Wie bleiben wir Menschen mit Mission 2: Was ist das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen?

Wie konnte es zu der eingangs geschilderten einzigartigen Erfolgsgeschichte der Evangelikalen kommen? Thorsten Dietz nennt drei Elemente, die aus seiner Sicht entscheidend waren (S. 92 ff.):

  • Große Bejahung“ heißt: Evangelikale Frömmigkeit ist … laut und grell mit ihrer Zuspitzung: »Jesus liebt dich!« (S. 94) Mehr als eine allgemeine Zusage, dass da einer mit uns geht, bringen Evangelikale diese Liebe prägnant und klar zum Ausdruck mit der Geschichte Jesu, mit seinem Leiden, ja seinem Blut. (S. 95) Damit antworte der Evangelikalismus auf eine ungeheure Nachfrage nach der Botschaft, bedingungslos geliebt zu sein. (S. 93)
  • Evangelikale Frömmigkeit stiftet „Sinn“ durch das Bewusstsein,dass es so viel Wichtigeres, Größeres, Heiligeres als mein Ich und seine Launen gibt. (S. 96)
  • Evangelikalismus lebt von der Begeisterung und dem Zusammenhalt vieler Gemeinschaften … Sie sind immer schon gemeinschaftlich unterwegs, zusammengehalten von einer Mission, die sie als Botschaft, als Auftrag, als Vision ergreift und die sie ihrerseits entfalten, statt nur Teil einer vorwiegend professionell getragenen religiösen Versorgungsstruktur zu sein. (S. 97)

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Die Frage nach dem richtigen Erfolgsrezept für die Zukunft treibt – gerade vor dem Hintergrund rapide wachsender Austrittszahlen – auch die evangelische Kirche intensiv um. Deshalb versucht sie, Kirche und Kirchenmitgliedschaft wieder attraktiv machen. So betonte die EKD-Präses Anna-Nicole Heinrich jüngst in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Kirchenmitgliedschaft hat Mehrwert.“ Die württembergische Landeskirche macht gar Werbung mit „10 guten Gründen, in der Kirche zu sein“. Thorsten Dietz berichtet aber, dass Evangelikale mit einem ganz anderen Konzept erfolgreich sind:

Inzwischen denken viele darüber nach, wie Kirche wieder attraktiv werden kann. Nur: Jugendliche suchen keine attraktive Kirche. Evangelikale Mission setzt nie auf die Attraktivität von Gemeinde oder Kirche. Das entscheidende Ziel ist es, die Attraktivität Gottes sichtbar zu machen. Jesus ist faszinierend. Kirche ist insofern relevant, als sie Zugang zu dieser Wirklichkeit vermittelt. Dann kann sie auch Anteil daran gewinnen. (S. 374)

Anders ausgedrückt: Eine Kirche, die sich selbst ins Schaufenster stellt, wird scheitern. Kirche wird nur attraktiv, wenn sie sagt: It’s all about you, Jesus. (S. 94)

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Ist mit der „Großen Bejahung“, „Sinn“ und „Gemeinschaft“ wirklich der Erfolg der Evangelikalen erklärt? Ich glaube: Das wäre zu oberflächlich gedacht. In Kapitel 12 über evangelikale „Spiritualität“ schreibt Thorsten Dietz: Der missionarische Erfolg der Evangelikalen beruht nicht auf ihrer intellektuellen Brillanz oder ihrer tiefschürfenden Lehre. Er beruht darauf, dass sie eine Spiritualität anbieten, die begeisternd, alltagsnah und gemeinschaftsstiftend ist. … Zentral ist eine starke Bibelfrömmigkeit. … Ebenso wesentlich ist das (gemeinsame) Gebet. (S. 370/371)

Tatsächlich ist meine Erfahrung: Bibel und Gebet sind das wahre Kraftzentrum evangelikaler Frömmigkeit. Die evangelikale Bewegung ist im Kern eine Bibel- und Gebetsbewegung. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen ist letztlich… Gott! Evangelikale rechnen damit, dass Gott selbst durch sein heiliges Wort zu ihnen spricht. Sie rechnen damit, dass Gott ihr Gebet (er-)hört. Sie rechnen damit, dass der Heilige Geist sie erneuert und bevollmächtigt. Deshalb lesen sie in der Bibel. Deshalb beten sie. Deshalb werden sie gemeinsam mutig aktiv. „Bejahung“, Sinnstiftung und Gemeinschaft sind letztlich nur Ausflüsse ihrer durch Gebet und Bibellesen praktisch gelebten Gottesbeziehung. So erlebe ich das seit vielen Jahren.

Deshalb ist es schade, dass Thorsten Dietz sich in seinem Kapitel über evangelikale Spiritualität nicht auf Gebet und Bibel konzentriert, sondern sich vor allem mit Lobpreis befasst. So sehr ich Lobpreis persönlich schätze, so sehr glaube ich auch: Man kann den Erfolg der Evangelikalen nicht verstehen, ohne sich primär mit ihrer Gebets- und Bibellesepraxis zu befassen.

Der Erfolg der Evangelikalen beruht meines Erachtens sehr wohl gerade auch auf tiefschürfender Lehre, die aus diesem tiefen Bibelvertrauen resultiert. Meine evangelische Kirche leidet hingegen gerade darunter, dass Lehre und Predigt schnell zur dünnen Suppe wird, wenn die Distanz zur Bibel wächst. Auch im evangelikalen Umfeld ist meine Erfahrung: Wo das Bibellesen sich immer mehr auf Losungen reduziert und wo das Gebetsleben einschläft, da verdunstet auch die Leidenschaft, Ausstrahlung und Fruchtbarkeit. Da werden auch evangelikale Gemeinschaften trocken, oberflächlich und selbstbezogen.

Deshalb sollten alle, die vielleicht auch ein wenig neidvoll auf evangelikale Erfolge schauen, verstehen: Der evangelikale Kuchen (d.h. lebendige und wachsende Gemeinden) ist nicht zu haben ohne die beiden wichtigsten evangelikalen Grundzutaten: Das feste Vertrauen auf Gottes lebendiges und kraftvolles Wort. Und die geistgewirkte Gottesbegegnung im Gebet.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wo suchen und erwarten wir in erster Linie die dringend notwendigen Erneuerungskräfte für die schwächelnde Kirche in Deutschland? In neuen Ideen, besseren Konzepten, mehr Attraktivität oder größere Nähe zur Gesellschaft? Oder erwarten wir unsere Hilfe in erster Linie von Gott, der seiner Kirche begegnet durch sein Wort und im Gebet? Wollen wir unseren Fokus darauf richten, IHN zu suchen und im Kern weiter eine Bibel- und Gebetsbewegung zu sein?

Weiterführend dazu:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 3: Haben die Evangelikalen ein Fundamentalismusproblem?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

1 Gedanke zu „Wie bleiben wir Menschen mit Mission 2: Was ist das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen?“

  1. Hallo!

    Römer 9: “22 Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, 23 auf dass er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.”

    Wenn Gott unter den aktuell Lebenden eher “Gefäße des Zorns” vorherbestimmt hat, dann müssen die Kirchen entweder schrumpfen oder viele Ungläubige als Mitglieder haben. Die Frage, warum Kirchen wachsen oder schrumpfen, sollte daher nicht primär mit menschlichen Aktivitäten beantwortet werden. Bei den “Gefäßen des Zorns” werden auch Bibel und Gebet nicht helfen.

    Alles Gute!

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