Wir müssen reden

Wie wir aus der Debattenfalle entkommen

 „Was ist (noch) evangelikales Christentum?“ Anders ausgedrückt: Was macht uns Evangelikale eigentlich aus? In einer Rezension zu „Zeit des Umbruchs“ wurde jüngst bezweifelt, ob uns diese Frage wirklich weiterbringt. Steht man da nicht in der Gefahr, anderen den Glauben abzusprechen und sich als Vertreter des einzig wahren Christentums zu sehen, wenn man sich mit der Frage nach der theologischen Identität der Evangelikalen auseinandersetzt?

Nach meiner Beobachtung sind es genau solche Schreckgespenster, die immer wieder zur Debattenfalle werden und das Gespräch abwürgen, bevor es überhaupt entstehen kann. Denn natürlich fragt man sich angesichts solcher Reaktionen: Ist es dann nicht besser, sich gar nicht öffentlich zu theologischen Differenzen zu äußern? Denn wer das tut, erregt ja offenbar doch nur den Verdacht, streitsüchtig zu sein und sich selbst auf den Sockel der Rechtgläubigkeit stellen zu wollen. Die daraus erwachsende Scheu steht in einem auffälligen Kontrast zu einigen konservativen, postevangelikalen und progressiven Formaten, in denen theologische Differenzen zu anders geprägten Christen sehr offensiv vertreten und verbreitet werden. Solange es aber an Gegenreden und respektvollen Debatten fehlt, haben Christen, die sich weniger gut auskennen, kaum eine Chance, anhand von unterschiedlichen Meinungen selbst einen fundierten Standpunkt zu entwickeln.

Es stimmt ja schon: Es gibt in allen Lagern leider gar nicht wenig Negativbeispiele von „Irrlehrenjägern“, die ihre Identität aus dem Rechthaben ziehen, die kalt und zynisch von oben herab über andere urteilen und damit nichts als Verletzungen und Spaltungen produzieren. Wenn das Ansprechen von theologischen Differenzen nur ein Selbstzweck zur Rechtfertigung des eigenen Standpunkts wäre, wenn es nur darum ginge, die „Linien“ um das eigene Lager wieder „klar zu ziehen“, dann finde ich die Bedenken durchaus berechtigt.

Tatsächlich geht es in „Zeit des Umbruchs“ aber um etwas völlig anderes.

Es geht um die Frage, wie inmitten der soziologischen und theologischen Umbrüche unserer Zeit wieder ein Aufbruch in der Kirche Jesu gelingen kann. Machen wir uns keine Illusionen: Diese Frage wird von unterschiedlichen christlichen Lagern sehr unterschiedlich beantwortet. In absehbarer Zeit wird da wohl auch nur wenig Konsens möglich sein. Selbst unter Evangelikalen scheint das immer schwieriger zu werden, obwohl wir dazu eigentlich lange Zeit einen recht klaren Standpunkt hatten: Das Verbreiten der biblischen Botschaft durch Mission, Evangelisation und das „zu Jüngern machen“ waren für uns immer große Kernanliegen. Dafür haben wir gemeinsam gearbeitet, gebetet und Opfer gebracht. Weltweit tun das die Evangelikalen auch heute noch, nicht selten inmitten von schwersten Verfolgungssituationen. Christen mit evangelikaler Prägung haben dadurch viel zur Ausbreitung des Evangeliums beitragen. In der Kirchengeschichte (und gerade auch in den großen Erweckungsbewegungen) waren viele der theologischen Standpunkte, die man heute als „konservativ“ oder „evangelikal“ bezeichnet, oft keine „fundamentalistischen“ Randpositionen sondern galten nicht selten sogar als selbstverständlich. Könnte es sein, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Erfolg der evangelikalen Bewegung und ihren theologischen Grundlagen? Könnte es sein, dass die evangelikale Bewegung ihre missionarische Dynamik und ihr evangelistisches Potenzial verliert, wenn sie diese zentralen Grundlagen in Frage stellt und damit auch in theologischen Kernfragen ein Stück weit beliebig wird? Könnte es sein, dass die Einheit, Leidenschaft und Opferbereitschaft in evangelikalen Gemeinden und Gemeinschaften Schaden nimmt, wenn man nicht nur Randthemen sondern auch Kernanliegen des christlichen Glaubens nicht mehr selbstverständlich gemeinsam benennen, bekennen und besingen kann?

Ich meine ja. Und das treibt mich um. Denn ich kann nicht glauben, dass wir gegen den Trend Kirche Jesu bauen können, indem wir einfach nur frische Strategien und Formen auf Basis soziologischer Studien entwickeln, ohne im Kern vertrauensvoll auf das Wort des Herrn der Kirche zu hören und mit Gewissheit seine Botschaft in den Mittelpunkt zu stellen.

Die Frage nach den theologischen Knackpunktthemen, die uns Evangelikale miteinander verbinden, ist deshalb alles andere als ein Selbstzweck. Es geht nicht ums Rechthaben, um Rückzugsgefechte oder Abschottung. Es geht um die Frage: Was waren aus evangelikaler Sicht schon immer die entscheidenden Quellen des christlichen Glaubens, die die Kirche Jesu weltweit durch die Jahrtausende hindurch gegen den Trend und sogar inmitten brutalster Widerstände haben wachsen und gedeihen lassen?

Als Evangelikaler habe ich dazu eine Position, die ich für biblisch gut begründet halte, bei der ich mich auf biblischer Grundlage aber auch gerne hinterfragen lasse – schließlich hat niemand von uns die Garantie, die Bibel in allen Punkten richtig zu verstehen. In „Zeit des Umbruchs“ erkläre ich meine Position genauer. Nicht um Anderen den Glauben abzusprechen. Wir sollten uns alle streng davor hüten, uns selbst auf den Richterstuhl zu setzen und über andere Menschen zu richten. Das dürfen und müssen wir Gott überlassen. Ich sehne mich nach guten und respektvollen Beziehungen zu allen Christen – gerade auch zu denen, die theologisch andere Standpunkte einnehmen als ich. Ich wünsche mir respektvolle Debatten, auch weil ich selbst dadurch ungeheuer viel lernen kann. Ich wünsche Gemeinden mit liberaler oder progressiver Prägung von Herzen gedeihliches Wachstum.

Aber ich wünsche mir auch, dass wir Evangelikalen über einige ganz zentrale Fragen ganz neu nachdenken, weil ich sie für entscheidend wichtig halte. Zum Beispiel Fragen wie diese:

  • Wie kann die Kirche Jesu wieder wachsen?
  • Welche Rolle spielen dabei theologische Fragen?
  • Bei welchen theologischen Standpunkten wollen und müssen wir flexibel und weitherzig sein, um nicht eng und gesetzlich zu werden?
  • Welche Positionen sind für uns aber unaufgebbar wichtig, weil sie den Kern unseres Glaubens und unserer Gottesbeziehung ausmachen und weil wir ohne sie unsere Ausrichtung, unsere Einheit, unsere Leidenschaft für Jesus und unsere missionarische Kraft verlieren würden?

Genau um diese Fragen (und noch einige mehr) geht es in „Zeit des Umbruchs“. Ulrich Parzany schrieb in seiner Rezension: „Ich hoffe, dass dieses Buch eine Debatte auslöst, auf die ich seit Gründung des Netzwerks Bibel und Bekenntnis vergeblich gewartet habe.“ Ich glaube, er hat recht: Wir dürfen reden! Wir müssen reden! Wir sollten uns nicht länger aus Angst vor Konflikten oder falschen Motivationen vom gemeinsamen Ringen um Wahrheit abhalten lassen. Wahrheit ist nicht beliebig, vor allem nicht in den Kernfragen unseres Glaubens. Einen Standpunkt zu haben hat nichts mit Rechthaberei zu tun. Lassen wir uns doch gerade bei solchen zentralen theologischen Fragen wieder anstecken von der Debattierfreude eines Paulus, eines Petrus oder eines Martin Luther. Oder um es mit Worten aus „Zeit des Umbruchs“ zu sagen:

„Kultur, Soziologie, Politik, Umwelt, Säkularisierung, interreligiöser Dialog: So viele Themen, mit denen sich die evangelische Kirche beschäftigt, kommen in der Bibel auffallend selten vor. Selbst die ethischen Fragen, an denen sich der Streit unter Christen oft entzündet, sind der Bibel zwar durchaus wichtig – aber auch sie stehen dort nicht im Mittelpunkt. Ich bin überzeugt: So wichtig Fragen nach Strukturen, Gottesdienstkultur, Personal, Finanzierung oder Ethik sind, sosehr ich für Fortschritte bei der Digitalisierung und für christliches Engagement in der Politik bin – die Zukunft der Kirche wird sich daran nicht entscheiden. Aber beim Bibelverständnis, bei unserer Sicht von Jesus, bei der Frage nach der Bedeutung des Kreuzestodes und bei der Auferstehung geht es um das Innerste vom Inneren der Kirche. Hier entscheidet sich ihr Wesen, ihre Identität und ihre Grundausrichtung. Gute Theologie allein macht die Kirche zwar noch nicht gesund – aber ohne gute Lehre bei diesen zentralen Themen des Glaubens kann keine Kirche von innen heraus gesunden. Jede Modernisierung der Kirche ohne gute und gesunde Lehre bleibt deshalb Fassade und vergebliche Liebesmüh.

Deshalb bin ich begeistert, wenn ich im Zuge der Debatten zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen sehe, dass es wieder losgeht: Diskussionen und Auseinandersetzungen, die mit geöffneter Bibel geführt werden! Gespräche, in denen nicht primär gefragt wird: Welches Konzept und welche Strategie können uns retten? Sondern vielmehr: Was sagt denn die Schrift? Wie will sie verstanden und gelesen werden? Was haben die Apostel und Propheten wirklich ins Stammbuch der Kirche geschrieben? Wer ist Jesus eigentlich? Was hat er getan und gelehrt? Was bedeutet sein Tod am Kreuz? War das Grab wirklich leer? Welche Auslegung der Bibel erweist sich als schriftgemäß und fruchtbar für das Leben der Christen und für das Gedeihen der Kirche? Machen wir uns nichts vor, dieses Ringen um die biblische Botschaft ist nicht immer angenehm. Ich lese bei Paulus viel lieber sein Hohelied der Liebe als seinen Fluch über die Verbreiter eines falschen Evangeliums (Galater 1,8). Für Martin Luther war es lebensgefährlich, öffentlich für seine Bibelerkenntnisse einzustehen. Zahllose andere Christen haben tatsächlich mit ihrem Leben dafür bezahlt. Aber sie haben mit ihrem selbstlosen Einsatz reiche Frucht gebracht. Frucht, von der wir alle leben und ohne die es die evangelische Kirche und den Protestantismus nicht gäbe.“


Stimmen und Rezensionen sowie Infos zu Inhalten und Leseproben zu Zeit des Umbruchs gibt es unter http://zeitdesumbruchs.aigg.de/

Ich freue mich dieser Tage zudem sehr über ein großartiges Beispiel, wie Christen aus der Debattenfalle entkommen sind und sich trauen, Ihre Position öffentlich und dabei überaus sympathisch und authentisch darzustellen. In ihrem Blog „Die Daniel Option“ (https://danieloption.ch/) beschäftigen sich Paul und Peter Bruderer mit vielen Themen, um die es auch in „Zeit des Umbruchs“ geht. Leseempfehlung!

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