zwei Bibelverständnisse beschreiben:

Das erste Bibelverständnis kann man mit dem Stichwort „Kanon im Kanon“ überschreiben. Was ist damit gemeint? Der Begriff „Kanon“ meint ja an sich die Zusammenstellung aller Texte, die gläubige Christen als ihre heilige Schrift oder als Gottes Wort ansehen. Das heißt: In der protestantischen Kirche gehen wir von einem Kanon aus, der insgesamt 66 Bücher umfasst, 39 Bücher des Alten Testaments und 27 Bücher des Neuen Testaments. Aber wer von einem „Kanon im Kanon“ spricht, der geht davon aus, dass nicht alle Texte, die in diesen 66 kanonischen Büchern stehen, wirklich von Gott inspiriert sind. Stattdessen meint man, dass das nur für bestimmte Teile dieser Texte gilt.

Das führt natürlich sofort zu der großen Frage: Welche Teile der Bibel sind denn inspiriert? Und welche Teile sind nicht inspiriert und somit nur rein menschlicher Natur? Das ist eine Frage, auf die bislang niemand eine befriedigende Antwort finden konnte. Unterschiedliche Vertreter dieses Bibelverständnisses haben immer wieder völlig unterschiedliche Grenzen gezogen zwischen reinem Menschenwort und göttlich inspirierten Passagen. Es ist niemand gelungen, nachvollziehbare Kriterien zu entwickeln, anhand derer man objektiv im Bibeltext unterscheiden könnte zwischen inspirierten Texten und rein menschlichen Texten. Deshalb scheint dieses Bibelverständnis heute auch nicht mehr sonderlich weit verbreitet zu sein.

Das vierte Bibelverständnis geht deshalb einen anderen Weg. Ich habe diese Herangehensweise an die Bibel mal mit dem Stichwort „Leseinspiration“ überschrieben. Und damit ist gemeint: Die biblischen Texte sind in diesem Bibelverständnis an sich rein menschliche Texte. Sie sind von Menschen geschrieben, sie sind nicht von Gott inspiriert. Aber hier geht man davon aus, dass der Heilige Geist diese Texte benutzen kann und sie auch benutzt, um sie beim Lesen für uns zum Gotteswort zu machen.

An sich ist diese Sichtweise nichts Besonderes. Die Auffassung, dass der Heilige Geist beim Lesen der Bibel eine wichtige Rolle spielt, wird sicher von der großen Mehrheit der Christen geteilt. Das Besondere bei dem Bibelverständnis, das ich mit „Leseinspiration“ überschrieben habe, ist: Der Inspirationsprozess wird hier mehr oder weniger stark auf den Leseprozess reduziert. Es wird nicht oder nur sehr begrenzt damit gerechnet, dass die Inspiration des Heiligen Geistes auch schon bei der Entstehung der Texte ein entscheidender Faktor war. Es wird vielmehr gesagt: Erst beim Lesen kann der Heilige Geist aus dem menschlichen Wort ein inspiriertes Gotteswort machen.

So schreibt zum Beispiel der Theologe Udo Schnelle: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“[2] Und Siegfried Zimmer schreibt dazu ganz knapp: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“[3]

Das fünfte und letzte Bibelverständnis heißt: Die Bibel ist ganz Menschenwort. Hier wird gesagt: Bei der Entstehung dieser Texte war weder Diktat noch Inspiration am Werk. Sondern so wie im eingangs zitierten Bibelverständnis von Conzelmann und Lindemann geht man davon aus, dass die Texte auf rein menschlichen Gedanken basieren. Was wir in der Bibel dann vor uns haben, sind rein menschliche Vorstellungen, Meinungen und Erfahrungen, die nichts zu tun haben mit irgendwelchen göttlichen Einflüssen.

Hat die Bibel einen echten Offenbarungscharakter?

Die nächste Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Was bedeuten diese Bibelverständnisse für das Wesen, für den Charakter der biblischen Texte? Inwiefern haben diese Texte einen Offenbarungscharakter?

Bei den ersten beiden Bibelverständnissen ist das relativ klar. Hier wird gesagt: Die Bibel IST eine Offenbarung Gottes. Die Worte haben so, wie sie da stehen, einen echten Offenbarungscharakter. Der Satz: „Die Bibel ist Gottes Wort” bedeutet hier nicht nur, dass Gott durch diese Worte zu uns reden kann, sondern dass diese Texte tatsächlich Worte des lebendigen Gottes sind. Das ist das Bibelverständnis, das z.B. die evangelische Allianz vertritt. Sie sagt in ihrer Glaubensbasis:

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

Entscheidend ist hier die Aussage: Die Bibel IST Offenbarung. In anderen Bibelverständnissen sieht das anders aus. Wer von einem Kanon im Kanon ausgeht, kann nicht sagen: Die Bibel IST Offenbarung, sondern der muss eher sagen: Die Bibel ENTHÄLT Offenbarung. Und wer von einem Bibelverständnis der Art ausgeht, die ich hier mit „Leseinspiration“ bezeichnet habe, der spricht eher davon, dass die Bibel die Offenbarung BEZEUGT.

So lesen wir zum Beispiel in einem aktuellen Grundsatztext der evangelischen Kirche in Deutschland:

„Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“[4]

In diesem kurzen Zitat wird sehr schön deutlich, was hier geschieht. Grundlegend wichtig ist: Es wird getrennt zwischen der Offenbarung und dem Bibeltext. Man rechnet zwar mit einer Offenbarung, aber die Bibeltexte selbst sind nicht diese Offenbarung, sondern die eigentliche Offenbarung ist eine Person, Jesus Christus. Diese eigentliche Offenbarung steht hinter den Texten, aber die Texte selbst sind nicht offenbart. In der Bibel haben Menschen geschrieben, die zum Teil zwar sehr nahe dran waren an dieser Offenbarung und die diese Offenbarung bezeugen. Die Texte selbst aber haben einen menschlichen Charakter.

Im letzten Bibelverständnis wird das noch einmal anders gesehen. Hier wird überhaupt nicht mit irgendwelchen Offenbarungsereignissen gerechnet. Hier ist klar: Die Bibel enthält grundsätzlich nur Vorstellungen von Gott. So schreibt zum Beispiel Pastor Sebastian Rink:

„Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte.“[5]

Rink beschreibt hier also einen durch und durch menschlichen Prozess, der zur Entstehung dieser Texte geführt hat, der mit Offenbarung nichts zu tun hat.

Hat „Die Bibel“ uns heute noch etwas zu sagen?

Aber was bedeuten diese verschiedenen Bibelverständnisse nun für die Frage, was die Bibel uns eigentlich zu sagen hat? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zuerst einen sehr grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen Bibelverständnissen verstehen. Dieser Unterschied betrifft die Frage nach der Einheit der Bibel.

In den ersten beiden Bibelverständnissen, in denen die Bibel ganz als Gotteswort angesehen wird, ist klar: Zwar haben hier viele verschiedene Menschen geschrieben. Wir müssen ja von wenigstens 40 verschiedenen Autoren ausgehen, die in sehr verschiedenen Zeiten und Kulturen gelebt haben. Und trotzdem sind Vertreter dieser beiden Bibelverständnisse überzeugt: Hinter allen diesen Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Es war ein und derselbe Heilige Geist, der alle diese Texte gleichermaßen inspiriert hat. Deshalb wird die Bibel in diesen Bibelverständnissen trotz ihrer textlichen, kulturellen und zeitlichen Vielfalt als eine Einheit verstanden. Da gibt es zwar Spannungsfelder und sich gegenseitig ergänzende Pole der Wahrheit. Und es gibt natürlich auch heilsgeschichtliche Entwicklungen. Aber insgesamt zeichnen diese Texte trotzdem ein gemeinsames Bild und sie machen gemeinsam Aussagen über Gott und die Welt. Nur auf dieser Grundlage konnte z.B. ein Billy Graham in seinen Predigten immer wieder sagen: „The bible says…“ „Die Bibel sagt…“ So eine Formulierung macht natürlich nur dann Sinn, wenn man die Bibel als eine Einheit versteht, denn nur dann kann DIE Bibel auch irgendetwas sagen.

In den anderen Bibelverständnissen geht man hingegen davon aus, dass es sich um menschliche Meinungen oder Zeugnisse handelt. Und menschliche Meinungen und Zeugnisse sind immer mehr oder weniger widersprüchlich. Entsprechend kann z.B. der Theologe Siegfried Zimmer sagen: „Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“[6] Er sagt also: Wir können Zitate von Jesus nehmen, um damit andere Teile der Bibel aushebeln, wenn sie dem widersprechen, was Jesus gesagt hat. In dieser Sichtweise ist die Bibel natürlich keine Einheit mehr, denn sie enthält dann widersprüchliche Aussagen. Damit macht dann auch die Wendung „Die Bibel sagt…“ keinen Sinn mehr. Denn DIE Bibel sagt dann natürlich überhaupt nichts, sie enthält ja eine Vielzahl von sich widersprechenden Aussagen.

Ist die Bibel fehlerlos und kritisierbar?

Und es gibt noch eine weitere entscheidend wichtige Konsequenz dieser verschiedenen Bibelverständnisse:

In den beiden ersten Bibelverständnissen, in denen die Bibel ganz als Gotteswort angesehen wird, da können wir davon sprechen, dass die Bibeltexte in einem gewissen Sinn „fehlerfrei“, „irrtumslos“ oder „unfehlbar“ sind. Martin Luther hat dazu zum Beispiel folgendes geschrieben:

„Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“[7]

Das grundlegende Prinzip, das Luther hier erklärt, war ein zentraler Grundstein der Reformation. Man kann es ganz simpel formulieren mit der Aussage: Alle Theologen irren! Aber die Autoren der Bibel irren niemals! Mit seinem Hinweis auf den Kirchenvater Augustinus hat Luther deutlich gemacht: Dieses Prinzip war nicht seine eigene Erfindung. Es galt schon zur Zeit der ersten Christen.

Und tatsächlich lässt sich das in den Schriften der Kirchenväter und der apostolischen Väter immer wieder nachweisen. Der Neutestamentler Prof. Theodor Zahn hat geschrieben: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[8] Die Annahme, dass die Texte der Bibel frei von Irrtum sind, ist also überhaupt keine moderne Idee, sondern sie war von Beginn der Kirchengeschichte an weit verbreitet und sogar vorherrschend. Bis heute gilt, dass diese Annahme in der weltweiten Kirche keine Außenseiterposition ist, im Gegenteil. Man merkt das zum Beispiel in einem der zentralsten theologischen Dokumente der evangelikalen Bewegung, der sogenannten Lausanner Verpflichtung aus dem Jahr 1974. Dieses Dokument wurde von zahlreichen Kirchenleitern aus der ganzen Welt unterschrieben. Und da heißt es über die Bibel als Gottes Wort: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und des Lebens.“ Auch hier haben wir also genau diese Begriffe: Ohne Irrtum und unfehlbar.

Klar ist aber trotzdem: Diese Begriffe „fehlerfrei“, „irrtumslos“ oder „unfehlbar“ sind erklärungsbedürftig. Ich habe sie deshalb in meiner Übersichtstabelle auch ganz bewusst in Anführungszeichen gesetzt. Denn diese Begriffe müssen natürlich sehr genau definiert werden, sonst gibt es immer wieder Missverständnisse. So hat zum Beispiel der Theologe Gerhard Maier gerade zu dieser Passage in der Lausanner Verpflichtung angemerkt: Ja, Gottes Wort ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, aber: Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ Er will damit sagen: Eine Irrtumslosigkeit kann sich natürlich nur auf das beziehen, was die Autoren tatsächlich sagen wollten. Wenn wir aber den biblischen Aussagen eine falsche Aussageabsicht unterstellen oder ein anderes Wahrheitsverständnis unterschieben, dann funktioniert das mit der Irrtumslosigkeit natürlich nicht mehr. Gerhard Maier spricht deshalb auch lieber von vollkommener Verlässlichkeit oder von Fehlerlosigkeit im Sinne der göttlichen Zwecke.

Aber unabhängig von solchen Begriffsdiskussionen geht man in diesem Bibelverständnis jedenfalls davon aus: Hier hat Gott gesprochen. Und wenn Gott in diesem Text spricht, dann kann dieser Text in seiner ursprünglichen Form und in seiner ursprünglichen Aussageabsicht auch keine Fehler enthalten, weil Gott nun einmal keine Fehler macht.Bibelkritik ist dann zwar durchaus sinnvoll, aber nur, wenn mit dem Wort „Kritik“ eine unterscheidende Analyse gemeint ist, also wenn man z.B. zwischen verschiedenen Textgattungen unterscheiden will oder wenn man unterscheidet zwischen Urtext und späteren Veränderungen am Text.

Ganz anders sieht das bei den anderen Bibelverständnissen aus. Hier gilt: Weil es sich um menschliche Texte handelt, sind diese Texte natürlich auch im echten Sinn inhaltlich kritisierbar. In der Theologie spricht man von „Sachkritik“. Da geht es also nicht mehr nur um eine unterscheidende Analyse der Texte, sondern um echte inhaltliche Kritik an den ermittelten Aussagen der biblischen Texte. So meint zum Beispiel Siegfried Zimmer: „In der Bibel gibt es hunderte von Fehlern. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“[9]

Was in diesem Zitat noch einmal deutlich wird, ist dieses Phänomen der Trennung zwischen der Offenbarung und dem Bibeltext. Da ist also eine Offenbarung in Christus auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite ist der Bibeltext, der nur eine menschliche, schriftliche Darstellung dieser Offenbarung ist. Und weil diese Darstellung einen ganz menschlichen Charakter hat, kann ich diesen Text natürlich auch kritisieren, weil menschliche Texte immer fehlerhaft und kritisierbar sind.

Im bibelwissenschaftlichen Umfeld geht diese Sachkritik oft zusätzlich noch einher mit einer sogenannten „Wunderkritik“, das heißt: Man fühlt sich einem Wissenschaftsbegriff verpflichtet, der bei der Erforschung der Bibel ausschließlich von natürlichen Ursachen ausgeht. Das bedeutet: Man rechnet prinzipiell nicht mit der Historizität von Wundern. Und man rechnet auch prinzipiell nicht mit vorhersagender Prophetie. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Datierung der Texte. Denn die Texte können dann grundsätzlich erst nach Ereignissen entstanden sein, die in den Texten vorhergesagt werden. Die Evangelien können also zum Beispiel erst nach der Zerstörung des Tempels entstanden sein, weil Jesus diese Zerstörung in den Evangelien angekündigt hat. Oder das Daniel-Buch kann zumindest in Teilen erst im 2. Jahrhundert vor Christus entstanden sein, weil es über Ereignisse spricht, die da erst passiert sind.

Durch diese zeitliche Verschiebung verändert sich natürlich auch der Autor. Es verändert sich das politische, religiöse und kulturelle Umfeld der Texte. Die Adressaten verändern sich. Und somit natürlich auch die Aussageabsicht. Das heißt: Wunderkritik führt am Ende immer auch zu einer ganz anderen Auslegung der biblischen Texte.

Zwischenfazit: Die grundlegendste aller Weichenstellungen

Wir haben somit auf der einen Seite zwei Bibelverständnisse, bei denen die Bibel angesehen wird als eine Offenbarung Gottes und damit auch als eine völlig zuverlässige, vertrauenswürdige Einheit. Auf der anderen Seite haben wir drei Bibelverständnisse, in denen gilt: Die Bibel ist zwar ein wichtiges, aber eben auch ein widersprüchliches, fehlerhaftes, zu kritisierendes Zeugnis, das zwar verbunden sein kann mit einer mehr oder weniger großen Nähe zur Christusoffenbarung, das aber trotzdem inhaltlich kritisierbar bleibt.

Natürlich gibt es zu jedem dieser Bibelverständnisse unfassbar viele Nuancen und Verästelungen. Diese Tabelle kann unmöglich die Gesamtheit aller Bibelverständnisse beschreiben. Aber die grundsätzlichen Weichenstellungen, die bei den verschiedenen Bibelverständnissen vorgenommen werden, sind hoffentlich deutlich geworden. Und was hoffentlich vor allem deutlich wurde, ist die grundlegendste aller Weichenstellungen. Und diese grundlegendste Weichenstellung ist die Frage: Haben die Texte selbst einen Offenbarungscharakter? Oder trennen wir zwischen den biblischen Texten einerseits und möglichen Offenbarungsereignissen bzw. der Offenbarung in Jesus Christus andererseits? Je nachdem, ob wir zwischen Text und Offenbarung trennen oder nicht, landen wir entweder bei einem Bibelverständnis, in dem die biblischen Aussagen als verlässliche Einheit betrachtet werden. Oder aber wir landen bei einem Bibelverständnis, in dem man mit Fehlern und Widersprüchen in der Bibel rechnet, in dem die Bibel ihre Einheit verliert und in dem die Bibeltexte inhaltlich kritisiert werden können.

Die weitreichenden Konsequenzen

Diese Grundentscheidung hat sehr weitreichende Konsequenzen: Denn wenn die biblischen Texte einen Offenbarungscharakter haben und miteinander eine Einheit bilden, dann können wir aus ihnen tatsächlich auch objektive Wahrheiten gewinnen als Grundlagen für gemeinsames Zeugnis und für gemeinsames Bekenntnis. Auf dieser Grundlage sind zum Beispiel die altkirchlichen Bekenntnisse entstanden. Und auch viele neuere Bekenntnistexte wie zum Beispiel die Glaubensbasis der evangelischen Allianz basieren grundlegend auf der Annahme, dass die Bibel eine verlässliche, aussagekräftige Einheit bildet. Und es sind diese bibelbasierten Bekenntnisse, denen es gelingt, trotz vieler Auslegungsdifferenzen in Detailfragen große Mengen an Christen miteinander zu verbinden und zu vereinen.

Bei den anderen Bibelverständnissen sieht das anders aus. Denn wenn es sich bei den biblischen Texten um menschliche, fehlerhafte und widersprüchliche Texte handelt, dann ist es natürlich weitaus schwieriger, aus diesen Texten allgemeingültige Aussagen herauszufiltern. Und tatsächlich zeigt sich das auch in der Praxis. Vertreter dieser Bibelverständnisse haben oft auch zu den allerzentralsten Glaubensaussagen sehr vielfältige und unterschiedliche Meinungen: Ist Jesus wirklich von einer Jungfrau geboren worden? Ist er wirklich leiblich auferstanden? Wird Jesus wirklich als Richter wiederkommen? Werden wir wirklich auferstehen und ewig mit ihm leben? Innerhalb dieser Bibelverständnisse findet man zu allen solchen Fragen sehr verschiedene Positionen. Man findet insgesamt eher nur subjektive Wahrheiten und Meinungen, aber kaum etwas, das man ganz selbstverständlich miteinander bezeugen und bekennen kann.

Einheit ist hier deshalb nicht mehr möglich durch Übereinstimmung in zentralen Glaubensfragen. Einheit ist hier nur noch möglich durch institutionelle Zusammengehörigkeit, durch Tradition oder durch eine gemeinsame äußerliche Prägung. Aber die Praxis zeigt: Solche Faktoren verlieren immer schneller ihre verbindende Kraft. Und dazu kommt das Problem, dass natürlich auch das gemeinsame Profil und die gemeinsame Botschaft verloren geht. Genau das ist ja heute DAS große Problem unserer evangelischen Kirche, dass eigentlich niemand weiß, wofür diese Kirche steht und was sie den Menschen eigentlich sagen will.

Spätestens hier sehen wir, wie weitreichend und wie grundlegend die Konsequenzen dieser verschiedenen Weichenstellungen beim Bibelverständnis sind. Ich kann deshalb überhaupt nicht nachvollziehen, wenn immer wieder behauptet wird, dass es doch kein Problem sei, wenn man beim Bibelverständnis unterschiedlicher Meinung ist. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Kaum eine theologische Differenz hat grundsätzlichere, weitreichendere Konsequenzen wie eine grundlegende unterschiedliche Weichenstellung beim Bibelverständnis. Und deshalb ist es von so enormer Bedeutung, dass wir über dieses Thema miteinander ins Gespräch kommen.

Ist die Bibel kontextbezogen und auslegungsbedürftig?

Eine letzte Konsequenz dieser verschiedenen Bibelverständnisse will ich noch deutlich machen: Wenn die Bibel nur reines Gotteswort ist, dann heißt das natürlich auch: Hier hat ein Gott gesprochen, der eine zeitlose Perspektive hat. Dann haben wir hier Worte vor uns, die genauso für immer zeitlos gültig sind. Denn Gott hat ja – anders als wir Menschen – immer diese zeit- und kulturübergreifende Perspektive. Er kann zur ganzen Menschheit aller Länder, aller Kulturen und aller Zeiten sprechen. Wenn wir dieser Sichtweise folgen, dann hätten wir ein Schriftverständnis, das sich einem islamischen Schriftverständnis annähert. Und wir Christen hätten dann ein großes Problem. Denn dann müssten wir davon ausgehen, dass das mosaische Gesetz mit all seinen Geboten heute immer noch in gleicher Weise für alle Menschen gültig ist. Denn jedes Wort der Bibel wäre ja dann zeitlos gültig für alle Menschen.

Aber wenn die Bibel ganz Gotteswort und zugleich ganz Menschenwort ist, dann ist klar: Hier schreiben Menschen mit ihrer Perspektive. Und sie schreiben natürlich auch viel stärker in ihre bestimmte Situationen hinein. Sie zielen auf ein bestimmtes Umfeld. Sie sprechen mit einer bestimmten kulturell geprägten Sprache. Es ist dann sehr viel wichtiger, diese Kultur und dieses Umfeld zumindest ein wenig zu verstehen, um auch die Aussageabsicht der Texte und ihre Relevanz für uns heute besser verstehen zu können. Deshalb ist die Bibel in diesem Bibelverständnis auch viel stärker auslegungsbedürftig.

Natürlich ist und bleibt die Bibel auch in diesem Bibelverständnis für jeden Leser zugänglich. Auch Christen, die theologisch und historisch nicht bewandert sind, können die Bibel in den zentralen Aussagen verstehen. Und natürlich ist auch hier jedes Wort höchst relevant, denn es ist ja alles von Gott inspiriert. Von jedem Wort können wir lernen, wie Gott ist, wie er in eine bestimmte Situation hineinspricht. Wir können in jedem Wort seinen Charakter, sein Wesen ein wenig besser kennenlernen. Aber um die Bibel tiefer und genauer verstehen zu können, brauchen wir den gesamtbiblischen Zusammenhang. Wir dürfen Bibelstellen nicht aus dem Zusammenhang reißen. Und wir sollten etwas wissen über den geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Hintergrund der jeweiligen Aussage. Wir müssen die Texte einordnen in ihr jeweiliges Umfeld.

Diese Einordnung der Texte in ihr Umfeld ist natürlich auch in den anderen Bibelverständnissen wichtig. Aber hier gilt nicht unbedingt, dass jeder Text etwas sagt über Gottes Wesen und Charakter! Denn man unterstellt ja, dass so manche oder gar alle Aussagen, die in der Bibel Gott zugeschrieben werden, gar nicht wirklich von Gott stammen. Und daher sind in diesen Bibelverständnissen die biblischen Texte nur noch teilweise oder gar nicht mehr für uns heute relevant. Sie sagen uns heute nur noch teilweise oder gar nichts mehr darüber, wer und wie Gott ist und wie er mit uns Menschen umgeht. Auch hier wird noch einmal deutlich, wie grundlegend wichtig die Frage ist, welches Bibelverständnis wir unserem Umgang mit der Bibel zugrunde legen.

Welches Bibelverständnis ist das richtige?

Nachdem wir jetzt die verschiedenen Bibelverständnisse mit ihren Konsequenzen skizziert haben, stellt sich jetzt natürlich eine ganz große Frage: Für welches Bibelverständnis wollen wir uns entscheiden? Oft höre ich heute die Aussage: Das darf doch jeder selbst entscheiden. Da müssen wir doch tolerant sein. Aber meine Beobachtung ist: In der Praxis funktioniert das oft nicht so richtig. Ich stelle fest: Gerade auch die liberaleren Bibelverständnisse sind in der Praxis oft überhaupt nicht tolerant gegenüber einem konservativen Bibelverständnis. An den theologischen Fakultäten gibt es nach meiner Beobachtung keinerlei Toleranz gegenüber einem Bibelverständnis, das für Sachkritik nicht offen ist, weil man meint, eine Theologie ohne Sachkritik wäre wissenschaftsfeindlich und fundamentalistisch.

Aber die Frage stellt sich ja auch für uns persönlich oder für einen Hauskreis oder eine kleinere christliche Gemeinschaft: Wie wollen wir miteinander mit der Bibel umgehen? Wie kommen wir da zu einer Entscheidung? Nehmen wir das Bibelverständnis, das uns am besten gefällt? Oder machen wir eine demokratische Abstimmung? Oder nehmen wir das Bibelverständnis, das die rhetorisch klügsten Vertreter hat? Setzt sich vielleicht das Bibelverständnis durch, dessen Vertreter die Schaltzentren der Macht am besten besetzen können? Bestimmt der Leiter für die Gruppe, welches Bibelverständnis in der Gruppe gilt? Meine Beobachtung ist: So läuft das leider oft in der Praxis.

Aber gerade als evangelischer Christ bin ich der Meinung: Eigentlich sollte das nicht so sein bei uns. Denn die Reformatoren haben meine Kirche ja auf einem Prinzip aufgebaut, das sich „Sola Scriptura“ nennt. Allein die Schrift soll herrschen, hat Martin Luther gesagt. Nicht der Papst entscheidet. Nicht ein besonders gebildeter Theologe entscheidet. Nicht ein Leiter oder ein Amtsträger entscheidet. Sondern die Bibel entscheidet. Und dabei gilt das Prinzip: „Sacra scriptura sui ipsius interpres“, das heißt: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus.

Auf Basis dieses reformatorischen Prinzips kann die Frage deshalb eigentlich nicht lauten: Welches Bibelverständnis gefällt uns am besten, sondern: Wie sieht sich die Bibel eigentlich selbst? Anders gefragt: Was ist eigentlich das biblische Bibelverständnis? Das müsste bei uns die alles entscheidende Frage sein!

Was ist das biblische Bibelverständnis?

Und um diese Frage zu klären, müssen wir natürlich in die Bibel schauen und darüber nachdenken: Was sagen uns diese Texte über die Frage nach dem Bibelverständnis, das die Bibel selbst hat?

In 3. Mose 1, 1+2a heißt es: „Der Herr rief Mose zu sich und sprach mit ihm vom Zelt der Begegnung aus. Er forderte Mose auf, mit den Israeliten zu reden und ihnen auszurichten: …“ Danach beginnt ein längerer Text mit verschiedenen Anweisungen. Hier wird also gesagt: Die Worte, die wir da lesen, hat Mose von Gott gehört. Es sind letztlich Gottes Worte, die uns hier vermittelt werden. Diese Wendung finden wir insgesamt 17 mal im 3. Buch Mose. Und sie leitet immer teils lange Textabschnitte ein, die somit den klaren Anspruch haben: Mose richtet hier nur aus, was Gott selbst gesagt hat!

In Zefanja 1, 1 lesen wir: „In diesem Buch steht das Wort des Herrn, das er Zefanja mitgeteilt hat.“ Eine ähnliche Formel finden wir des Öfteren am Anfang der Prophetenbücher. Hier gilt also genau wie bei Mose der Anspruch: Die Propheten sprechen Worte, die Gott ihnen mitgeteilt hat!

Besonders spannend ist dazu eine Passage in 5. Mose 18, 20-22. Da heißt es: „Und was, wenn ein anderer Prophet auftritt? Wenn einer auftritt, der sich anmaßt, in meinem Namen zu reden? Er verkündet aber eine Botschaft, die ich ihm gar nicht aufgetragen habe. Oder er redet im Namen anderer Götter. Dann ist dieser Prophet des Todes schuldig. Vielleicht fragst du dich: Woran können wir denn erkennen, welches Wort der Herr nicht geredet hat? Wenn der Prophet im Namen des Herrn etwas ankündigt, es sich aber nicht erfüllt und nichts geschieht, dann weißt du: Das hat der Herr so nicht gesprochen. Der Prophet hat sich angemaßt, von sich aus eine Botschaft zu verkündigen. Lass dir von ihm keine Angst machen!«“

Da wird also klar gemacht: Um echte Prophetie kann es sich nur dann handeln, wenn wirklich Gott gesprochen hat. Und es gibt dazu einen Test, der dies beweisen soll. Denn echte Prophetie kann Vorhersagen machen, die sich in der Zukunft tatsächlich erfüllen. Die Bibel ist also in keiner Weise wunderkritisch unterwegs, ganz im Gegenteil! Sie geht davon aus: Das Wort der Propheten ist im echten Sinne eine Offenbarung Gottes, die sich durch echte Vorhersagen auszeichnen. Wer hingegen nur eigene Gedanken oder Vorstellungen hat, darf die gerne äußern, aber er darf das unter keinen Umständen als Prophetie bezeichnen. Eigenmächtiges prophetisches Reden ist strengstens verboten in der Bibel! Und das Kriterium für prophetisches Reden ist: Treffen die Vorhersagen ein?

Was ist das biblische Bibelverständnis im Neuen Testament?

In Galater 1, 11-12 lesen wir: „Das will ich euch klar und deutlich sagen, Brüder und Schwestern: Die Gute Nachricht, die ich verkündet habe, stammt nicht von Menschen. Ich habe sie nicht von einem Menschen übernommen. Ich wurde auch nicht von einem Menschen darin unterrichtet. Nein, Jesus Christus selbst hat sie mir offenbart.“ Ganz ähnlich steht in 1. Thessalonicher 2, 13: „Deshalb danken wir Gott immer wieder dafür, dass ihr durch unsere Verkündigung sein Wort empfangen habt. Ihr habt sie nicht als Menschenwort angenommen, sondern als das Wort Gottes, was sie tatsächlich ist.“

Paulus hat hier also einen ganz ähnlichen Anspruch wie die Propheten. Er sagt: Die Botschaft, die ich euch gebracht habe, ist nicht meine Idee. Nein, sie wurde mir von Gott offenbart! Sie ist im echten Sinn Wort Gottes, das heißt: Hier spricht nicht nur ein Mensch, sondern Gott selbst. Was für eine erstaunliche Parallele.

Sowohl im Alten wie im Neuen Testament finden zudem das Verbot, von der biblischen Botschaft irgendetwas wegzulassen oder hinzuzufügen. In 5. Mose 13,1 heißt es: „Achtet auf jedes Wort, das ich euch weitergebe, und handelt danach! Fügt nichts hinzu und lasst nichts davon weg!“ Genau die gleiche Forderung finden wir auch auf der letzten Seite der Bibel in Offenbarung 22, 18-19. Damit wird klar: Diese Texte haben einen ganz einzigartigen Anspruch, den kein menschlicher Autor jemals für sich erheben dürfte. Die Texte sagen: Damit ist abschließend die Wahrheit beschrieben. Es wäre ein Verbrechen, etwas hinzuzufügen oder etwas wegzulassen. Das ist ein Anspruch, den kein menschlicher Theologe jemals für eine seiner Schriften erheben dürfte.

Besonders spannend ist für Christen natürlich auch die Frage: Wie ist denn Jesus mit den Schriften des Alten Testaments umgegangen? Einen Hinweis dazu finden wir z.B. in Matthäus 12, 3: „Jesus antwortete: »Habt ihr denn nicht gelesen, …“ Diese Wendung „Habt ihr nicht gelesen“ benutzt Jesus immer wieder in seinen Debatten mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Und das heißt: Jesus hat mit dem Schriftbeweis gearbeitet. Er sagt: Wenn ihr das in der Schrift gelesen hättet, dann wüsstet ihr Bescheid. Denn was in der Schrift steht, das gilt. Dieser Schriftbeweis funktioniert natürlich nur, wenn die Schrift absolute Autorität hat, denn nur dann hat sie Beweiskraft. Dass diese Schriftautorität für Jesus feststand, das sagt er auch sehr klar in Matthäus 5, 18: „Amen, das sage ich euch: Solange Himmel und Erde bestehen, wird im Gesetz kein einziger Buchstabe und kein Satzzeichen gestrichen werden. Alles muss geschehen, was Gott geboten und verheißen hat.“ Für Jesus war also klar, dass die Schriften des Alten Testaments bis ins kleinste Detail hinein volle Autorität haben. Auch bei Paulus finden wir diese Haltung. In Apostelgeschichte 24, 14 sagt er: „Ich glaube an alles, was im Gesetz und bei den Propheten steht.“

Wie sehr sich Jesus zur Autorität der heiligen Schriften stellt, zeigt sich zum Beispiel auch in Markus 7, 9-10a: „Weiter sagte er zu ihnen: »Ihr seid sehr geschickt darin, Gottes Gebote für ungültig zu erklären. So setzt ihr eure eigenen Vorschriften in Kraft. Denn Mose hat gesagt: ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren und für sie sorgen!‹“

Hier sagt Jesus zuerst: Es handelt sich um „Gottes Gebote“. Jesus beklagt sich darüber, dass diese Gebote Gottes ungültig erklärt werden. Und dann sagt Jesus: „Mose hat gesagt.“ Das heißt: Jesus hat nicht unterschieden zwischen einem Ausspruch von Mose und einem Gebot Gottes. Beides war für ihn offenkundig das Gleiche!

Dieses Phänomen finden wir immer wieder im Neuen Testament. Der Theologe Gerhard Maier hat aufgrund solcher Stellen geschrieben: Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“[10] Für sie galt also ganz offensichtlich: Ja, hier haben Menschen geschrieben und gesprochen. Mose hat geschrieben. Die Propheten haben gesprochen. David hat gesprochen. Aber für alle diese Aussagen gilt gleichermaßen: Gott hat gesprochen.

Genau dieses Verständnis finden wir auch bei Petrus in 2. Petrus 1, 20+21: „Denn keines dieser Worte wurde jemals verkündet, weil ein Mensch es so gewollt hätte. Vielmehr waren Menschen vom Geist Gottes ergriffen und haben in seinem Auftrag geredet.“ Auch hier wird das Prinzip betont: Menschen haben geredet. Aber sie waren dabei vom Heiligen Geist ergriffen und sie haben in seinem Auftrag geredet. Ganz Menschenwort und ganz Gotteswort.

Paulus unterstreicht das, wenn er in 2. Timotheus 3, 16 schreibt: „Und auch dazu ist jede Schrift nützlich, die sich dem Wirken von Gottes Geist verdankt.“ In anderen Übersetzungen heißt es: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Im Griechischen wird hier das Wort „Theopneustos“ verwendet, das heißt: Die Schriften sind geistdurchhaucht. Sie sind ganz und gar vom Geist Gottes geprägt. Sie sind vom Heiligen Geist inspiriert.

Prof. Gerhard Maier schreibt dazu: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“[11] Und zum Neuen Testament schreibt Gerhard Maier:

„Die weitaus meisten Schriften des Neuen Testaments sind nach der Selbstaussage des NT inspiriert … oder lassen den indirekten Anspruch erkennen, inspirierte Schrift zu sein. … Wenn später die Kirche … die Inspiration aller neutestamentlichen Schriften anerkannte, dann stand sie auf einem guten historischen Boden und darüber hinaus im Einklang mit der Offenbarung selbst.“[12]

Fazit: Die Bibel ist ganz Menschenwort und ganz Gotteswort

Diese kurze Betrachtung einiger Bibelstellen ist natürlich noch längst nicht vollständig. Aber trotzdem denke ich, wir können auf dieser Basis schon jetzt zu einem sehr eindeutigen Fazit kommen: Wenn wir die Bibel so verstehen, wie sie selbst verstanden werden möchte, dann ist sie definitiv: Ganz Gotteswort und ganz Menschenwort. Damit auch eine völlig zuverlässige Einheit, zugleich zeitbezogen und auslegungsbedürftig, aber in allen ihren Texten von allergrößter, zeitübergreifender Relevanz für alle Menschen.

Das bedeutet natürlich auch: Nur, wenn wir uns für dieses Bibelverständnis entscheiden, dann ist die Bibel glaubwürdig. Denn wenn wir den bibeleigenen Selbstanspruch nicht ernst nehmen, dann rauben wir der Bibel natürlich auch ihre Glaubwürdigkeit. Aber wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann ist sie das, was sie selbst sein will: Voll und ganz Gottes wahres Wort. Aber sie ist zugleich auch zeitbezogenes Menschenwort und damit auch auslegungsbedürftig, wobei wie gesagt gilt: Es gibt zentrale, heilsrelevante Aussagen der Bibel, die ergeben sich so klar und so eindeutig aus der Bibel, dass man sie auch ohne Theologie- oder Geschichtsstudium verstehen kann. Viele wichtige Aussagen der Bibel kann wirklich jeder verstehen, der sie mit offenem, hörendem Herzen liest. Martin Luther hat hier zurecht von einer „Klarheit der Schrift“ gesprochen. Und gerade deshalb hat er ja auch die Bibel übersetzt, weil er davon ausging: Auch einfache Leute können die Bibel lesen und verstehen und auf dieser Grundlage auch ihrem Pfarrer oder sogar dem Papst widersprechen. Hier wurde ganz praktisch, was Luther grundlegend wichtig war: Nicht ein Mensch, sondern die Schrift soll regieren.

Niemand kennt die endgültig perfekte Auslegung der Bibel

Fakt ist aber auch: Manchmal ist Bibelauslegung auch ein anspruchsvolles Geschäft, zum Beispiel, wenn es um Endzeitfragen geht. Da müssen wir damit leben, dass niemand bis ins letzte genau sagen kann, wie die Bibel in allen Details zu verstehen ist. Und das heißt für uns, dass wir auf 2 Seiten vom Pferd fallen können:

Wir können uns entweder über die Bibel stellen, indem wir unsere Vernunft zum Richter über richtig und falsch in der Bibel machen. Das ist der Fehler der inhaltlichen Bibelkritik. Oder wir können uns über die Bibel stellen, indem wir behaupten, wir wüssten ganz genau bis ins letzte, wie die Bibel zu verstehen und auszulegen ist. Das ist etwas, das in Wahrheit niemand kann. Die richtige Haltung ist, dass wir uns demütig unter die Bibel stellen und sagen: Die Bibel ist voll und ganz Gottes Wort. Aber unser Verständnis, wie sie auszulegen ist, bleibt Stückwerk. Wir bleiben angewiesen auf die Leitung durch den Heiligen Geist und auf die Gemeinschaft der Gläubigen als Auslegungsgemeinschaft, die uns hilft, dieses Wort angemessen und richtig zu verstehen.

Zurück zum Offenbarungscharakter der Bibel

Ich will gerne abschließen mit einem weiteren Zitat von Prof. Gerhard Maier, der aus meiner Sicht die biblische Sichtweise für ein gesundes, bibelgemäßes Bibelverständnis sehr gut zusammengefasst hat mit den folgenden Worten:

„Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität. An dieses Wort hat sich Gott gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Er wird dieses Wort bis ins letzte hinein wahr machen und erfüllen. Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“[13]

Ich glaube: Es ist so dringend notwendig, dass die Kirche Jesu festhält oder sich wieder ganz neu besinnt auf diese bibeleigene Sichtweise auf die Bibel. Denn nur dann behält die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Nur dann kann die Bibel für uns eine orientierunggebende Richtschnur sein. Nur dann können wir aus ihr objektive Wahrheiten und Glaubensschätze ableiten, die uns und unsere Gemeinden auf einen guten, gemeinsamen Grund stellen können. Nur dann kann uns die Bibel gemeinsam Orientierung, Kraft, Trost und Korrektur schenken.

Deshalb lasst uns gemeinsam daran festhalten: Die Bibel ist Gottes offenbartes Wort an uns Menschen. Sie ist ganz Menschenwort und zugleich ganz Gotteswort. Darauf dürfen wir fest vertrauen.

Fußnoten / Quellenangaben:

[1] H.Conzelmann A.Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament 14. Auflage 2004, S. 3

[2] Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[3] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 112

[4] In: „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“, S. 34)

[5] Sebastian Rink: „Wenn Gott reklamiert“, Neukirchener Verlag, 2021, S. 25/26

[6] Siegfried Zimmer „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ 2012, S. 93

[7] Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520

[8] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805

[9] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[10] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 150

[11] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 83

[12] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 88

[13] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten 131998, S. 151

Die Autorität der Bibel – ein klärungsbedürftiger Begriff

„Letzte Autorität ist allein die Schrift selbst.“

Mit diesem kurzen Satz beschreibt Ruprecht Veigel von der Deutschen Bibelgesellschaft die Position Martin Luthers, die für die evangelische Kirche grundlegend war. In seinem Artikel bei evangelisch.de macht Veigel zugleich Werbung für das bibelkritische „Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet“ (WiBiLex)[1]. Ist Kritik an der Bibel für ihn kein Widerspruch zur Autorität der Bibel?

Schon dieses kleine Beispiel zeigt: Die Rede von der „Autorität der Bibel“ klingt für konservative Christen zwar gut. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber: Sie sagt eher wenig aus über den tatsächlichen Umgang mit der Bibel.

Denn nicht nur Theologen können unter „Autorität“ sehr unterschiedliche Dinge verstehen:

Autorität ist nicht gleich Autorität

Wenn wir an “Autoritäten” denken sollen, dann fallen jedem von uns ganz andere Beispiele ein. Manche Menschen empfinden ihre Eltern als „Autoritäten“, weil sie uns in unserer Kindheit geprägt und geformt haben – auch wenn man ihnen inzwischen längst ein selbstbewusstes Gegenüber ist.

Ganz ähnlich wird bis in liberalste theologische Kreise hinein durchaus anerkannt, dass die Bibel eine Autorität ist. Schließlich hat sie das Christentum geprägt und geformt. Aber man sagt zugleich: Wie unsere Eltern ist auch die Bibel ein Kind ihrer Zeit. Vieles können wir von ihr lernen. Aber in manchem können wir sie heute so nicht mehr stehen lassen. Wir fühlen uns dem “wissenschaftlichen Zweifel” verpflichtet, der uns zum kritischen Gegenüber der Bibel macht. Welche Aussagen man heute noch ernst nimmt und welche nicht, hängt letztlich von der persönlichen Einschätzung ab – und vielleicht auch vom persönlichen Empfinden.

In seinem Worthausvortrag zur Entstehung und Autorität des Neuen Testaments[2] sagt Thorsten Dietz zu seinem Verständnis von biblischer Autorität (ab 1:15:20): „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“

Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30)

Hängt die Autorität der biblischen Texte also davon ab, wie überzeugend und ansprechend wir sie persönlich finden? Sollen wir die Briefe von Paulus gar prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Was machen wir dann mit Bibeltexten, die uns erst einmal überhaupt nicht einleuchten, geschweige denn faszinieren?

Die Autorität eines TOP-Experten

Auch wenn man solche Aussagen so verstehen kann, dass hier letztlich das eigene Empfinden der Maßstab für die Autorität der Bibel ist, so bedeutet das trotzdem nicht unbedingt, dass die biblische Autorität klein gemacht wird. Nach meiner Wahrnehmung hat die Bibel im progressiv-/postevangelikalen Bibelverständnis oft eine durchaus hohe Autorität, die man vielleicht mit der Autorität eines Nobelpreisträgers vergleichen könnte. Das hat folgenden Grund:

Viele progressive und postevangelikale Vertreter erkennen grundsätzlich die uneingeschränkte Autorität Jesu an. Und sie verstehen, dass die biblischen Autoren eine Nähe zu Jesus hatten, die wir heute nicht mehr haben. Insofern gelten biblische Autoren als höchstrangige TOP-Experten und echte „Autoritäten“, weil sie unschlagbar nahe an der uneingeschränkten Autorität Jesu waren.

Aber: Auch Top-Experten und Nobelpreisträger sind natürlich Kinder ihrer Zeit. Auch sie können durchaus mal falsch liegen. Entsprechend ist es auch im progressiv-/postevangelikalen Bibelverständnis völlig normal, von „Fehlern“ in der Bibel zu sprechen. „Sachkritik“ gehört auch hier ganz selbstverständlich zum theologischen Werkzeugkasten dazu. Das heißt: Es bleibt trotz der hohen Autorität der Bibel möglich, auch eindeutige, bibelwissenschaftlich sauber erarbeitete gesamtbiblische Aussagen aus heutiger Sicht zurückzuweisen – sofern man überhaupt mit biblischen Gesamtaussagen rechnet und die Bibel nicht nur als Sammlung widersprüchlicher Stimmen ansieht.

Die Autorität der Bibel hängt an ihrer göttlichen Urheberschaft

Welches Konzept hat nun die Bibel selbst zu ihrer Autorität? In 2. Petrus 3, 16 lesen wir:

„In diesen ⟨Briefen⟩ ist einiges schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“

Petrus macht also klar: Die Autorität der Paulusbriefe hat rein gar nichts mit unserem Empfinden zu tun. Sie hängt nicht daran, ob wir sie verstehen oder ob sie uns beeindrucken. Denn die Paulusbriefe gehören für ihn zu den „Schriften“. Damit ist aus jüdischer Sicht der Kanon der heiligen Schriften gemeint. Über diese Schriften sagt Petrus, „dass keine Weissagung der Schrift aus eigener Deutung geschieht (bzw. „eine Sache eigener Deutung ist“). Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“ (2. Petrus 1, 20b+21).

Die dringende Warnung davor, Schriftaussagen zu verdrehen, begründet Petrus also damit, dass diese Aussagen letztlich göttlichen Ursprungs sind. Und für einen gläubigen Juden ist klar: Gott sollte man besser nicht widersprechen!

Tatsächlich bestätigt auch Gerhard Maier in seinem Buch “Biblische Hermeneutik” diesen Selbstanspruch der göttlichen Autorität biblischer Texte:

„Diese Offenbarung beansprucht, aus Gottes Geist hervorgegangen zu sein. Sie ist … Anrede Gottes an uns. Wer sie hört, hört in erster Linie nicht die menschlichen Verfasser und Glaubenszeugen, sondern den dreieinigen ewigen Gott. … Als einzigartiges Reden Gottes hat sie eine einzigartige, unvergleichliche Autorität.“ (S. 151)

Die Bibel gründet ihre Autorität somit in der Autorität Gottes. Den Bibeltext in Frage zu stellen, bedeutet in dieser Sichtweise, Gott selbst in Frage zu stellen. Natürlich können und müssen wir auch in dieser Sichtweise darum ringen, den Bibeltext richtig zu verstehen und auszulegen. Aber Sachkritik (also Kritik an einer Aussage, die der biblische Autor tatsächlich machen wollte), kann in dieser Sichtweise niemals eine angemessene Antwort auf die Texte sein. Wenn Gott spricht, können wir nur glauben, vertrauen und unsere eigene Position in Frage stellen. Die Bibel kritisiert dann ausschließlich uns – niemals umgekehrt. Sie ist in einem gewissen Sinn „unfehlbar“, weil Gott eben keine Fehler macht, wie Heinzpeter Hempelmann schreibt[3]:

„Die Bibel ist nicht teilweise Wort Gottes, in anderen Teilen bloß Menschenwort … Es maßte sich ja einen ‚Gottesstandpunkt‘ an, wer in ihr unterscheiden wollte zwischen Gottes- und Menschenwort, zeitbedingt und zeitlos gültig. … Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.“

Theologische Welten trennen sich

Die pure Aussage, dass die Bibel Autorität hat, sagt also noch nicht allzuviel über den tatsächlichen Umgang mit der Bibel aus. Man muss schon noch klarstellen, welche Art von Autorität man meint: Die Autorität eines Familienoberhaupts? Die Autorität eines TOP-Experten? Oder die unfehlbare Autorität Gottes? Entsprechend hat die Bibel entweder eine Autorität, gegenüber der man sich emanzipieren darf oder die man zumindest kritisieren kann – oder bei der die Bibel grundsätzlich immer das letzte Wort hat.

Diese verschiedenen Autoritätsbegriffe hängen wiederum letztlich an der Frage: Ist die Bibel im echten Sinn „Wort Gottes“? Oder bezeugt sie die Worte Gottes nur durch menschlich fehlerhafte Berichte? Die Autorität der Schrift hängt also letztlich an der Frage, ob wir zwischen Schrift und Offenbarung unterscheiden – oder ob der Bibeltext im echten Sinn Offenbarung IST, so wie es z.B. die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt.

Diese Differenz mag auf manche vielleicht kleinkariert und theoretisch wirken. Die Praxis zeigt aber: Hinter diesen Weichenstellungen tun sich komplett unterschiedliche theologische Welten auf – mit weitreichenden praktischen Konsequenzen. Das betrifft auch die allerzentralsten Fragen des Glaubens: Was ist eigentlich das Evangelium? Was ist der Auftrag der Kirche? Besonders sichtbar werden diese Differenzen schlussendlich in der (Sexual-)Ethik.

Die Folge ist: Landauf landab gibt es Spaltungstendenzen. Das liegt nicht daran, dass viele Christen so streitsüchtig sind. Die Ursache ist vielmehr, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Autorität der Bibel letztlich zu ganz anderen Auslegungsergebnissen führen. Wer mit derart grundverschiedenen Positionen in der gleichen Organisation zusammengespannt ist, merkt schnell: Wir ziehen faktisch in unterschiedliche Richtungen. Wenn wir trotzdem versuchen, zusammen zu bleiben, dann werden wir uns gegenseitig ausbremsen und lähmen. Es ist genau diese Lähmung, die heute in vielen Kirchen, Gemeinschaften und Gemeinden spürbar ist und die viele Christen zu der Frage führt, ob dann nicht doch eine Trennung der bessere Weg für Alle wäre.

Zurück zur göttlichen Autorität

Wie schön wäre es, wenn wir gemeinsam zur reformatorischen und biblischen Sichtweise von der biblischen Autorität zurückfinden könnten. In seiner „Institutio“ schreibt der Reformator Johannes Calvin:

Deshalb kann die Bibel nur dann den Gläubigen gegenüber volle Autorität erlangen, wenn sie gewiss wissen, dass sie vom Himmel herab zu ihnen kommt, als ob Gottes eigene Stimme hier lebendig vernommen würde.“ (Institutio I, 7,1)

Diese Klarstellung, dass die biblischen Texte göttlichen Ursprungs sind, ist bis heute unerlässlich für einen gesunden Begriff von biblischer Autorität, der uns als Kirche Jesu eine gute gemeinsame Grundlage geben kann.

Fußnoten:

[1] Siehe dazu die Ausführungen im AiGG-Artikel: “Das wunderkritische Paradigma – der heimliche Spaltpilz der Christenheit” https://blog.aigg.de/?p=5240

[2] Siehe dazu meine ausführliche Diskussion dieses Vortrags in: „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz“ in „Glauben und Denken heute“ 2/2021, S. 6-13:  https://www.bucer.de/fileadmin/dateien/Dokumente/GlaubeundDenkenheute/GuDh_2_2021.pdf

[3] Heinzpeter Hempelmann: Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut. Zum Ansatz einer Schriftlehre, die von der Schrift selbst zu lernen sucht, in: Theologische Beiträge 33 (2002) 4, S. 179–196, Abschnitt 2.5 und 3.2, online unter https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/wissenschaftliche_arbeiten/plaedoyer_fuer_hermeneutik_der_demut.pdf

 

Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat

Der nachfolgende Text ist ein Transskript des Vortrags, den Pfarrer Johannes Röskamp am 9.12.2022 beim Allianz-Symposium “Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt” in Bad Blankenburg gehalten hat. Der Text wurde an einigen Stellen leicht angepasst, um das gesprochene Wort in eine gut lesbare Schriftsprache zu bringen. Er wird mit freundlicher Genehmigung von Johannes Röskamp veröffentlicht.

Der Titel für meinen Impuls lautet: „Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat“. Ich muss gestehen: Als ich gefragt wurde, ob ich das machen könnte, da war ich zuerst ziemlich zögerlich. Ich wusste: Hier werden viele bekannte Leute sein mit langjähriger Leitungserfahrung, dazu akademische Theologen mit internationalem Ruf. Da habe ich gedacht: Und ich als kleiner Gemeindepfarrer aus einer kleinen landeskirchlichen Gemeinde in Minden? Kein Mensch weiß, wo das liegt! Klar, ich bin auch Theologe, ich habe Theologie studiert. Ich habe das auch gerne gemacht. Aber mir war schon mein ganzes Studium lang klar: Ich will in die Praxis! Ich will Pastor werden. Ich will meine Kraft und meine Zeit dafür einsetzen, die gute Botschaft von Jesus Christus zu den Menschen zu bringen. Ich will das, was ich von Jesus verstanden habe, an andere weitergeben. Ich will evangelistisch tätig sein unter Menschen, die Jesus noch nicht glauben. Ich will Ihnen die Schönheit, die Liebe Christi vor Augen malen. Und ich will gemeinsam mit Ihnen Jesus immer tiefer kennenlernen, ihm immer besser nachfolgen. Ich will das, weil ich mit 17 Jahren selbst am eigenen Leib erfahren habe, wie sich das ganze Leben verändert, wie alles neu wird, wenn ich die Liebe von Jesus mit Kopf und Herz begreife. Und seitdem bin ich zutiefst davon überzeugt: Es gibt nichts Schöneres, es gibt nichts Lohnenderes, als dieser Liebe Christi mein Leben hinzugeben und mit ihm zusammen unterwegs zu sein. Dafür möchte ich leben. Dafür möchte ich arbeiten, solange ich kann. Was ich nie wollte, war: Promovieren. In die theologische Forschung gehen. Zu Symposien fahren. Mich an theologischen Debatten beteiligen.

Trotzdem bin ich heute hier und ich spreche heute zu euch über ein zutiefst theologisches Thema, nämlich über das Schriftverständnis. Warum mache ich das? Weil ich überzeugt bin: Bei der Frage, wie wir die Bibel eigentlich verstehen, geht es um alles. Ich glaube, es geht um nicht weniger als die Grundlage für das, was ich gerne mit Liebe und mit Leidenschaft tue und auch weiterhin tun will. Wie wir die Bibel lesen, wie wir sie verstehen, das ist nicht zweitrangig, das ist kein Randthema. Das ist nicht eine Geschmacksfrage wie die Frage nach liturgischen Formen. Es ist nicht so wie die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl, bei der wir uns darauf verständigt haben, dass man das als zweitrangig ansehen kann. Oder die Frage nach der Taufe von Unmündigen. Nein, wie wir die Bibel verstehen, das hat fundamentale Auswirkungen.

Ich will ausdrücklich dazu sagen: Damit meine ich nicht jede einzelne Detailfrage des Schriftverständnisses. Ich glaube, wir brauchen keine Einheit bis in die letzte Verästelung der Inspirationslehre hinein. Aber ich glaube doch, dass mindestens eine Frage beim Schriftverständnis entscheidend ist. Theologen haben ja oft ein wenig Bauchschmerzen damit, wenn Sachen zu sehr vereinfacht werden. Ich habe mich entschieden: Ich traue mich das trotzdem heute, weil ich denke, dass es wichtig ist, das klar zu benennen: Ich glaube, dass es beim Schriftverständnis am Ende auf eine Frage entscheidend ankommt und die heißt: Ist die Bibel Gottes Wort an uns? Oder enthält sie nur Gottes Wort – und das müssen wir dann irgendwie identifizieren und freilegen.

Mir ist klar, dass es beim Schriftverständnis noch um viel mehr geht, dass da noch viel mehr Themen dranhängen, dass es da Einzelfragen gibt und Differenzierungen. Mir ist auch klar: Wenn man diese eine Frage beantwortet, sind anschließend nicht alle Probleme gelöst. Aber ich bin überzeugt:

Wenn wir beieinander bleiben wollen, dann brauchen wir mindestens in dieser einen Frage Einheit und Übereinstimmung miteinander: Ist die Bibel göttliche Rede an uns in menschlichen Worten oder ist die Bibel nur menschliche Rede über Gott, die Gott dann vielleicht in seiner Güte hier und da gebraucht, um sein Wort da mit hinein zu legen? Ist die Bibel Gottes Wort oder enthält sie nur Gottes Wort? Das ist aus meiner Sicht die eine hermeneutische Bruchlinie, die ganz entscheidend ist.

Und ich sage das als Landeskirchler aus leidvoller Erfahrung, dass das tatsächlich eine entscheidende Bruchlinie ist. Und ich werde nachher gleich noch ein etwas mehr dazu sagen, welche Auswirkungen und Konsequenzen das hat.

Und ich sage auch: Ich sehe mit großer Sorge, dass diese Frage auch in unseren Kreisen, auch in evangelikalen Kontexten, nicht mehr wirklich in jeder Hinsicht klar ist, nicht mehr so eindeutig, wie das vielleicht einmal gewesen ist. Ich weiß, dass mir jetzt manche direkt entgegenhalten würden: Johannes, so wichtig, wie du sagst, ist die Bibel doch auch wieder nicht. Das ist ja kein Papst aus Papier. Unsere Mitte ist doch bitte kein Buch, sondern unsere Mitte ist doch Jesus Christus. Und ja, natürlich ist Christus unsere Mitte. Natürlich ist er das eine Wort Gottes. Selbstverständlich. Aber gerade mein Verhältnis zu Christus hängt doch daran, wie ich die Bibel lese und verstehe. Woher kenne ich denn Christus und sein Wort überhaupt, wenn nicht aus der Bibel? Die Bibel ist die Quelle für alles, was wir überhaupt über Gott, über Jesus Christus und auch über uns als Menschen wissen und sagen können. „Sola scriptura“ hat Luther gesagt. Allein aus der Schrift haben wir Kenntnis von Christus und kennen wir überhaupt nur sein Evangelium. Und deshalb ist die Frage, wie wir die Bibel verstehen, so fundamental wichtig.

In meiner Landeskirche erlebe ich das immer wieder, dass das Schriftverständnis unklar ist, dass es da keine Einigkeit gibt. Und ich erlebe, dass das ganz praktische Konsequenzen und Auswirkungen hat. Und ich möchte euch das gerne anhand von zwei Beispielen zeigen:

Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie mir dieser tiefe Graben zum ersten Mal bewusst geworden ist, der sich auftut und uns trennt, wenn wir die Bibel so fundamental unterschiedlich lesen. Und zwar war das im Studium. Ich hatte einen Kommilitonen, mit dem ich mich wirklich gut verstanden habe. Wir haben oft etwas zusammen unternommen. Es war ein schönes, freundschaftliches Verhältnis, das wir zueinander hatten. Eines Tages waren wir zusammen zu Fuß auf dem Rückweg von der Uni in unser Wohnheim. Ich weiß das noch wie heute. Wir kamen ins Gespräch über solche Fragen wie: Ist der Mensch im Kern gut oder schlecht? Kann man das so sagen, dass Alle Sünder sind? Brauchen wir tatsächlich Jesus für unsere Erlösung? Darüber kamen wir ins Gespräch. Und aus meiner Sicht war das alles völlig eindeutig. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass es dazu unzählige Belegstellen gibt. Ich kann jetzt gar nicht alle aufführen, nur eine einzige: In Römer 3, 12 schreibt Paulus: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“ Das war für mich klar. Auch dass wir Jesus brauchen, um gerettet zu werden und um zu Gott kommen zu können, fand ich ganz eindeutig. Schließlich sagt Jesus ja selber diesen berühmten Satz, den ihr alle schon 100.000 Mal gehört habt. In Johannes 14, 6 sagt Jesus: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand – sagt er – niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich. Für mich war das alles in diesem Gespräch so klar und so eindeutig aus einem Grund: Weil die Bibel da klar und eindeutig formuliert! Nur für meinen Kollegen war das gar nicht so klar. Er war da völlig anderer Meinung. Er sagte: Nein, der Mensch ist eigentlich gut und es sind die gesellschaftlichen Umstände, die ihn schlecht handeln lassen. Und der Tod Jesu ist nicht wirklich heilsnotwendig. Ihr kennt das wahrscheinlich alles. Was mich so schockiert und so betroffen gemacht hat, war nicht so sehr, dass wir unterschiedliche Ansichten und Meinungen hatten. Das gibt es unter Menschen. Aber was mich wirklich betroffen gemacht hat war, dass mir im Laufe dieser Diskussion klar wurde: Wir haben gar keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr! Denn immer, wenn ich ein biblisch begründetes Argument brachte, dann wischte er das vom Tisch, weil er meinte: Ja, das steht da zwar, aber das ist ja nur eine zeitgebundene menschliche Meinung von Paulus oder von Johannes oder von wem auch immer. Und selbst wenn ich Aussagen brachte, die laut dem biblischen Text von Jesus selber sind, dann ist das doch nachösterliche Gemeindebildung und damit zweitrangig. Das zählt nicht. Und so ging das bei jedem einzelnen Punkt. So ging es bei jedem einzelnen Bibelvers, der nicht zu seinen Überzeugungen passte. Die biblischen Aussagen waren für ihn immer nur menschliche Meinungen, die man auch ganz anders sehen kann. Und die waren aus seiner Sicht jedenfalls nicht dazu geeignet, herauszufinden, was Gott denkt über dieses oder jenes Thema.

Und je länger dieses Gespräch ging, desto frustrierter und desto verzweifelter wurde ich, weil ich gemerkt habe: Das ist ein Freund und ein Theologe wie ich. Aber für ihn ist die Bibel gar nicht die letzte Autorität in Glaubensfragen, sondern eine Sammlung von menschlichen Aussagen über Gott. Und die kann man auch ganz anders beurteilen. Und da habe ich kapiert:

Wenn wir die Bibel so unterschiedlich ansehen, dann haben wir keine Basis mehr, auf der wir uns geistlich noch miteinander verständigen könnten.

Wir können dann zwar kommunizieren. Wir können uns auch hier treffen zu solchen Symposien oder Veranstaltungen. Aber wir können dann eigentlich nicht mehr wirklich miteinander reden, weil wir von vollkommen unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen auf geistlicher Ebene.

Genauso erlebe ich das auch – und das ist mein zweites Beispiel – in der Debatte um biblische Sexualethik, die uns seit Jahrzehnten beschäftigt. Ich bin kein großer Fan davon, ständig über Homosexualität, über gleichgeschlechtliche Ehen und neuerdings Genderdiversität zu reden. Das ist echt nicht mein Lieblingsthema. Aber ich kann es uns auch nicht ganz ersparen, weil ich die ganze Diskussion darum seit Jahren so erlebe, dass es zum Beispiel bei der Frage zur Bewertung der „Ehe für alle“ im Kern eigentlich nie wirklich um Sexualethik ging. Es ist im tiefsten Kern eine hermeneutische Frage. Es ging schon immer darum, wie wir eigentlich die Bibel lesen und sie verstehen.

Oft wird ja gerade denjenigen, die eher eine traditionelle christliche Sexualethik vertreten, vorgeworfen: Ihr nehmt ein biblisches Randthema, das ganz wenig Bedeutung in der Bibel hat, und stellt das so in den Mittelpunkt. Und ja, es ist richtig, dass Homosexualität und auch Gender von der von der reinen Häufigkeit her keine Hauptthemen der Bibel sind, das ist ganz klar. Aber: Es gibt eben Stellen, die dazu etwas sagen. Und es ist auch nicht bloß eine einzige oder zwei. Es gibt relevante biblische Aussagen dazu! Sogar die EKD hat 1996 noch eine Handreichung veröffentlicht, in der festgehalten wird, dass – wörtliches Zitat – es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Wenn die EKD das tut, dann muss dieser exegetische Befund echt eindeutig sein. Und dann ist aus meiner Sicht nur noch die schlichte Frage: Betrachten wir die Bibel als Gottes Wort? Lassen wir uns das sagen und gestehen ihr dann auch entsprechendes Gewicht zu, uns das auch sagen zu dürfen? Oder halten wir sie prinzipiell für Menschenwort und nehmen uns deshalb heraus, auch gegen den Wortlaut der Bibel anzuargumentieren?

Wie trennend das ist, wenn man das macht, das habe ich gerade erst kürzlich wieder erlebt. Wir haben bei uns im Kirchenkreis in Minden so ein kleines Werk für überregionale Jugendarbeit. Da sind vier Hauptamtliche, die die Jugendarbeit in den Gemeinden vor Ort unterstützen sollen. Und diese Hauptamtlichen sind tolle Leute, wirklich engagierte Menschen mit einem ganz großen Herzen, mit einer großen Liebe zu den Jugendlichen. Ich arbeite sehr gerne mit ihnen zusammen. Als Pfarrer bin ich in einem kirchlichen Ausschuss, der diese Arbeit „beaufsichtigen“ und begleiten soll. Und mit diesem Gremium haben wir neulich einen Klausurtag gehabt. An einem Samstag haben wir zusammengesessen. Unter anderem ging es um das Thema Genderdiversität in der Jugendarbeit. Das Thema hieß: Was sagt die Bibel zum Thema Gender? Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Der erste Programmpunkt dieses Tages sollte eine biblische Einordnung zu dem Thema sein. Da habe ich gedacht: Das ist doch klasse, dass wir als Christen als allererstes nicht auf Psychologie oder auf gesellschaftliche Trends schauen, sondern dass wir gemeinsam in Gottes Wort schauen. Und dann waren zwei Pfarrer gebeten worden, jeweils 20 Minuten dazu etwas zu sagen aus verschiedenen Perspektiven. Der eine davon war ich. Ich sollte etwas aus der traditionellen Perspektive dazu sagen. Und dann war da ein Kollege, der vertrat eine liberaltheologische Sicht. Zwischenmenschlich war das super. Das lief alles sehr angenehm ab. Es war ganz fair, eine ganz gute Atmosphäre. Aber es war trotzdem für mich am Ende unglaublich frustrierend. Denn am Ende standen unsere beiden Kurzreferate nebeneinander im Raum. Und dann passierte: Nichts. Es passierte nichts! Man sagte uns höflich „Dankeschön“ für unsere Mühe, die wir uns gemacht hatten. Und dann ging es weiter in der Tagesordnung. Es gab überhaupt kein Gespräch über die Frage: Was stimmt denn jetzt eigentlich? Wir hatten zwei vollkommen unterschiedliche Referate zu ein und demselben Thema gehört und die Frage „Was ist denn jetzt richtig?“, die gab es gar nicht! Und der Grund, warum diese Frage überhaupt nicht gestellt wurde, der war für mich mit Händen zu greifen. Warum diese Frage jetzt nicht auf den Tisch kam, war ganz einfach: Es gab einfach kein gemeinsames Kriterium, nach dem man das Gehörte jetzt irgendwie hätte einordnen oder beurteilen können. Das gab es nicht. Ich hatte aus meiner Sicht relevante biblische Belege gebracht, bei denen ich der Überzeugung war, dass das zu dieser Frage etwas austrägt. Mein Kollege, der die Gegenposition hatte, hat auch Bibelstellen zitiert. Aber ganz ehrlich: Die meisten Bibelstellen zitierte er nur, um sie direkt im Anschluss als zeitgebundenes Menschenwort gleich wieder zu relativieren. Was es überhaupt nicht gab, war ein gemeinsames Verständnis darüber, dass die Bibel Gottes Wort für uns ist und wir uns deshalb gegebenenfalls auch von ihr korrigieren lassen wollen. Das gab es nicht.

Und ich glaube: Genau darum geht es eigentlich am Ende beim Bibelverständnis.

Es geht am Ende um diese Frage: Ist die Bibel Gottes Wort? Darf sie mir etwas sagen? Bin ich bereit, mich von den Aussagen der Bibel auch korrigieren zu lassen? Oder ist es anders herum? Darf ich zuallererst etwas über die Bibel sagen, was ich meine, in ihr korrigieren zu müssen?

Ich glaube, diesen Trend und diese Gefahr sehen wir im Moment auch im evangelikalen Kontext. Die sehen wir in Büchern wie „TheoLab“. Ich glaube, wir sehen sie bei Worthaus und – wie ich meine – auch zum Beispiel an manchen Stellen bei Michael Diener. Wenn die Bibel Gottes Wort an mich ist und wenn sie Autorität hat, dann werde ich mich ihrem Wort unterordnen. Darum geht es am Ende. Das ist eine Theologie der Demut. Wenn sie aber nur Gottes Wort enthält unter ganz vielen anderen Wörtern, dann werde ich mich automatisch zu einer höheren Warte irgendwie aufschwingen müssen. Denn dann muss ich ja – es geht gar nicht anders – anfangen zu urteilen, was darin denn jetzt Gottes Wort ist, das gilt. Und was ist in ihr nur zeitgebunden? Was kann ich weglassen? Was ist zu relativieren? Wenn wir das machen, dann gibt es ganz grundsätzlich nichts, was dann nicht mehr in Frage gestellt werden könnte. Glaube mir das. Ich bin Landeskirche, ich weiß das. Das zeigt uns der Blick in unsere eigene theologische Geschichte und – besonders schmerzhaft und auch zerstörerisch meiner Meinung nach – der Blick auf die Theologie meiner evangelischen Landeskirche. Da gibt es nichts mehr, was nicht in Frage gestellt werden könnte.

Wenn wir uns in der Evangelischen Allianz beim Schriftverständnis dieselbe Pluralität erlauben, wie das meine Landeskirche tut, und wenn wir sagen: Ach, weißte, Johannes, das Schriftverständnis ist so ein schwieriges und sperriges Thema, lass uns da mal nicht drüber streiten – ich glaube, dann wird die Evangelische Allianz auseinanderdriften. Beim Bibelverständnis geht es ums Ganze. Es geht darum, was wir als Christen gemeinsam glauben können, was wir gemeinsam bezeugen können, was wir gerade auch in der Evangelisation gemeinsam verkündigen können, was wir gemeinsam anbeten können.

Und das hat Auswirkungen, im Guten wie im Schlechten. Ich möchte es ausdrücklich auch positiv sagen: Wenn wir uns da einig sind, dann hat das total belebende positive Auswirkungen auf unsere geistliche Wirkkraft, die in der Bibel „Vollmacht“ heißt. Es hat Auswirkungen auf die Lebendigkeit unserer Gemeinden, auf unsere Einheit, auf unser missionarisches Zeugnis, auf die Hoffnung, die wir ausstrahlen in die Welt, auf die Ethik, nach der wir leben, auf die Standhaftigkeit, wenn uns Kritik aus der Gesellschaft entgegenschlägt, auf unsere Opferbereitschaft… auf alles!

Und deshalb ist es mir so ein Herzensanliegen, deshalb werbe ich so darum: Lasst uns an diesem einen zentralen Punkt klar bleiben! Und zwar so klar, wie es ja auch schon in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz formuliert ist. Da steht wörtlich: „Die Bibel ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ Und ich sage von ganzem Herzen “Amen” dazu.

Das biblische Bibelverständnis

Dieser Artikel ist auch als PDF zum Download verfügbar. Die Inhalte werden zudem in der Podcastfolge “#6 Das biblische Bibelverständnis” besprochen.

Es ist normal, dass verschiedene Christen verschiedene Texte der Bibel unterschiedlich auslegen. Ein grundsätzlicheres Problem besteht jedoch, wenn verschiedene Christen grundverschiedene Bibelverständnisse haben. Denn dann werden sie zwangsläufig regelmäßig zu teils sehr verschiedenen Auslegungen kommen, die sämtliche Bereiche des Glaubens betreffen können. Das kann zu tiefen Gräben zwischen Christen führen.[1]

Umso wichtiger ist die Frage: Worauf begründen wir unser Bibelverständnis? Können Christen sich denn einfach frei aussuchen, welches Bibelverständnis ihnen am meisten einleuchtet? Eigentlich nicht. Denn Christen folgen ja Christus nach. Sein Leben und seine Lehre sollte für Christusnachfolger maßgebend sein. Deshalb ist für Christen die folgende Frage von großer Bedeutung: Welches Bibelverständnis hatte denn eigentlich Jesus? Und welches Bibelverständnis hatten die übrigen Autoren der Bibel? Anders gefragt: Wie will die Bibel eigentlich selbst gelesen und verstanden werden? Was ist denn das biblische Bibelverständnis?

Ein steiler Anspruch: Achtung, hier spricht Gott selbst!

Dazu sagt Prof. Gerhard Maier in seinem Vortrag “Der Offenbarungscharakter der Schrift” für die Mediathek offen.bar: “„Und Gott sprach“ ist der Grundton der biblischen Erfahrung. Keiner der biblischen Propheten beginnt seine Botschaft mit der Aussage: „Ich habe mit Gott folgende Erfahrungen gemacht.“ Oder ähnlichem. Nein, von Jesaja bis zur Johannes-Offenbarung beginnen Sie mit dem Hinweis: Der Herr redet. Das Wort des Herrn geschah. Er offenbart. Dies ist die Offenbarung Jesu Christi.” Dieser Anspruch, authentisches Reden des lebendigen Gottes zu vermitteln, beginnt schon bei Mose. Mose hat sich selbst als Prophet bezeichnet (5. Mose 18,15). Gleich an 17 Stellen werden im 3. Buch Mose lange Textabschnitte eingeleitet mit der folgenden Wendung: „Der Herr sprach mit Mose und forderte ihn auf mit den Israeliten zu reden und ihnen auszurichten: …“ [2] Mose will also immer wieder deutlich machen: Hier spricht nicht nur Mose. Hier spricht Gott selbst! Deshalb darf von seinen Worten nichts hinzugefügt und nichts weggelassen werden (5. Mose 13,1). Dazu stellt Mose harte Kriterien für echte Prophetie auf: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Vorhersagen machen, die tatsächlich eintreffen (5. Mose 18,22). Wer sich hingegen anmaßt, im Namen Gottes eine Botschaft zu verkünden, die Gott ihm gar nicht aufgetragen hat, macht sich des Todes schuldig (5. Mose 18,20). Die Aussage von Mose und den übrigen Propheten ist also überdeutlich: Sie wollen gerade nicht nur ein menschliches Zeugnis sondern im echten Sinn Wort Gottes weitergeben.

Umso mehr stellt sich die Frage: Ist das tatsächlich der durchgängige Selbstanspruch der Bibel? Haben andere biblische Autoren diesen extrem hohen Selbstanspruch bestätigt oder eher relativiert und in Frage gestellt?

Diese Frage ist für Protestanten auch deshalb so wichtig, weil die Reformatoren in Bezug auf die Bibel das Prinzip betont hatten: Sola Scriptura! Die Bibel muss das letzte Wort haben! Und deshalb muss die Bibel sich auch selbst auslegen. Nur dann können wir davon sprechen, dass die Bibel die „höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ ist, wie es die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt. Und nur dann sind wir auch ein wenig besser geschützt davor, dass wir uns die Bibel so zurechtbiegen, wie wir sie haben möchten.

Wenn wir uns auf die Suche nach dem biblischen Bibelverständnis machen, dann sind zwangsläufig zwei Fragen von zentraler Bedeutung. Die erste Frage lautet:

Welches Verständnis hatten die Autoren des Neuen Testaments von den Schriften des Alten Testaments?

Wenn man das Neue Testament mit der Frage liest, welche Sicht diese Autoren auf das Alte Testament hatten, dann fällt zunächst einmal eines besonders auf:

Das Neue Testament wurzelt zutiefst im Alten Testament

Das Neue Testament ist voller Zitate und Anspielungen auf das Alte Testament. Der Theologe Roger Nicole schrieb in seinem Artikel über den neutestamentlichen Gebrauch des Alten Testaments: Unter Berücksichtigung aller Anspielungen und freier Zitate bestehen etwa 9 % des Neuen Testaments aus Zitaten oder direkten Anspielungen auf das Alte Testament! Schon dieser Befund macht deutlich: Die Schriften des Alten Testaments haben für die Autoren des Neuen Testaments eine enorm große Rolle gespielt. Diese Schriften waren für sie ganz offenkundig extrem wertvoll.

Dieser Umstand ist alles andere als selbstverständlich. Die Apostel hätten ja auch sagen können: Die heiligen Schriften der Juden betreffen halt den alten, den mosaischen Bund. Aber Jesus hat uns etwas Neues gelehrt und wir haben jetzt etwas Neues gestartet! Deshalb sind die Texte zum alten Bund doch ein wenig überholt und nur noch mit Vorsicht zu genießen… Tatsächlich gab es schon früh in der Kirchengeschichte einen einflussreichen Irrlehrer namens Marcion, der meinte: Für Christen ist das Alte Testament nicht mehr bindend. Und auch heute kann man viele Stimmen hören, die meinen: Für uns gilt im Wesentlichen nur noch das Neue Testament – und da vor allem die Lehre und das Vorbild von Jesus. Diese Vorstellung steht jedoch im direkten Widerspruch zum Umgang der Apostel mit dem Alten Testament und zu Jesus selbst, der immer und immer wieder aus den Schriften des Alten Testaments zitiert hat.

Trotzdem stellt sich die Frage: In welcher Form waren die Schriften des Alten Testaments für die Autoren des Neuen Testaments von Bedeutung? Um das herauszufinden habe ich mir mit der Unterstützung eines guten Freunds die Mühe gemacht, mehr als 200 alttestamentliche Zitate im Neuen Testament durchzuschauen. Dabei hat uns insbesondere die Frage interessiert: Wie wird denn da über diese alttestamentlichen Stellen gesprochen und gedacht? Als erstes fällt auf:

Dem Alten Testament wird immer uneingeschränkte Autorität beigemessen

Wenn die neutestamentlichen Autoren etwas aus dem Alten Testament zitieren, dann ist das immer normativ, das heißt: Dann gilt das. Dann ist das somit bewiesen. Wendungen wie „Es steht geschrieben“ oder „Die Schrift sagt“ oder „Der Prophet sagt“ oder „Im Gesetz heißt es“ sind immer Autoritätsformeln, bei denen davon ausgegangen wird: Somit ist das eindeutig wahr!

Jesus hat in seinen Diskussionen zudem immer wieder die Formel benutzt: „Habt ihr nicht gelesen?“ (z.B. Mt.12,3+5) Damit sagte er: Wenn ihr aufmerksam hingeschaut hättet, was in den Heiligen Schriften steht, dann könntet ihr euch eure Frage selbst beantworten. Als der Teufel ihn mit Bibelstellen verführen wollte, ist Jesus ihm nicht mit Gegenargumenten sondern mit anderen Schriftstellen entgegengetreten. Ein derartiges Argumentieren auf Basis eines Schriftbeweises funktioniert natürlich nur, wenn das Prinzip gilt: Die Aussagen der Heiligen Schrift sind absolut gültig.

Oft wird an dieser Stelle eingewandt: Jesus hat doch manchmal auch aus dem Alten Testament zitiert und dann gesagt: „Ich aber sage euch…“ (z.B. Mt.5,22,32,34,39,44) Hat Jesus also doch dem Alten Testament widersprochen? Wer diese Passagen genauer prüft, merkt schnell: Jesus hat die Gebote des Alten Testaments nicht aufgehoben. Er hat sie entweder sogar verschärft oder aber den tieferen Sinn deutlich gemacht. Dazu sagte Jesus in Matth. 5,17, dass er eben nicht gekommen ist, um die Schrift aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen. In Vers 18 ergänzt er: „Ich versichere euch: „Solange der Himmel und die Erde bestehen, wird selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig bleiben, so lange, bis ihr Zweck erfüllt ist.“ Damit wird klar: Jesus hat sich vollständig und komplett hinter die Autorität des Alten Testaments gestellt. Das gleiche gilt für Paulus. In Apostelgeschichte 24 muss Paulus sich vor dem Statthalter Felix verteidigen. In Vers 14 sagt er: „Ich bete daher den Gott unserer Vorfahren an, indem ich an alles glaube, was im jüdischen Gesetz und in den prophetischen Büchern steht.“ Auch Paulus hat sich somit rückhaltlos hinter die Texte des Alten Testaments gestellt.

Wenn die Schrift etwas sagt, spricht Gott!

Etwa ein Viertel der AT-Zitate im Neuen Testament werden gar nicht eingeleitet mit der Wendung „Die Schrift sagt“ oder „Es steht geschrieben“, sondern mit Formulierungen wie diesen: „Gott sagt.“ „Der Heilige Geist sagt.“ Oder an einer Stelle sogar: „Christus sagt.“ Wenn man diese Stellen im Alten Testament nachliest, dann findet man da tatsächlich oft Stellen, in denen berichtet wird, dass Gott etwas gesprochen hat, zum Beispiel in den prophetischen Aussprüchen oder in den 10 Geboten. Aber immer wieder kommt es auch vor, dass diese Wendung „Gott sagt“ angewendet wird auf ganz normale Textpassagen des Alten Testaments, die gar keine speziellen Aussprüche Gottes sind. So heißt es zum Beispiel im Gebet der Gemeinde in Apostelgeschichte 4,25: „Du (Gott) hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt: »Warum toben die Heiden, und die Völker nehmen sich vor, was vergeblich ist?“ Die Gemeinde zitiert hier aus Psalm 2,1. Wenn man diese Passage liest, kommt man jedoch überhaupt nicht auf die Idee, dass dieser Satz ein spezieller Gottesausspruch ist. Der Satz liest sich vielmehr wie ein ganz normaler Psalmtext. Trotzdem ist die Gemeinde überzeugt: Hier spricht Gott selbst.

Bei Jesus finden wir das gleiche Prinzip. In Matthäus 19, 5 sagt er: „»Wisst ihr nicht, dass der Schöpfer von Anfang an die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat?« Weiter sagte er [also der Schöpfer!]: »Deshalb verlässt ein Mann Vater und Mutter und verbindet sich mit seiner Frau. Jesus zitiert hier aus 1. Mose 2, 24. Auch dieser Text ist im Original nicht etwa als ein Ausspruch Gottes gekennzeichnet sondern er liest sich wie ein ganz normaler Textbaustein des Autors dieser Schöpfungsgeschichte. Trotzdem sagt Jesus: Hier spricht der Schöpfer. Hier spricht Gott selbst.

Besonders spannend ist ein Zitat in 1. Korinther 9, 9, in dem Paulus zunächst folgendes schreibt: „Im Gesetz des Mose steht nämlich: »Du sollst einem Ochsen beim Dreschen nicht das Maul zubinden.« Paulus leitet sein Zitat aus 5. Mose 25,4 also mit den Worten ein: „Im Gesetz des Mose steht…“ Damit macht er deutlich: Dieses Gesetz stammt von einem Menschen, genauer gesagt von Mose. Aber dann fährt Paulus wie folgt fort: „Geht es Gott dabei etwa um die Ochsen? Oder sagte er das nicht vielmehr wegen uns?“ Plötzlich sagt Paulus also: Es ist Gott selbst, der hier spricht! Paulus kann zu diesem Text also beides sagen! Er sagt einerseits: So steht es im Gesetz des Mose. Und er sagt zum gleichen Text: „Gott sagt.“ Das war für ihn ganz offenkundig letztlich dasselbe. Wenn etwas im Gesetz, in der Tora, in den 5 Büchern Mose steht, dann schreibt da aus der Sicht von Paulus einerseits Mose. Und zugleich spricht da Gott. Für Paulus war dieser Text also beides zugleich: Das Wort eines Menschen. Aber zugleich auch Wort Gottes.

In den Schriften reden Menschen getrieben vom Heiligen Geist

In 2. Petrus 1, 20+21 schreibt Petrus: Ihr sollt vor allem eines wissen: Kein prophetisches Wort aus der Heiligen Schrift lässt eine eigenmächtige Deutung zu. Denn keines dieser Worte wurde jemals verkündet, weil ein Mensch es so gewollt hätte. Vielmehr waren Menschen vom Geist Gottes ergriffen und haben in seinem Auftrag geredet. Petrus sagt also: Da reden Menschen, die ihren Stil, ihre Situation, ihre Perspektive einbringen. Aber sie sind dabei getrieben und ganz geprägt vom Heiligen Geist. Ganz deutlich wird dieses Prinzip auch in Markus 12, 36, als Jesus einen Psalmtext zitiert und dieses Zitat einleitet mit den Worten: „David selbst hat im Heiligen Geist gesagt:“ Auch hier bestätigt Jesus: David sagt etwas. Aber er tut es geleitet vom Heiligen Geist.

Paulus beschreibt dieses Prinzip ganz direkt in seiner berühmten Passage in 2. Timotheus 3, 16: „Die ganze Schrift ist von Gott eingegeben.“ Wörtlich steht hier: „theopneustos“, also gottgehaucht, geistdurchhaucht. Die Basisbibel übersetzt diesen Satz wie folgt: „Und auch dazu ist jede Schrift nützlich, die sich dem Wirken von Gottes Geist verdankt.“ Auch hier wird das gleiche Prinzip sichtbar: Die Schriften sind zwar von Menschen geschrieben. Aber sie sind zugleich Ausdruck des Wirkens des Heiligen Geistes.

Insgesamt wird damit verständlich, warum der Theologe Prof. Gerhard Maier in seinem Buch “Biblische Hermeneutik” geschrieben hat: „Im Neuen Testament wird das gesamte damalige ‚Alte Testament‘ … als von Gott eingegeben aufgefasst.“ (S. 83) Das heißt: Die alttestamentlichen Bücher gelten insgesamt als Gottes Wort, nicht nur ein paar göttliche Zitate darin. Weiter schreibt Gerhard Maier: Für die Autoren des Neuen Testaments waren „die beiden Wendungen ‚Die Schrift sagt‘ und ‚Gott sagt‘ untereinander austauschbar.“ (S. 150) Für sie war also klar: Wenn die Schrift etwas sagt, dann spricht Gott selbst.

“Die Schrift” spricht! Sie wird somit als Einheit angesehen!

Diese Austauschbarkeit galt auch in die umgekehrte Richtung: Die immer wieder auftauchende Wendung “Die Schrift sagt” zeigt zum einen: Die heiligen Schriften wurden als eine Einheit und nicht etwa als eine Vielzahl sich widersprechender Stimmen betrachtet. Wenn Christen heute darüber sprechen, dass “die Bibel” etwas sagt, dann sind sie damit in bester biblischer Tradition. An manchen Stellen wirkt “die Schrift” in der Bibel beinahe so, als wäre sie eine Person: “Die Schrift aber, voraussehend, dass Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen werde, verkündigte dem Abraham die gute Botschaft voraus: »In dir werden gesegnet werden alle Nationen.«” (Gal. 3,8) Das bedeutet natürlich nicht, dass die Schriften selbst als göttlich angesehen wurden. Aber es wird dadurch umso mehr deutlich, wie stark die Autoren des Neuen Testaments die Worte der Schrift als Worte Gottes angesehen haben.

Nachdem wir die Sichtweise des NT über das AT betrachtet haben, stellt sich nun die zweite wichtige Frage:

Wie sieht das Neue Testament die Schriften des Neuen Testaments?

Kann das Neue Testament überhaupt irgendetwas über sich selbst sagen? Schließlich ist der Kanon des Neuen Testaments erst lange nach der Abfassung der neutestamentlichen Schriften endgültig festgelegt worden. Und trotzdem ist die klare Antwort: Ja, natürlich! Sehr wohl hat das Neue Testament etwas über das Wesen und den Charakter der neutestamentlichen Texte zu sagen. Auch dort wird vielfach der Anspruch erhoben, dass hier von Gott selbst inspirierte Wahrheit verkündet wird: Paulus bestand ausdrücklich darauf, dass seine Botschaft nicht auf menschlicher Vernunft beruht, sondern dass ihm seine Botschaft direkt von Jesus offenbart wurde. In Galater 1,11-12 schreibt er: „Das will ich euch klar und deutlich sagen, Brüder und Schwestern: Die Gute Nachricht, die ich verkündet habe, stammt nicht von Menschen. Ich habe sie nicht von einem Menschen übernommen. Ich wurde auch nicht von einem Menschen darin unterrichtet. Nein, Jesus Christus selbst hat sie mir offenbart.“

Paulus litt also nicht unter falscher Bescheidenheit. Das gilt auch für seine Aussage in 1. Thessalonischer 2, 13: „Deshalb danken wir Gott immer wieder dafür, dass ihr durch unsere Verkündigung sein Wort empfangen habt. Ihr habt sie nicht als Menschenwort angenommen, sondern als das Wort Gottes, was sie tatsächlich ist.“ Paulus hat somit klar gemacht: Was ich verkündige, ist tatsächlich Gottes Wort.

Veränderungsverbote bei Petrus und in der Offenbarung

Genau diesen steilen Anspruch hat Petrus später in Bezug auf die Schriften von Paulus bestätigt. In 2. Petrus 3, 15-16 macht er eine ganz erstaunliche Bemerkung über die Briefe von Paulus: „Das hat auch unser lieber Bruder Paulus geschrieben, dem Gott so viel Weisheit geschenkt hat. … Manches darin ist allerdings schwer zu verstehen. Das werden die verdrehen, die nichts davon verstehen. So werden sie es auch mit den anderen Schriften machen – zu ihrem eigenen Verderben.“ Mit den „Schriften“ meinte Petrus natürlich zunächst die heiligen Schriften des Alten Testaments, zu denen wir bereits festgestellt haben: Diese Schriften hatten für Petrus verbindliche Autorität. Sie dürfen deshalb nicht verdreht und nicht verändert werden. Wir würden Verderben über uns bringen, wenn wir das täten. Genau diesen Anspruch wendet Petrus hier jetzt aber auch auf die Paulusbriefe an. Auch sie dürfen nicht verdreht werden – auch dann, wenn sie schwer zu verstehen sind.

Genau das gleiche Verbot finden wir auch ganz am Ende des Neuen Testaments. Im viert- und drittletzten Vers der Bibel schrieb Johannes in Offenbarung 22, 18-19: „Und ich versichere jedem, der die prophetischen Worte dieses Buchs hört: Wenn jemand dem, was hier geschrieben steht, irgendetwas hinzufügt, wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch beschrieben werden. Und wenn jemand irgendetwas von den prophetischen Worten dieses Buchs wegnimmt, wird Gott ihm seinen Anteil am Baum des Lebens und an der Heiligen Stadt wegnehmen, die in diesem Buch beschrieben werden“

Der Autor der Johannesoffenbarung übernimmt also den Anspruch aus 5. Mose 13,1, dass nichts hinzugefügt und nichts weggelassen werden darf. Und auch hier wird gesagt: Wer diesen Text verändert, der bringt Verderben über sich selbst. Daran wird deutlich, welch einzigartigen Autoritätsanspruch diese Texte haben. Jeden späteren Theologen, der solche Sätze über seine eigenen Schriften äußern würde, würden wir zurecht zurückweisen. Kein Mensch der Welt dürfte seither so etwas je wieder sagen. Diesen einzigartigen Autoritätsanspruch durften nur die Autoren der Bibel für sich in Anspruch nehmen.

Für Paulus hatten auch Jesuszitate bereits Schriftstatus!

In 1. Timotheus 5, 18 zitiert Paulus noch einmal genau den gleichen Vers aus dem AT, der uns vorhin schon in 1. Korinther 9, 9 begegnet ist: „Denn in der Heiligen Schrift steht: »Du sollst einem Ochsen beim Dreschen nicht das Maul zubinden.« Hier ergänzt Paulus aber noch ein weiteres Zitat: „Es heißt außerdem: »Wer arbeitet, hat ein Anrecht auf seinen Lohn.« Das erstaunliche ist: Dieses Zitat finden wir nicht im Alten Testament. Tatsächlich zitiert Paulus hier ein Jesuswort, das wir in Lukas 10, 7 finden. Das zeigt: Die überlieferten Jesusworte hatten für Paulus bereits genau die gleiche höchste Autorität wie die Schriften des Alten Testaments.

Wir können also zusammenfassen: Was für die apostolischen Väter galt, das lässt sich auch schon in der Bibel selbst beobachten: Neutestamentliche Texte werden auf die gleiche Stufe gestellt wie das Alte Testament. Und die Autoren hatten zudem einen einzigartigen Autoritätsanspruch, den schon die nächste Generation der Kirchenleiter in keiner Weise mehr auf sich selbst anwenden wollten.[4]

Für uns bedeutet dieser Befund:

Die Bibel stellt uns in Bezug auf sich selbst vor eine Glaubensentscheidung

Entweder wir sagen: Die Bibel ist glaubwürdig. Dann müssen wir sie aber auch so lesen, wie sie selbst gelesen werden möchte. Dann müssen wir ihr die Autorität geben, die sie selbst für sich beansprucht. Dann müssen wir davon ausgehen, dass die Bibel das ist, was sie selbst sein will: Ganz Menschenwort. Aber zugleich auch ganz Gotteswort. Und damit auch eine theologische Einheit, die sich selbst nicht widerspricht. Und damit auch unfehlbarer Maßstab für unseren Glauben, für unser Leben und für die Kirche Jesu. Ich habe an anderer Stelle bereits ausführlich begründet, warum ich diesen Selbstanspruch der Bibel für absolut schlüssig und glaubwürdig halte. Denn die Bibel hat nun einmal zahlreiche Eigenschaften, die absolut einmalig sind unter allen Büchern dieser Erde und die beweisen, dass dieses Buch ganz eindeutig einen weit größeren Horizont hat als jedes andere Buch, das nur von Menschen stammt.[5]

Wenn wir uns aber entscheiden, diesen Selbstanspruch nicht zu akzeptieren und die Bibel nur als kritisierbares Menschenwort betrachten[6], dann sollten wir so ehrlich und konsequent sein, auch offen zu sagen: Die Bibel spricht sich selbst eine Autorität zu, die sie gar nicht hat. Und was machen wir mit Büchern oder Botschaften, die bei ihrem Selbstanspruch übertreiben? Wir sehen sie zurecht mit Skepsis. Die Bibel verliert dann ihre Glaubwürdigkeit. Sie ist dann vielleicht immer noch ein interessantes, liebenswertes historisches Zeugnis. Aber wer in Bezug auf sich selbst derart übertreibt, dem werden wir wohl kaum einen Autoritätsanspruch für unseren Glauben, für unser Leben und unsere Kirche beimessen können.

Dem Selbstanspruch der Bibel vertrauen

Deshalb plädiere ich daür, dass wir gemeinsam wieder Werbung dafür machen, dem Selbstanspruch der Bibel zu vertrauen und zu sagen: Die Bibel ist das, was sie selbst von sich sagt. Sie ist wirklich Heilige Schrift. Sie ist prophetisches Wort. Sie bezeugt nicht nur die Offenbarung Gottes. Sie wird nicht erst beim Lesen zum Wort Gottes. Nein, sie IST im echten Sinn offenbartes Wort des lebendigen Gottes. Es ist deshalb nicht angemessen, in Bezug auf dieses Wort von Fehlern zu sprechen. Angemessen ist vielmehr, eine tiefe Ehrfurcht vor diesen Texten zu haben. Es ist angemessen, diesen Texten mit Vertrauen und Demut zu begegnen. Ich bin zutiefst überzeugt: Die Kirche Jesu kann nur gesunden, wenn sie diese tiefe Ehrfurcht vor der Bibel zurückgewinnt.


[1] Ein dramatisches Beispiel ist das Buch „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“ des populären Theologen Jörg Lauster, rezensiert in: „Der große Graben“: https://blog.aigg.de/?p=5667

[2] 3. Mose 1,1+2; 4,1+2; 7,22+23; 7,28+29; 11,1+2; 12,1+2; 15,1+2; 18,1+2; 19,1+2; 20,1+2; 21,16+17; 23,1+2; 23,9+10; 23,23+24; 23,33+34; 25,1+2; 27,1+2

[3] Siehe dazu die Rezension zum freikirchlich geprägten Buch „glauben lieben hoffen“ aus dem SCM Brockhaus Verlag unter https://blog.aigg.de/?p=5819

[4] Siehe dazu der Artikel: „Das Bibelverständnis der apostolischen Väter“: https://blog.aigg.de/?p=5790

[5] Siehe dazu die Artikelsammlung: „10 Gründe, warum es auch heute noch vernünftig ist, der Bibel zu vertrauen“: https://blog.aigg.de/?p=3176

[6] Siehe dazu den Artikel: „Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen“: https://blog.aigg.de/?p=5749

Das Bibelverständnis der apostolischen Väter

Dieses Thema wird auch behandelt im Podcast Bibel-live #5 Der Gamechanger – Bibelverständnis Teil 2

Unter dem Oberbegriff „Apostolische Väter“ versteht man im Allgemeinen eine Sammlung von Schriften aus der ersten nachapostolischen Generation, geschrieben von Kirchenleitern, die sehr wahrscheinlich noch persönlichen Kontakt mit den von Jesus berufenen Aposteln hatten.

In dieser Zeit begann sich auch das Neue Testament zu formen (ohne dass es diesen Begriff damals schon gegeben hätte). Umso spannender ist die Frage: Welches Bibelverständnis hatten diese Leute? Wie sind sie mit den Schriften des Alten Testaments umgegangen? Und vor allem: Wie haben sie die Texte eingeschätzt, die wir heute im Neuen Testament vorfinden? War das für sie damals auch schon heilige Schrift?

Aufschluss zu diesen wichtigen Fragen geben vor allem 4 Schriften aus dem Kreis der apostolischen Väter:

  • Der Clemensbrief an die Korinther stammt vermutlich noch vom Ende des ersten Jahrhunderts. Clemens war etwa in den Jahren 91-101 Bischof von Rom (als zweiter oder dritter Nachfolger von Petrus).
  • Ignatius war Bischof in Antiochien. Etwa im Jahr 110 verfasste er auf dem Weg zu seinem Martyrium in Rom 7 Briefe an verschiedene Gemeinden sowie an Bischof Polykarp von Smyrna.
  • Polykarp lebte von ca. 69 bis 155 n.Chr. Ihm wurde vor allem ein guter Kontakt zum Jünger Johannes nachgesagt. Überliefert wurde von ihm ein Brief an die Gemeinde in Philippi, den er in der Zeit um das Jahr 120 geschrieben hat.
  • Auch Papias von Hierapolis soll ein Schüler des Apostels Johannes und zugleich ein Freund Polykarps gewesen sein. Von seinen 5 Büchern mit Auslegungen von Jesusworten, die er um das Jahr 120 verfasst hat, sind uns leider nur einzelne Fragmente überliefert.

Was lernen wir nun aus diesen Texten über das Bibelverständnis der Kirchenleiter aus der unmittelbaren nachapostolischen Zeit?

Höchste Wertschätzung und Unfehlbarkeit des Alten Testaments

Zunächst fällt auf: Der 1. Clemensbrief läuft geradezu über von Zitaten aus dem Alten Testament. Sie machen ein gutes Viertel des gesamten Textes aus! Das zeugt nicht nur von genauer Kenntnis sondern vor allem von höchster Wertschätzung für diese Texte. Tatsächlich hält Clemens sie für unfehlbare, heilige Worte Gottes, die vom heiligen Geist eingegeben sind:

„Die heiligen Schriften kennt ihr, Geliebte, und zwar gut, und ihr habt euch vertieft in die Worte Gottes.“ (1.Cl. 53, 1)

Die heiligen Schriften, die wahren, die vom Heiligen Geist eingegebenen, habt ihr genau durchforscht. Ihr wisst, dass nichts Unrechtes und nichts Verkehrtes in denselben geschrieben steht.“ (1.Cl. 45, 2+3)

Entsprechend leitet Clemens manche AT-Zitate ein mit der Formel:

Es sagt nämlich der Heilige Geist: …“ (1.Cl. 13,1)

Clemens rechnet sogar damit, dass Christus im Alten Testament spricht:

„All dies befestigt der Glaube an Christus. Denn auch er selbst redet durch den Heiligen Geist uns also an: …“ (1.Cl. 22, 1) Es folgt ein langes Zitat aus Psalm 33.

Die Schriftautorität der neutestamentlichen Texte

Für Clemens waren auch die Paulusbriefe vom Heiligen Geist inspiriert:

„Nehmt den Brief des seligen Paulus, des Apostels. Was hat er euch im Anfang seiner Predigt geschrieben? Wahrhaft vom Geist angeregt, hat er euch belehrt über sich selbst und über Kephas und über Apollo, weil ihr auch damals Parteien gebildet hattet.“ (1.Cl. 47, 1-3)

Besonders bemerkenswert ist im Clemensbrief ein gemischtes Bibelzitat, das er einleitet mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat selbst enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

Ganz eindeutig ist dies bei Polykarp gut 20 Jahre später der Fall. Er schreibt:

„Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26. Hier wird also dem Paulustext genau die gleiche Schriftautorität beigemessen wie den Schriften des Alten Testaments.

Dazu muss man wissen, dass der Polykarpbrief ebenso wie der Clemensbrief prall gefüllt ist mit Bibelzitaten. Allerdings sind bei Polykarp bereits Zitate aus neutestamentlichen Texten vorherrschend. Er zitiert aus nicht weniger als 19 (!) der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter die 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, fast alle Paulusbriefe, der Jakobusbrief, der 1. Petrusbrief und 2 Johannesbriefe. Diese Bücher machen bereits etwa 85% Prozent des neutestamentlichen Textbestands aus! Demnach war der größte Teil des neutestamentlichen Textbestands schon in der ersten nachapostolischen Generation Grundlage und Maßstab für den Glauben der Christen.

Die einzigartige Autorität der Apostel

Ein weiterer wichtiger Befund ist: Keiner der apostolischen Väter wollte sich selbst oder seine Schriften mit den Texten der Apostel gleichstellen. So schrieb Ignatius in seinem Brief an die Trallianer:

Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

Das bedeutet: Obwohl er selbst ja Bischof war, hatten für ihn ausschließlich die Apostel uneingeschränkte Autorität. Genau gleich äußert sich Polykarp:

„Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (3,2)

Entsprechend hielt der renommierte Neutestamentler Theodor Zahn fest: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[1]

Klare Kriterien für die Kanonbildung

Diese Linie der unfehlbaren apostolischen Autorität wurde auch später in allen Diskussionen um die noch offenen und strittigen Kanonfragen beibehalten. Um entscheiden zu können, ob ein Text Schriftautorität besaß oder nicht (und ob er somit im Gottesdienst der Gemeinde vorgelesen werden durfte oder nicht) wurde immer gefragt:

  • Stammt der Text von einem Apostel oder zumindest aus der apostolischen Generation?
  • Stimmt er mit den von Beginn an unumstrittenen apostolischen Schriften und den in den Evangelien niedergelegten Lehren Jesu überein?

Wenn diese Fragen nicht mit „ja“ beantwortet werden konnten, dann wurden die Schriften zwar gegebenenfalls zur privaten Lektüre empfohlen, aber nicht zur Lesung im Gottesdienst. Damit wurde von Beginn an eine klare Grenze markiert zwischen heiligen, unfehlbaren Texten mit Schriftautorität und fehlerhaften Texten nachfolgender Theologen und Kirchenleiter.

Die Evangelien gehen auf Apostel zurück

Deshalb war auch früh die Frage von Bedeutung: Haben die Evangelien apostolische Autorität? Der Kirchengeschichtler Eusebius zitierte aus den ihm noch zugänglichen Büchern des Papias von Hierapolis folgende Aussage:

„Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht ordnungsgemäß, aufgeschrieben. Denn nicht hatte er den Herrn gehört und begleitet; wohl aber folgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“

Das Markusevangelium hatte also Autorität, weil es letztlich auf den Apostel Petrus zurückging. Das Matthäusevangelium schrieb Papias dem Jünger Matthäus zu. Ob er auch das Evangelium des Paulusbegleiters Lukas und das Johannesevangelium kannte, wissen wir nicht. Aber im Zusammenhang mit den zahlreichen neutestamentlichen Zitaten im Brief Polykarps wird deutlich: Diesen vier Evangelien wurde schon früh apostolische Autorität zugesprochen. Spätestens Ende des zweiten Jahrhunderts war die Kanonizität dieser 4 Evangelien trotz der Existenz vieler apokrypher Evangelien eindeutig geklärt.

Fazit: Die Heiligen Schriften als solides Fundament der Kirche

Die christliche Kirche hatte somit schon in der ersten nachapostolischen Generation neben den mündlichen Überlieferungen einen soliden Textbestand, um sich an der Lehre Jesu und der Apostel orientieren zu können. Das feste Vertrauen in die volle Autorität sowohl der alttestamentlichen Texte als auch der Schriften der Apostel und der Evangelien schuf eine solide Grundlage, um die schnell um sich greifenden Irrlehren (Doketismus, Gnosis, Marcionismus…) in die Schranken weisen, um Glaubensbekenntnisse entwickeln[2] und wichtige theologische Fragen entscheiden zu können.

(Unterstreichungen in den Zitaten wurden vom Autor dieses Artikels nachträglich vorgenommen)


[1] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[2] In seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Plädoyer für das Apostolische Glaubensbekenntnis – den zeitlosen Klassiker“ weist Christian Haslebacher nach, dass zum Beispiel das apostolische Glaubensbekenntnis schon weitgehend in den Schriften des Kirchenvaters Irenäus dargestellt ist und dass dieser die Inhalte aus den apostolischen Schriften abgeleitet hat.

Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen

Dieser Vergleich der 2 Bibelverständnisse wird mündlich erläutert im Podcast “Bibel live” Folge #4 Gamechanger Bibelverständnis-Teil 1.

Die Frage nach dem Bibelverständnis ist keine Nebensache. Letztlich prägt unser Bibelverständnis unser gesamtes Glaubensleben. Nicht umsonst stand diese Frage mit im Zentrum der Reformation.

Die evangelikale Welt erlebt momentan eine Auseinandersetzung zwischen zwei grundverschiedenen Bibelverständnissen. Allerdings wird diese Differenz kaum thematisiert. Nach meiner Beobachtung wird sie oft eher verschwiegen, verdrängt, verharmlost oder verschleiert. Dabei zeigt sich immer wieder: Zahlreichen Konflikten und Entfremdungsprozessen (samt den damit verbundenen Verlusten von Einheit und missionarischer Dynamik) unter Evangelikalen liegt letztlich diese Differenz beim Bibelverständnis zugrunde. Umso wichtiger ist es, dass wir den Schleier der Begriffshülsen und Strohmänner lüften und ehrlich darauf schauen, welcher Graben sich da auftut. Denn nur, wenn wir die Situation offen betrachten, können wir auch einen guten Umgang mit ihr finden.

Die beiden Bibelverständnisse werden nachfolgend als das „historische“ und das „progressive“ Bibelverständnis bezeichnet. Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Gemeinsamkeiten

Beide Bibelverständnisse…

… grenzen sich von einem islamischen Schriftverständnis ab und bekennen: Die einzelnen biblischen Bücher wurden von Menschen geschrieben und geprägt. Die Bibel ist somit nicht nur Gottes Wort sondern auch voll und ganz Menschenwort.

… gehen davon aus, dass die Bibel an sich nicht göttlich ist. Christen singen und beten zu Gott, aber niemals zur Bibel. Jesus, der in der Bibel als DAS Wort Gottes bezeichnet wird, ist der Bibel immer vorgeordnet. Nur ihm gilt unsere Hingabe und Anbetung.

… sind sich einig, dass die Bibel auslegungsbedürftig ist. Bibelstellen müssen immer im biblischen Gesamtkontext verstanden werden. Die Textgattung, die Reichweite, die Adressaten sowie das historische und heilsgeschichtliche Umfeld müssen immer differenziert beachtet werden! Zum richtigen Verstehen der Texte wird zudem der Heilige Geist benötigt.

… formulieren übereinstimmend:
– Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort.
– Die Bibel ist inspiriert.

Unterschiede

Trotz dieser scheinbar weitreichenden Übereinstimmungen gibt es grundlegende Differenzen mit weitreichenden Konsequenzen für den Umgang mit der Bibel, für das Verständnis biblischer Aussagen und somit für die Prägung des christlichen Glaubens insgesamt:

Historisches BibelverständnisProgressives Bibelverständnis
Wesen und Charakter der biblischen Texte:Die Bibel ist Offenbarung des lebendigen Gottes.(1)Die Bibel ist ein Zeugnis der Offenbarung des lebendigen Gottes.(2)
Inwiefern ist die Bibel Gottes Wort?Die biblischen Texte sind Gottes verschriftlichte Worte.Gott kann biblische Texte gebrauchen, um sie für uns beim Lesen zu Gottes Wort zu machen.(3)
Die Inspiration der Bibel bezieht sich auf…… die Entstehung der Texte.(4)… die Rezeption und das Verstehen der Texte.(5)
„Gotteswort im Menschenwort“ bedeutet:Die Bibel ist ganz Menschenwort und ganz Gotteswort.Die Bibel ist ganz Menschenwort und kann Gottes Wort enthalten bzw. vermitteln.(6)
Gibt es Fehler und Widersprüche in der Bibel?Die Bibel enthält (7) keine Fehler und Widersprüche, weil Gott keine Fehler macht (8) und sich nicht selbst widerspricht (Unfehlbarkeit und Einheit der Schrift).Als menschliches Zeugnis der Offenbarung enthält die Bibel selbstverständlich zahlreiche Fehler und Widersprüche.
Kann man davon sprechen, dass „die Bibel“ etwas aussagt?Ja. Die Bibel macht als Gesamteinheit klare, verständliche Aussagen. (Klarheit der Schrift)„Die Bibel“ macht keine Aussagen. Vielmehr machen verschiedene biblische Autoren verschiedene, teils widersprüchliche Aussagen.
Ist inhaltliche Sachkritik an der Bibel möglich?Nein. Welcher Mensch könnte Gott kritisieren? Die menschliche Vernunft ist wichtig, steht letztlich aber unter Gottes Wort.Ja. Das menschlich fehlerhafte Zeugnis der Offenbarung Gottes kann auf der Basis heutiger Vernunft kritisiert werden.(9)
Ist die Bibel Maßstab für den christlichen Glauben, mit dem auch falsche Lehre identifiziert werden kann?Ja.(10)Nein, das kann sie angesichts ihrer Fehlerhaftigkeit, Widersprüchlichkeit und Vieldeutigkeit nicht sein. Sie ist eher Gesprächs- und Inspirationsgrundlage.(11)
Ist der Offenbarungsprozess mit Abschluss der Bibel abgeschlossen?Ja. Über die Bibel hinaus kann die Kirche keine grundlegend neuen Lehren mehr entwickeln. (Abgeschlossenheit der Schrift)Nein. Der Heilige Geist setzt den Offenbarungsprozess auch nach der Apostelgeschichte progressiv weiter fort.(12)

(1) So formuliert die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ (Hervorhebung nachträglich)

(2) So heißt es in einem aktuellen Grundsatztext der EKD: „Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“ (In: „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“, S. 34)

(3) Dazu der Theologe Udo Schnelle: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ (Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19)

(4) Zum Beispiel gemäß 2. Petrus 1, 21: Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“

(5) Dazu Thorsten Dietz: „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird.“ (im Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“, ab 1:22:15)

(6) Dazu Siegfried Zimmer: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“ In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 112

(7) … in Bezug auf den kanonischen Urtext im Rahmen der bibeleigenen Aussageabsicht und des zugrunde gelegten Wahrheitsverständnisses …

(8): Dazu der Theologe Heinzpeter Hempelmann: „Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen … Die Bibel ist als Gottes Wort Wesensäußerung Gottes. Als solche hat sie teil am Wesen Gottes und d.h. an seiner Wahrheit, Treue, Zuverlässigkeit. Gott macht keine Fehler.“ In: „Plädoyer für eine Hermeneutik der Demut, Theologische Beiträge 33 (2002)

(9) Dazu Siegfried Zimmer: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

(10) Dazu der Grundsatztext der EKD „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49).

(11) Dazu Thorsten Dietz: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ … Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (im Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“, ab 1:09.30 bzw. ab 1:12.00)

(12) Als klassische Beispiele werden die Überwindung des Patriarchats oder der Sklaverei angeführt. Entsprechend könne nun auch z.B. die biblische Sichtweise im Umgang mit Homosexualität auf Basis des biblischen Liebesgebots weiter entwickelt werden. Vertreter des historischen Bibelverständnisses entgegnen, dass die Überwindung von Patriarchat und Sklaverei schon sehr klar im Bibeltext angelegt ist, während es für eine Überwindung der ablehnenden Haltung gegenüber praktizierter Homosexualität keinerlei Indizien im biblischen Gesamtzeugnis gibt.

Gibt es einen brückenbauenden Mittelweg?

Es gibt Theologen, die einem progressiven Bibelverständnis folgen, der Bibel aber trotzdem mit großem Vorvertrauen begegnen und entsprechend kaum von Fehlern, Widersprüchen und von der Weiterentwicklung veralteter Sichtweisen reden. Entsprechend nähern sich dann die Auslegungsergebnisse an. Die Praxis in der evangelikalen Welt zeigt jedoch: Wenn der Anker des Offenbarungscharakters einer unfehlbaren, einheitlichen, klaren und abgeschlossenen Schrift erst einmal gelöst ist, dann tun sich schon bald auch in den allerzentralsten Glaubensfragen unüberbrückbare Gräben auf wie z.B. beim stellvertretenden Sühneopfer, bei der Leiblichkeit der Auferstehung, bei der Historizität der Heilsereignisse (z.B. Jungfrauengeburt), bei der Göttlichkeit Jesu, bei der Realität des kommenden Gerichts und der Sündhaftigkeit des Menschen.

Das hat vor allem zwei Gründe:

  • Die Vertreter eines progressiven Bibelverständnisses gehen meist wertschätzend mit den Einflüssen der universitären Bibelwissenschaft um. Vertreter des historischen Bibelverständnisses hingegen lehnen den an den Universitäten vorherrschenden Wissenschaftsbegriff ab, nach dem bei der Erforschung der Bibel nicht mit der Realität von Wundern und Offenbarung gerechnet werden darf. Entsprechend stehen sie Modellbildungen und exegetischen Ergebnissen, die auf diesem naturalistisch geprägten Wissenschaftsbegriffs basieren, kritisch gegenüber.
  • Im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses ist eine kritische Auseinandersetzung mit falscher Lehre kaum möglich. Stattdessen werden Glaubensüberzeugungen eher “subjektiviert”, das heißt sie gelten nicht mehr objektiv für alle Gläubigen (so wie es Christen bislang in Glaubensbekenntnissen zum Ausdruck gebracht haben) sondern nur noch subjektiv für denjenigen, der eine Wahrheit für sich als Gottes Wort empfindet. Damit fehlt der Einheit in Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen schon bald das Fundament von gemeinsam geteilten Glaubensüberzeugungen. Entsprechend schwindet das gemeinsame Engagement.

Um der Einheit willen ist es angesichts der grundlegenden Differenzen und der weitreichenden Konsequenzen dringend notwendig, solche Differenzen beim Bibelverständnis offen anzusprechen.

Der Stern von Bethlehem – Mythos oder Geschichte?

Der Stern von Bethlehem ist fester Bestandteil unserer alljährlichen Weihnachtsromantik. Aber gerade dieser Stern ist es auch, der viele Menschen gegenüber der Weihnachtsgeschichte skeptisch werden lässt. Da kommen „Weise“ aus dem „Morgenland“ nach Jerusalem und fragen nach dem neugeborenen König der Juden, denn: Sie „haben seinen Stern aufgehen sehen“. Und genau dieser Stern „ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war.“ (Matthäus 2, 2+9) Kein Wunder, dass seit jeher Menschen gefragt haben: Von welchem Stern redet Matthäus da? Wie konnte ein Stern vor ihnen hergehen? Und wie kann ein Stern stehen bleiben? Das klingt doch alles so märchenhaft, dass man dazu neigt, gleich die ganze Geschichte ins Reich der Mythen und Legenden zu verbannen.

Stilbildend für viele Darstellungen des Sterns wurde ein Gemälde des Malers Giotto di Bondone aus dem Jahr 1305. Er stellte den Stern als Komet dar, wahrscheinlich ganz einfach deshalb, weil er den Halley’schen Komet kurz zuvor selbst beobachten konnte. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass Matthäus bei seinem Bericht von einem Komet spricht. Kometen galten damals als Unglücksboten und waren somit ein völlig unpassendes Symbol für das Kommen eines neuen Herrschers.

Der Astronom Johannes Kepler beobachtete im Jahr 1604 eine Supernova mitten in einer besonderen Planetenkonstellation, über die wir gleich noch genauer sprechen werden. Und weil diese Konstellation auch zur Zeit von Jesu Geburt auftrat, stellte er die Vermutung an, dass es vielleicht auch damals eine Supernova gegeben haben könnte. Aber auch diese These wurde inzwischen verworfen. Denn von einer solchen Supernova müssten wir heute noch Reste finden. Das ist aber nicht der Fall.

Aber wovon schrieb Matthäus dann? Im Dezember 2020 ging eine überraschende Meldung durch die Presse: Der Stern von Bethlehem steht wieder am Himmel! Was war da gemeint? Am 21. Dezember 2020 war ein seltenes Schauspiel am Himmel zu sehen (wenn man denn das Glück hatte, dass es nicht von Wolken verdeckt wurde): Die Planeten Jupiter und Saturn näherten sich einander so sehr an, dass beide Planeten förmlich zu verschmelzen schienen und gemeinsam als heller Stern am Himmel leuchteten. Eine solche Annäherung zwischen Jupiter und Saturn nennt man „große Konjunktion“. Sie findet etwa alle 20 Jahre statt, wenn auch meistens nicht ganz so dicht wie im Jahr 2020. Sehr selten kommt es sogar zu einer sogenannten „größten Konjunktion“, bei der sich Jupiter und Saturn gleich 3 mal in einem Jahr begegnen. Um dieses Phänomen zu verstehen muss man wissen, dass die Erde als vergleichsweise sonnennaher Planet schneller seine Runden um die Sonne dreht als die weiter entfernten Planeten Jupiter und Saturn. Wenn die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne die weiter entfernt kreisenden Planeten überholt, dann sieht es für Beobachter auf der Erde so aus, als würden sich Jupiter und Saturn eine Zeit lang rückwärts bewegen. Wenn das während einer Konjunktion geschieht, dann treffen sich Jupiter und Saturn während eines Jahres nicht nur einmal sondern gleich drei mal (schön visualisiert in diesem Video ab Min. 6:06).

Genau zu einem solchen extrem seltenen Spektakel kam es im Jahr 7 vor Christus (bzw. im Jahr 6 vor Christus nach astronomischer Zeitrechnung). Nach übereinstimmender Meinung der meisten Historiker fällt dieses Jahr in den kurzen Zeitraum, der für das Geburtsjahr von Jesus am wahrscheinlichsten ist. In diesem Jahr trafen sich Jupiter und Saturn im Mai, im Oktober und im Dezember.

Ohne Zweifel wurde dieses extrem außergewöhnliche Ereignis sowohl von den Astronomen als auch von den Astrologen der damaligen Zeit aufmerksam verfolgt. Der Gedanke liegt also nahe, dass dieses Himmelsschauspiel auch der Auslöser für die Reise der Weisen nach Jerusalem gewesen sein könnte. Allerdings gab es an dieser Theorie auch Zweifel. Denn zwar kamen sich die Planeten Jupiter und Saturn im Jahr 7 vor Christus nahe, aber sie „verschmolzen“ optisch doch nie zu einem einzigen Stern, wie es im Jahr 2020 der Fall war. Sie waren immer deutlich voneinander getrennt am Himmel zu sehen. Bei Matthäus ist aber nur von 1 Stern die Rede, dazu noch von einem aufgehenden Stern. Was könnte damit gemeint sein?

Im Jahr 1999 veröffentlichte der amerikanische Physiker und Astronom Michael Molnar ein Buch über den Stern von Bethlehem, das seither die Fachwelt beschäftigt. Im Jahr 2014 fand sogar eine interdisziplinäre Tagung zu den Thesen Molnars statt. Molnar hatte sich intensiv mit den Weisen aus dem Morgenland beschäftigt. Wörtlich übersetzt ist bei Matthäus ja nicht nur einfach von „Weisen“ die Rede sondern von „Magoi“ was man auch mit „Sterndeuter“ oder „Astrologen“ übersetzen könnte. Bisher ging man zumeist davon aus, dass diese Sterndeuter eher von der babylonischen Kultur geprägt waren. Molnar glaubte jedoch, dass die Region östlich von Palästina durch die Eroberungszüge von Alexander dem Großen schon längst hellenisiert und somit griechisch geprägt war. Deshalb musste man sich mit der griechischen und nicht mit der babylonischen Astrologie beschäftigen, um die Denkweise der „Magoi“ aus dem Morgenland zu verstehen.

Wie haben diese Leute ein Horoskop erstellt? Bekannt ist zum Beispiel ein Horoskop für Kaiser Hadrian aus dem Jahr 76 nach Christus. Eine wichtige Rolle spielte darin der Planet Jupiter, der als königlicher Planet galt. Als wichtig wurde aber auch die Nähe zu Mond, Venus und Mars angesehen. Wer nach diesem Muster ein Horoskop für den 17. April des Jahres 7 v.Chr. erstellt, erhält ein noch viel „königlicheres“ Horoskop! Denn hier standen die Planeten Merkur, Mars, Saturn und Venus gemeinsam mit dem Mond, der Sonne und dem königlichen Jupiter in einer Reihe. Dazu muss man wissen, dass die Astrologen der damaligen Zeit ihre Aufmerksamkeit vor allem dem „Stern” widmeten, der kurz vor Sonnenaufgang auftaucht und zuletzt sichtbar wird, bevor das Tageslicht alle Sterne überstrahlt. Am 17. April 7 v. Chr. war der königliche Planet Jupiter der zuletzt aufgehende „Stern“. Und er stand dabei in einer linearen Reihe mit der Sonne, Mond und mehreren Planeten, was als starker Hinweis auf die Geburt eines neuen Königs verstanden werden konnte. Dazu kam: Der Jupiter ging im Sternbild Widder auf, das damals auch mit dem Gebiet Judäa in Verbindung gebracht wurde.

Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, was Matthäus in Vers 2 eigentlich gemeint hat. Denn der Satz: „Wir haben seinen Stern aufgehen sehen“ kann auch so übersetzt werden: „Wir haben seinen Stern im Aufgang erblickt“. Das war für den damaligen Leser eine gängige astrologische Formulierung, die den zuletzt aufgehenden Stern kurz vor Sonnenaufgang beschrieb. Ausführlicher hätte Matthäus auch schreiben können: Wir haben den Stern eines neuen Königs in Judäa im Aufgang erblickt. Dass Matthäus den Namen Jupiter lieber nicht namentlich nennen wollte ist verständlich, weil er selbst wohl lieber nichts mit Astrologie zu tun haben wollte.

Wenn die „Magoi“ in einem weit von Jerusalem entfernten östlich gelegenen Land tatsächlich im April auf die Ankunft eines neuen Königs aufmerksam wurden, dann wäre das wegen der sommerlichen Hitze eine schlechte Zeit zum Reisen gewesen. Trotzdem blieb angesichts der spektakulären ganzjährigen „grössten Konjunktion“ von Jupiter und Saturn ohne Zweifel die Aufmerksamkeit der Sterndeuter den ganzen Sommer über hoch. Als sie sich dann schließlich im Herbst nach Jerusalem aufmachten, standen Jupiter und Saturn vereint am südlichen Himmel, also in Richtung Bethlehem. Und gerade in dieser Zeit konnten sie verfolgen, wie Jupiter und Saturn eine Zeit lang „rückwärts“ wanderten und dann schließlich für kurze Zeit relativ zu den Sternen „stehen blieben“ – bevor sie schließlich erneut die Richtung umkehrten.

Der Sternhimmel am 12. November 7 v. Chr. über Jerusalem in Richtung Süden

Hat Matthäus vielleicht genau das gemeint? War der „rückwärts“ laufende königliche Jupiter der “Stern”, der „vor ihnen herging“ und schließlich stehen blieb, als sie das Kind in Bethlehem gefunden hatten? Genau davon geht jedenfalls der Astronom Michael Molnar aus.

Der Astrophysiker Prof. Heino Falcke war 2014 selbst bei der Tagung dabei, bei der über Molnars Thesen gestritten wurde. In seiner Nachbetrachtung zu der Konferenz schrieb Falcke folgendes:

„Ich persönlich habe versucht, in dieser Angelegenheit die Rolle eines objektiven Richters zu spielen, mich von vorgefasster Voreingenommenheit zu befreien und diesen Workshop mit einem eher offenen und vielleicht sogar naiven Geist zu betreten. Ich war also gleichermaßen bereit zu akzeptieren, dass die Geschichte komplett erfunden sein könnte oder tatsächlich eine genaue Beschreibung der Ereignisse um die Geburt Jesu Christi war. … Je mehr ich über die Weisen erfuhr, desto mehr entpuppte sich die Geschichte bei Matthäus als ein Meisterwerk biblischer Schreibkunst, das nicht nur theologische Bedeutung transportiert, sondern auch in der Lage ist, den historischen Kontext in wenigen nüchternen Zeilen zu verdichten – ganz anders als die Wundergeschichte, die ich noch aus Kindheitserinnerungen im Kopf hatte.“

Ist jetzt also sicher geklärt, was es mit dem Stern von Bethlehem auf sich hatte? Sicher nicht. Der Streit der Experten wird weitergehen. Für den Glauben ist es auch nicht entscheidend, was genau die richtige Erklärung ist. Aber so viel ist sicher: Wenn sich ein Bibeltext „märchenhaft“ anhört, heißt das noch lange nicht, dass wir ihn vorschnell ins Reich der Gleichnisse und der Bildersprache verweisen dürfen. Der Gott der Bibel ist ein Gott, der ganz reale Geschichte schreibt. Es könnte auch ganz einfach an unserer Unkenntnis der damaligen Situation und an sprachlichen Feinheiten liegen, warum wir uns mit dem Verständnis mancher biblischer Angaben so schwer tun.

Auch der Stern von Bethlehem rüttelt jedenfalls nicht daran, dass die Geburtsgeschichten in den Evangelien vertrauenswürdig sind. Und der Umstand, dass hier offenbar Menschen durch Beschäftigung mit Astrologie zu Jesu fanden, zeigt mir: Gott kann auch heute noch die verrücktesten Umstände gebrauchen, um Menschen das wahre Wunder von Weihnachten zu offenbaren und sie zu Anbetern des einzig wahren menschgewordenen Gottessohns zu machen.


Eine wertvolle Quelle für die Recherchen zu diesem Artikel war der Blogartikel „The Star of Bethlehem – a mystery (almost) resolved?“ von Prof. Heino Falcke. Darin sind auch einige veranschaulichende Abbildungen enthalten.

Das wunderkritische Paradigma – Der heimliche Spaltpilz der Christenheit

Dürfen Theologen in ihrer bibelwissenschaftlichen Arbeit damit rechnen, dass Wunder wirklich geschehen sind und Propheten die Zukunft vorhersagen konnten? Leider wissen nur wenige Christen, dass diese einfache Frage bei vielen theologischen Umwälzungen der letzten beiden Jahrhunderte mit im Zentrum stand. Das wunderkritische Paradigma wirkt gerade deshalb so spaltend, weil es so selten offen angesprochen wird. Angesichts der enorm weitreichenden Konsequenzen für die Christenheit ist es höchste Zeit, das zu ändern.

Diesen Artikel gibt es auch als…
PDF zum Download
… Kurzfassung in idea-Spektrum Ausgabe 38.2020
… Vortragsvideo auf YouTube:

… Audio-Vortrag als mp3 zum Anhören und Downloaden:

Naturwissenschaftler erforschen die Welt vor allem durch genaue Beobachtung und reproduzierbare Experimente. Dabei gehen sie davon aus, dass sich für jedes Naturphänomen eine natürliche, naturgesetzliche Erklärung finden lässt. Diese Selbstbeschränkung auf natürliche Erklärungen ist selbst aber kein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung sondern vielmehr eine Denkvoraussetzung.

Wunder könnten – wenn es sie gäbe – weder reproduzierbar beobachtet und erst recht nicht experimentell nachgestellt werden. Sie entziehen sich somit grundsätzlich der naturwissenschaftlichen Methodik. Das gilt ganz besonders für Wunder aus fernen vergangenen Zeiten. Bei geschichtlichen Ereignissen handelt es sich generell um einmalige, nicht mehr beobachtbare und nicht reproduzierbare Vorgänge. Die Frage nach der Möglichkeit von (historischen) Wundern ist deshalb prinzipiell wissenschaftlich nicht beantwortbar.

Die Entscheidung, in der Forschung nicht mit übernatürlichen Vorgängen zu rechnen, ist deshalb dem Bereich der „Paradigmen“ zuzuordnen. Ein Paradigma ist eine grundsätzliche, dem wissenschaftlichen Arbeiten vorgeordnete Denkweise. Prof. Uwe Zerbst schreibt dazu in Berufung auf die Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn und Alan Chambers: Grundlage eines Paradigmas ist der freiwillige Konsens einer möglichst großen Gruppe von Wissenschaftlern, wie in der betreffenden Disziplin „richtig“ geforscht wird. … Anhänger konkurrierender Paradigmen leben … in gewisser Weise „in verschiedenen Welten“, was sich unter anderem darin zeigt, dass für sie ganz unterschiedliche Fragen legitim oder bedeutsam sind.[1] In der Wissenschaft spielen also außerwissenschaftliche Vorannahmen eine weit größere Rolle, als viele Laien und auch so manche Wissenschaftler denken.[2]

Ist die Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen grundlegend für wissenschaftliches Arbeiten?

Angesichts des Siegeszugs der Naturwissenschaften mit allen daraus resultierenden Fortschritten in Medizin und Technik glauben viele Menschen, dass die Beschränkung auf natürliche Ursachen generell die Grundlage jeglicher seriöser Wissenschaft wäre. Aber das ist ein Irrtum. Wissenschaft muss ergebnisoffen nach Wahrheit suchen. Jede außerwissenschaftliche Grund­annahme muss sich immer wieder fragen lassen, ob sie ihrem jeweiligen Forschungsgegenstand gerecht wird und zu schlüssigen Ergebnissen führt. Um es mit den Worten des berühmten Wissenschaftstheoretikers Karl Popper zu sagen: „Ein empirisch-wissen­schaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.[3] Es muss also widerlegbar („falsifizierbar“) sein, um als wissenschaftlich gelten zu dürfen.

Das gilt auch für die Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen. So erfolgreich und sinnvoll dieser Ansatz bei der Erforschung der Welt auch war, bei der Frage nach der Entstehung der Welt hat er sich als weit weniger fruchtbar erwiesen. Die Annahme, dass die DNA als biologischer Informationsträger ein Produkt von sich selbst organisierender Materie sei, konnte bislang durch wissenschaftliche Beobachtungen und Experimente nicht erhärtet werden. Gleiches gilt für die Frage, wie die fein aufeinander abgestimmten Bausteine des Universums, die komplexen molekularen Maschinen, die hocheffizienten biologischen Baupläne und der selbst-bewusste menschliche Geist entstehen konnten. Trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung zeichnen sich bei keiner dieser Fragen solide Erklärungen für natürliche Entstehungswege ab.[4] Könnte es sein, dass der Ansatz, der bei der Erforschung der Welt so überaus erfolgreich war, bei der Erforschung der Entstehung der Welt versagt, weil er diesem völlig anderen Forschungsgegenstand vielleicht gar nicht gerecht wird? Wäre es angesichts des anhaltenden Scheiterns vielleicht angemessen, speziell bei den Ursprungsfragen einen Paradigmenwechsel in Erwägung zu ziehen und die Option der Wirksamkeit eines übernatürlich wirkenden, ordnenden Geistes dort wieder zuzulassen?

Unwissen­schaftlich wäre das nicht, im Gegenteil: Es wäre ein Verstoß gegen die Freiheit des wissenschaftlichen Denkens, mögliche Optionen, die wahr sein könnten, prinzipiell dauerhaft auszuschließen. Wirklich unwissenschaftlich wäre es, wenn ein Paradigma sich grundsätzlich und dauerhaft dem Wettbewerb mit anderen Paradigmen verschließt.

Sollte sich auch die Bibelwissenschaft auf natürliche Ursachen beschränken?

Auffällig ist, dass genau die gleiche Frage, die weltweit in der Ursprungsforschung für Unruhe sorgt, auch in der Bibelwissenschaft eine enorme Rolle spielt. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert steht auch hier die These im Raum, dass eine Selbstbeschränkung auf natürliche Erklärungen (also ein „wunderkritisches Paradigma“) die allgemeine Grundlage für seriöses bibelwissenschaftliches Arbeiten sein sollte. Entsprechend schreibt der Theologe Prof. Armin D. Baum: Seit dem 19. Jahrhundert wird das Adjektiv ,,kritisch“ auch mit der Bedeutung prinzipiell „wunder-kritisch“ verwendet.[5]

Bis dahin hatte sich das theologische Denken der Kirche weitgehend am biblischen Weltbild orientiert.[6] Die Bibel geht zwar genau wie die moderne Naturwissenschaft davon aus, dass in der Welt in aller Regel nur natürliche Kräfte am Werk sind. Aber bei der Ursprungsfrage rechnet die Bibel sehr wohl mit dem übernatürlichen Wirken eines Schöpfers. Und sie hält es zudem für selbstverständlich, dass dieser Schöpfer jederzeit in den Lauf der Welt eingreifen und sich seinen Geschöpfen in übernatürlicher Art und Weise offenbaren kann.[7]

Bedeutend für den theologischen Paradigmenwechsel war unter anderem ein Aufsatz des Theologen Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1898, in dem er der alten „dogmatischen Methode“ eine „historisch(-kritisch)e Methode“[8] gegenüberstellte, in der übernatürliche („supranaturalistische“) Taten Gottes grundsätzlich ausgeschlossen wurden.[9] Prägend war auch der Theologe Rudolf Bultmann, der meinte, dass der Glaube „an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments“ für moderne, technikaffine Menschen nicht länger zumutbar sei, weil sie in ihrem Alltag die Erfahrung machen, dass es keine Wunder gibt.[10] Bultmann ging zudem von der Voraussetzung aus, „dass die Geschichte eine Einheit ist im Sinne eines geschlossenen Wirkungs-Zusammenhangs, in dem die einzelnen Ereignisse durch die Folge von Ursache und Wirkung verknüpft sind. … Diese Geschlossenheit bedeutet, dass der Zusammenhang des geschichtlichen Geschehens nicht durch das Eingreifen übernatürlicher, jenseitiger Mächte zerrissen werden kann, dass es also kein ‘Wunder’ in diesem Sinne gibt.“ Historische Wissenschaft dürfe zwar „nicht behaupten, dass … es kein Handeln Gottes in der Geschichte gäbe. Aber sie selbst kann das als Wissenschaft nicht wahrnehmen und damit rechnen.[11]

Dass Theologen in der praktischen bibelwissen­schaft­lichen Arbeit nicht mit übernatürlichen Vorgängen rechnen sollten, wird heute oft auch wie folgt begründet: Um gemeinsames wissenschaftliches Arbeiten zu ermöglichen, dürfe Wissenschaft nur Methoden anwenden, die von Wissenschaftlern unterschiedlichster Weltanschauungen nachvollzogen werden können, die also „intersubjektiv überprüf­bar“ sind.[12] Da die Möglichkeit von Wundern von der Mehrheit der Wissenschaftler abgelehnt wird, führt das in der Praxis dazu, dass Bibelwissenschaftler in ihrer Theoriebildung grundsätzlich nicht mit göttlichen Eingriffen rechnen – selbst wenn sie persönlich durchaus an die Realität von Wundern und Offenbarungsereignissen glauben.

Tatsächlich sind laut Prof. Peter Wick wunderkritische Einstellungen an den theologischen Fakultäten heute weit verbreitet.[13] Laut Armin Baum dürfte in der (deutschsprachigen) wissenschaftlichen Theologie das wunderkritische Lager in der Mehrheit sein, während außerhalb der theologischen Wissenschaft die wundergläubigen Christen in der Mehrzahl sein werden.[14] Baum wies zudem darauf hin, dass auch solche Bibelforscher, die sich eigentlich gegen eine generelle Wunderkritik stellen, in der Praxis trotzdem das wunderkritische Paradigma anwenden können.[15] Umso mehr stellt sich die Frage: Wie weitreichend wirkt das wunderkritische Paradigma tatsächlich in der heutigen Theologie? Welche Konsequenzen hat es für die Auslegung der biblischen Texte? Und welche Konsequenzen hat es für die Kirche Jesu und ihre Einheit?

Die Recherchen zur Beantwortung dieser Fragen waren für mich spannend wie ein Krimi. Als wahre Fundgrube hat sich dabei das von der Deutschen Bibelgesellschaft veröffentlichte wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex, www.bibelwissenschaft.de/wibilex) erwiesen. WiBiLex wird unter anderem auf der Internetseite der Worthaus-Mediathek ausdrücklich empfohlen. Bei der Lektüre von WiBiLex-Artikeln stellte ich zunehmend fest: Eine supra­naturalistische Sichtweise, die mit übernatürlichen Ereignissen rechnet, wird dort im Grunde nirgends als vernünftige Denkalternative betrachtet. Die Artikel folgen mehr oder weniger klar dem wunderkritischen Paradigma – mit weitreichenden Konsequenzen für die Auslegung der biblischen Texte. Je ein Beispiel aus dem Alten und dem Neuen Testament sollen das verdeutlichen:

Daniel: Prophet oder fingierte Legende?

Die Kapitel 7 – 12 des Buchs Daniel sind in der Ich-Perspektive verfasst. Sie behaupten also von sich selbst, vom Propheten Daniel und somit aus dem 6. Jahrhundert vor Christus zu stammen. Zugleich enthalten gerade diese Kapitel detaillierte und zutreffende Berichte über geschichtliche Ereignisse des dritten und zweiten Jahrhunderts vor Christus[16]. Das stellt jeden Ausleger vor eine grundsätzliche Entscheidung:

  • Entweder treffen die Behauptungen des Buchs über seine Datierung und Verfasserschaft zu. Dann hätten wir hier ein verblüffendes Zeugnis von detailgetreu eingetroffenen prophetischen Vorhersagen vorliegen.
  • Oder aber die angeblichen Prophetien wurden erst nach den geschichtlichen Ereignissen, also etwa um das Jahr 170 vor Christus aufgeschrieben.[17] Dann hätte der Autor über die Ich-Perspektive seine Identität mit der Person des Daniel aus der Zeit des Exils nur „fingiert“.[18]

Welche Deutung stimmt? Die traditionelle Position zu dieser Frage ist vollkommen eindeutig: Sämtliche antike jüdische und christliche Quellen gehen einmütig davon aus, dass der Selbstanspruch des Buchs Daniel zu seiner Datierung und Verfasserschaft im Wesentlichen zutrifft.[19] Schon im 1. Makkabäerbuch, das vermutlich im späten 2. Jahrhundert vor Christus geschrieben wurde[20], „werden Daniel und seine Freunde … wie wirkliche, geschichtliche Personen behandelt.[21]

Ganz im Gegensatz dazu gilt es in den relevanten WiBiLex-Artikeln als Selbstverständlichkeit, dass es sich bei den Vorhersagen im Buch Daniel in Wahrheit um rückblickende Texte aus dem 2. Jahrhundert vor Christus handelt. Daniel sei zudem „nicht als historische Gestalt zu verstehen“, er sei vielmehr „eine Idealgestalt, die Geschichten um ihn tragen deutlich legendäre Züge.“ Das Hauptargument dafür liegt für den WiBiLex-Autor Dominik Helms in der hohen Präzision der geschichtlichen Darstellung. Hinzu kommen für ihn angeblich fehlerhafte Darstellungen der früheren exilischen Zeit. Innere Widersprüche sowie Spannungen in Theologie, Chronologie, Stil und Sprache würden zudem dagegen sprechen, dass das Buch ursprünglich auf nur einen Autor zurückgeführt werden könnte.

Neu sind diese Argumente nicht. Leider wird ihre Beweiskraft bei Helms aber überhaupt nicht diskutiert, so wie man es eigentlich von einem wissenschaftlichen Werk erwarten würde und wie es z.B. Prof. Gerhard Maier in seinem Daniel-Kommentar für die Wuppertaler Studienbibel ausführlich tut und dabei zu dem Schluss kommt, dass „die Einwände, die gegen die geschichtliche Zuverlässigkeit des Danielbuches vorgebracht werden, nicht durchschlagen.[22] Mehr noch: Maier führt eine lange Liste von Argumenten ins Feld, die stark für die traditionelle Datierung des Daniel-Buchs sprechen. Dazu gehören unter anderem viele historische Detailangaben zum Leben am babylonischen Hof, die sich außerbiblisch gut bestätigt haben. Der Autor des Daniel-Buchs habe „eine erstaunlich gute Kenntnis der Geschichte des 6. Jahrhunderts vor Christus besessen und sich in oft überraschender Weise als zuverlässig erwiesen.[23] Die weite Verbreitung und der große Einfluss des Daniel-Buchs schon im 2. Jahrhundert vor Christus[24] führt Maier zudem zu der Frage: „Wie soll ein Buch, das selber erst im 2. Jahrhundert erschien, eine so feste und einflussreiche Stellung noch während des 2. Jahrhunderts gewonnen haben?[25] Wie ist es gelungen, in der jüdischen Welt innerhalb kürzester Zeit den allgemein akzeptierten Mythos zu erzeugen, es handle sich um ein authentisches, altes Buch eines enorm einflussreichen Propheten, der wie Jesaja oder Jeremia fest zum Kanon der heiligen Schriften gehören muss?

Trotz dieser schwerwiegenden Argumente (die bei Helms leider kaum erwähnt, geschweige denn diskutiert werden) steht heute für die „fast ausnahmslose Mehrheit der deutschen Gelehrten[26] fest, dass das Danielbuch entgegen allen antiken Bekundungen nicht von Daniel sondern zumindest in wichtigen Teilen aus dem 2. Jahrhundert vor Christus stammt. Woran liegt das? Entscheidend dafür ist für Gerhard Maier die „schlichte Frage, ob Kapitel 11 echte Zukunftsweissagung sein kann. Diese weltanschauliche Frage, ob Gott einem Propheten eine so genaue Zukunftsvoraussage an die Hand gibt, spaltet die Forscher und entscheidet letztlich auch über die Datierung des Danielbuches.[27] Anders ausgedrückt: Das wunderkritische Paradigma ist entscheidend für die Verschiebung der Abfassungszeit des Danielbuchs um mehrere Jahrhunderte.

Die Konsequenzen für die Auslegung des Daniel-Buchs sind weitreichend. Schließlich sind Verfasser, Adressaten sowie die historischen und kulturellen Rahmenbedingungen im 2. Jahrhundert vor Christus völlig anders als in der exilischen Zeit Daniels. Außerdem wird mit der Behauptung, die angeblichen Vorhersagen wären erst nach den Ereignissen aufgeschrieben worden, eines der „zentralen Themen [des Daniel-Buchs] diskrediert“, denn die „Vorstellung, dass Gott seinen Knechten seine künftigen Ziele zeigt, gehört zu den Kernpunkten der Theologie des Buches.[28] Und nicht zuletzt verliert das Daniel-Buch seinen Hinweischarakter auf Jesus als den verheißenen Messias, der von der traditionellen Theologie ganz selbstverständlich angenommen worden war. Schließlich hat Jesus selbst seine bevorzugte Selbstbezeichnung „Menschensohn“ aus Daniel 7,13 entnommen. Trotzdem meint Dieter Zeller im WiBiLex, dass die Rede vom „Menschensohn“ in Daniel 7,13 nicht etwa vom Heiligen Geist sondern von „mythischen Vorstellungen“ inspiriert sei und möglicherweise für einen Engel oder das endzeitliche Israel stünde.[29]

Im Übrigen sei es eine „naive Annahme“, dass der historische Jesus sich wirklich mit dem danielischen Menschensohn identifiziert habe. Es sei schließlich „ohne weiteres einsichtig“, dass die in den Evangelien enthaltenen Voraussagen auf das Leiden des Menschensohns (z.B. Markus 8,31) „nicht auf den historischen Jesus zurückgeführt werden können.[30] Diese Vorhersagen seien vielmehr erst nachösterlich entwickelt und „in dessen irdisches Wirken zurückgetragen“ worden,[31] um „im Nachhinein das Ärgernis des Kreuzestodes, aber auch des Verrats durch Judas“ zu verarbeiten.[32] Auch hier wird das wunderkritische Paradigma deutlich. Und schon hier zeigen sich die weitreichenden Folgen auch für unser Jesusbild und für die Betrachtung der Evangelien, wie das folgende zweite Beispiel noch deutlicher macht:

Wurden die Evangelien vor oder nach der Zerstörung des Tempels verfasst?

Oder anders gefragt: Wie weit sind die Evangelien von den Geschehnissen entfernt und was bedeutet das für ihre Glaubwürdigkeit? Über die traditionelle Sichtweise schreibt Armin Baum: „Bei allen Divergenzen im Einzelnen stimmen sämtliche altkirchlichen Angaben darin überein, dass die Entstehung und Verbreitung der drei synoptischen Evangelien im zeitlichen Umfeld der römischen Wirksamkeit und des römischen Martyriums von Paulus und Petrus erfolgte, also in den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts. Die drei synoptischen Evangelien wurden somit an den Übergang von der Generation der Schüler und Augenzeugen Jesu (30-70 n.Chr.) zur zweiten christlichen Generation datiert.[33]

Zur heutigen Situation schreibt Christfried Böttrich im WiBiLex: „Die Datierung des Lukasevangeliums in die Zeit um 90 n.Chr. beruht auf einem breiten Konsens. Von der Zeit der Augenzeugen trennt den Autor schon ein längerer Traditionsprozess.[34] Gemäß dem Theologen Andreas Lindemann wird die frühere Überzeugung, dass in den Evangelien Augenzeugen das Leben Jesu verlässlich darstellen, seit Jahrzehnten von keinem ernst zu nehmenden Exegeten mehr behauptet.[35]

Welche Indizien haben dazu geführt, dass die traditionelle Sichtweise zur Datierung der Evangelien und zu ihrer Eigenschaft als Augenzeugenberichte heute praktisch durchgängig verworfen wird? Armin Baum schreibt: Aus dem Text der Evangelien selbst lassen sich nur vage Hinweise zu ihrer Entstehungszeit gewinnen. Dass die Apostelgeschichte abrupt mit dem zweijährigen Romaufenthalt des Paulus (60-62 n.Chr.) endet, passt gut zu der Annahme, das lukanische Doppelwerk sei bald darauf veröffentlicht worden.“ Beeindruckend ist darüber hinaus, dass alle vier Evangelien (ganz anders als die Apokryphen) zahlreiche Merkmale authentischer Augenzeugenberichte aufweisen wie z.B. detaillierte und stimmige Kenntnisse von Orten, Namen, Gebräuchen und weiteren Hintergrundinformationen.[36]

Aber was hat dann zu diesem Umschwung geführt? Armin Baum schreibt: „Als wichtigstes Indiz [für die Datierung der Evangelien] gilt die Endzeitrede Jesu (Mt 24-25 par Mk 13 par Lk 21) mit ihren Aussagen über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Stadt Jerusalem.[37] Hier kommt wieder das wunderkritische Paradigma ins Spiel. Wohlgemerkt wird in keinem der Evangelien etwas über die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. berichtet, im Gegenteil: Das Neue Testament zeichnet sich in Bezug auf dieses für alle Juden so traumatische Ereignis durch ein geradezu dröhnendes Schweigen aus (so wie es erstaunlicherweise auch zum Tod von Paulus, Petrus und dem Herrenbruder Jakobus kein Wort verliert). Die Endzeitrede Jesu enthält lediglich eine Vorhersage dieses Ereignisses, ohne die Erfüllung auch nur zu erwähnen. Deshalb stehen die Bibelforscher genau wie beim Buch Daniel auch hier vor einer grundlegenden Alternative, die Armin Baum so formuliert: Wer es für ausgeschlossen hält, dass Gott, der die Zukunft kennt, seinen Boten gelegentlich einen kleinen Ausschnitt der Zukunft enthüllt, wird die synoptischen Evangelien frühestens 70 n.Chr. datieren. Wer (wie ich) vom Gottesbild des Alten und Neuen Testaments bzw. von einem offenen Gottesbild ausgeht, wird dem von Irenäus mitgeteilten Zeitfenster, den 60er Jahren des 1. Jahrhunderts, den Vorzug geben.[38]

Während der Theologe David Friedrich Strauß im 19. Jahrhundert immerhin noch diskutierte, ob es sich bei Jesu Endzeitrede um eine echte prophetische Vorhersage, eine natürliche Vorahnung oder eine ihm nachträglich in den Mund gelegte und somit nur angebliche Vorhersage („vaticinium ex eventum“[39]) handelte (er entschied sich aufgrund seines wunderkritischen Paradigmas für Letzteres)[40], wird im WiBiLex-Artikel von Dominik Helms die supranaturalistische Variante nicht einmal mehr erwähnt.[41] Das wunderkritische Paradigma spielt also wie beim Buch Daniel auch bei der Datierung der Evangelien eine entscheidende Rolle.

Was wir dabei noch einmal unbedingt festhalten müssen ist: Niemand kann beweisen, dass es damals keine vorhersehende Prophetie gab. Eine von vornherein („a priori“) getroffene Entscheidung, prinzipiell nicht mit Wundern und mit Offenbarung zu rechnen, hat vielmehr philosophischen und dogmatischen Charakter. Diese Entscheidung hat weitreichende Folgen:

Welche Konsequenzen hat das wunderkritische Paradigma?

Die Tabelle 1 zeigt: Ein prinzipieller Ausschluss von Offenbarung und Wundern in der bibelwissenschaftlichen Methodik hat eine starke Verengung der Sicht auf die Bibel zur Folge. Das führt zu schwerwiegenden Verlusten:

  • Der Verlust des biblischen Selbstanspruchs: Die Bibel behauptet von sich selbst an vielen Stellen, von Gottes Geist inspiriert zu sein und einen zeitüber­greifenden Wahrheitsanspruch zu besitzen (z.B. 2. Timotheus 3, 16). Wer aber prinzi­piell nicht mit realen Offen­barungsereignissen rechnet, kann auch diesen biblischen Selbst­anspruch nicht in Betracht ziehen. Er muss die Bibel zwangsläufig als Menschenwort mit dem Denk- und Erkenntnishori­zont der damaligen Zeit ansehen.
  • Der Verlust der historischen Glaubwürdigkeit: Daniel war ein Augenzeuge der im Buch Daniel berichteten Ereignisse. Ein nachexilischer Autor hingegen konnte sich nur noch auf Überlieferungen stützen, die über Generationen weitergegeben und eingefärbt wurden. Der Text verliert somit seine Nähe zu den Geschehnissen und die besondere Glaubwürdigkeit eines Augenzeugenberichts. Das gilt auch für die Evangelien, wenn sie wegen der in ihnen enthaltenen Vorhersagen auf die Zeit nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. datiert werden müssen und man ihnen deshalb unterstellt, dass die Berichte durch nachösterliche Legenden- und Gemeindebildung angereichert und gefärbt wurden. Die Annahme nachträglich eingefügter Prophetien legt zudem nahe, dass die Autoren sich viel kreative Freiheit beim Schreiben ihrer Texte herausnahmen. Auch die enthaltenen Wunderberichte können unter dem wunderkritischen Paradigma nicht als„historisch“ im wissenschaftlichen Sinn angese­hen werden – auch dann nicht, wenn sie historische und geografische An­gaben enthalten und innerbiblisch historisch ernst genommen werden. Stattdessen muss dem Autor prinzipiell unterstellt werden, dass er die Ereignisse entweder falsch dargestellt hat oder dass es ihm – unabhängig von den Anzeichen im Text – nicht um die Darstellung eines historischen Ereignisses gegangen sei.
  • Der Verlust der ursprünglichen Aussageabsicht: Mit der Verschiebung der Abfassungszeit ändert sich auch die von der Autorenschaft be­absichtigte Aussage des Textes, weil der spätere Autor andere Adressaten vor Augen hat und vor dem Hintergrund eines völlig anderen politischen und kulturellen Umfelds schreibt. Unter dem wunderkritischen Paradigma wird die Aussageabsicht zudem immer auf das natürlich-menschlich Denkbare reduziert. Gewollte Vorhersagen zukünftiger Ereignisse oder ein Christuszeugnis des Alten Testaments (wie von Jesus z.B. in Lukas 24,27 behauptet) ist im wunderkritischen Paradigma ebenso wenig denkbar wie eine gottgelenkte „Heilsgeschichte“ oder ein zeit- und kulturübergreifender Wahrheitsanspruch in ethischen Fragen (also z.B. eine „Schöpfungsordnung“).
  • Der Verlust innerbiblischer Begründungszusammenhänge: Eingetroffene Vorhersagen werden in der Bibel häufig als Zeichen göttlicher Autorität verwendet (z.B. Jesaja 41,21-29; 42,9; 46,9-10). Das Neue Testament untermauert die Messianität Jesu an zahlreichen Stellen mit eingetroffenen Vor­hersagen. Ausleger, die nicht mit vorhersagender Prophetie rechnen können, sind gezwungen, dieser bibeleigenen Argumentation den Boden zu ent­ziehen, indem eingetroffene Vorhersagen entweder als nachträglich eingefügt gelten müssen oder indem vermutet werden muss, dass Erzählberich­te (wie z.B. Jesu Geburt in Bethlehem) an biblische Vorhersagen (wie z.B. Micha 5,1)  angepasst wur­den.[42] Wer nicht mit historischen Wundern rechnet, kann zudem der zentralen Argumentation des Johannesevangeliums nicht folgen, dass die Wunder „Zeichen“ für die Gottessohnschaft Jesu seien (Johannes 20, 30+31).
  • Besonders gravierend für die Kirche Jesu ist der Umstand, dass mit dem Verlust der Augenzeugenqualität der Evangelien auch unser Jesusbild unsicher wird. Die Frage nach dem historischen Jesus ist ohne Zweifel höchst bedeutsam für den christlichen Glauben.[43] Worauf soll sich die Lehre der Kirche beziehen und woran soll sich der Glaube orientieren, wenn nicht klar ist, was der Herr der Kirche wirklich verkündigt und vorgelebt hat?

Da viele theologische Aussagen der Bibel auf der Geschichtlichkeit von Wundern und Vorhersagen aufbauen[44], hat der Verlust der historischen Glaubwürdigkeit zudem weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis der biblischen Botschaften. Das reicht hinein bis in die allerzentralsten Glaubensaussagen des Christentums: Wer in seiner Forschungsarbeit nicht mit Wundern und Offenbarung rechnen kann, muss auch von der Menschlichkeit Jesu von Nazareth ausgehen – und kann deshalb im Kreuzestod nur schwer ein stellvertretendes Opfer sehen, das dann ja ein grausames Menschenopfer wäre. Eine Auslegungsmethodik, die nicht mit Wundern und Offenbarung rechnen kann, mündet deshalb – konsequent zu Ende gedacht – in ein anderes Evangelium.

Drei verschiedene Grundhaltungen

Im Ergebnis zeigt sich, dass die Bibelwissenschaft auf mindestens drei verschiedenen grundlegenden Paradigmen aufbauen kann:

  • Im geschlossenen wunderkritischen Paradigma wird zumindest in der bibelwissenschaftlichen Praxis grundsätzlich nicht mit Wundern und Offenbarungsereignissen im historischen Sinn gerechnet.
  • Ein offenes Paradigma hält Wunder und Offenbarungen für möglich. Somit kann anhand weiterer Indizien offen geprüft und ein Wahrscheinlichkeitsurteil darüber gefällt werden, inwieweit bibeleigene Aussagen zu Autor, Datierung, Adressaten, Gattung usw. zutreffen oder nicht. Dies kann in einer eher vertrauensvollen oder eher skeptischen Haltung erfolgen.
  • Das bibeleigene Paradigma sieht in den biblischen Texten (nach textkritischer Klärung[45]) ein vom Heiligen Geist inspiriertes Menschen- und Gotteswort und begegnet ihnen deshalb grundsätzlich in einer Haltung der Demut, der Ehrfurcht und des Vertrauens statt in einer Haltung des Zweifels und der Kritik. Bei aller Hochschätzung der Ver­nunft wird unter diesem Paradigma immer die Schrift und die von der großen Auslegungsgemeinschaft der Kirche daraus entnommenen Aussagen (Bekenntnisse) das letzte Wort haben (Sola Scriptura). Scheinbare Widersprüche in der Bibel werden dann nicht als Ausdruck der Zeitbedingtheit biblischer Aussagen und eines sich wandelnden Gottes- und Menschenbilds angesehen. Die Bibel wird vielmehr als eine sich selbst auslegende Einheit begriffen, in der es keine sich einander ausschließende Gegensätze sondern sich gegenseitig ergänzende Pole und innerbiblisch begründete Entwicklungen in der Heilsgeschichte gibt.

Ausgrenzung statt Wettbewerb

Wenn derart verschiedene Ansätze zum Verstehen eines Forschungsgegenstands im Raum stehen, dann sollte es normalerweise einen wissenschaftlichen Wettbewerb geben, in dem geprüft und verglichen wir­d, welcher Denkansatz bessere, schlüssigere Ergebnisse liefert und dem Forschungsgegenstand somit offenkundig besser gerecht wird, um daraus Rückschlüsse auf das Wesen des Forschungs­gegenstands ziehen zu können. In der Praxis geschieht das aber leider nicht. Die Realität wird von Uwe Zerbst vielmehr so beschrieben: Das jeweils andere Paradigma sehen sie [also Vertreter eines bestimmten Paradigmas] in der Regel nicht als gleichberechtigte Wissenschaft an, so dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung fast nur im Rahmen des jeweils eigenen Paradigmas stattfindet.[46]

Das trifft zumindest im deutschsprachigen Raum sowohl in den Bibelwissenschaften als auch in der biologischen Ursprungsforschung zu. In beiden Feldern ist die Grundannahme, dass in der wissenschaftlichen Arbeit grundsätzlich nicht mit göttlichem Wirken gerechnet werden darf, so vorherr­schend, dass andere Ansätze nicht als wissenschaftlich anerkannt oder ernst genommen werden. Die Gleichsetzung von „Wissenschaft“ mit der Selbstbeschränkung auf natürliche Ursachen gilt vielfach sogar als derart selbstverständlicher „Common Sense“ wissenschaftlichen Arbeitens, dass die dahinter stehende philosophische Grundentscheidung kaum noch thematisiert wird und auch vielen Bibelwissenschaftlern nur noch wenig bewusst ist. Zerbst schreibt treffend: Ein neu einsteigender Wissenschaftler wächst „von Beginn an in das Paradigma „hinein“, das er – „wenn überhaupt – zumeist nur unkritisch reflektiert.[47]

Entsprechend gibt es heute an den deutschsprachigen theologischen Fakultäten fast keine evangelikalen Professoren mehr.[48] Der evangelikale Theologe Christoph Raedel berichtet gar von einer „Ekelschranke“ in Bezug auf evangelikale Theolo­gie. Auch im WiBiLex werden die „schärfsten Kritiker“ des wunderkritischen Paradigmas nur außerhalb der Hochschulen verortet, und zwar in der pietistischen Bewegung“, in „fundamentalistischen Strömungen“, in „evangelikalen landeskirchlichen und freikirchlichen Frömmigkeitsformen in Württemberg, Baden, Oberhessen, im Siegerland, in Wittgenstein, im Ruhrgebiet, in Ostwestfalen, der Lüneburger Heide bis hin nach Bremen“. Sie werden als Menschen charakterisiert, die „fröhlich den Gottesdienst [feiern] mit über Beamer an die Wand projizierten Liedern sowie Bibelsprüchen“, „zugleich fest an die supranaturale „Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments“ glauben“ und mit dem „logischen Widerspruch“ zu ihrer wunderfreien Alltagserfahrung „existenziell gut leben zu können glauben“, die aber „angesichts des Paradoxes sensibel sind“ – weshalb auch das Gesprächsklima verbesserungsbedürftig sei.[49]

Ein spaltendes Narrativ

Das Gesprächsklima ist in der Tat problematisch, aber nicht nur wegen den angeblich sensiblen Evangelikalen, sondern auch wegen der zunehmenden Verbreitung eines völlig falschen und spaltenden Narrativs, das sich in etwa so wie in Tabelle 2 beschreiben lässt.

Dieses Narrativ transportiert einen sachlich völlig unangebrachten[50] akademischen Überlegen­heitsgestus, der viele Evangelikale verunsi­chert und bei Nichtevangelikalen die Sorge fördert, dass das Christentum untergehen wird, wenn es sich die­ser „Wissenschaftlichkeit“ verschließt und stattdessen in einer als pein­lich empfundenen Naivität und Wissenschaftsfeindlichkeit verharrt. Infolgedessen werden Evangelikale nicht etwa als interessante Gesprächspartner auf Augen­höhe sondern als Gefahr für das Ansehen der theologischen Ausbildungsstätten und der Kirche empfunden. Wo immer dieses Narrativ Fuß fasst, treibt es deshalb zwangsläufig einen tiefen Keil in Gruppen und Gemeinden.

Das gilt leider zunehmend auch für den Bereich der Freikirchen und der Evangelikalen, wie der wachsende Einfluss der Internetmediathek „Worthaus“ beispielhaft zeigt.[51] Auch dort klingt das abwertende Narrativ über evangelikale Theologie immer wieder an, während zugleich die universitäre Bibelwissenschaft als besonders vorurteilsfrei dargestellt wird.[52]

Evangelikale Theologen: Christen brauchen eure Ermutigung!

Umso dringender hat die evangelikale Theologie heute die extrem wichtige Aufgabe, selbst­bewusst und profiliert öffentlich zu ihren eigenen Grundlagen zu stehen. Sie darf und muss die dog­matischen und philosophischen (und somit aus gutem Grund anzweifelbaren) Grundlagen der wunderkritischen Theologie of­fenlegen. Sie muss zeigen: Es geht hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Glaube und Wissenschaft sondern um die Konkurrenz verschiedener Paradigmen – wobei das wunderkritische Paradigma grundsätzlich nicht zum biblischen Selbstanspruch passt. Sie darf und muss darauf hinweisen, dass die Anwendung des wunderkritischen Paradigmas keinen sich immer mehr verfestigenden neuen Blick auf die Bibel hervorgebracht hat sondern im Gegenteil „eine schier unübersehbare Fülle unterschiedlicher Hypothesen zur Textentstehung“, was „die Spannung zwischen der Anwendung vermeintlich objektiver Methoden und dem subjektiven Urteil des jeweiligen Auslegers“ eindrücklich aufzeigt[53]. Die wunderkritisch geprägte Bibelwissenschaft ist also offenkundig gar nicht so objektiv, wie es oft dargestellt wird.

Wenn es tatsächlich stimmt, dass die biblischen Texte einen Offenbarungscharakter haben (wofür sich zahlreiche gute Sachargumente anführen lassen[54]), dann muss eine Theologie, die aus Prinzip nicht mit Wundern und Offenbarung rechnet, natürlich zwangsläufig zu völlig falschen Ergebnissen führen, weil ihre Methodik dann dem Forschungs­gegenstand nicht gerecht wird. Es ist deshalb weder unwissenschaftlich, prämodern, dogmatisch verengt, intellektuell unredlich, naiv oder weltfremd sondern im Gegenteil vernünftig und (wissenschaftlich) gut begründbar, am Offenbarungs­charakter der Bibel, an ihrer Botschaft von den historisch geschehenen Wundern und an der Realität von vorher­sagender Prophetie festzuhalten, die Bibel in ihrem Selbstanspruch ernst zu nehmen und sie als Got­tes Wort und Maßstab der Kirche hochzuhalten.


Danke an Dr. Berthold Schwarz, Dr. Stefan Felber (www.stefan-felber.ch), Martin P. Grünholz, Dr. Markus Widenmeyer sowie Paul Bruderer für alle Anregungen, Hinweise und Korrekturen zu diesem Artikel.

[1] Uwe Zerbst: „Die Bibel vor der Wahrheitsfrage“, S. 16

[2] Ausführlich erläutert in Markus Till: „Außerwissenschaftliche Vorannahmen – Denkvoraussetzungen von Wissenschaftlern und Theologen“, AiGG-Blog 2020

[3] Popper, K.R. (1934): Logik der Forschung. Zitiert bei Uwe Zerbst: „Die Bibel vor der Wahrheitsfrage“, S. 13

[4] Die wachsenden Herausforderungen in der Evolutionsbiologie werden geschildert in Markus Till: „Evolution – Ein Welterklärungsmodell am Abgrund?“ AiGG-Blog 2018

[5] Armin D. Baum: „Die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft“, in: „Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh) Band 3, 2019, S. 86

[6] „In der christlichen Theologie nahm man bis weit in die Neuzeit hinein mehr oder weniger einhellig an, dass die neutestamentlichen Texte auch an den Stellen historisch zutreffend sind, wo sie von Wundern Jesu oder seiner Auferweckung von den Toten berichten. Die Bereitschaft, auch Wunder als historische Ereignisse anzuerkennen, ergab sich aus dem jüdisch-christlichen Gottesbild, wie es bereits in den ersten Abschnitten der Bibel formuliert wird (Gen 1,1-2,3) und das Alte und Neue Testament durchzieht (Ex 20,11; Neh 9,6; Ps 146,5-6; Jes 40,26 u. 6.). Warum sollte der Gott, der Himmel und Erde samt der in ihnen herrschenden Naturgesetze geschaffen hat, diese nicht zu besonderen Gelegenheiten durch ein übernatürliches Eingreifen überboten haben?Armin D. Baum: „Die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft“, in: „Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh) Band 3, 2019, S. 80

[7] So bestätigt auch Gerhard Karner im WiBiLex: Grundlegend für [das altorientalische Wirklichkeitsverständnis] … ist die Wahrnehmung der Welt als von den Göttern geschaffen und geordnet, und es war selbstverständlich, dass die Götter jederzeit in den Lauf der Welt eingreifen konnten. Das alte Israel bildete hierin keine Ausnahme. Nach alttestamentlicher Darstellung hat Gott die Welt geschaffen und geordnet (Gen 1,1-2,4a; Ps 148,1-6), und es ist selbstverständlich, dass Gott jederzeit in den Lauf der Welt eingreifen kann.“ In: „Wunder / Wundergeschichten (AT)“, WiBiLex 2014, S. 1

[8] Der Begriff „historisch-kritische-Methode“ ist doppeldeutig: „Im 19. Jahrhundert ging man in der Theologie dazu über, dem Wort ,,Kritik“ eine zusätzliche Bedeutung zu verleihen und mit ihm auch das philosophische Vorverständnis zu bezeichnen, mit dem man die biblischen Schriften untersuchte. „Kritisch“ nannte man jetzt auch eine Exegese, die die biblischen Wunder prinzipiell nicht mehr als historisch anerkannte. Eine Bibelauslegung, die die Auferweckung Jesu als historisches Ereignis in Raum und Zeit gelten ließ, nannte man „vorkritisch“. Da sich diese weltanschauliche Kritik auf historische Aussagen bezog, verband man das Adjektiv „kritisch“ auch hier mit dem Adjektiv ,,historisch“ und sprach von ,,historisch-kritischer“ Forschung bzw. der ,,historisch-kritischen“ Methode. Eine historisch-kritische Methode in diesem Sinn beinhaltet die grundsätzliche Bestreitung der übernatürlichen Aussagen der biblischen Texte. … Der Ausdruck „historisch-kritische Methode“ hat somit zwei unterschiedliche Bedeutungen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Einerseits bedeutet „kritisch“ schlicht „wissenschaftlich“ und gemeint ist eine „historisch-wissenschaftliche Methode“, die keine Vorentscheidung über die Möglichkeit übernatürlicher Handlungen Gottes einschließt und insofern weltanschaulich offen ist. Andererseits bedeutet „kritisch in einem weltanschaulichen Sinn „wunderkritisch“ und gedacht ist an eine „historisch-wunderkritische Methode“, die ein übernatürliches Handeln Gottes von Anfang an ausschließt.“ Armin D. Baum: „Die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft“, in: „Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh) Band 3, 2019, S. 60

[9] In seinem Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie“ stellte Ernst Troeltsch dar, dass es nur Wahrscheinlichkeitsurteile statt absoluter Aussagen geben könne („Kritik“ statt „Autorität“), dass Wunder prinzipiell unmöglich sind („Analogie“ statt „Supranaturalismus“) und dass es keine von der Profangeschichte unterscheidbare Heilsgeschichte geben könne („Korrelation“ statt „Separation“). Ausführlicher erläutert in Armin D. Baum: „Die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft“, in: „Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh) Band 3, 2019, S. 81 ff.

[10] „Bultmanns wesentliches Argument ist mithin alltagsorientiert: Der „moderne Mensch“ nimmt in seinem Alltag an der durch die experimentelle Methode geprägten Kultur Teil. Supranaturale Annahmen im religiösen Bereich produzieren daher einen logischen Widerspruch, der existenziell nicht zumutbar ist.“ Martin Pöttner: „Entmythologisierung (NT)“, WiBiLex 2014, S. 2

[11] Rudolf Bultmann: „Ist voraussetzungslose Exegese möglich?“, 1957, Theologische Zeitschrift Basel, S. 411ff.

[12] So äußert z.B. Prof. Thorsten Dietz: „Ich glaube, historische Wissenschaft kann nur so funktionieren, dass Christen und Atheisten und Humanisten und UFO-Gläubige und Sektierer und Menschen, die an sich selbst glauben und alle im Grunde sagen: Wir einigen uns in der historischen Wissenschaft darauf: Wir akzeptieren nur allgemein einsichtige Evidenz. … DAS ist der Punkt, das hat mit Atheismus überhaupt nichts zu tun. Es geht nur darum, dass alle mit denselben Karten spielen. Es wär komisch zu sagen: Alle spielen mit denselben Karten, die 32, die man vom Skat kennt, aber Christen kriegen noch einen Joker dazu, im Zweifelsfall spielen sie die Gotteskarte. … Da würde ich dann doch lieber sagen: Wir machen historisches Arbeiten als seriöse Wissenschaft. … Ich glaube, dass Gott da seine Finger im Spiel hat. Aber das ist ein Glaubensurteil und ich werde nicht anfangen, Gott jetzt zum Teil einer historisch greifbaren Welt zu machen.“ Im Worthaus-Vortrag „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ vom 11.6.2019, ab 26:21

[13] „Wenn ein Universitätsprofessor zu Jesus und Wundern befragt wird, steht da sofort ein Elefant im Raum, nämlich der Elefant der Wunderkritik, der Aufklärung und des Rationalismus. Der Elefant heißt: Es kann keine Wunder geben, auch nicht bei Jesus, weil es nicht vernünftig ist. … In den letzten Jahrzehnten breiteten sich die Populationen dieser Elefantenrasse nicht mehr aus. Aber es finden sich immer noch große Herden vor allem an den Universitäten, gerade auch in theologischen Fakultäten. Viele angehende Pfarrer oder auch heutige Pfarrer, Theologiestudenten, Religionslehrer wurden von diesem Rüsseltier stark beeindruckt, zum Teil für ihr ganzes Leben und ihre ganze Theologie.“ Peter Wick im Worthaus-Vortrag „Das Mys­te­ri­öse – Von der rationalen Wunderkritik über den postmodernen Wunderglauben zurück zu Jesus“ vom 9.6.2019, ab 2:55

[14] Armin D. Baum: „Die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft“, in: „Biblisch erneuerte Theologie. Jahrbuch für Theologische Studien (BeTh) Ban d 3, 2019, S. 80

[15] Als Beispiele nennt er die katholischen Neutestamentler Rudolf Pesch und Joseph Fitzmyer, die sich zwar der offiziellen Lehre der katholischen Kirche anschließen, dass „weltanschauliche Vorentscheidungen darüber, was möglich oder nicht möglich sei, … keine Kriterien historischen Urteils sind“, aber dann doch die Evangelien auf die Zeit nach 70 n.Chr. datieren aufgrund einiger detaillierter Vorhersagen in den Evangelien, die sie für nachträglich eingefügt halten. In Armin D. Baum, Einleitung in das Neue Testament, S. 881 ff.

[16] So schreibt Dominik Helms: „Das Daniel-Buch verfügt über erstaunlich präzise Kenntnis der wesentlichen geschichtlichen Vorgänge von der frühen hellenistischen Zeit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Makkabäerzeit, kurz vor dem Tod des Antiochus IV. Epiphanes.Dominik Helms: „Daniel / Danielbuch“, WiBiLex 2018, S. 16

[17] Die Entstehung des Buches fällt in die Zeit zwischen der berichteten Entweihung des Tempels in Jerusalem durch Antiochus IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.; vgl. Dan 11,31) und der Wiederaufnahme des jüdischen Kultes nach der Reinigung des Tempels durch die Makkabäer im Jahr 164 v. Chr.“ Dominik Helms: „Daniel / Danielbuch“, WiBiLex 2018, S. 16

[18] Ebd., S. 16

[19] Gerhard Maier nennt zahlreiche Schriften aus dem 1. und 2. Jahrhundert vor Christus wie die Makkabäerbücher, die Weisheit Salomos, Henoch, Baruch sowie Handschriften aus Qumran. Die gleiche Überzeugung vertraten der Geschichtsschreiber Josephus Flavius (der sogar davon berichtet, dass Alexander dem Großen das Danielbuch gezeigt worden sei und er sich darin selbst erkannte), der Talmud, die Autoren des Neuen Testaments, zahlreiche frühe Kirchenlehrer wie Origenes, Augustin und Hieronymus sowie die Reformatoren Luther und Calvin (In: „Der Prophet Daniel“, Wuppertal, 3. Auflage 1990, S. 22ff.).

[20] Stephanie von Dobbeler: „Makkabäerbücher 1-4“, WiBiLex 2006, S. 5

[21] Gerhard Maier: „Der Prophet Daniel“, Wuppertal, 3. Aufl. 1990, S. 23

[22] Gerhard Maier: „Der Prophet Daniel“, Wuppertal, 3. Aufl. 1990, S. 43

[23] Ebd., S. 50

[24] Armin Schmitt datiert eines der 8 in Qumran gefundenen Schriftfragmente des Buchs Daniel auf das Ende des 2. Jahrhunderts vor Christus (In: „Die Danieltexte aus Qumran und der masoretische Text (M)“, im Buch „Der Gegenwart verpflichtet“, Christian Wagner (Hrsg.), De Gruyter, 2000, S. 124). Dominik Helms schreibt zur Übersetzung des Daniel-Buchs ins Griechische: Die Datierung der Übersetzung muss unsicher bleiben, es ist jedoch an die Mitte des 2. Jh.s v. Chr. und damit nur wenige Jahrzehnte nach dem Abschluss des hebräisch-aramäischen Daniel-Buches … zu denken.“ In: „Daniel / Danielbuch“, WiBiLex 2018, S. 13

[25] Gerhard Maier: „Der Prophet Daniel“, Wuppertal, 3. Aufl. 1990, S. 52

[26] Ebd., S. 50

[27] Ebd, S. 56

[28] Ebd., S. 57

[29] Dieter Zeller: „Menschensohn“, WiBiLex 2011, S. 1+2

[30] Dieter Zeller: „Menschensohn“, WiBiLex 2011, S. 5

[31] Ebd., S. 8

[32] Ebd., S. 5

[33] Armin D. Baum: „Einleitung in das Neue Testament“, Witten, 2018, S. 913

[34] Christfried Böttrich: „Lukasevangelium / Evangelium nach Lukas“, WiBiLex 2014, S. 3

[35] „Ist Jesus dem Glauben im Weg?“ SPIEGEL-Interview mit Prof. Andreas Lindemann vom 13.12.1999

[36] Eindrücklich zusammengefasst in Peter J. Williams: „glaubwürdig – Können wir den Evangelien vertrauen?“ cvmd 2020; Einige Aussagen Williams dokumentiert auch der AiGG-Artikel „Die Berichte des NT weisen alle Eigenschaften von authentischen Augenzeugenberichten auf“

[37] Armin Baum: „Einleitung in das Neue Testament“, Witten, 2018, S. 867 + 913

[38] Armin D. Baum: „Einleitung in das Neue Testament“, Witten, 2018, S. 914

[39] „Der Begriff „vaticinium ex eventu“ „Weissagung vom Ausgang her“ bezeichnet die fingierte Weissagung eines bereits eingetretenen Ereignisses.“ Dominik Helms: „Vaticinium ex eventu“, WiBiLex 2019, S. 1

[40] Armin D. Baum: „Einleitung in das Neue Testament“, Witten, 2018, S. 879

[41]Während manche Exegeten davon ausgehen, dass sich Jesu Rede von der Zerstörung des Tempels der gegenwärtigen Kriegserfahrung im jüdischen Krieg verdankt, in der mit einer Zerstörung des Tempels zu rechnen war, und daher einen echten Ausblick in die Zukunft annehmen, betrachten andere Ausleger die Aussagen als Rückblick auf die bereits erfolgte Zerstörung des Tempels und damit als vaticinium ex eventu.“ Dominik Helms: „Vaticinium ex eventu“, WiBiLex 2019, S. 4

[42]Der Fokus der Darstellung des Lebens Jesu nach Lukas ist also das davidische Umfeld der Herkunft Jesu; deswegen wird seine Geburt in Davids Heimatstadt situiert, ohne dass die Bethlehem-Verheißung Mi5,1 explizit eingespielt würde.“ Gabriele Faßbeck, Barbara Schmitz: „Bethlehem“, WiBiLex 2007/2011, S. 5+6

[43]Der Christ, der in dem Zeugnis der Apostel die Botschaft vom auferstandenen Herrn Jesus Christus vernimmt und ihr Glauben schenkt, begegnet in dieser Botschaft der Behauptung, dass der auferstandene Herr derselbe ist wie der Mensch von Nazareth, mit dem ein Teil der Auferstehungszeugen während seiner irdischen Wirksamkeit zusammen gewesen war. Der Glaube ist darum, wenn er sich über sein Wesen Rechenschaft ablegen, d.h. theologisch nachdenken will, an der Frage brennend interessiert, ob und inwieweit zwischen dem Bild, das er von Jesus Christus aufgrund der apostolischen Verkündigung hat, und der geschichtlichen Wirklichkeit dieses Jesus, auf den sich der Glaube zurückbezieht, eine Übereinstimmung besteht oder nicht. Die Person und die Verkündigung Jesu sind ja die Voraussetzung für das Bekenntnis zum Auferstandenen und für die Predigt der Gemeinde.“ Werner Georg Kümmel: „Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen“, Göttingen 1987, 5. Aufl., S. 22/23

[44] Ausführlich erläutert in Markus Till: „Streit um das biblische Geschichtsverständnis“, AiGG-Blog 2018

[45] Die „Textkritik“ versucht, die Urschrift des biblischen Textes möglichst genau zu rekonstruieren.

[46] Uwe Zerbst: „Die Bibel vor der Wahrheitsfrage“, S. 17

[47] Uwe Zerbst: „Die Bibel vor der Wahrheitsfrage“, S. 16/17

[48] Dazu 2 Schlaglichter: Siegfried Zimmer berichtet im Hossa Talk: „An den Universitäten gibt es so gut wie keine evangelikalen Theologen. Ich kenne selber vielleicht 2 oder 3 von 2000.“ (ab 23.32). 2020 hat das komplette Kollegium der theologischen Fakultät in Tübingen gemeinsam einen offenen Brief unterzeichnet, in dem die evangelikale Position, dass praktizierte Homosexualität nicht mit dem biblischen Befund vereinbar ist, als „diskriminierend“ bezeichnet wurde. Es sei „unerträglich, wenn Ansichten, die eine solche Diskriminierung unterstützen, bis heute in der evangelischen Kirche vertreten werden.“

[49] Martin Pöttner: „Entmythologisierung (NT)“, WiBiLex 2014, S. 9+10

[50] In der Übersichtsdarstellung „Historische Kritik in den Bibelwissenschaften: Anspruch und Wirklichkeit“ fasst Prof. Stefan Felber zusammen, warum das Narrativ von der wissenschaftlichen Überlegenheit nicht überzeugen kann: Die unübersichtliche Hypothesenvielfalt entlarvt faktischen Subjektivismus statt Objektivität. Statt Neutralität dominiert ein Immanentismus, in dem Gottes Wirken methodisch ausgeschlossen wird. Statt einer offenen Suche nach Verstehen des biblischen Eigeninteresses kommen wesentliche Aussageabsichten (wie z.B. das Christuszeugnis des AT) grundsätzlich nicht in Frage. Die Geschichtlichkeit der biblischen Texte wird auf säkulare Historie reduziert, die göttliche Heilsgeschichte bleibt außen vor. Die Widersprüchlichkeit der Texte ist das vorausgesetzte Bild, von dem die sezierenden Methoden zehren. Im Ergebnis werden nicht etwa falsche Sicherheiten sondern das Wort Gottes insgesamt aufgegeben, so dass der Glaube nicht frei wird sondern selbstreferenziell. „Die Gemeinde hat dann nur sich selbst als Gegenüber, wird im strengen Sinne gott-los.“

[51] Siehe dazu Markus Till: „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“, AiGG Blog 2017

[52] Siehe die Erläuterungen zum Worthausvortrag „Die Nachfolge – Wie kann man heute an Jesus Christus glauben?“ von Thorsten Dietz in Markus Till: „Quo vadis Worthaus? Quo vadis Evangelikale Bewegung“, AiGG-Blog 2020

[53] Joachim Vette: „Bibelauslegung, historisch-kritische (AT), WiBiLex 2008, S. 9

[54] Siehe dazu Markus Till: „10 Gründe, warum es auch heute noch vernünftig ist, der Bibel zu vertrauen“, AiGG-Blog 2017