Die Debatte um die SCM Sexualitätsstudie – Gedanken zur Replik der Studienautoren

Ich freue mich, dass die Autoren der empirica-Sexualitätsstudie sich die Zeit genommen haben, die im AiGG-Blog veröffentlichte Analyse ihrer Studie zu beantworten. Gefreut hat mich auch das Kompliment, dass der AiGG-Artikel von allen „Kritiken am ausführlichsten, systematischsten und auf den ersten Blick am überzeugendsten formuliert wurde.“ Zugleich sei er „geeignet, die Missverständnisse und kategorialen Fehlannahmen, die in bestimmten Kritiken immer wieder auftreten, exemplarisch sichtbar zu machen.“ Wurde dieses Ziel erreicht? Das muss jeder Leser selbst entscheiden. Vielleicht können die nachfolgenden Hinweise dabei hilfreich sein.

Ist der Kreis der Kritiker „klein, aber laut“?

Die Autoren berichten von vielen positiven Rückmeldungen zur Studie. Kritik gäbe es lediglich von einem „kleinen aber lauten Teil konservativerer evangelikal-pietistischer Kreise“, zu dem auch der AiGG-Artikel zähle. Eine Aufzählung unsachlicher Wortmeldungen auf Social Media soll zudem zeigen: Die Kritik könne schnell in „pauschale Alarmrhetorik und „öffentliche Schmähungen“ umschlagen. Ist das so?

Ich bin verbunden mit vielen Leitern aus unterschiedlichsten Milieus im „evangelikal-pietistischen Umfeld“. Und ich kann berichten: Der Kreis der Kritiker ist vieles, aber ganz sicher nicht klein. Ich wage die These: Das Umfeld, aus dem die Kritik kommt, ist deutlich größer als das progressiv/postevangelikale Milieu, in dem diese Studie gefeiert wird. Trotzdem bleibt die Kritik deutlich leiser als die Studie, die die geballte Medienmacht der zahlreichen Plattformen und Kanäle von SCM nutzen  kann. Alarm und Schmähung sind zudem ganz offenkundig kein spezifisches Merkmal von „konservativen Kreisen“. So schrieb Michael Diener in seinem Facebookpost zur Replik auf den AiGG-Artikel: „Wer sich irgendwie von diesen sektiererischen Einflüssen frei machen kann, renne so schnell es geht. Denn hier ist nicht der Geist Gottes, der Freiheit schenk, sondern der KleinGeist verwirrter Fundamentalisten.“ Mehr Alarm und Schmähung geht kaum.

Ist die Studie wertlos?

Es ist heutzutage leider ein weit verbreitetes Stilmittel, Kritiker in ein schlechtes Licht zu rücken, indem man ihre Position nicht sauber zitiert, sondern überzeichnet. Das geschieht leider auch in dieser Replik. So wird z.B. suggeriert, der AiGG-Artikel würde folgendes behaupten:

  • „Die Studie ist nicht repräsentativ – daher wertlos“
  • „man kann keinerlei Aussagen verallgemeinern“

Keine dieser Aussagen kommt im AiGG-Artikel vor, gleich gar nicht wörtlich (was aufgrund der Anführungszeichen womöglich manche Leser der Replik dachten). Die Diagnose des AiGG-Artikels lautete sehr viel vorsichtiger: „Man kann aus dieser Studie kaum quantitativ verlässliche Rückschlüsse über bestimmte christliche Gruppen ziehen.“ Diese These wurde wie folgt begründet:

  • Der geringe Umfang an theologischen Fragen macht eine Zuordnung der Teilnehmer zu bestimmten Gruppen schwierig.
  • Die Effekte der Rekrutierungsstrategie und des Studiendesigns auf die Zusammensetzung der Stichprobe und auf die Ergebnisse sind kaum quantifizierbar.

Damit wird nicht bestritten, dass man aus der Studie wertvolle und durchaus auch verallgemeinerbare Erkenntnisse ableiten kann. Aber in Ermangelung theologischer Messpunkte kann über bestimmte christliche Gruppen wie „Evangelikale“ kaum etwas quantitatives ausgesagt werden. Ich sehe nicht, dass die Replik diese These des AiGG-Artikels entkräftet oder gar widerlegt hätte.

Bildet die Studie nur eine „Bubble“ ab?

Mit Überzeichnung arbeitet auch der folgende Satz der Replik: „Die Aussage, die Studie erfasse nur eine bestimmte Bubble, ist daher nicht haltbar.“ Nirgends behauptet der AiGG-Artikel, dass die Studie nur ein bestimmtes Milieu erfasst hätte. Die durch Studiendaten belegte Aussage des AiGG-Artikels lautet vielmehr: „Gemäß der Selbsteinschätzung der Studienteilnehmer sind die Befragten heute – anders als noch vor 10 Jahren – überwiegend theologisch liberal geprägt (FB S.207/208).“ In der Sprache der Autoren heißt das: Die liberal/progressiv/postevangelikale „Bubble“ ist in der Überzahl. Genau das geht aus der Selbsteinschätzung der Studienteilnehmer auch eindeutig hervor, wie die im AiGG-Artikel eingefügte Grafik zeigt.

Mit keinem Wort geht die Replik auf die Argumente für eine Überrepräsentation von Postevangelikalen ein. Die Vermutung, das progressiv geprägte Institut empirica habe überdurchschnittlich viele Progressive für die Teilnahme an der Studie gewonnen[1], bezeichnen sie als „reine Spekulation“. Damit bestätigen sie immerhin: Sie kann durchaus zutreffen. Umso fragwürdiger ist es, wenn die Autoren mit größtem Selbstbewusstsein pauschal behaupten: „Wo Verzerrungen auftreten, benennen wir sie.“ Ich hätte es als seriöser empfunden, sich den Argumenten differenziert zu stellen und wenigstens die Möglichkeit weiterer Verzerrungen einzuräumen.

Ist die Studie neutral?

Die Autoren beteuern in ihrer Replik wieder und wieder, dass die Studie nichts anderes sei als neutrale Wissenschaft. Dabei werden wesentliche Argumente des AiGG-Artikels nicht einmal erwähnt:

Zwar nennt die Replik Kommentatoren, die aus einem eher konservativen Umfeld stammen. Das eigentliche Argument des AiGG-Artikels lautete jedoch: „Faktisch ist kein einziger der 18 Kommentatoren bereit, explizit klassisch evangelikale sexualethische Positionen zu vertreten oder ernsthaft zu verteidigen.“ Dieses Argument bleibt unbeantwortet. Mehr noch: Die Autoren bestätigen selbst, dass keine Autoren aus den „noch konservativeren Spektren“ gewonnen werden konnten.

Ein weiteres Argument des AiGG-Artikels, das in der Replik nicht erwähnt wird, lautete: Die Studie vertritt einseitig die Position, die biblischen Autoren hätten Homosexualität im heutigen Sinne gar nicht vor Augen gehabt. Diese These war in den letzten Jahren DAS zentrale Argument gegen die konservative Position. Wer hier so einseitig Partei ergreift, ist eindeutig nicht neutral.

Die Replik behauptet: Die Studie „sagt nicht: „Konservative Normen sind falsch“, „Menschen sollen ihre Normen ändern“ oder „sexuelle Enthaltsamkeit ist schlecht“. Sie verschweigen leider die Zitate aus dem AiGG-Artikel, die das Gegenteil belegen: „Gemeinden müssen mehr anerkennen, dass es keine einheitliche christliche Sexualmoral gibt und unterschiedliche Überzeugungen koexistieren.“ (SuG S.218) „Es braucht eine stärkere Wertschätzung unterschiedlicher Lebensformen.“ (SuG S.219/202) „Mich hat erschreckt, dass die strikte moralische Botschaft der Purity Culture heute immer noch so präsent ist. … Ich freu mich so über andere laute Stimmen in der christlichen Welt, die nicht nur voreheliche Abstinenz proklamieren.“ (UGS S.225/226)

Die Replik bestätigt, dass sich die Studie positiv auf die WHO-Definition für „sexuelle Gesundheit“ bezieht, behauptet aber: Die Anlehnung an diese WHO-Definition sei pure, neutrale Wissenschaft ohne jede theologische oder normative Konsequenz. Dabei folgern die Autoren aus der WHO-Definition selbst: „Sexuelle Gesundheit bedeutet zudem, die eigenen sexuellen Bedürfnisse und Wünsche zu kennen und ausdrücken zu können.“ (SuG S.193) Es ist kein „Kategorienfehler“, sondern eine simple Feststellung, wenn der AiGG-Artikel kommentiert: „Demnach gehört für die Autoren nicht nur die sexuelle Orientierung, sondern auch die sexuelle Praxis zur menschlichen Identität und zur »sexuellen Gesundheit«.“Die Autoren übergehen leider die Zitate im AiGG-Artikel, die zeigen, dass sie daraus natürlich auch theologische und normative Konsequenzen ziehen: „Außerdem haben die Verbote teilweise dazu geführt, dass sexuelle Bedürfnisse und Wünsche unterdrückt wurden. Hierbei scheint es sich nicht um Einzelfälle zu handeln, sondern um destruktive Strukturen im gemeindlichen Umgang mit Sexualität und Glauben. … Insgesamt wird im Rahmen der gemeindlichen Prägung eine starke Moralisierung und Gesetzlichkeit im Hinblick auf sexuelle Themen beschrieben. Insbesondere die Konnotation von Sexualität mit Sünde führt zu theologischen Aussagen, wie: »Wenn du sündigst, tut das Gott am Kreuz weh.« Daran wird die Forderung geknüpft, die als sündig betrachteten Verhaltensweisen zu ändern.“ (UGS S.94/95)

Wortlos übergangen wird auch die Feststellung im AiGG-Artikel, dass allein schon die Verwendung der Gendersprache ein Bekenntnis darstellt zur Existenz einer Vielfalt von Geschlechtern.

Immer wieder zeigt sich somit das Muster: Die Replik will die wertenden Urteile der Studie nicht eingestehen. Stattdessen kritisiert sie diejenigen, die sie bemerken.

Leiden Konservative unter Bedrohung und Angst?

Die Autoren glauben, mich und mein Problem durchschaut zu haben: „Die Kritik des Verfassers … macht auch sichtbar, wie schnell empirische Forschung als Bedrohung erlebt wird, wenn sie nicht innerhalb eines vorab gesetzten theologischen Rasters argumentiert.“ Ich kann versichern: Nein, ich fühle mich nicht bedroht. Gleich gar nicht von wissenschaftlichen Daten. Ich versuche einfach, eine sachliche Debatte zur Qualität und Neutralität der Studie zu führen, und würde es begrüßen, wenn sich die Autoren mit den vorgebrachten Argumenten statt mit meiner Psyche auseinandersetzen würden.

Gleich zu Beginn wagen die Autoren sogar ein kollektives Psychogramm, wenn sie schreiben: Unter Konservativen bestehe eine „Angst vor »Kontaktschuld«“, „hoher Druck“ und gar ein „Klima der Angst“. Das leiten sie aus dem Umstand ab, dass Ulrich Parzany die Finanzierung von empirica nicht unterstützen wollte und aus dem SCM-Beirat ausgetreten ist. Aber belegt das wirklich, dass Konservative sich eigentlich gerne an der Studie beteiligt hätten, wenn sie nicht durch ein „Klima der Angst“ davon abgehalten worden wären?

Ich kann nicht in die Herzen der Beteiligten schauen. Dennoch erscheint mir eine andere Erklärung deutlich naheliegender und passender zu meinen Beobachtungen im konservativen Umfeld: Vielen Konservativen war die Agenda der Studienautoren bereits im Vorfeld bekannt. Spätestens beim Lesen der Fragestellungen wurde sie erkennbar. Da sie absehen konnten, in welche Richtung die Studie zielt, wollten sie dieses Projekt nicht durch eine Teilnahme unterstützen. Das in der Replik behauptete „Klima der Angst“ ist mir bislang nicht begegnet. Ich finde es schwierig, Christen aus dem anderen „Lager“ auf einer derart dünnen Grundlage unter einen solchen Generalverdacht zu stellen.

Fazit

Ich bleibe weiterhin offen für begründete Kritik an der vorgelegten Analyse der Sexualitätsstudie. Aber nach gründlicher Lektüre der Replik sehe ich aktuell keinen Anlass für inhaltliche Korrekturen.


[1] Diese Vermutung wurde auch von Heinzpeter Hempelmann geteilt, der im wissenschaftlichen Beirat der Studie saß: „Meine Vermutung ist, dass … schon durch die … Anlage der Studie eine Selektion passiert und sich vorwiegend gebildete, mehrheitlich postmateriellen Milieus angehörige Personen zur Teilnahme haben locken lassen.“ (Sexualität und Glaube S.49)

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1 Gedanke zu „Die Debatte um die SCM Sexualitätsstudie – Gedanken zur Replik der Studienautoren“

  1. Also, dass wir „Konservativen“ zu einer Minderheit werden könnten ist schon meine reale Befürchtung.
    Mir geht die biblische Warnung eines Abfalls am Ende der Zeit einfach nicht aus dem Kopf und so deute ich auch die gegenwärtige Entwicklung.
    Auch mein persönliches Erleben in einer pfingstlichen Freikirche kann mich nicht vom Gegenteil überzeugen. Selbst wenn hin und wieder von der Kanzel traditionelle Werte gepredigt werden, ich spüre den meisten Zuhörern eine gewisse Zugluft zwischen den Ohren ab.

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