und zudem das Kernproblem unserer Gesellschaft und der evangelischen Allianz aufdeckt
„Meines Erachtens ist es an der Zeit, aus der Defensiv-Theologie auszusteigen und in neue Räume des Denkens vorzustoßen.“
(Dr. Gerrit Hohage, Tief verwurzelt glauben, S. 339)
Kritik an liberaler Theologie gibt es in konservativen Kreisen zuhauf. Ich finde das gut. Wer allerdings immer nur meckert, wirkt mit der Zeit eng, verbittert und unattraktiv. Viele Evangelikale wollen sich deshalb lieber nur noch auf positive theologische Äußerungen beschränken. Aber auch das ist problematisch. Denn die Folge ist, dass es Christen an Orientierung fehlt im Umgang mit den vielen postevangelikalen und „progressiven“ Stimmen, die längst auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld lautstark zu hören sind.
In seinem Buch „Tief verwurzelt glauben“ zeigt Dr. Gerrit Hohage, wie es besser gehen kann. Als Leser spürt man von Beginn an: Hier schreibt kein nörgelnder Besserwisser, sondern ein brillanter und kenntnisreicher Denker, der zugleich praktizierender Seelsorger ist. Hohage geht es niemals nur um Abwehr und um „Rechtgläubigkeit“. Es geht ihm letztlich immer positiv um die schlüssige Darstellung unseres Glaubens sowie um das Wohl der Menschen und der Kirche. Seine seelsorgerliche Feinfühligkeit ändert aber nichts daran, dass Hohage messerscharf analysieren kann. Ein Beispiel gefällig?
Die fatalen Folgen der Wunderkritik
„Zu den erstaunlichsten und problematischsten Erscheinungen der Moderne gehört für mich, dass die wissenschaftliche Theologie … den Glauben, dass es keinen Gott gibt, der in die ausgedehnte Welt eingreift, in großem Stil übernommen hat. … Der Mainstream mindestens der deutschsprachigen Theologie betreibt diese allen kritischen Anfragen zum Trotz seit mehr als 200 Jahren methodisch so, »als ob es Gott nicht gäbe«. Das wird oft in Wortwatte verpackt und ungern offen eingeräumt. Aber wenn man genau hinsieht, dann findet man dies als selbstverständliche Voraussetzung in theologischer Literatur bis heute.“ (S. 97/98)
Hohage bestätigt hier, was ich auch in meinem Artikel „Das wunderkritische Paradigma“ beschrieben habe: Die Theoriebildung in der akademischen Theologie arbeitet (wie auch in den anderen Fakultäten) mit Prämissen, in denen „Wissenschaftlichkeit“ gleichgesetzt wird mit dem prinzipiellen Ausschluss übernatürlicher Ursachen (also Wunder und Offenbarungsereignisse).[1] Hohage kommentiert völlig zurecht: „Keine dieser Prämissen wurde jemals bewiesen oder ist logisch beweisbar. Es sind sämtlich Glaubenssätze und Vorannahmen.“ (S. 206) Wissenschaftlichkeit und intellektuelle Redlichkeit müsste also keinesfalls dazu führen, der Bibel ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit abzusprechen[2]. Zumal die Wunderkritik für die Kirche katastrophale Folgen hat:
„Die Kirche kann ihre Glaubensinhalte nicht mehr vermitteln, weil sie sich im Lauf von zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hat, deren Grundlage als »unhistorisch« zu betrachten und es darum gerade für junge Menschen »nur Gerede« zu sein scheint, hinter dem keine Tatsachen stecken.“ (S. 195)
Wenn Gott durch „Gottesbilder“ ersetzt wird
Eine Theologie, die aus Prinzip nicht mit göttlicher Offenbarung rechnet, hat ein weiteres Problem. Sie spricht zunehmend nur noch von „Gottesbildern“ statt von Gott:
„Ich staune immer wieder über die völlige Unbefangenheit, mit der hier und da über »Gottesbilder« geredet wird, als gäbe es in der Bibel kein Gebot, das da lautet: »Du sollst dir kein Bildnis machen von dem Herrn, deinem Gott.«“ (S. 233)
Hohage begründet eindrücklich, warum diese Entwicklung so problematisch ist:
„Mein Gottesbild provoziert mich nicht und fordert mich nicht heraus. Es stört mich nicht in meinen Lebensabläufen, sondern es gibt mir ein gutes Gefühl. Mein Wellness-Gott für Mußestunden. Aber hilft mir mein Gottesbild, wenn ich in Not bin? Wenn ich krank bin? Wenn ich alt bin und nicht mehr sprechen kann? Hilft mir mein Gottesbild, wenn ich sterbe? Hilft es mir durch den Tod? Mein Gottesbild kann mir gar nicht durch den Tod helfen, weil es meines ist, es ist in mir, es hängt an mir und es stirbt mit mir. … So ein Mas-Gott-chen braucht niemand wirklich; … Nur ein Gott, der real ist, kann uns real durch den Tod tragen und uns real ewiges Leben geben. Diesen realen Gott müssen wir kennen und kein noch so nices »Gottesbild«.“ (S. 233/234)
Hohage schildert hier eine zentrale Ursache für die dramatische Selbstmarginalisierung der evangelischen Kirche, in der er selbst als Pfarrer tätig ist. Zurecht wirbt er deshalb für ein grundlegendes Prinzip des Christentums, das auch bei der Namensgebung der Mediathek „offen.bar“ leitend war:
„Ich baue meinen Gott nicht zusammen; ich erfinde meinen Jesus nicht. Sondern der wirkliche, der auferstandene Jesus enthüllt sich mir als der, der ist, und der war, und der kommt. Es geht um Offenbarung, nicht um Interpretation. Das Christentum ist und war nie eine spekulative Philosophie – es ist in seinem innersten Wesenskern eine Offenbarungsreligion.“ (S. 41/42)
Die Knackpunktfrage: Wie gehen wir mit der Bibel um?
Aber woher können wir wissen, wer und wie dieser wahre Jesus wirklich ist? Bei dieser Frage spielt die Bibel für Hohage eine entscheidende Rolle: „Jesus, die Wahrheit, ist ohne die Wahrheit der Bibel nicht zu haben. An Jesus zu glauben setzt voraus, dass wir der Bibel glauben.“ (S. 114) Denn nur in der Bibel finden wir Jesu Worte, auf die wir als Jünger Jesu hören sollen: „Wahrhaftige Jüngerschaft setzt das Vertrauen in die Verlässlichkeit, d. h. Wahrheit der Worte Jesu voraus.“ (S. 112)
Aber was bedeutet „der Bibel glauben“ konkret? Welches Bibelverständnis muss uns dabei leiten? Hohage kritisiert jeden Versuch, das Wort Gottes in der Bibel ganz oder teilweise vom menschlichen Wort zu trennen, sei es durch eine Überbetonung einer „Christusmitte“[3] oder durch die weit verbreitete Formel von der Bibel als „Gottes im Menschenwort“[4]. Stattdessen ist die Bibel für Hohage zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort:
„Einerseits hören wir in der Bibel das Wort des lebendigen Gottes, und andererseits sehen wir ihre Menschlichkeit und können nicht so tun, als wäre sie vom Himmel gefallen wie der Koran – zumindest behauptet das der Islam. Es ist wie bei Christus, dem Wort, das Fleisch wurde. … Wir haben in Jesus nicht halb-und halb, sondern ganz-und-ganz vor uns. … Wir haben in den Worten der Apostel, wie sie in der Gestalt der biblischen Schriften gefasst sind, nicht halb-und-halb, sondern ganz und-ganz vor uns: Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, »unvermischt und ungetrennt«“ (S. 241/242)
Die Kernfrage unseres Glaubens: Warum starb Jesus am Kreuz?
Besonders wichtig wird dieses Bibelverständnis, wenn es um den Kreuzestod Jesu geht. Hohage kritisiert hier eine Theologie, die meint: Das Kreuz würde nur für uns Menschen eine Rolle spielen. Aber in Bezug auf Gott will man „das Opfer von jedem Gedanken an eine transzendente Wirkung freihalten; es darf bei Gott nichts bewirken, das ist das No-Go.“ (S. 273) Hohage macht deutlich, dass dies nicht nur Anselm und Luther sondern auch die biblischen Schriften ganz anders sehen: „Gott ist nach dem Neuen Testament sowohl der Geber als auch – gemeinsam mit dem Menschen – der Empfänger des Opfers Christi.“ (S. 274) Im AiGG-Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ habe ich dargelegt, warum diese Einsicht so zentral wichtig ist und warum sich gerade an diesem Punkt die Geister so sehr scheiden.
Zur Beschreibung des Heilsgeschehens am Kreuz lobt Hohage Luthers Formulierung vom „fröhlichen Tausch“. Das Kreuz bringt uns Heil, „weil Christus meine Sünde auf sich genommen und zu seiner eigenen gemacht hat. Er ist jetzt der Sünder, und ich bin jetzt durch ihn gerecht. Das ist konkret und auf einer tiefen Ebene verständlich. Denn was »tauschen« ist, weiß jedes Kind.“ (S. 276) Der Verlust dieser Wahrheit ist für Hohage nicht nur für die Kirche ein großer Schaden. Letztlich leidet die ganze Gesellschaft darunter: „Eine Gesellschaft, die die stellvertretende Sühne des Kreuzes nicht mehr kennt, wird gnadenlos und von Angst geprägt.“ (S. 279)
Folgerichtig verteidigt Hohage auch das Festhalten an der unpopulären, aber biblischen Realität des Zornes Gottes, auf dem zwar Paulus seine Evangeliumsbotschaft aufbaut (Römer 2,1-5), das aber in der heutigen Theologie (selbst im evangelikalen Umfeld) leider oft negiert wird – mit traurigen Konsequenzen:
„Wenn wir die Passagen über den Zorn Gottes den Menschen zuweisen und auf diese Weise biblische Sachkritik betreiben, nehmen wir die Anfechtung, die darin liegt, nicht an. Wir suchen unser Heil darin, sie zu umgehen, und zwar durch Subtraktion. Sachkritik ist eine Subtraktionsmethode, nichts anderes: »Menschenwort, kein Gotteswort«. Dabei sind es nach meiner Erfahrung gerade diese Passagen, in denen die tiefsten Wachstumsschritte stecken.“ (S. 254)
Und damit sind wir bei einer zentralen Fragestellung in Hohages Buch:
Was tun, wenn unser Glaube durch Zweifel erschüttert wird?
Hohage stellt zunächst klar: Er will aus guten Gründen lieber von „Anfechtung“ statt von „Zweifeln“ zu sprechen, denn:
„Am Glauben zweifeln können Glaubende und Glaubenwollende, Nichtglaubende und Nichtglaubenwollende, für die der Zweifel ein Selbstzweck ist, nämlich als Methode, um Gott auf Abstand zu halten. Solche Zweifler fühlen sich im Zweifeln wohl, vielleicht sogar überlegen. Bei glaubenden Christen ist das anders.“ (S. 125)
Für einen gesunden Umgang mit Anfechtung entwickelt Hohage ein differenziertes Diagnostikinstrument (eine „Typologie der Anfechtung“), um unterscheiden zu können, woher unsere Anfechtung kommt (von anderen Menschen, vom Teufel oder von Gott?), auf welcher Ebene sie stattfindet (im Denken, im Fühlen oder im Wollen?) und wohin sie zielt (auf die Gottesbeziehung oder auf unsere Beziehung zur Kirche?). Damit wird auch deutlicher, welchen Wert Apologetik (also die Verteidigung des Glaubens mit rationalen Argumenten) hat. Sie kann immer dann hilfreich sein, wenn unsere Anfechtung auf der Ebene des Denkens stattfindet. „Apologetik, so verstand es Sven Findeisen später, ist »Seelsorge auf dem Feld des Denkens«.“ (S. 124)
Apologetik kann uns zudem helfen, mit Anfechtung richtig umzugehen. Einen Umzug in ein ganz neues „Glaubenshaus“, wie er im postevangelikalen Umfeld oft beworben wird, hält er für die falsche Strategie:
„Wenn uns unser Glaube zu eng vorkommt, stehen wir vor einer Entscheidung: Erweitern wir unseren Wohnbereich in dem Glaubenshaus der weltweiten Kirche Jesu Christi oder wohnen wir uns aus diesem Haus heraus? Für letzteres gibt es drei Kennzeichen … : Distanzierung, Subtraktion und Substitution. … Dann erwartet man in der Bibel keine Anrede von Gott mehr, sondern nur noch antike Literatur oder ein Programm für christliche Kultur. Dann löst man Glaubensfragen dadurch, dass man Glaubensaussagen abschafft oder als praktisch irrelevant behandelt. … unser Problem ist, dass solche Vorgänge bereits zahlreichen Spielarten der klassischen liberalen Theologie zu Grunde liegen und ihre Ergebnisse für christlich gehalten werden, es aber im Grunde genommen nicht mehr sind – an genau diesem Phänomen gehen gerade unsere Landeskirchen zugrunde.“ (S. 185)
Glaube verflacht, wenn wir anstößige biblische Aussagen beschneiden. Deshalb gilt auch umgekehrt: „Begeisternder und begeisterter Glaube braucht Menschen, die den Mut haben, sich auf den Gott der Bibel ganz und gar einzulassen.“ (S. 175)
Eine treffende Gesellschaftsanalyse
Hohage spricht mir mit seinen theologischen Überlegungen an vielen Stellen sehr aus dem Herzen – auch wenn ich durchaus kritische Rückfragen zu einigen Formulierungen habe [5]. Mindestens genauso beeindruckt mich seine Beschreibung der aktuellen Dynamiken in unserer Gesellschaft. Seine zentrale Beobachtung ist:
„Der Horizont … ist weggewischt. Wahrheitsansprüche sind nur noch Machtansprüche, nichts weiter. … Den Beweis ersetzte der »Narrativ« (die »große Erzählung«); diskursive Macht (Empörung und Shitstorms) ersetzte die Debatte.“ (S. 19)
Die Welle der Dekonstruktion, die über unsere Gesellschaft hereingebrochen ist, schien sich lange Zeit nur gegen Machtstrukturen zu richten, die man als überkommen und repressiv empfunden hat. Aber Hohage beobachtet: Jetzt trifft uns der Sog der Rückseite dieser Welle. Eine Gesellschaft ohne objektive Wahrheiten und ohne feste Bezugspunkte hat Populisten, Verführern und manipulatorischen Machtmenschen nichts entgegenzusetzen. Stattdessen „kommt es zur Bildung von tribes (engl. Stämmen) aus Gleichgesinnten, die die Sprechweisen anderer tribes versuchen zu canceln. Was dabei heraus kommt ist eine Welt, in der so etwas wie ein Gemeinwohl aller immer weniger vorstellbar wird.“ (S. 72)
Die zentrale Herausforderung der evangelischen Allianz
Wir alle spüren aktuell, wie zutreffend diese Diagnose ist. Umso dringender bräuchte es gerade jetzt eine Kirche Jesu, die dieser Gesellschaft mit einer klaren, orientierunggebenden Evangeliumsbotschaft begegnet. Davon ist aber nicht nur die evangelische Kirche weit entfernt. Auch die evangelische Allianz tut sich schwer damit. Hohage legt dar, warum das so ist:
In der ursprüngliche Glaubensbasis der Evangelischen Allianz werden die Heiligen Schriften der Bibel noch „als göttlich inspiriert angesehen und als unbedingte Autorität anerkannt. Sie gelten für sich alleine als ausreichend, um dem echten Jesus Christus zu begegnen und das ewige Heil zu erlangen“. … Dieser Konsens beendet nicht die konfessionelle Verschiedenheit und soll es auch gar nicht. Aber er gewährleistet kraft verbindlicher Partnerschaft durch die Bindung unter (!) die Heilige Schrift die Apostolizität der im Detail sehr unterschiedlichen Gemeinden und Denominationen der Ev. Allianz. … Leider hat diese Lösung nur so lange funktioniert, wie die Sprache auf ein gemeinsames Gemeintes verweisen konnte.“
Genau das hat sich durch die Einflüsse der Postmoderne leider geändert – mit gravierenden Folgen:
„Wenn man die Bibel als »Gotteswort im Menschenwort« statt als Gotteswort »in, mit und unter« dem Menschenwort versteht und das erstere aus letzterem mittels selbstgebastelter Kriterien herausschälen möchte, … dann kann die Heilige Schrift die Apostolizität und Glaubenseinheit der Partner-Denominationen auch nicht mehr gewährleisten. Genau dasselbe ist ja seit langem in den Landeskirchen der Fall. Damit ist auch in der Evangelischen Allianz die Frage wieder offen: Auf welchem Wege wird die Apostolizität unserer Gemeinden und Denominationen gewährleistet? Das ist das Sachproblem, vor dem die protestantische Konfessionsfamilie heute angesichts der Postmoderne steht und das derzeit in der Evangelischen Allianz für jede Menge Konflikte sorgt.“
Genau so ist es. Mit den Konflikten, die sich aus der Erosion der verbindenden Glaubensfundamente ergeben, habe ich mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Und ich engagiere mich leidenschaftlich für eine Lösung, die auch Hohage aufgreift:
„Es gibt einen Lösungsversuch, der … dem Bekenntnis die Funktion einer verbindlichen hermeneutischen Richtschnur zuweist. … Das Problem daran ist schon lange die Verbindlichkeit, die nicht mehr gesehen wird – zumindest nicht so, dass sie einen Einfluss auf die Theologie hätte. … Der Vorschlag, in der Evangelischen Allianz eine solche Verbindlichkeitskultur zu etablieren, stößt, wie Thorsten Dietz gezeigt hat, auf ein strukturelles Problem: »Als breite Bewegung kann sie theologische Fragen nicht verbindlich klären. Dafür hat sie weder die Strukturen noch die Durchsetzungsmöglichkeit.« Ich glaube allerdings, dass Dietz es sich hier zu einfach macht – immerhin hat diese Bewegung die theologischen Fragen, um die es hier geht, schon einmal geklärt, nur dass diese Klärung über der Postmoderne inzwischen implodiert ist und also ersetzt oder zumindest ergänzt werden muss. Man kann dem Versuch einer solchen Ergänzung, um die sich z.B. das »Netzwerk Bibel und Bekenntnis« bemüht, natürlich kritisch gegenüberstehen. Aber dann müssen eben andere Antworten auf das dahinterstehende Sachproblem gefunden werden.“ (S. 301)
Hohage lässt das so offen stehen, schildert aber selbst keine Alternative zu diesem Lösungsvorschlag. Vielleicht, weil er keine andere Alternative sieht? Jedenfalls betont er selbst, wie unverzichtbar Bekenntnisse für unser gemeinsames „christliches Haus“ sind:
„Allen christlichen Kirchen gemeinsam ist das »Nicänische Glaubensbekenntnis« … Mit dem Bild des Fachwerkhauses gesprochen bildet es die Eckbalken des Fachwerks. Es markiert, bis wohin das Haus des Glaubens geht, also den Raum, in dem man diesem Gott begegnen kann. Innerhalb dieser Eckbalken erhebt sich das weitverzweigte Bauwerk der Erkenntnis Gottes.“ (S. 187)
Genau deshalb engagieren wir uns im Netzwerk Bibel und Bekenntnis dafür, dass diese zentralen Bekenntnisse wieder stark gemacht und zum Leuchten gebracht werden. Wir glauben: Als Kirche Jesu müssen wir neu begründen lernen, warum wir fest zu diesen ewigen Glaubenswahrheiten stehen und warum sie für die Kirche Jesu so heilsam und unaufgebbar wichtig sind. Darin liegt auch ein notwendiger Bildungsauftrag. Denn völlig zurecht schreibt Hohage:
„Die Gemeinde vor Anfechtung abzuschirmen ist weniger nachhaltig, als sie fit zu machen, um in ihr zu bestehen. Die hierfür notwendigen Kompetenzen gilt es mit der Gemeinde einzuüben.“ (S. 307)
Ich freue mich umso mehr, dass Gerrit Hohage bei der Konferenz JESUS25 das Forum Apologetik mit leiten wird, von dem ich mir für diesen Bildungsauftrag wichtige Impulse erhoffe.
Mein Fazit: Ich kann nur hoffen, dass das Buch von Gerrit Hohage dazu beiträgt, dass gerade auch im Umfeld der evangelischen Allianz über diese Themen wieder vertieft gesprochen wird. Angesichts der vielen wertvollen Inhalte (auch dieser längere Artikel konnte nur eine kleine Auswahl wiedergeben) möchte ich allen meinen Lesern dringend empfehlen, dieses Buch zu lesen und weiterzuempfehlen.
Das Buch „Tief verwurzelt glauben“ ist 2024 bei SCM R. Brockhaus erschienen und kann hier bestellt werden.
[1] Hohage macht deutlich, dass ein Verstoß gegen diese Gleichsetzung schwerwiegende Konsequenzen hat: „Man erkennt unschwer, dass es um die obigen Axiome … und deren unbedingte Anerkennung als soziale Voraussetzung für die Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs geht. Wer daran rüttelt, der ist in der Theologie wissenschaftlich erledigt, dem wird der Diskurs verweigert, wie gut seine Argumente auch sein mögen.“ (S. 332, Endnote 144) Diese Realität kann ich nur bestätigen. Man sollte sie kennen, wenn man sich fragt, warum sich selbst konservativere Theologen im akademischen Umfeld so schwertun, in ihrer Theoriebildung mit Wundern und Offenbarungsereignissen zu rechnen.
[2] Allerdings halte ich bei diesem Thema die Argumentationsstrategie von Hohage für fragwürdig und unnötig kompliziert. Hohage meint: Wir müssen akzeptieren, dass der Begriff „historisch“ untrennbar mit wunderkritischen Axiomen verknüpft sei, denn es sei doch „sehr unwahrscheinlich, dass man sich im Wissenschaftsbetrieb auf eine Dehnung der Prinzipien ernsthaft einlassen würde.“ (S. 215) Das stimmt zwar. Aber das wird auch für viele andere „evangelikale“ Überzeugungen gelten, die Hohage in seinem Buch selbstbewusst vertritt. Warum also gerade hier diese Kapitulation? Ich würde uns raten, lieber selbstbewusst davon zu sprechen, dass die historisch gemeinten Texte der Bibel (genau wie die historisch gemeinten Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses) auch realhistorisch ernst genommen werden dürfen und müssen. Denn Hohage stellt ja selbst zurecht fest, dass für den „common sense“ die folgende Kombination gilt: „historisch = wirklich/real = wahr unhistorisch = nicht wirklich/nicht real = nicht wahr.“ Ich meine: Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, das Wort „historisch“ in der Bedeutung zu nutzen, wie es von den meisten Menschen intuitiv verstanden wird.
[3] „In zahlreichen kirchlichen Verlautbarungen … wird inzwischen betont, dass Christus die Mitte der Heiligen Schrift ist. … Das Problem hat sich durch diese Einsicht aber nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn welcher Christus darf’s denn sein als Mitte der Schrift? … Dies bleibt unklar, und deswegen ist dieses inflationär beliebte Kriterium nicht brauchbarer als frühere Kriterien, die heute als zeitbedingte Konstruktionen gelten. Luther hat seinen Satz »Kanonisch ist, was Christum treibet« nicht dazu gedacht, um innerhalb einzelner biblischer Schriften kanonische von nicht-kanonischen Anteilen zu unterscheiden. Er setzt die Ganzheit der Heiligen Schrift voraus. Denn ohne sie kann der echte Jesus Christus in seiner Identität gar nicht als ihre Mitte gewonnen werden. An diesem Punkt sind Christologie und Hermeneutik (=Lehre vom Verstehen) untrennbar miteinander verkoppelt.“ (S. 241)
[4] Denn die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ „klärt nämlich gar nichts, weil sie an der entscheidenden Stelle uneindeutig bleibt. … was bedeutet »im«? Der Kern in der Schale? Zwei Worte, die man voneinander trennen kann – hier Menschenwort, da Gotteswort? Nach welchen Kriterien?“ (S. 243)
[5] So greift Hohage die Rede von einer „zweiten Naivität“ auf und schreibt auf S. 250: „Andere haben gegenüber der ersten Naivität sehr viel weniger Berührungsängste und lassen die Möglichkeit eines »wortwörtliches« Verständnisses offen. … Denn welchen Weg wir nehmen, damit Gottes Wort uns erreichen kann, ist m.E. weniger wichtig als dass es uns faktisch erreicht, dass wir es hören und es in uns den Glauben wirken kann. Der auf Gottes Reden hörende Gebrauch der Schrift ist unser »erster Ausgangspunkt«, nicht die richtige Theorie über die Schrift. Nicht was wir über die Schrift denken, ist wichtig, sondern ob wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören.“ (S. 250) An anderen Stellen im Buch macht Hohage selbst deutlich: Natürlich ist das, was wir über die Schrift denken, auf Dauer äußerst wichtig für die Frage, ob wir Gottes Stimme darin hören können. Wenn ich mein Gegenüber wirklich hören und verstehen will, dann muss ich ihn sagen lassen, was er sagen will. Konservativen geht es ja nicht um ein „wortwörtliches Verständnis“, sondern um das reformatorische Prinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, auch bei der Frage nach der richtigen Textgattung eines bestimmten Abschnitts. Der Bibel glauben und Gottes Stimme in ihr hören heißt auch: Wir versuchen, die Schrift selbst klären und entscheiden zu lassen, welche Passagen realhistorisch und welche metaphorisch gemeint sind. Ein solches Bibelverständnis hat nichts mit Naivität zu tun – weder mit einer ersten noch mit einer zweiten. Gestutzt habe ich übrigens auch beim überschwänglichen Lob für Heinzpeter Hempelmann (S. 11), der zu meinem großen Bedauern inzwischen postevangelikales Gedankengut verbreitet und nach meiner Wahrnehmung angesichts seines immer noch großen Einflusses zu einer wirklichen Belastung für die pietistische und evangelikale Welt geworden ist.