Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie der noch folgende zweite Teil enthält Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet “Postevangelikal”?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist “Progressive Theologie”?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift “Was ist eigentlich postevangelikal?”:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und inhaltlich kritisierbar (in der Theologie spricht man von “Sachkritik”), wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge [3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründ- und erkennbar. Orthodoxe Lehrüberzeugungen werden zunehmend subjektiviert (d.h. sie werden als mögliche Denkvarianten anderen progressiven Überzeugungen gegenübergestellt [5]), oder es wird ihnen offen widersprochen. Dieser Verlust des gemeinsamen dogmatischen Kerns wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für problematisch gehalten, weil die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert wird, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignisse aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [6]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift “Was ist progressive Theologie?”:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Was bedeutet diese Tatsache für die allianzevangelikale Welt? Wie gehen evangelikale Leiter mit dieser Situation um?

Damit befasst sich Teil 2 dieses Artikels, der in Kürze folgt.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] So schreibt zum Beispiel Karsten Hüttmann, der 2022 1. Vorsitzender des Christival war, im Buch „THEOLAB – Jesus, Himmel, Mission“ in seinem Artikel über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu: „Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Die verschiedenen Motive sind jeweils eher als Ergänzung statt als Widerspruch zu verstehen, denn es sind und bleiben letztlich unsere menschlichen Versuche, zu beschreiben, warum Jesus am Kreuz (für uns) starb. … Für Luther war z. B. die Frage nach einem gnädigen Gott noch der Dreh und Angelpunkt seiner Lehren, und für viele Menschen ist auch heute noch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld existenziell. Für andere ist es aber vor allem die selbsterlittene Ungerechtigkeit (hier kann das Sterben Jesu u. a. als Solidarität Gottes mit den Leidenden erlebt werden) oder der Kampf mit der Selbstannahme und der Unsicherheit angesichts der eigenen Existenz (und das Kreuz demzufolge ein Zeichen der absoluten Liebe und bedingungslosen Annahme).“

[6] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

Anmerkungen zum Artikel „Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind“

Der letzte AiGG-Blog-Artikel zum Thema Verschwörungstheorien hat viele Reaktionen hervorgerufen. Leider konnte ich nicht alle Rückmeldungen beantworten. Daher möchte ich hier noch einmal zu einigen der gestellten Fragen und aufgeworfenen Themen gesammelt Stellung nehmen:

„Werden christliche Positionen in den Medien nicht wirklich an den Rand gedrängt?“

Ja, das werden sie leider. Und auch ich leide darunter, besonders wenn es um das Thema Abtreibung geht oder um den oft abfälligen Umgang mit der sogenannten „traditionellen Familie“, die ich für ein unverzichtbares Rückgrat unserer Gesellschaft halte. Das sollte uns aber nicht blind machen dafür, dass es auch Medien gibt, die zwar einerseits christliche Positionen hochhalten, zugleich aber Inhalte vertreten, die für Christen absolut indiskutabel sein sollten.

„Beteiligst Du Dich jetzt auch am “Kampf gegen rechts”?“

In dem Artikel ging es überhaupt nicht um „links“ und „rechts“. Düstere Verschwörungstheorien gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums. So ist zum Beispiel der im Artikel erwähnte scharfe Antiamerikanismus auch im äußerst linken Spektrum weit verbreitet. Und der Auftritt der „letzten Generation“ vor der EKD-Synode zeigt: Auch hier ist man anfällig für düstere Weltuntergangsszenarien, die zu Polarisierung, Pessimismus und Politisierung führen. Zudem habe ich ja deutlich gemacht: Es gibt eine aggressive Form des „Kampfs gegen rechts“, die Menschen vorschnell verurteilt, die nicht differenziert zwischen „rechts der Mitte“ und rechtsradikal, die die als „rechts“ eingestuften Menschen gnadenlos ausgrenzt und damit beiträgt zur Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft, wie z.B. der Fall des Bischofs Carsten Rentzing in trauriger Weise zeigt.

„Ist der Begriff „Verschwörungstheorie“ nicht ein Kampfbegriff zur Unterdrückung von berechtigter Kritik?“

Ja, es gibt eine unselige Tendenz in unserem Land, berechtigte Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums zu diffamieren, statt ihnen argumentativ zu begegnen. Leider wird nicht selten viel zu schnell von „Leugnern“, „Phobikern“, „Skeptikern“, von „Hass und Hetze“, „Fake News“, „Verschwörungstheorien“ und ähnlichem gesprochen. Menschen, die schon früh vor Lockdowns, vor der Impfpflicht oder vor Nebenwirkungen gewarnt haben, wurden leider nicht selten mit solchen Vokabeln diffamiert. Und es wurden leider auch keine Entschuldigungen laut, als sich herausstellte, dass diese Befürchtungen absolut berechtigt waren. Deshalb verstehe ich, warum einige Leser empfindlich auf diesen Begriff reagieren. Das ändert m.E. aber nichts daran, dass es echte Verschwörungstheoretiker gibt, die ein regelrechtes Geschäft machen mit der Angst und mit dem sensationellen Anspruch, Menschen in angeblich geheimes Wissen einzuweihen. Und natürlich gibt es Kräfte (wie z.B. RT-Deutsch), die aktiv Misstrauen streuen, um unser Land zu destabilisieren. Auch vor diesen Problemen dürfen wir die Augen nicht verschließen.

Werden nicht auch in den gängigen Medien „Fake News“ verbreitet?

Doch, natürlich gibt es auch hier teils schlimme Fehlleistungen. Für besonders problematisch halte ich zudem die offenkundige Linkslastigkeit und Regierungsnähe vieler Medien, vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich. Nicht nur die jüngsten Skandale beim RBB zeigen, dass hier Vieles im Argen liegt. Deshalb halte ich es für wichtig, Medien kritisch zu begleiten, so wie es z.B. der „ÖRR-Blog“ auf Twitter tut. Das ändert aber nichts an der Frage, die ich im Artikel gestellt habe: Ist es nicht seltsam, einerseits den „Mainstreammedien“ nur noch undifferenziert ablehnend gegenüber zu stehen und andererseits „alternativen Medien“ so viel Vertrauen entgegen zu bringen? Ich werde jedenfalls immer skeptisch, wenn bestimmte Medien permanent „Klartext“ reden, womöglich noch im andauernden Empörungsmodus, garniert mit Zynismus und Sarkasmus. Die Welt und die Wahrheit ist oft komplex und wenig sensationell. Gute Analysen müssen die Dinge oft differenziert betrachten. Manches eignet sich nicht für eine schnelle Einordnung, weil es einfach noch unklar ist. Guter Journalismus beachtet das, auch wenn man damit weniger Klicks generiert. Mir begegnet solch guter Journalismus immer wieder an unterschiedlichen Stellen – aber praktisch nie bei Quellen, die sich z.B. bei RT-Deutsch bedienen.

Noch eine letzte Anmerkung: Ich werde mit diesen Anmerkungen dieses Thema erst einmal abschließen. Mein Schwerpunkt und meine Leidenschaft ist und bleibt, das Evangelium zu verbreiten und Gemeinde zu bauen, damit Jesus groß gemacht wird in unserem Land. Gerade deshalb ist meine Bitte: Lassen wir uns doch trotz aller Probleme nicht anstecken von düsterer Weltuntergangsstimmung, in welcher Form sie auch immer daherkommen mag. Lassen wir uns auch nicht ablenken vom großen Auftrag, den unser Herr uns auf den Weg gegeben hat. Menschen zu Jüngern machen muss immer unser Fokus und unsere Leidenschaft sein – ganz egal wie sich die Gesellschaft um uns herum entwickelt. Ich glaube: Wo dieser Auftrag durch allzu lautstarke politische Botschaften verdrängt wird, da läuft immer etwas schief – egal aus welcher Richtung die Botschaften kommen. Hören wir doch auf die Ermahnung von Paulus aus einer Zeit, in der Christen nicht nur an den Rand gedrängt sondern grausam verfolgt wurden:

„Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört. Ich sage es noch einmal: Freut euch! Alle Menschen sollen merken, wie gütig ihr seid. Der Herr ist nahe! Macht euch keine Sorgen. Im Gegenteil: Wendet euch in jeder Lage an Gott. Tragt ihm eure Anliegen vor in Gebeten und Fürbitten und voller Dankbarkeit. Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, soll eure Herzen und Gedanken behüten. Er soll sie bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.“ (Philipper 4, 4-7)

Ich wünsche mir, zu einer Gemeinschaft von Christen zu gehören, denen man zuallererst diese Freude, diesen Frieden und diese Nähe zu Christus abspürt.

Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind

Ich bin nur selten in Portalen wie der „Achse des Guten“ (achgut.com) unterwegs. So manches, was dort vertreten wird, scheint mir reißerisch und einseitig zu sein. Aber letzte Woche wurde ich auf einen Artikel hingewiesen, der mich nachdenklich gemacht hat. Unter der Überschrift „Das Dilemma der Ukraine-Debatte“ berichtet Annette Heinisch, dass sie die Kriegs- und Expansionspolitik von Wladimir Putin seit Jahren kritisch beobachtet. Und jetzt fragt sie sich: Warum stehen in ihrem Umfeld plötzlich so viele Menschen auf der Seite Putins? Ihre Erklärung lautet:

„Nach Corona ist nichts mehr, wie es war. War das Vertrauen in die Politik schon vorher erschüttert, so ist es nun bei vielen vollends verschwunden. Sagt die Regierung hü, muss hott richtig sein, so die landläufige Meinung. Sind führende Vertreter des harten Corona-Kurses nun für Waffenlieferungen an die Ukraine, dann muss das falsch sein. Schließlich haben diese Herrschaften ihr mangelndes Urteilsvermögen hinreichend unter Beweis gestellt.“ 

Auch mir fällt auf: Die teils hochaggressive Ausgrenzung von Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollten, hat tiefe Wunden hinterlassen. Ich kann das nach einigen Gesprächen, die ich mit solchen Personen geführt habe, sehr gut nachvollziehen. Der Umgang mit der Corona-Pandemie muss unbedingt kritisch aufgearbeitet werden. Befassen müssen wir uns m.E. auch mit der Frage, warum “sich ein Teil der Bevölkerung vom Weltbild vieler öffentlich-rechtlichen Journalisten nicht repräsentiert fühlt” und warum „es heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine einzige profilierte konservative Stimme mehr“ gibt, wie der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo aus meiner Sicht treffend schreibt. Es ist kein Wunder, dass Menschen das Vertrauen verlieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Position übergangen oder an den Rand gedrängt wird.

Aber unabhängig davon, wie man im Einzelnen zu den Coronamaßnahmen, dem Verhalten der Medien und zum Ukrainekrieg steht: Richtig scheint mir zu sein, dass unsere Gesellschaft unter einem zunehmenden Vertrauensverlust leidet. Und das ist ein echtes Problem. Natürlich ist es wichtig, dass mündige Bürger die Institutionen und Medien des Landes kritisch begleiten. Aber ein Grundmisstrauen, das allen Vertretern von Staat, Institutionen und Medien prinzipiell nur noch argwöhnisch oder ablehnend gegenübertritt, ist destruktiv. Bürgermeister, Schulleiter und Polizisten können ein Lied davon singen, wie schwer ihre Arbeit wird, wenn ihnen immer mehr Ablehnung oder gar Wut entgegenschlägt. Eine funktionierende Gesellschaft lebt davon, dass es ordnende Kräfte gibt, denen die Bevölkerung ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringt. Der Verfall dieses Vertrauens schadet letztlich uns allen.

Bei einigen Menschen werden diese Schäden besonders sichtbar. Ich muss da zum Beispiel an einen gläubigen jungen Mann denken, den wir vor ein paar Monaten auf eine Geburtstagsfeier eingeladen hatten. Er war überzeugt davon, dass man in den gängigen Medien grundsätzlich völlig falsch informiert wird. Zugleich vertrat er lautstark derart abenteuerliche Weltverschwörungs­theorien, dass wir ihn aus Rücksicht auf andere Gäste wohl zukünftig nicht mehr einladen können. Bei uns blieb der Eindruck zurück: Verschwörungstheorien können einzelne Menschen ebenso vergiften wie das Miteinander.

Deshalb sollte es uns nicht gleichgültig sein, wenn in unserer Gesellschaft Kräfte am Werk sind, die solche Theorien aktiv verbreiten und damit das ohnehin schon beschädigte Vertrauen weiter aushöhlen. Die Thesen klingen ja immer wieder ähnlich: Wir werden vergiftet durch Gase, die Flugzeuge am Himmel versprühen („Chemtrails“). Im Rahmen eines „Great Reset“ wollen internationale Eliten die Macht übernehmen und jeden Privatbesitz enteignen. Die Corona-Pandemie samt der Impfkampagne ist nur Mittel zum Zweck, um Menschen kontrollieren zu können. Amerikaner haben die Zwillingstürme selbst gesprengt. Und im Ukraine-Krieg verteidigt sich Putin nur gegen die viel aggressiveren Amerikaner…

Botschaften dieser Art finden sich vielfach im Internet. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es tatsächlich echte Verschwörungen geben kann. Jedoch würde ich allen, die solche Theorien regelmäßig für realistisch halten, gerne eine Frage stellen: Wenn man wirklich nichts glauben kann, was die sogenannten „Mainstreammedien“ berichten, warum sollten dann „alternative Medien“ vertrauenswürdiger sein?

Auf einem der einschlägigen YouTube-Kanäle fiel mir auf: Es wird immer wieder auch Werbung für „RT Deutsch“ gemacht, dem deutschsprachigen Ableger des russischen staatlichen Nachrichtensenders RT (ehemals Russia Today). Der Sender vermittelt nicht nur die sehr speziellen Sichtweisen Putins über den grausamen Ukraine-Krieg und die Rolle Amerikas. Er verbreitet zudem auch weitere Verschwörungstheorien. Dazu muss man wissen: Diktatoren wie Putin haben ein Interesse daran, andere Länder durch Polarisierung und wachsendes Misstrauen in die Institutionen zu destabilisieren. Letztlich ist das nichts anderes als eine perfide Form von Kriegsführung. Es ist wichtig, dass wir nicht darauf hereinfallen.

Aber leider ist meine Beobachtung: Auch Christen sind gegen problematische Einflüsse dieser Art nicht immun. Das könnte auch daran liegen, dass viele Christen sich mit bestimmten Positionen an den Rand gedrängt fühlen: Ablehnung von Abtreibung, ein traditionelles Familienbild, das Festhalten an der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau und die daraus folgende Ablehnung der „Gender-Ideologie“ – solche Positionen werden in vielen Medien und in der Parteienlandschaft leider immer weniger vertreten und nicht selten diffamiert. Umso mehr freut man sich natürlich, wenn man Sprachrohre findet, die diese Positionen noch hochhalten. Endlich wird man mal wieder in seiner Ansicht bestätigt. Und es tut ja scheinbar gut, wenn endlich einmal diejenigen vorgeführt werden, die ansonsten uns Christen immer wieder vorführen.

Leider können uns solche Gefühle den Blick dafür verstellen, dass einige dieser „Sprachrohre“ aus Quellen schöpfen, die absolut nicht vertrauenswürdig sind. Und leider verlieren nicht wenige Christen auch die Sensibilität für den oft unsachlichen, verletzenden und damit destruktiven Stil und Tonfall solcher Leute.

Die Folgen sind immer wieder ähnlich: Zunehmende Polarisierung. Wachsendes Misstrauen. Eine Verrohung der Debatten. Eine immer pessimistischere Grundhaltung. Politische Themen bekommen eine immer höhere Priorität und rauben die Kraft und Leidenschaft für Mission, Gemeindebau und Evangelisation. Und spätestens, wenn Christen sich gedrängt fühlen, ihre Mitchristen mit ihren sehr speziellen Sichtweisen „missionieren“ zu müssen, dann wird die Gemeinschaft im Hauskreis oder in der Gemeinde zunehmend schwieriger. Nicht wenige christliche Leiter und Gemeinden wurden in den letzten Jahren durch solche Dynamiken schwer belastet.

Die Frage ist deshalb: Wie reagieren wir darauf, wenn wir in unserem Umfeld solche Tendenzen beobachten?

Ich glaube: Wir brauchen zum einen ganz schlicht mehr Information und mehr Medienkompetenz. Wir müssen unsere Mitchristen dafür sensibilisieren, dass es im Internet Quellen gibt, die uns zwar auf den ersten Blick gefallen mögen, bei genauerem Hinsehen aber toxisch und gefährlich sind. Hier haben auch christliche Leiter eine wichtige Aufgabe. Es braucht Menschen, die sich die Zeit nehmen, sich mit solchen Quellen zu beschäftigen und sachlich und differenziert über die Gefahren zu informieren. Wir brauchen einen nüchternen Dienst der Unterscheidung, der uns hilft, problematische Inhalte aufzudecken.

Zweitens sollten wir uns alle gemeinsam vornehmen, uns nicht nur einseitig in bestimmten Meinungsnischen und Filterblasen zu informieren. Denn wer das tut, wird nicht nur einseitig informiert und immer festgefahrener in seinen Positionen. Mindestens ebenso schlimm ist, dass man die Fähigkeit verliert, sinnvoll mit Menschen aus anderen Milieus und Meinungsspektren zu kommunizieren. Das ist ja eines der großen Probleme unserer Gesellschaft: Debatten funktionieren nicht mehr, weil man in völlig verschiedenen Welten lebt. Wir Christen sollten es besser machen und beim Medienkonsum immer wieder über den eigenen Tellerrand blicken, um zu verstehen, wie Andere ticken und was sie bewegt.

Weiterhin gilt auch hier, was in Bezug auf so viele Gefahren gilt: Die lebendige Beziehung mit Jesus und miteinander ist ein wichtiger Schutz. Verschwörungstheorien sind immer auch Identitätsangebote. Sie haben unterschwellig das zweifelhafte Versprechen im Gepäck: Wer darauf hört, gehört zu den Wissenden, die miteinander eine verschworene Gemeinschaft bilden und die der manipulierten Masse überlegen sind. Wer eine feste Identität in Christus und zudem eine gesunde Gemeinschaft mit anderen Christen hat, ist auf solche zweifelhafte Identitätsangebote nicht angewiesen.

Zudem meine ich: Wir sollten alle gemeinsam beitragen zur Deeskalation und zu einer Kultur der Gnade. Mir fällt die tieftraurige Geschichte des ehemaligen sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing ein, der wegen früherer Verbindungen und Publikationen als „rechts“ eingestuft und gnadenlos öffentlich angegangen wurde. Das hat ihn nicht nur sein Amt (und womöglich auch seine Gesundheit) gekostet, sondern in der ganzen Kirche in unübersehbarem Ausmaß Vertrauen und Miteinander zerstört. Deshalb rate ich: Unser Blick auf Andere sollte von Hoffnung geprägt sein statt von Verdächtigung und Misstrauen. Konzentrieren wir uns auf Sachargumente, statt Menschen vorschnell zu verurteilen und auszugrenzen.

Und schließlich: Lasst uns füreinander beten und eng an Jesus Christus bleiben. ER ist unsere Hoffnung. Er ist mächtiger als die mächtigsten Verschwörer und die schlimmsten Verführer. Wer auf ihn schaut, versinkt nicht in Angst vor unheimlichen Machenschaften oder bedrohlichen Extremisten. Meine Erfahrung ist: Wer unsere Gesellschaft und die Kirche Jesu zum Guten verändern möchte, muss es aus dem Frieden heraus tun, den wir nur in der Nähe unseres souveränen Herrn finden, der alles unter Kontrolle hat. Aufgeregter oder gar aggressiver Aktivismus hingegen bewirkt oft das Gegenteil dessen, was man bekämpfen will.

Die Bibel ist nicht irrtumslos…

Die “Irrtumslosigkeit der Schrift” ist hoch umstritten. Das liegt zum Teil auch daran, dass Begriffe wie “Irrtumslosigkeit” oder “Unfehlbarkeit” nicht sauber definiert werden. Dieser Artikel fasst die wesentlichen Aspekte kurz zusammen:

Die Bibel, wie sie uns heute vorliegt, ist nicht irrtumslos…

… in Bezug auf den richtigen Urtext.

Die überlieferten Abschriften der biblischen Texte unterscheiden sich immer wieder in Details, so dass der Urtext nicht in allen Teilen hundertprozentig sicher rekonstruiert werden kann.

… in Bezug auf die Ränder des Kanons.

Bei einigen wenigen Texte der Bibel ist nicht abschließend geklärt, ob sie zu den „kanonischen“ Schriften gehören (das heißt die allgemein als apostolisch oder prophetisch anerkannt werden). Dazu gehört zum Beispiel der „lange Markussschluss“ in Markus 16, 9-20.

… in Bezug auf die richtige Übersetzung.

Aufgrund der großen zeitlichen und kulturellen Distanz zu den biblischen Sprachen, die heute nicht mehr gesprochen werden, ist die Übersetzungsarbeit des Öfteren komplex und lässt immer wieder auch unterschiedliche Optionen zu.

… wenn ihr Wahrheitsmaßstäbe unterstellt werden, die von den Autoren nicht beabsichtigt waren.

Die Bibel kann Stilmittel wie gerundete Zahlen, Bild- und Symbolsprache verwenden. Sie kann die Welt poetisch und aus der Beobachterperspektive heraus beschreiben. Sie kann Zitate als korrekt ansehen, wenn sie zwar inhaltlich stimmen, aber nicht den exakten Wortlaut wiedergeben. Sie kann Stoffe thematisch statt chronologisch ordnen.

Irrtumslos ist vor allem nicht unsere Auslegung der Bibel.

Beim Ringen um die richtige Auslegung gab es quer durch die Kirchengeschichte hindurch immer wieder Meinungsverschiedenheiten – auch unter solchen Theologen, die der Autorität der Bibel vollständig vertrauen.

Aber: Die Bibel ist irrtumslos…

… in Bezug auf die Aussageabsicht der biblischen Autoren in den kanonischen Texten!

Augustinus, Luther und die Unterzeichner der Lausanner Verpflichtung sind sich einig: Die Irrtumslosigkeit der biblischen Autoren ist keine fundamentalistische Randposition, sondern christlicher Mainstream quer durch die Kirchengeschichte hindurch. Sie passt zum durchgängigen Selbstanspruch der Bibel, inspiriertes Wort Gottes zu sein. Gott macht keine Fehler!

Die Unklarheiten in Bezug auf den Urtext sind kaum relevant!

Kein antikes Dokument ist auch nur annähernd so gut überliefert wie das Neue Testament. Die wenigen Unsicherheiten in Bezug auf den Urtext sind heute in vielen Übersetzungen dargestellt. Ein Experte schreibt: “Insgesamt ist die Überlieferung der Bibel sehr gut und sehr treu. In den theologischen Punkten gibt es unter den Abertausenden Handschriften kaum Abweichungen.“

Die Unschärfen an den Kanonrändern fallen kaum ins Gewicht!

Rund 85% des neutestamentlichen Textbestandes waren von Beginn an vollkommen unumstritten. Über die 27 neutestamentlichen Bücher besteht heute weltweiter Konsens. Der Umfang umstrittener Textabschnitte ist also so gering, dass der Umgang mit ihnen praktisch keine theologischen Konsequenzen hat.

Die Verfügbarkeit vieler Übersetzungen garantiert heute mehr denn je, dass wir einen soliden Zugang zur Botschaft der biblischen Autoren haben!

Auch wenn es knifflige Fälle gibt: Durch den leichten Zugang zu verschiedenen professionellen Übersetzungen können wir uns heute mehr denn je ein gutes Bild von den biblischen Aussagen machen – selbst wenn wir weder griechisch noch hebräisch beherrschen.

Die zentralen und heilsrelevanten Aussagen der Bibel sind so klar und deutlich, dass Jeder sie verstehen kann!

Trotz aller Differenzen in Auslegungsfragen zeigt sich weltweit und kulturübergreifend: Wenn Christen der Autorität der Bibel vertrauen, sie möglichst unvoreingenommen lesen und vom Prinzip ausgehen, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, dann kommen sie vor allem bei den zentralen, heilsrelevanten Fragen immer wieder zu vergleichbaren Auslegungsergebnissen. Es gibt also eine „Klarheit der Schrift“. Das heißt: Die Bibel ist in den wichtigen Fragen aus sich selbst heraus ausreichend verständlich und jedermann zugänglich.

Fazit: In welcher Hinsicht ist die Bibel irrtumslos?

Ist die Bibel nun in allen ihren Aussagen irrtumslos? Oder nur in ihren theologischen und heilsrelevanten Aussagen? Ich würde sagen: Die Bibel ist in allen Aussagen irrtumslos, die sie machen möchte! Wenn sie historische oder wissenschaftliche Aussagen machen möchte, dann ist sie auch darin irrtumslos. Wenn sie exakte Daten liefern möchte, dann ist sie irrtumslos exakt. Wenn hingegen ein Bibeltext poetisch gemeint ist oder nur grobe, gerundete Mengengaben machen möchte, dann ist er irrtumslos in seiner poetischen Aussage bzw. in seiner groben, gerundeten Mengenangabe. Die Kunst liegt darin, im einzelnen herauszufinden, was denn die Aussageabsicht der biblischen Autoren war. Lukas macht es uns hier leicht, weil er extra seinen Selbstanspruch betont, historisch exakte Angaben zu machen (Lukas 1,1-4). Bei manchen anderen Texten fällt diese Entscheidung nicht so leicht. Der letzte Maßstab, um die Aussageabsicht herauszufinden, muss immer die Bibel selbst sein. Der gesamtbiblische Kontext ist entscheidend! Wenn ein Bibeltext einem anderen Bibeltext eine realhistorische Aussageabsicht beimisst, dann sollten wir ihn nicht nur symbolisch deuten, sondern vielmehr dabei bleiben, dass die Schrift sich selbst auslegt. Aber trotz dem Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift werden bei der Frage nach der biblischen Aussageabsicht nicht alle Christen bei allen Texten zu gleichen Schlussfolgerungen kommen. Hier können wir auch mal respektvoll streiten und um die Wahrheit ringen. Aber niemals sollten Christen darüber streiten, dass die biblischen Autoren in dem, was sie in ihren kanonischen Texten sagen wollten, absolut verlässliche Autoritäten sind. Luther hat dieses Prinzip so zusammengefasst und sich dabei auf den Kirchenvater Augustinus bezogen:

Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“ (Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520)

Vertiefend zu diesem Thema:

Jesus starb für mich: Der unaufgebbare Kern unseres Glaubens

Dieser Text ist das Skript des Vortrags von Martin P. Grünholz, Dozent für Dogmatik, Ethik, Gemeindepraxis und Kirchengeschichte an der Biblisch Theologischen Akademie am Forum Wiedenest. Der Vortrag wurde gehalten beim Allianz Symposium “Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt?” am 09.12.2022 in Bad Blankenburg.

Der Titel des Vortrags macht es deutlich: Bei diesem Thema geht es um den innersten Kern des Evangeliums. Bei der Frage nach der Schrift und bei der Frage nach dem Kreuz geht es um die wichtigsten Elemente und die Grundstruktur der christlichen Theologie. Wenn wir hier abweichen, stellt sich die Frage, ob wir die christliche Theologie nicht aufs Spiel setzen und verlieren.

Die Lehre von der Stellvertretung: Die umstrittene Grundlage der Kreuzestheologie

Paulus schreibt in Römer 5, 8-10: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind! Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.“ Ebenso zieht er in 1. Thessalonicher 5, 9-10 eine klare Verbindungslinie zwischen der Sünde, der Feindschaft gegen Gott, Gottes gerechtem Zorn und der Sühne durch das stellvertretende Opfer des Sohnes Jesus Christus, der sich aus verschenkender Liebe für uns hingibt, um uns zu versöhnen. Liebe – Sünde – Feindschaft – Gericht – Zorn: Um alle diese hochemotionalen Begriffe geht es in der Lehre der Stellvertretung. Und das alles gilt: Für mich! Jesus für Dich!

Die überarbeiteten Fassung der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz aus dem Jahr 2018 stellt dazu fest:

„Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht. Jesus Christus, durch Gott von den Toten auferweckt, ist der einzige Weg zu Gott. Der Mensch wird allein durch den Glauben an ihn durch Gottes Gnade gerecht gesprochen.”

Jetzt könnte man meinen: Mit dem Schriftzeugnis und der Glaubensbasis der evangelischen Allianz sind alle Fragen geklärt. Dem ist aber leider nicht so. So stellt der bekannte Neutestamentler der Universität Zürich, Prof. Jörg Frey, ernüchternd fest: „In der neutestamentlichen Diskussion um den Begriff der ‚Stellvertretung‘ ist fast alles strittig.“[1] Als Systematiker muss ich ergänzen: Nicht nur in der Diskussion um biblische Begriffe sondern auch in der Dogmatik wird alles auf den Prüfstand gestellt. In der Erlösungslehre („Soteriologie“) ist ebenso fast alles strittig. Die Aussage „Jesus starb für mich“ bzw. „Jesus Christus starb für dich“ wird heute zunehmend als hochproblematisch empfunden. Sie gilt teilweise sogar eher als Affront statt als tröstender Zuspruch des Glaubens und des Evangeliums. Das gilt zunehmend auch in evangelikalen Kreisen. Deshalb tun wir uns auch mit der Evangelisation so schwer. Die Krise der Evangelisation hat auch damit zu tun, dass wir uns so schwer tun mit diesem Zeugnis.

Doch wie konnte es dazu kommen?

Zwei Grundtypen der Soteriologie

In der Lehre von der Erlösung („Soteriologie“) gibt es ein komplexes Zusammenspiel der Lehre von Gott, vom Menschen („Anthropologie“), von Christus („Christologie“), vom Heiligen Geist („Pneumatologie“) und möglicherweise auch von der Gesellschaft („Soziologie“). Alle treffen in der Soteriologie aufeinander und ringen miteinander. So hält der Würzburger Systematiker Prof. Matthias Reményi in seinen spannenden Überlegungen zur Soteriologie im Jahr 2017 fest:

„Aber insbesondere der Gedanke, dass Gott nicht einfach so die Sünden nachlassen kann, sondern um der Freiheit und Würde des Menschen willen eine Genugtuung (satisfactio) fordern muss, zieht sich in Zustimmung und Widerspruch wie ein roter Faden auch durch gegenwärtige deutschsprachige Soteriologien.“[2]

Wo liegt das Problem? In der Soteriologie gibt es zwei Grundvarianten, wie Christi Heilshandeln verstanden werden kann. Es gibt zum einen den Grundtypus der Solidaritätschristologie: Das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu wird als exemplarisch und solidarisch gedeutet. Alles, was Jesus tut, hat einen Vorbildcharakter für uns: Der neue Adam, das erneuerte Geschöpf, das den Willen Gottes befolgt und als befreites Subjekt agiert. Es geht um die sich verschenkende Art, wie Jesus auf Menschen zugeht, seine Liebe für die Benachteiligten und Unterdrückten. Es geht darum, wie er die Feindseligkeit erleidet und den Hass der Menschen lieber erträgt und erduldet, statt mit Hass und Gewalt zu antworten. In all dem solidarisiert er sich mit uns und lebt exemplarisch vor, wie wir leben sollen (siehe auch Johannes 14, 12[3]).

Der zweite Grundtypus ist die Stellvertreterchristologie. Das Wirken Jesu wird hier ganz stark vom Kreuz her gedacht und von seinem Versöhnungshandeln durch seinen Tod. Der menschgewordene Gott stirbt „für uns“, an „unserer statt“ und bewirkt eine wirkliche Stellvertretung dadurch, dass seine Lebenshingabe ein Opfer ist, einen Loskauf bewirkt, Sühne ermöglicht und uns Menschen in eine neue Gemeinschaft mit dem Vater überführt. Der Opferkult des AT vom großen Versöhnungstag (Yom Kippur, 3. Mose 16) bis hin zu Jesaja 53 (der leidende Gottesknecht) bilden hier die biblischen Analogien (siehe auch Markus 10, 45[4]).

Vier Ebenen der Kritik an der Stellvertretung

Das Problem liegt darin, dass diese beiden Grundtypen der Kreuzesdeutung immer zusammengedacht und sich als gegenseitig bedingend betrachtet wurden, inzwischen aber voneinander losgelöst werden und gegeneinander ausgespielt werden, ganz nach dem Motto der Schlange: Sollte Gott tatsächlich gesagt haben, dass… Das heißt konkret: Die Stellvertreterchristologie wird kritisiert, abgelehnt und geleugnet, dagegen wird die Solidaritätschristologie hochgehalten. Dadurch meint man, dass man das Ärgernis des Kreuzes überwinden könnte, ohne die heilsvermittelnde Wirkung Jesu aufzuheben.

Dieser Prozess ist nicht neu und findet in konzentrierter Form seit der sogenannten Aufklärung statt. Immanuel Kant kritisierte die Stellvertreterchristologie auf einer Ebene der Subjektivität. Für ihn war klar, dass die Sünde eine moralische Verfehlung des individuellen Subjekts ist, und daher keine, wie er es beschrieb, „transmissible Verbindlichkeit“[5], keine delegierbare und auf andere autonome Subjekte übertragbare Sache sei. In moralischen Dingen sei der Mensch schlicht unvertretbar.

Der Regionalbischof des Sprengels Lüneburg, Dr. Stephan Schaede, hat bei einem interdisziplinären Symposion 2004 in Tübingen dazu herausgearbeitet: „Viel faszinierender ist, dass Kant bei aller Kritik an der Schuldogmatik selber Stellvertretungsstrukturen benötigt. Er hat der Sache nach die Stellvertretung nach innen verlegt. Es gibt bei ihm eine komplexe, dreifache Stellvertretung im menschlichen Subjekt.“[6] Und auch der EDK Grundlagentext „Für uns gestorben“ über die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi aus dem Jahr 2015 stellt die Anfrage, ob Kants Versuch der Überwindung des Stellvertreter-konzeptes auf die Ebene der Innerlichkeit des menschlichen Subjekts nicht letztlich eine „raffinierte Konzeption“ ist, die letztlich nichts anderes als das Münchhausen-Konzept des Menschen sei, der versucht sich selbst am Zopf aus dem Sumpf heraus zu ziehen.[7]

Auf einer zweiten Ebene wird die Stellvertreterchristologie mit dem Vorwurf des Gottesbildes angegriffen: Die Lehre der Stellvertretung und Sühne sei unvereinbar mit dem biblischen Versöhnungsgedanken, dass Gott sich grundlos neu dem Sünder zuwendet und ihm die Versöhnung schenkt. Friedrich Nietzsche hat diesen Einwand eindrücklich vorgebracht und geschrieben: „Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden […]. Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum!“[8]

Nietzsche greift vor allem die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury an und wirft der Theologie insgesamt vor, hier ein blutrünstiges Zerrbild von Gott zu vertreten. Gerade dieses Argument begegnet mir immer häufiger auch in neueren Diskussionen, gerade auch inmitten von evangelikalen Gemeinden, Verbänden, Bünden und Ausbildungsstätten immer häufiger, leider auch zunehmend in unseren eigenen Publikationen. Die Frage dabei ist jedoch, wer hier ein Zerrbild von wem aufbaut und ob die Kritik nicht gerade ein Strohmannargument ist. Maßgeblich wird Anselm kritisiert, dass er ein solch falsches Gottesbild in die Theologie hineingepflanzt habe. Wenn man sich aber mit Anselm beschäftigt, entdeckt man, dass dieser durchgehend die Freiwilligkeit und die Selbsthingabe des Sohnes betont und exegetisch belegt. Es ist gerade die Liebe Gottes, die den Sohn, antreibt, sich selbst hinzugeben und zu retten, was verloren ist, wie Jesus in Lukas 19, 10 und Markus 10, 45 betont. Dazu nochmal Prof. Reményi:

„Die Kernintuition Anselms ist und bleibt, dass der stellver­tretende Tod des Gott-Menschen deshalb heilsnotwendig ist, weil nur er die Gott geschuldete Genugtuung für unsere Sünden leisten kann. Nur weil er als der einzig Sündlose in freiwilligem Gehorsam gegenüber dem Versöhnungswillen des Vaters sein Leben für die Sünder hingibt.“ [9]

In freiwilligem Gehorsam, aus Liebe!

Eine dritte Ebene der Kritik ist, dass wir doch nicht mehr von Gericht und Schuld sprechen könnten. Dies wäre eine unberechtigte Drohbotschaft, durch die wir mit mittelalterlichen Methoden die Hölle an die Wand malen würden, um dann Menschen zu manipulieren und vom Glauben zu überzeugen. Es ginge in unserer Zeit nicht mehr um die Frage der Schuld, sondern vielmehr um Scham. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hält dazu fest:

„In diesem anthropozentrischen Klima muss die Vorstellung vom Spirituellen, sofern überhaupt noch vorhanden, völlig konstruktiv und positiv sein. Sie […] ist immer weniger dazu imstande, einen strafenden Gott in Betracht zu ziehen. Der Zorn Gottes verschwindet, und zurück bleibt nur seine Liebe. Nach älterer Auffassung musste der Zorn mit zum Gesamtpaket gehören. Das Gefühl der Erlösung war vom Eindruck der Sündigkeit und Niedrigkeit nicht zu trennen vom Begriff der verdienten Strafe“.[10]

In diesem anthropozentrischen Klima unserer westlichen Zivilisation, haben wir aber nicht mehr das Gefühl, der Sündhaftigkeit und Niedrigkeit. Daher sprechen wir lieber von der Scham statt von Schuld, da es den Fokus auf den Menschen, seine Emotionen und seinen Lifestyle legt.

Was dabei aber passiert ist, dass wir die postmoderne Anthropologie über die Theologie setzen. Wir begehen den alten Fehlschluss des „homo incuvatus in se ipsum“, des in sich selbst verkrümmten Menschen, der sich um sich selbst dreht und gerade durch die Selbstdrehung gefangen ist in sich selbst, vielleicht sogar mit der Illusion der Freiheit. Aber die Ohnmacht des Menschen ist real, sie wird erlebt und erfahren. Sie wird nur häufig mit anderen Worten und Beschreibungen bezeichnet. Die postmoderne Anthropologie läuft auf die Ohnmacht des Menschen und den Nihilismus hinaus, wie sich an der Entwicklung der Philosophiegeschichte seit dem 2. Weltkrieg gut nachzeichnen lässt.

Solidarität und Stellvertretung gehören zusammen

Wie Sie eben schon bemerkt haben, habe ich die Linie der Kreuzeskritik schon von der philosophischen Infragestellung weitergezogen auf heutige Debatten. Wir haben in unseren Kreisen und Bewegungen die gleichen Gefährdungen. Wir haben die kleinen Reduzierungen und Nivellierungen auch in unserer Theologie. Und in der Folge wundern wir uns, dass wir nicht mehr sprachfähig sind über das Evangelium und dass die Verteidigung des Glaubens, die Apologetik, verloren ging.

Das erschreckende dabei aber ist, dass die Evangelische Allianz, die konservativen Christen, die Evangelikalen oder wie auch immer Sie unsere Bewegung nun fassen möchten, durchgehend die Verteidiger der Kreuzestheologie waren in der Kombination von Stellvertretungschristologie und Solidaritätschristologie. Wir haben um die Einheit von beidem immer gerungen und gekämpft. Unsere Glaubensbasis hält beides zusammen: Jesus Christus starb für uns. Und der Freispruch durch seinen Tod lässt uns leben durch den Glauben. Deshalb ist auch im nächsten Satz das neue Leben durch den Glauben im Heiligen Geist beschrieben, der uns in den Dienst nimmt. Wenn wir diese Verbindung aufgeben, weil wir meinen, den Anstoß des Kreuzes wegnehmen zu wollen, um dadurch besser das Evangelium verkündigen zu können, dann sind wir die törichtesten Toren von allen (1. Korinther 1, 18-25). Die Botschaft des Evangeliums ist untrennbar mit der Lehre der Stellvertretung verbunden: „Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.“ (1Kor 15,3b-5).

Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus für uns starb?

Ich fasse zusammen. Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus Christus für uns starb, als dem unaufgebbaren Kern des Glaubens?

Es geht um Gott. Um Gottes Heiligkeit. Und in der Konsequenz erst um uns.  Arthur W. Pink stellt in seiner Studie über die Eigenschaften Gottes erstaunt fest, dass: „Wenn man den Vergleich zieht, wird man feststellen, dass in der Bibel weit mehr von Gottes Zorn die Rede ist, als von Seiner Liebe und Freundlichkeit.“[11] Wie sehr haben wir die Theologie schon verschoben auf die Anthropologie und auf die Soziologie? Wir schauen auf uns, auf unsere Bedürfnisse, unsere Sorgen und Anliegen und sind uns viel zu wenig bewusst, dass wir es mit einem lebendigen, gerechten und heiligen Gott zu tun haben. „Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen.“ (Römer 1, 18) So beginnt der Römerbrief! Diese Ausgangslage dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren!

Damit zusammen hängt die Sündenlehre. Der Münchener Systematiker Prof. Wolfhart Pannenberg stellt in seiner Anthropologie fest:

„Die Verkehrung des Verhältnisses von Ichzentrum und exzentrischer Bestimmung des Menschen bedeutet Selbstverfehlung des Menschen, weil er durch sein Streben, sich selbst zu gewinnen, seine exzentrische Bestimmung versäumt.[12]

Wir Menschen sind eine entfremdete Kreatur, die von ihrer exzentrischen Bestimmung abgewichen ist und die sich selbst versucht zu gewinnen. Das ist die fassbare und erfahrbare Entfremdung des Menschen. Doch zugleich schreibt Pannenberg: „Sünde ist nicht ein Schicksal, das als eine fremde Macht über den Menschen kommt, der gegenüber er ohnmächtig wäre. Ihr Begriff ist untrennbar von Verantwortung und Schuld.“[13] Beides müssen wir zugleich festhalten: Die Entfremdung des Menschen von sich selbst und zugleich die bleibende Schuld und Verantwortung. Das ist, was Edmund Schlink als das „Elend des Sünders“ beschreibt.[14]

Und gerade aus diesem Grund können wir Menschen uns nicht selbst retten. Jeder Versuch einer pelagianistischen Selbsterlösung scheitert an der Entfremdung und Schuld des Menschen durch die Sünde. Und auch die Fokussierung auf Scham, wo die Schuld außer Acht gelassen wird und nicht als Wurzel und Ursache der Scham angesehen wird, läuft ins Leere.

Die Erlösung kann nur „extra nos“, also außerhalb von uns selbst erwirkt werden. Es braucht die Ebene der Transzendenz und nicht den abgeschlossenen, selbstgenügsamen, immanenten Humanismus, von dem Taylor spricht. Es braucht die Lehre, dass „… wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird.“ (Augsburger Bekenntnis Artikel 4) Das ist der Kern! Denn es ist „schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebräer 10, 31) ohne einen Mittler, ohne Jesus Christus, der für uns gestorben ist zur Vergebung der Sünden. Denn, wie John Stott ausführlich beschreibt: Am Kreuz geschieht beides, Solidarität und Stellvertretung. Der Sohn Gottes wird ganz Mensch, nimmt unsere Natur an, solidarisiert sich mit uns und zeigt, wie wir leben sollten und sollen, doch zugleich stirbt er stellvertretend für uns, um uns mit dem Vater im Himmel zu versöhnen und Frieden zu machen zwischen Gott und uns, wie Paulus in Römer 5, 1 und Epheser 2, 13f. ausführt.

John Stott sagt deshalb zurecht:

„Stellvertretung ist also keine ‚Sühnetheorie‘. Sie ist auch kein zusätzliches Bild, das als weitere Option neben die anderen gestellt werden könnte. Sondern sie ist die Essenz jedes Bildes und das Herz des Sühnegeschehens selbst.“[15]

In der Lehre vom Kreuz, an dem Christus für uns starb, geht es um Sühnung, Solidarität, Erlösung, Rechtfertigung, Versöhnung. Und all das kommt zusammen in der Aussage: Jesus Christus starb für dich. Das ist das Evangelium, welches wir zu verkündigen haben in dieser Welt: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ (2Kor 5,20-21)

Das ist unser tiefster Glaubensschatz. Das ist der unaufgebbare Kern des Evangeliums und unseres Glaubens. Und das ist die Botschaft, die wir zu verkündigen und zu leben haben. Wo wir diese Botschaft in den Hintergrund drängen, wo wir daran herumdoktern oder sie sogar aufgeben, da verlieren wir unsere Einheit, da verlieren wir unsere Tradition, wir verlieren wir unseren geistlichen Auftrag und unsere Vollmacht. Denn wir sind Botschafter an Christi statt. Wenn wir das aufgeben, werden wir zu Moralisten und zu Gesetzlichen.

Wir sind eine Bewegung des Kreuzes. Wir sind eine Bewegung von Christus, dem Gekreuzigten, die ihn proklamiert. Und gerade deshalb können und sollen wir voller Hoffnung das Evangelium verkündigen: Jesus Christus starb für dich! Das ist die einzige Hoffnung für diese Welt.

 

Literaturverzeichnis:

Agamben, Giorgio: Pilatus und Jesus, Berlin 2014.

EKD: Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.

Frey, Jörg: Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 87–124.

Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden Bd. 8, Frankfurt a. M. 1977.

Lubahn, Erich: Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung. Mit Beiträgen von Otto Michel, Stuttgart 61993.

Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. NIetzsche contra Wagner: Sämtliche Werke. KSA 6, 15 Bde., hg. v. Colli, Giogio, Montinari, Mazzino, München 122017.

Packer, J. I.: Gott erkennen, Bad Liebenzell 1977.

Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.

Reményi, Matthias: Stellvertretung, nicht Äquivalenz. Überlegungen zur Soteriologie im Anschluss an Cur Deus homo, in: Gasser u.a. (Hg.): Handbuch für analytische Theologie. STEP Bd. 11, Münster 2017, 695–719.

Schaede, Stephan: Jes 53, 2 Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 125–148.

Schlink, Edmund: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Schriften zu Ökumene und Bekenntnis Bd. 2, Göttingen 32005.

Stott, John: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 22019.

Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Berlin 22020.

Fußnoten:

[1] Frey, Die Deutung des Todes Jesu (2006), 87.

[2] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 696.

[3] Johannes 14,12: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“

[4] Markus 10,45: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.“

[5] 1. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 95 A 88. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen (1977), 725.

[6] Schaede, Die Aufgabe systematischer Theologie (2006), 127. Kant spricht davon, dass die gute Gesinnung die verderbte Gesinnung vertritt. Dann, dass die gute Gesinnung die noch zu tätigen, guten Taten vor der intellektuellen Anschauung Gottes vertritt. Und dass eine heilige Gesinnung eine Ohnmächtige vertritt. Die Qualität der Gesinnung tritt also für den mangelnden Grad der Realisierungskraft ein.

[7] Vgl. EKD, Für uns gestorben (2015), III. 5.2; 98-100.

[8] Nietzsche, Der Antichrist (KSA 6) (2017), KSA 6, Nr. 41. S. 214f.

[9] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 698.

[10] Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2020), 1078f.

[11] A.W. Pink, Die Eigenschaften Gottes, Seite 75, zitiert nach: Packer, Gott erkennen (1977), 136.

[12] Pannenberg, Anthropologie (1983), 103.

[13] A.a.O., 107.

[14] Schlink, Ökumenische Dogmatik (2005), 124.

[15] Stott, Das Kreuz (2019), 260. Und ebenso: Lubahn, Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung (1993), 62f.

Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat

Der nachfolgende Text ist ein Transskript des Vortrags, den Pfarrer Johannes Röskamp am 9.12.2022 beim Allianz-Symposium “Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt” in Bad Blankenburg gehalten hat. Der Text wurde an einigen Stellen leicht angepasst, um das gesprochene Wort in eine gut lesbare Schriftsprache zu bringen. Er wird mit freundlicher Genehmigung von Johannes Röskamp veröffentlicht.

Der Titel für meinen Impuls lautet: „Warum das Bibelverständnis so weitreichende Konsequenzen hat“. Ich muss gestehen: Als ich gefragt wurde, ob ich das machen könnte, da war ich zuerst ziemlich zögerlich. Ich wusste: Hier werden viele bekannte Leute sein mit langjähriger Leitungserfahrung, dazu akademische Theologen mit internationalem Ruf. Da habe ich gedacht: Und ich als kleiner Gemeindepfarrer aus einer kleinen landeskirchlichen Gemeinde in Minden? Kein Mensch weiß, wo das liegt! Klar, ich bin auch Theologe, ich habe Theologie studiert. Ich habe das auch gerne gemacht. Aber mir war schon mein ganzes Studium lang klar: Ich will in die Praxis! Ich will Pastor werden. Ich will meine Kraft und meine Zeit dafür einsetzen, die gute Botschaft von Jesus Christus zu den Menschen zu bringen. Ich will das, was ich von Jesus verstanden habe, an andere weitergeben. Ich will evangelistisch tätig sein unter Menschen, die Jesus noch nicht glauben. Ich will Ihnen die Schönheit, die Liebe Christi vor Augen malen. Und ich will gemeinsam mit Ihnen Jesus immer tiefer kennenlernen, ihm immer besser nachfolgen. Ich will das, weil ich mit 17 Jahren selbst am eigenen Leib erfahren habe, wie sich das ganze Leben verändert, wie alles neu wird, wenn ich die Liebe von Jesus mit Kopf und Herz begreife. Und seitdem bin ich zutiefst davon überzeugt: Es gibt nichts Schöneres, es gibt nichts Lohnenderes, als dieser Liebe Christi mein Leben hinzugeben und mit ihm zusammen unterwegs zu sein. Dafür möchte ich leben. Dafür möchte ich arbeiten, solange ich kann. Was ich nie wollte, war: Promovieren. In die theologische Forschung gehen. Zu Symposien fahren. Mich an theologischen Debatten beteiligen.

Trotzdem bin ich heute hier und ich spreche heute zu euch über ein zutiefst theologisches Thema, nämlich über das Schriftverständnis. Warum mache ich das? Weil ich überzeugt bin: Bei der Frage, wie wir die Bibel eigentlich verstehen, geht es um alles. Ich glaube, es geht um nicht weniger als die Grundlage für das, was ich gerne mit Liebe und mit Leidenschaft tue und auch weiterhin tun will. Wie wir die Bibel lesen, wie wir sie verstehen, das ist nicht zweitrangig, das ist kein Randthema. Das ist nicht eine Geschmacksfrage wie die Frage nach liturgischen Formen. Es ist nicht so wie die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl, bei der wir uns darauf verständigt haben, dass man das als zweitrangig ansehen kann. Oder die Frage nach der Taufe von Unmündigen. Nein, wie wir die Bibel verstehen, das hat fundamentale Auswirkungen.

Ich will ausdrücklich dazu sagen: Damit meine ich nicht jede einzelne Detailfrage des Schriftverständnisses. Ich glaube, wir brauchen keine Einheit bis in die letzte Verästelung der Inspirationslehre hinein. Aber ich glaube doch, dass mindestens eine Frage beim Schriftverständnis entscheidend ist. Theologen haben ja oft ein wenig Bauchschmerzen damit, wenn Sachen zu sehr vereinfacht werden. Ich habe mich entschieden: Ich traue mich das trotzdem heute, weil ich denke, dass es wichtig ist, das klar zu benennen: Ich glaube, dass es beim Schriftverständnis am Ende auf eine Frage entscheidend ankommt und die heißt: Ist die Bibel Gottes Wort an uns? Oder enthält sie nur Gottes Wort – und das müssen wir dann irgendwie identifizieren und freilegen.

Mir ist klar, dass es beim Schriftverständnis noch um viel mehr geht, dass da noch viel mehr Themen dranhängen, dass es da Einzelfragen gibt und Differenzierungen. Mir ist auch klar: Wenn man diese eine Frage beantwortet, sind anschließend nicht alle Probleme gelöst. Aber ich bin überzeugt:

Wenn wir beieinander bleiben wollen, dann brauchen wir mindestens in dieser einen Frage Einheit und Übereinstimmung miteinander: Ist die Bibel göttliche Rede an uns in menschlichen Worten oder ist die Bibel nur menschliche Rede über Gott, die Gott dann vielleicht in seiner Güte hier und da gebraucht, um sein Wort da mit hinein zu legen? Ist die Bibel Gottes Wort oder enthält sie nur Gottes Wort? Das ist aus meiner Sicht die eine hermeneutische Bruchlinie, die ganz entscheidend ist.

Und ich sage das als Landeskirchler aus leidvoller Erfahrung, dass das tatsächlich eine entscheidende Bruchlinie ist. Und ich werde nachher gleich noch ein etwas mehr dazu sagen, welche Auswirkungen und Konsequenzen das hat.

Und ich sage auch: Ich sehe mit großer Sorge, dass diese Frage auch in unseren Kreisen, auch in evangelikalen Kontexten, nicht mehr wirklich in jeder Hinsicht klar ist, nicht mehr so eindeutig, wie das vielleicht einmal gewesen ist. Ich weiß, dass mir jetzt manche direkt entgegenhalten würden: Johannes, so wichtig, wie du sagst, ist die Bibel doch auch wieder nicht. Das ist ja kein Papst aus Papier. Unsere Mitte ist doch bitte kein Buch, sondern unsere Mitte ist doch Jesus Christus. Und ja, natürlich ist Christus unsere Mitte. Natürlich ist er das eine Wort Gottes. Selbstverständlich. Aber gerade mein Verhältnis zu Christus hängt doch daran, wie ich die Bibel lese und verstehe. Woher kenne ich denn Christus und sein Wort überhaupt, wenn nicht aus der Bibel? Die Bibel ist die Quelle für alles, was wir überhaupt über Gott, über Jesus Christus und auch über uns als Menschen wissen und sagen können. „Sola scriptura“ hat Luther gesagt. Allein aus der Schrift haben wir Kenntnis von Christus und kennen wir überhaupt nur sein Evangelium. Und deshalb ist die Frage, wie wir die Bibel verstehen, so fundamental wichtig.

In meiner Landeskirche erlebe ich das immer wieder, dass das Schriftverständnis unklar ist, dass es da keine Einigkeit gibt. Und ich erlebe, dass das ganz praktische Konsequenzen und Auswirkungen hat. Und ich möchte euch das gerne anhand von zwei Beispielen zeigen:

Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie mir dieser tiefe Graben zum ersten Mal bewusst geworden ist, der sich auftut und uns trennt, wenn wir die Bibel so fundamental unterschiedlich lesen. Und zwar war das im Studium. Ich hatte einen Kommilitonen, mit dem ich mich wirklich gut verstanden habe. Wir haben oft etwas zusammen unternommen. Es war ein schönes, freundschaftliches Verhältnis, das wir zueinander hatten. Eines Tages waren wir zusammen zu Fuß auf dem Rückweg von der Uni in unser Wohnheim. Ich weiß das noch wie heute. Wir kamen ins Gespräch über solche Fragen wie: Ist der Mensch im Kern gut oder schlecht? Kann man das so sagen, dass Alle Sünder sind? Brauchen wir tatsächlich Jesus für unsere Erlösung? Darüber kamen wir ins Gespräch. Und aus meiner Sicht war das alles völlig eindeutig. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass es dazu unzählige Belegstellen gibt. Ich kann jetzt gar nicht alle aufführen, nur eine einzige: In Römer 3, 12 schreibt Paulus: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“ Das war für mich klar. Auch dass wir Jesus brauchen, um gerettet zu werden und um zu Gott kommen zu können, fand ich ganz eindeutig. Schließlich sagt Jesus ja selber diesen berühmten Satz, den ihr alle schon 100.000 Mal gehört habt. In Johannes 14, 6 sagt Jesus: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand – sagt er – niemand kommt zum Vater, es sei denn durch mich. Für mich war das alles in diesem Gespräch so klar und so eindeutig aus einem Grund: Weil die Bibel da klar und eindeutig formuliert! Nur für meinen Kollegen war das gar nicht so klar. Er war da völlig anderer Meinung. Er sagte: Nein, der Mensch ist eigentlich gut und es sind die gesellschaftlichen Umstände, die ihn schlecht handeln lassen. Und der Tod Jesu ist nicht wirklich heilsnotwendig. Ihr kennt das wahrscheinlich alles. Was mich so schockiert und so betroffen gemacht hat, war nicht so sehr, dass wir unterschiedliche Ansichten und Meinungen hatten. Das gibt es unter Menschen. Aber was mich wirklich betroffen gemacht hat war, dass mir im Laufe dieser Diskussion klar wurde: Wir haben gar keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr! Denn immer, wenn ich ein biblisch begründetes Argument brachte, dann wischte er das vom Tisch, weil er meinte: Ja, das steht da zwar, aber das ist ja nur eine zeitgebundene menschliche Meinung von Paulus oder von Johannes oder von wem auch immer. Und selbst wenn ich Aussagen brachte, die laut dem biblischen Text von Jesus selber sind, dann ist das doch nachösterliche Gemeindebildung und damit zweitrangig. Das zählt nicht. Und so ging das bei jedem einzelnen Punkt. So ging es bei jedem einzelnen Bibelvers, der nicht zu seinen Überzeugungen passte. Die biblischen Aussagen waren für ihn immer nur menschliche Meinungen, die man auch ganz anders sehen kann. Und die waren aus seiner Sicht jedenfalls nicht dazu geeignet, herauszufinden, was Gott denkt über dieses oder jenes Thema.

Und je länger dieses Gespräch ging, desto frustrierter und desto verzweifelter wurde ich, weil ich gemerkt habe: Das ist ein Freund und ein Theologe wie ich. Aber für ihn ist die Bibel gar nicht die letzte Autorität in Glaubensfragen, sondern eine Sammlung von menschlichen Aussagen über Gott. Und die kann man auch ganz anders beurteilen. Und da habe ich kapiert:

Wenn wir die Bibel so unterschiedlich ansehen, dann haben wir keine Basis mehr, auf der wir uns geistlich noch miteinander verständigen könnten.

Wir können dann zwar kommunizieren. Wir können uns auch hier treffen zu solchen Symposien oder Veranstaltungen. Aber wir können dann eigentlich nicht mehr wirklich miteinander reden, weil wir von vollkommen unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen auf geistlicher Ebene.

Genauso erlebe ich das auch – und das ist mein zweites Beispiel – in der Debatte um biblische Sexualethik, die uns seit Jahrzehnten beschäftigt. Ich bin kein großer Fan davon, ständig über Homosexualität, über gleichgeschlechtliche Ehen und neuerdings Genderdiversität zu reden. Das ist echt nicht mein Lieblingsthema. Aber ich kann es uns auch nicht ganz ersparen, weil ich die ganze Diskussion darum seit Jahren so erlebe, dass es zum Beispiel bei der Frage zur Bewertung der „Ehe für alle“ im Kern eigentlich nie wirklich um Sexualethik ging. Es ist im tiefsten Kern eine hermeneutische Frage. Es ging schon immer darum, wie wir eigentlich die Bibel lesen und sie verstehen.

Oft wird ja gerade denjenigen, die eher eine traditionelle christliche Sexualethik vertreten, vorgeworfen: Ihr nehmt ein biblisches Randthema, das ganz wenig Bedeutung in der Bibel hat, und stellt das so in den Mittelpunkt. Und ja, es ist richtig, dass Homosexualität und auch Gender von der von der reinen Häufigkeit her keine Hauptthemen der Bibel sind, das ist ganz klar. Aber: Es gibt eben Stellen, die dazu etwas sagen. Und es ist auch nicht bloß eine einzige oder zwei. Es gibt relevante biblische Aussagen dazu! Sogar die EKD hat 1996 noch eine Handreichung veröffentlicht, in der festgehalten wird, dass – wörtliches Zitat – es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Wenn die EKD das tut, dann muss dieser exegetische Befund echt eindeutig sein. Und dann ist aus meiner Sicht nur noch die schlichte Frage: Betrachten wir die Bibel als Gottes Wort? Lassen wir uns das sagen und gestehen ihr dann auch entsprechendes Gewicht zu, uns das auch sagen zu dürfen? Oder halten wir sie prinzipiell für Menschenwort und nehmen uns deshalb heraus, auch gegen den Wortlaut der Bibel anzuargumentieren?

Wie trennend das ist, wenn man das macht, das habe ich gerade erst kürzlich wieder erlebt. Wir haben bei uns im Kirchenkreis in Minden so ein kleines Werk für überregionale Jugendarbeit. Da sind vier Hauptamtliche, die die Jugendarbeit in den Gemeinden vor Ort unterstützen sollen. Und diese Hauptamtlichen sind tolle Leute, wirklich engagierte Menschen mit einem ganz großen Herzen, mit einer großen Liebe zu den Jugendlichen. Ich arbeite sehr gerne mit ihnen zusammen. Als Pfarrer bin ich in einem kirchlichen Ausschuss, der diese Arbeit „beaufsichtigen“ und begleiten soll. Und mit diesem Gremium haben wir neulich einen Klausurtag gehabt. An einem Samstag haben wir zusammengesessen. Unter anderem ging es um das Thema Genderdiversität in der Jugendarbeit. Das Thema hieß: Was sagt die Bibel zum Thema Gender? Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Der erste Programmpunkt dieses Tages sollte eine biblische Einordnung zu dem Thema sein. Da habe ich gedacht: Das ist doch klasse, dass wir als Christen als allererstes nicht auf Psychologie oder auf gesellschaftliche Trends schauen, sondern dass wir gemeinsam in Gottes Wort schauen. Und dann waren zwei Pfarrer gebeten worden, jeweils 20 Minuten dazu etwas zu sagen aus verschiedenen Perspektiven. Der eine davon war ich. Ich sollte etwas aus der traditionellen Perspektive dazu sagen. Und dann war da ein Kollege, der vertrat eine liberaltheologische Sicht. Zwischenmenschlich war das super. Das lief alles sehr angenehm ab. Es war ganz fair, eine ganz gute Atmosphäre. Aber es war trotzdem für mich am Ende unglaublich frustrierend. Denn am Ende standen unsere beiden Kurzreferate nebeneinander im Raum. Und dann passierte: Nichts. Es passierte nichts! Man sagte uns höflich „Dankeschön“ für unsere Mühe, die wir uns gemacht hatten. Und dann ging es weiter in der Tagesordnung. Es gab überhaupt kein Gespräch über die Frage: Was stimmt denn jetzt eigentlich? Wir hatten zwei vollkommen unterschiedliche Referate zu ein und demselben Thema gehört und die Frage „Was ist denn jetzt richtig?“, die gab es gar nicht! Und der Grund, warum diese Frage überhaupt nicht gestellt wurde, der war für mich mit Händen zu greifen. Warum diese Frage jetzt nicht auf den Tisch kam, war ganz einfach: Es gab einfach kein gemeinsames Kriterium, nach dem man das Gehörte jetzt irgendwie hätte einordnen oder beurteilen können. Das gab es nicht. Ich hatte aus meiner Sicht relevante biblische Belege gebracht, bei denen ich der Überzeugung war, dass das zu dieser Frage etwas austrägt. Mein Kollege, der die Gegenposition hatte, hat auch Bibelstellen zitiert. Aber ganz ehrlich: Die meisten Bibelstellen zitierte er nur, um sie direkt im Anschluss als zeitgebundenes Menschenwort gleich wieder zu relativieren. Was es überhaupt nicht gab, war ein gemeinsames Verständnis darüber, dass die Bibel Gottes Wort für uns ist und wir uns deshalb gegebenenfalls auch von ihr korrigieren lassen wollen. Das gab es nicht.

Und ich glaube: Genau darum geht es eigentlich am Ende beim Bibelverständnis.

Es geht am Ende um diese Frage: Ist die Bibel Gottes Wort? Darf sie mir etwas sagen? Bin ich bereit, mich von den Aussagen der Bibel auch korrigieren zu lassen? Oder ist es anders herum? Darf ich zuallererst etwas über die Bibel sagen, was ich meine, in ihr korrigieren zu müssen?

Ich glaube, diesen Trend und diese Gefahr sehen wir im Moment auch im evangelikalen Kontext. Die sehen wir in Büchern wie „TheoLab“. Ich glaube, wir sehen sie bei Worthaus und – wie ich meine – auch zum Beispiel an manchen Stellen bei Michael Diener. Wenn die Bibel Gottes Wort an mich ist und wenn sie Autorität hat, dann werde ich mich ihrem Wort unterordnen. Darum geht es am Ende. Das ist eine Theologie der Demut. Wenn sie aber nur Gottes Wort enthält unter ganz vielen anderen Wörtern, dann werde ich mich automatisch zu einer höheren Warte irgendwie aufschwingen müssen. Denn dann muss ich ja – es geht gar nicht anders – anfangen zu urteilen, was darin denn jetzt Gottes Wort ist, das gilt. Und was ist in ihr nur zeitgebunden? Was kann ich weglassen? Was ist zu relativieren? Wenn wir das machen, dann gibt es ganz grundsätzlich nichts, was dann nicht mehr in Frage gestellt werden könnte. Glaube mir das. Ich bin Landeskirche, ich weiß das. Das zeigt uns der Blick in unsere eigene theologische Geschichte und – besonders schmerzhaft und auch zerstörerisch meiner Meinung nach – der Blick auf die Theologie meiner evangelischen Landeskirche. Da gibt es nichts mehr, was nicht in Frage gestellt werden könnte.

Wenn wir uns in der Evangelischen Allianz beim Schriftverständnis dieselbe Pluralität erlauben, wie das meine Landeskirche tut, und wenn wir sagen: Ach, weißte, Johannes, das Schriftverständnis ist so ein schwieriges und sperriges Thema, lass uns da mal nicht drüber streiten – ich glaube, dann wird die Evangelische Allianz auseinanderdriften. Beim Bibelverständnis geht es ums Ganze. Es geht darum, was wir als Christen gemeinsam glauben können, was wir gemeinsam bezeugen können, was wir gerade auch in der Evangelisation gemeinsam verkündigen können, was wir gemeinsam anbeten können.

Und das hat Auswirkungen, im Guten wie im Schlechten. Ich möchte es ausdrücklich auch positiv sagen: Wenn wir uns da einig sind, dann hat das total belebende positive Auswirkungen auf unsere geistliche Wirkkraft, die in der Bibel „Vollmacht“ heißt. Es hat Auswirkungen auf die Lebendigkeit unserer Gemeinden, auf unsere Einheit, auf unser missionarisches Zeugnis, auf die Hoffnung, die wir ausstrahlen in die Welt, auf die Ethik, nach der wir leben, auf die Standhaftigkeit, wenn uns Kritik aus der Gesellschaft entgegenschlägt, auf unsere Opferbereitschaft… auf alles!

Und deshalb ist es mir so ein Herzensanliegen, deshalb werbe ich so darum: Lasst uns an diesem einen zentralen Punkt klar bleiben! Und zwar so klar, wie es ja auch schon in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz formuliert ist. Da steht wörtlich: „Die Bibel ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ Und ich sage von ganzem Herzen “Amen” dazu.

Zeit des Umbruchs: Der Verlust der Selbstverständlichkeiten

Als im Oktober 2017 die erste Version meines Artikels über die Worthaus-Mediathek online ging, konnte ich nicht ahnen, was das alles auslösen und nach sich ziehen würde. 5 Jahre später scheint mir die Debatte intensiver denn je zu sein. Im Dezember 2022 durfte ich meine Perspektive einem Kreis von rund 100 Leitern aus dem allianzevangelikalen Umfeld im Rahmen des Allianz-Symposiums “Verbindende Glaubensschätze” darlegen. Da die Videoaufnahme nicht ganz vollständig ist, stelle ich hier zusätzlich mein Skript zur Verfügung. Was ist Ihre Meinung dazu? Schreiben Sie mir gerne einen Kommentar oder eine persönliche Nachricht.

Ich empfinde es als unglaubliches Vorrecht, dass ich heute zu euch / zu Ihnen sprechen darf. Ich freue mich sehr auf alle Gespräche und Begegnungen. Einige, die hier sind, kennen mich bereits. Aber da ich noch nicht allen bekannt, will ich mich noch einmal kurz vorstellen:

Mein Name ist Markus Till. Ich gehöre zur evangelischen Landeskirche. Gemeinsam mit meiner Frau bin ich in meiner Heimatgemeinde in Weil im Schönbuch aktiv. Ich komme aus dem schwäbischen Pietismus. Und diese tiefe, nüchterne Verwurzelung in der Bibel, die ich da mitbekommen habe, prägt mich bis heute. Aber wer mich kennt weiß, dass ich auch durch charismatische Einflüsse geprägt worden bin. Es gibt eine Lobpreis-CD von mir. Man findet meinen Namen in den Feiert Jesus-Büchern. Und ich habe einen Glaubenskurs entwickelt: Aufatmen in Gottes Gegenwart. Vor kurzem ist mein überarbeitetes Buch dazu erschienen und eine Homepage mit vielen Videos und Materialien ist online gegangen.

Im Jahr 2017 ist noch etwas dazu gekommen, was mich seither sehr beschäftigt. Auf meinem Blog hatte ich einen Artikel veröffentlicht über die Worthaus-Mediathek. Der Artikel ist viral gegangen. IDEA hat eine Kurzversion davon abgedruckt. Etwas später hat mich SCM gebeten, ein Buch über Postevangelikalismus zu schreiben, das 2019 erschienen ist unter dem Titel „Zeit des Umbruchs“. Und in der Folge wurde ich dann auch immer öfter angefragt, Artikel zu schreiben und Vorträge zu halten. Ulrich Parzany hat mich eingeladen, beim Netzwerk Bibel und Bekenntnis mitzuwirken, was ich seither sehr gerne tue. Und seit etwas mehr als 1 Jahr mit ich mitverantwortlich für die Mediathek offen.bar.

Eine Lebensfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Ein großes Thema, das sich durch mein ganzes Glaubensleben zieht, ist die Frage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das liegt zum einen daran, dass ich eine sehr schmerzhafte Spaltung durchlitten habe. Da sind viele persönliche Freundschaften zu Bruch gegangen. Für mich und meine Frau war das ein echtes Trauma. Zum anderen habe ich aber vor allem in den letzten 10 Jahren auch viele Versöhnungsprozesse erleben dürfen. Insgesamt hatte ich lange Zeit den Eindruck: Die Einheit wächst! Ich habe früher oft gelitten unter dieser Spaltung zwischen charismatisch und pietistisch geprägten Christen. Nie werde ich vergessen, wie ich 1991 beim Gemeindekongress in Nürnberg dabei sein durfte, als Klaus Eickhoff und Friedrich Aschoff sich gegenseitig um Vergebung baten für alle Vorurteile, für alles gegenseitige Misstrauen. Ich habe buchstäblich geweint an diesem Abend vor Freude. Und ich habe in den Folgejahren erleben dürfen, dass dieser tiefe Graben tatsächlich immer mehr überwunden wurde.

Wachsende Risse im evangelikalen Umfeld

Nur leider hat sich dieser Einheitstrend nicht verfestigt. Ulrich Eggers hat vor einiger Zeit in AUFATMEN geschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“ Und ich denke, wir merken alle: Das stimmt! Und meine Wahrnehmung ist: Wir haben etwas verloren im evangelikalen Umfeld: Wir haben eine Selbstverständlichkeit verloren. Was meine ich damit?

Ein selbstverständlicher verbindender Glaubenskern

Im Jahr 1994 waren meine Frau und ich in Berlin beim Marsch für Jesus. Gemeinsam mit etwa 70.000 Christen sind wir singend und betend durch Berlin gezogen. Wir haben dort gemeinsam ein Bekenntnis gesprochen: „Ich nehme die Bibel an als das heilige und ewige Wort Gottes. Die ganze Schrift ist inspiriert durch den Heiligen Geist; sie ist Gottes verbindliche Offenbarung.“ Ich habe das damals als völlig normal empfunden. Dass man sich auf einer evangelikalen Großveranstaltung zur Autorität und zum Offenbarungscharakter der Bibel bekennt, das war für mich etwas Selbstverständliches. Und für mich war klar: In den allianzevangelikalen Kreisen sind wir zwar in vielen Dingen sehr verschieden. Aber wenn es um die Bibel und ihre zentralen Aussagen geht, da sind wir ganz selbstverständlich beieinander. Das verbindet uns miteinander über alle Unterschiede hinweg.

Jürgen Mette hat das in seinem Buch „Die Evangelikalen“ einmal so formuliert: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ Einfach ausgedrückt: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Das ist zwar keine Garantie für Einheit – das wissen wir alle. Aber jedenfalls wird Einheit möglich. Und der Aufbruch der Evangelikalen im letzten Jahrhundert hat gezeigt: Diese Einheit ist tatsächlich immer wieder in beeindruckender Weise gelungen, wenn ich da nur an die Lausanner Bewegung denke und an so viele übergemeindliche evangelikale Werke und Initiativen, die da gegründet aufgebaut worden sind.

Eine Grundlage für Einheit in Vielfalt: Konsens im Kern, Weite in Randfragen

Wie hat diese Einheit in Vielfalt funktioniert? Ich habe versucht, dieses Prinzip, das auch Jürgen Mette hier formuliert hat, einmal grafisch darzustellen. Die Kernaussage ist: Im Kern brauchen wir Konsens. Aber je randständiger die Themen sind, umso mehr Weite brauchen wir. Bei Paulus können wir das auch erkennen: Paulus war bei kulturellen Fragen enorm flexibel. Er hat geschrieben: Ich bin allen alles geworden, damit ich einige retten kann. Aber im Kern, wenn es ums Evangelium ging, da konnte der gleiche Paulus plötzlich enorm scharf werden. Da hat er sich nicht gescheut, sogar Petrus namentlich öffentlich anzugreifen. Den Galatern hat er geschrieben: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Welch harte Worte! Wenn es ums Evangelium ging, war Paulus absolut kompromisslos.

Bekenntnisse fassen den unaufgebbaren Kern unseres Glaubens in Worte

Die große Frage ist aber jetzt: Was ist denn das Evangelium? Was ist der Kern unseres Glaubens, an dem wir unbedingt festhalten müssen? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wie gut ist es da, dass wir dieses Rad nicht neu erfinden müssen! Denn diese Frage hat ja schon so viele Christen vor uns beschäftigt. Sie haben hart gearbeitet, intensiv die Bibel gelesen und hart miteinander gerungen, bis sie diese wundervollen Bekenntnisse formuliert hatten. Das waren keine langen Texte. Aber zu diesen wenigen Sätzen haben sie gesagt: Das sind Aussagen, die aus der Bibel vollkommen klar und eindeutig hervorgehen. Deshalb kann und darf es zu diesen Aussagen unter uns keine zwei Meinungen geben.

Dass wir solche Bekenntnisse brauchen, haben Christen schon immer gespürt. Wir finden sie schon in der Bibel selbst. Wir kennen alle diese wunderbaren altkirchlichen Bekenntnisse. Und bis heute werden immer wieder solche bekenntnisartigen Texte formuliert. Einer der wichtigsten Texte aus der Neuzeit ist für mich die Glaubensbasis der größten Einheitsbewegung unserer Zeit, der evangelischen Allianz. Und ich muss ehrlich sagen: Ich liebe diesen Text! Wenn ich das lese, dann sagt mein Herz: Ganz genau! Da wird wunderbar zusammengefasst, was mich bewegt und trägt. Und wo das geglaubt wird, da sind meine Brüder und Schwestern, egal aus welcher Kirche und welcher Prägung sie kommen. Da ist meine Familie. Da ist meine geistliche Heimat.

Nichtevangelikale Theologie zunehmend auch im evangelikalen Umfeld

Und gerade deshalb, weil mir diese Heimat und diese Einheit in Vielfalt so kostbar ist, deshalb treibt es mich auch so um, wenn ich sehe: Diese gemeinsame Glaubensgrundlage ist heute leider bei weitem nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es einmal war. Als ich mich vor 5 Jahren so intensiv mit Worthaus beschäftigt habe, da bin ich ja nicht so sehr über die Theologie erschrocken, die mir da begegnet ist. Ich bin evangelisch. Ich kenne diese Art von Theologie seit langem. Wir Evangelikale wollten aber immer ganz bewusst einen anderen theologischen Weg gehen. Deshalb ging ich damals fest davon aus: Ganz bestimmt werden evangelikale Leiter jetzt deutlich machen: Diese Art von Theologie passt nicht zu uns passt. Aber meine Beobachtung war eher: Viele Leiter schweigen. Oder sie machen einfach weiter damit, postevangelikale Formate und ihre Vertreter populär zu machen. Auch in Publikationen im evangelikalen Umfeld wird Werbung für Worthaus und dazu noch für viele andere nichtevangelikale Theologen wie z.B. Dorothee Sölle.

Mir begegnet das zum Beispiel in Büchern wie „glauben lieben hoffen“ oder in der Buchreihe „TheoLab“. Das sind ja nicht irgendwelche Bücher. Das sollen theologische Grundlagenwerke sein für die Jugendarbeit im freikirchlichen bzw. im landeskirchlich/pietistischen Umfeld. Diese Bücher sollen also unsere Jugend und damit unsere Zukunft theologisch prägen. Und meine Beobachtung ist: Das funktioniert! Diese Art von Theologie kommt an! Sie belegt oft Spitzenplätze bei den Klickzahlen im Internet. Sie ist attraktiv. Sie umgibt sich gern mit der Aura von Aufgeklärtheit, von Toleranz, von intellektueller Überlegenheit. Sie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und den Werten unserer Kultur. Sie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung. Kein Wunder, dass diese Art von Theologie meine evangelische Kirche schon längst im Sturm erobert hat. Und deshalb versetzt es mir immer einen Stich ins Herz, wenn ich sehe, wie auch unter uns Evangelikalen immer wieder so völlig unkritisch dafür Werbung gemacht wird. Denn diese Theologie hat nun einmal Konsequenzen. Was meine ich damit?

Der Verlust der verbindenden Gemeinsamkeiten

Im Jahr 2020 lag auf der Theke meiner christlichen Buchhandlung in Dutzendware ein Buch über Ostern auf dem Tisch. Ich kannte den Autor sehr gut, ich war selbst immer wieder persönlich mit ihm im Gespräch. Und in dem Buch fand ich den Satz: „Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“ Das klingt weitherzig und großzügig. Aber was ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist: Wir haben wieder etwas von dem verloren, was uns bisher ganz selbstverständlich miteinander verbunden hat. Unsere gemeinsame Basis ist wieder kleiner geworden. Und wisst ihr: Solche relativierende und subjektivierende Aussagen sind mir so oft begegnet in den letzten Jahren, nicht nur zur Jungfrauengeburt sondern zum Bibelverständnis. Zur Kreuzestheologie. Zur Auferstehung. Zur Wiederkunft Jesu. Also zu all den Themen, über die in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz so viel ausgesagt wird!

Es geht ans Eingemachte – und um weitreichende Konsequenzen

Thorsten Dietz hat in seinem Buch „Menschen mit Mission“ geschrieben: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Und ja, ich glaube: Das stimmt. Aber wenn das so ist, dann heißt das auch: Wenn nun selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert und subjektiviert werden, dann driften wir nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander. Nein, dann geht es wirklich ans Eingemachte. Dann geht es um den innersten Kern unseres Glaubens. Und ich bin überzeugt: Wenn wir diesen gemeinsamen Glaubenskern verlieren, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in unserer Mitte immer mehr Tendenzen sehen, die ich aus meiner evangelischen Kirche zur Genüge kenne: Wir haben keine gemeinsame Botschaft mehr. Wir haben keine Einheit mehr. Wir haben keine missionarische Dynamik mehr. Stattdessen verzetteln wir uns in politischen Botschaften, die die Spaltung nur noch mehr vorantreiben. Liebe Freunde: Das kann doch niemand von uns wollen!

Ein alternatives Narrativ zur Ursache der Spaltungstendenzen

In letzter Zeit habe ich oft ein anderes Narrativ gehört zu der Frage, warum es unter uns Evangelikalen wachsende Gräben gibt. Immer wieder habe ich gelesen, es gäbe da zwei Strömungen, die in Spannung zueinander stünden. Auch Thorsten Dietz spricht in seinem Buch von den sogenannten „Bekenntnis-Evangelikalen“ auf der einen Seite und den “Allianzevangelikalen” auf der anderen Seite. Und er sagt: Die Allianzevangelikalen, das sind die, die „stärker um Vermittlung und Dialog bemüht“ sind. Sie könnenunterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“ Und auf der anderen Seite nennt er auf der letzten Seite seines Buchs das Netzwerk Bibel und Bekenntnis. Und er sagt, dieses Netzwerk strebe an, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Und die Frage ist: Ist das so? Ist damit die Landkarte der Evangelikalen richtig beschrieben?

Worum es tatsächlich geht: Die verbindenden Glaubensschätze bewahren

Ich möchte es heute abend wagen, eine Gegenthese zu formulieren. Ich glaube: Wir Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Wir haben doch schon immer betont, dass wir an den zentralen Bekenntnissen festhalten wollen und müssen. Und deshalb tut es mir weh, wenn hier ein Widerspruch aufgebaut wird. Denn Christen wie mir geht ja gar nicht darum, in rechthaberischer Weise etwas durchzusetzen! Die Bekenntnisse muss man nicht durchsetzen. Die sind bekannt, die sind veröffentlicht, auf die muss man sich nicht mehr einigen. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen, sondern etwas zu bewahren. Etwas, das überaus wertvoll ist! Es geht um unsere verbindenden Glaubensschätze, die uns helfen, Einheit in Vielfalt ganz praktisch zu leben und gemeinsam missionarisch zu sein.

Wir Evangelikale wollten doch schon immer zweierlei: Wir wollen die Liebe zu Christus stärken! Denn das verbindende Zentrum unseres Glaubens ist nicht eine Lehre, sondern die Person Jesus Christus, darin sind wir uns einig. Aber gerade um dieser Christusmitte willen wollen wir zugleich auch festhalten an der Autorität der Bibel. Denn über diesen Jesus Christus, dem wir gemeinsam folgen wollen, über seine Lehre, sein Erlösungswerk, über das Evangelium wissen wir ja nichts außer das, was die Bibel uns sagt! Ohne die Autorität und die Klarheit der Schrift wird „Christus“ zur Hülse wird, die jeder subjektiv mit etwas anderem füllt. Aber eine Hülse kann uns nicht miteinander verbinden.

Was jetzt zu tun ist: Unsere Glaubensbasis verteidigen und zum Leuchten bringen

Und deshalb bin ich überzeugt, liebe Freunde: Wir haben eine große Aufgabe vor uns, die wir nur gemeinsam schaffen können. Wir müssen wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens. Wir müssen neu lernen, zu begründen, warum wir diese Glaubensbasis haben und warum sie für uns unaufgebbar wichtig ist. Und ja, ich glaube, dazu gehört eben auch, dass wir wieder lernen müssen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist nicht cool. Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft überhaupt nicht schick. Und trotzdem bin ich überzeugt: Es ist notwendig und im besten Sinne not-wendend.

Denn so viel ist doch klar: Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht schon die Apostel und die frühen Kirchenleiter Position bezogen hätten gegen die Häresien, wenn da zum Beispiel ein Marcion auftritt, wenn da Gnostiker auftreten, wenn da Ablasshandel betrieben wird und, und, und. Die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Und glauben wir denn wirklich, dass wir das ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten? Ich glaube: Doch, wir brauchen das. Gerade auch heute. Und deshalb ist meine Bitte: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu verteidigen. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Lasst uns gemeinsam unsere verbindenden Glaubensschätze hochhalten, zum Leuchten bringen und auch gegen Widerspruch verteidigen. Ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen und mit euch über dieses wichtige Thema ins Gespräch zu kommen.

Vom Ringen um Einheit – Eindrücke vom Allianz-Symposium „Verbindende Glaubensschätze“

Drei extrem intensive Tage liegen hinter mir. Das lag nicht nur am Programm, das mit 17 Kurzvorträgen und diversen Diskussionsrunden mehr als vollgepackt war. Dazu kamen die Sitzungen der Vorbereitungsgruppe sowie viele spannende Gespräche mit überaus wertvollen Mitchristen (insgesamt waren fast 100 Leiter aus den verschiedensten Bereichen der evangelikalen Welt zusammengekommen). Die größte Herausforderung war für mich, dass eben auch eine gewisse Spannung in der Luft lag, die hier und da auch in offene Kontroversen mündete. Aber dazu später mehr.

Worum ging es bei diesem Symposium?

Die Überschrift machte es deutlich: Es ging um unsere „verbindenden Glaubensschätze” sowie um die aktuell immer drängender werdende Frage: “Wie gelingt Einheit in Vielfalt?“ Erläuternd war dazu im Programmablauf zu lesen:

„Die Zukunft der Allianzbewegung und die Gültigkeit ihrer theologischen Basis als gemeinsame Vertrauens-Plattform. Ziel: Glaubensgrundlagen stärken, Begegnung ermöglichen, Unterschiedliche Sorgen verstehen und ernst nehmen, das Miteinander stärken, gemeinsam Jesus-gemäße Wege in die Zukunft erkunden“

Ein absolutes Highlight des Symposiums waren für mich dabei die vielen großartigen Vorträge, die diese Fragestellung ausleuchteten. Noch nie wurde mir so deutlich, wie viel Potenzial wir in unseren evangelikalen Reihen haben: Kluge Denker. Kühne Evangelisten. Gründliche Theologen. Aufopferungsvolle Beter. Visionäre Gemeindebauer. Allesamt durchdrungen von spürbarer Liebe, Leidenschaft und Herzlichkeit. Das habe ich in dieser Dichte und Vielfalt noch nie erlebt.

Die Vorträge waren in 4 Blöcke eingeteilt:

Im 1. Block unter dem Titel „Die Herausforderung in den Blick nehmen“ ging es um eine Bestandsaufnahme der IST-Situation. Wie steht es um unsere „fromme Landschaft“ im landes- und freikirchlichen Bereich? Darüber sprachen Volker Gäckle, Alexander Garth und Ansgar Hörsting. Mein Vortrag befasste sich dazu mit der Frage: Wie gestaltet sich das Miteinander? Welche theologischen Spannungen gibt es und wie sollten wir darauf reagieren? Und welche Rolle spielen dabei die Bekenntnisse, insbesondere die Glaubensbasis der evangelischen Allianz?

Der 2. Block war überschrieben mit dem Titel „Der Blick zurück – Was lehrt uns die Geschichte?“ Prof. Roland Werner und Rainer Harter sprachen über die frühe Kirche: Welche Prinzipien haben sie zur Bewegung werden lassen? Wie gingen sie mit falschen Lehren um? Welche Rolle haben ethische Fragen gespielt? Welche Bedeutung hatten die Bekenntnisse? Rainer Harter machte deutlich: Das Nicäno-Konstantinopolitanum ist ein wunderschöner Glaubensschatz, der bis heute weltweit zahllose Kirchen miteinander verbindet. Ulrich Parzany blickte in seinem Vortrag auf den Aufbruch der Evangelikalen im 20. Jahrhundert zurück – eine beeindruckende Innenansicht, die zeigte: Viele äußere Erfolge waren auch hart umkämpft.

Im 3. Block ging es um die Kernfrage dieses Symposiums: „Einheit in Vielfalt – Was ist unser verbindender Kern?“ Die Vorträge von Johannes Röskamp, Martin P. Grünholz und Nicola Vollkommer-Sperry gaben dazu drei eindrückliche Antworten: Der Offenbarungscharakter der Bibel! Der stellvertretende Opfertod Jesu! Und die Leidenschaft für Jesus Christus, wie er uns in der Bibel offenbart wird! Aber genügt diese Übereinstimmung für echte Einheit? Ulrich Eggers wies in seinem Vortrag auf notwendige Herzenshaltungen hin, die für Einheit unverzichtbar sind.

Der 4. Block am Freitagabend unter dem Titel „Der Blick nach vorne: Was wir jetzt brauchen!“ war zunächst geprägt von einem beeindruckenden Vortrag von Dr. Fabian Grassl zur dringenden Notwendigkeit der (verlorenen) Kunst der Apologetik. In einem Podiumsgespräch wurde herausgearbeitet: Wir müssen die Kunst der theologischen Debatte wieder ganz neu lernen! Der Abend mündete in einen Aufruf zum Gebet um Erweckung und zum notwendigen Miteinander zwischen Betern, Bibel- und Bekenntnisleuten sowie Praktikern in Gemeinden und Werken.

Der 5. Block am Samstagmorgen war überschrieben mit dem Titel: „Einheit im Spannungsfeld“. Stephanus Schäl sprach konkret über „Einheit im Spannungsfeld zwischen Gesetzlichkeit und Beliebigkeit“. Armin Baum nahm sich des Themas an, das die ganze Zeit über immer wieder aufblitzte, weil es faktisch so oft im Zentrum der laufenden Auseinandersetzungen steht: Wie gelangt man von den biblischen Aussagen zur ethischen Praxis? Dirk Scheuermann, Reinhard Spincke und Gernot Elsner machten deutlich, dass alles notwendige theologische Ringen kein Selbstzweck ist, sondern am Ende zur missionarischen Praxis führen muss. Die äußerst ermutigenden Berichte aus der erwecklich gewachsenen Kirchengemeinde Nierenhof sowie von den missionarischen Einsätzen am Ballermann in Mallorca haben sicher bei vielen Symposiumsteilnehmern bleibenden Eindruck hinterlassen.

Die gesamte Playlist mit allen Vorträgen findet sich hier auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Allianz.

Und was war das Ergebnis?

Über der gesamten Veranstaltung schwebten letztlich 2 Grundfragen, die nach meiner Wahrnehmung wie große Elefanten im Raum standen. Die erste Frage hieß: Wie gehen wir um mit der Glaubensbasis der evangelischen Allianz? In meinem Vortrag hatte ich dazu Thorsten Dietz zitiert mit dem Satz: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Damit hat er sicher recht. Aber wenn das so ist, dann heißt das eben auch: Wenn selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert oder subjektiviert werden, dann driften wir eben nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander, sondern dann geht es wirklich ans Eingemachte, um den innersten, verbindenden Kern unseres Glaubens.

Umso mehr bin ich überaus dankbar dafür, dass die Vorbereitungsgruppe des Symposiums (Ekkehart Vetter, Reinhardt Schink, Ulrich Eggers und ich) zu dieser Frage eine klare Antwort fand, die wir auch gemeinsam öffentlich bekanntgaben:

„Als Vorbereitungsgruppe des Symposiums sind wir dankbar für unsere intensive Tagung, bekräftigen und feiern die theologische Basis der EAD und halten fest, wie wichtig persönliche Begegnung und vertrauensvolles Gespräch für die Erfüllung unseres Auftrags ist. Gemeinsam wünschen wir uns mitten in den drängenden Fragen und Nöten unserer Zeit einen Neuaufbruch unserer Gemeinden und Werke zu vermehrtem Gebet und missionarischem Christus-Zeugnis in Wort und Tat.“

Diese Aussage haben wir unterstrichen durch einen Bekenntnisakt am Ende des Symposiums, den Ekkehart Vetter in IDEA wie folgt beschrieb:

„Ich bin Jahrzehnte im Kontext von Evangelischer Allianz unterwegs, aber das Symposium, prall gefüllt mit 17 Kurzreferaten, Diskussion, Gebet, viel Begegnung bis tief in die Nacht, endete mit einem für mich anfangs nicht geplanten Novum: Das versammelte Plenum des Symposiums las, ja proklamierte die Glaubensbasis der EAD als gemeinsames Bekenntnis. Ein fast historischer Moment, der nach meinem Eindruck nicht ohne Folgen bleiben wird.“

Diese Worte kann ich nur dick unterstreichen. Ich bin deshalb auch sehr ermutigt aus diesem Symposium herausgegangen. Gleichwohl steht natürlich immer noch eine zweite große Frage im Raum: Wie gehen wir damit um, wenn in unserer Mitte der Glaubensbasis widersprochen wird? Sollten wir wieder neu lernen unsere Glaubensgrundlagen leidenschaftlich zu verteidigen? Oder sollten wir unsere theologische Position nur möglichst bescheiden vertreten oder gar ganz zurückstellen, um keine Spaltung zu verursachen? Diese wichtige Frage wurde zwar andiskutiert, aber sie ist nach meinem Empfinden nach wie vor unbeantwortet.

Das Überwinden von Klischees als erster Schritt?

Ich hoffe aber, dass das Symposium zumindest geholfen hat, ein paar Klischees zu überwinden, die das Gespräch zu dieser Frage bisher belastet haben. Oft wird ja behauptet, hier stünden sich 2 Lager gegenüber: Die einen hätten ihre Priorität auf Einheit, ihr Denken sei von Offenheit geprägt, sie lesen die Bibel von Jesus her, sie glauben einander den Glauben, sie sind lernbereit im Umgang mit anderen Christen, ihre Priorität ist Gemeindebau und Mission aus Liebe zu den Menschen und um dieser Prioritäten willen sind sie offen für neue Impulse und Entwicklungen. Diesem „offenen“ Lager stünden die sogenannten „Bekenntnisevangelikalen“ gegenüber, die die Priorität auf die Durchsetzung eigener Überzeugungen legen, deren Denken von Grenzen geprägt ist, die dem Buchstaben und ihrer persönlichen Bibelauslegung folgen, deren Priorität der theologische Streit ist, die neue Entwicklungen als angsteinflößende Gefahr für die rechte Lehre empfinden und sich kulturpessimistisch von der „Welt“ abkapseln.

Das Symposium hat hoffentlich gezeigt: Auch diejenigen, die dafür eintreten, dass wir unsere Glaubensgrundlagen hochhalten, begründen und verteidigen sollten, haben in vielen Fragen der Theologie und Prägung eine große Weite. Auch sie stellen Christus ins Zentrum. Es geht ihnen gerade nicht ums Rechthaben sondern um eine gesunde Grundlage für Einheit, Gemeindebau und Mission. Sie verstecken sich nicht hinter dogmatischen Mauern, sondern sie sind leidenschaftliche Beter, Gemeindebauer, Evangelisten und Missionare. Aber sie sehen eben im schwindenden Konsens zu den Kernfragen unseres Glaubens eine Hauptursache dafür, warum unsere Einheit und unsere missionarische Dynamik schwindet. Gerade um der Einheit und der Mission willen ringen sie um diese Themen. Das angebliche Gegeneinander von „Allianzevangelikalen“ und „Bekenntnisevangelikalen“ ist aus ihrer Sicht ein Mythos, denn: Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale. Mehr noch: Für das historische Christentum haben Bekenntnisse schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. „Allianz“ und „Bekenntnis“ gehörte schon immer untrennbar zusammen. Wer die Bekenntnisse auflöst, untergräbt auch die Einheit. Die Bekenntnisse hochzuhalten und zum Leuchten zu bringen ist deshalb ein aktiver Dienst für unsere Einheit und das missionarische Miteinander.

Wie geht es weiter?

Vielleicht wird es ja möglich sein, auf einer klischeebereinigteren Grundlage die Gespräche auf einer breiteren Basis fortzusetzen. Das würde ich mir zumindest sehr wünschen. Die Vorträge des Symposiums könnten dafür eine solide Gesprächsgrundlage sein. Sie werden aktuell nachbearbeitet und in Kürze online gestellt. Ich empfehle dringend, am besten sämtliche Vorträge anzuschauen. Ich hoffe, dass zukünftig noch mehr Christen sich in diese so wichtige Debatte einbringen. Und lasst uns gemeinsam dafür beten, dass die Kirche Jesu insgesamt auf eine Spur findet, die zu wachsender Einheit und zu einem erwecklichen, missionarischen Aufbruch führt.

Macht – Die dreifache Versuchung für christliche Leiter

Die Bibel berichtet, dass Jesus sich vor dem Beginn seines öffentlichen Dienstes einer besonderen Prüfung unterziehen musste. Nach einer 40-tägigen Fastenzeit in der Wüste wurde er dreifach vom Teufel versucht (Matthäus 4, 1-11; siehe auch Lukas 4, 1-13). Diese kurze Geschichte ist vor allem für christliche Leiter von enormer und grundlegender Bedeutung. Denn die Strategien des „Versuchers“ (in der Bibel eine andere Bezeichnung für den Teufel) sind bis heute die gleichen geblieben:

1. Missbrauch der eigenen Macht

Als Jesus nach der langen Fastenzeit überaus hungrig war, machte ihm der Teufel einen verführerischen Vorschlag: „Wenn du der Sohn Gottes bist, befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!“ Keine Frage: Jesus hätte das gekonnt! Wer Wasser in Wein verwandeln kann, kann auch Steine in Brot verwandeln. Aber er wusste, dass er seine Macht nicht beliebig für die eigene Bedürfnisbefriedigung missbrauchen durfte.

Missbrauch der eigenen Macht ist bis heute eines der größten Probleme in unseren Gemeinden. Kirchen- und Gemeindeleiter missbrauchen ihre Macht, um ihre eigene Position und die eigenen Kirchen- und Gemeindestrukturen abzusichern. Wie viele Aufbrüche wurden abgewürgt, weil sie nicht die bestehenden Strukturen gestützt haben, sondern weil der neue Wein neue Schläuche gebraucht hätte? Wie viele Aufbrüche wurden bekämpft, weil sie den Wünschen der Mächtigen in Kirchen und Gemeinden widersprachen? Wie viele Gottesdienste und Gemeinden sind routiniert und kraftlos, weil Kirchen- und Gemeindeleiter ihre Macht missbrauchen, um Veränderung zu unterdrücken? Wie viel kraftvolles Gotteswort ist verloren gegangen, weil die Mächtigen in Kirchen und Gemeinden das Kanzelrecht aufgrund von Ämtern und Ausbildung vergeben statt aufgrund von Gabe und Berufung?

Jesus antwortet mit einem Schriftwort: „In der Heiligen Schrift steht: Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Nein, vielmehr lebt er von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ Wo geistliche Leiter nur ihre eigenen Brötchen backen, verhungern Kirchen und Gemeinden. Geistliches Leben entsteht dort, wo wir dem kraftvollen Wirken von Gottes Wort Raum geben, auch wenn wir die Wirkungen dieses Wortes nicht kontrollieren können.

2. Missbrauch der Nähe zur Macht Gottes

Im zweiten Anlauf versucht der Teufel, Jesus mit seiner Nähe zur Macht Gottes zu verführen: „Wenn du der Sohn Gottes bist, spring hinunter! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Er wird seinen Engeln befehlen: Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.‹“ Jesus war sich der Macht Gottes sicher bewusst. Gott sandte ihm immer wieder Engel, so auch am Ende dieser Geschichte in der Wüste. Und was wäre das für eine Show gewesen! Ein Mann, der vom Dach des Tempels springt und von Engeln aufgefangen wird, bräuchte nicht mehr mühsam um Respekt und Aufmerksamkeit kämpfen.

Auch heute noch ist die (gefühlte oder angemaßte) Nähe zur Macht Gottes eine gewaltige Versuchung für christliche Leiter. Ich denke an manche charismatische Frontleute, die eine emotional aufgeladene Atmosphäre, Wunder und Geistesgaben nutzen, um Aufmerksamkeit und Spendenaufkommen zu generieren. Ich denke an manche Christen, die vorschnell persönliche Meinungsäußerungen mit „So spricht der Herr“ oder „Die Bibel sagt“ unterlegen, um Widerspruch von vornherein auszuschließen. Ich denke an manche Kirchen- und Gemeindeleiter, die ihr Amt missbrauchen, um Dinge und Handlungen zu segnen, die Gott niemals segnen würde. Ich denke an manche Pfarrer, Pastoren und Prediger, die ihr Amt missbrauchen, indem sie wahllos jedem das Heil, den Segen und die Vergebung Gottes zusprechen, ohne zugleich über die Realität der Sünde und die Notwendigkeit zur Umkehr zu sprechen. Und ich frage mich, wie oft ich selbst schon in solche Fallen getappt bin.

Die Antwort Jesu ist klar: „Es steht aber auch in der Heiligen Schrift: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“ Gott vor den eigenen Karren zu spannen, hat immer katastrophale Folgen.

3. Missbrauch der Nähe zur weltlichen Macht

Im dritten Anlauf lenkt der Teufel den Blick Jesu auf die weltliche Macht: „Er zeigte ihm alle Königreiche der Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit. Er sagte zu ihm: »Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest!«“ Damit ließ der Teufel Jesus spüren: In diesem Augenblick bist Du mit der zentralen Schaltstelle der weltlichen Macht in Verbindung. Ein kurzes Gebet – und die Macht gehört Dir! Du könntest sie für großartige Dinge einsetzen: Kriege beenden. Für soziale Gerechtigkeit sorgen. Übeltäter stoppen…

Ich sehe das überall in der kirchlichen Welt: Die Nähe zur politischen Macht und zu den intellektuellen Eliten ist überaus verführerisch. Da lohnt es sich doch scheinbar, das Evangelium ein wenig zeitgeistiger zu formulieren, um von Steuertöpfen profitieren zu können, um in den Medien Beifall zu bekommen, um in der akademischen Welt Anerkennung zu finden. Und es lohnt sich doch scheinbar, sich nicht mit der Kirchenleitung anzulegen, ganz egal, wie sehr sie sich auch verirrt. Wenn ich mich mit der Kirchenleitung gut stelle, dann darf ich vielleicht ein wenig mitreden. Dann kann ich vielleicht eher die eigenen Interessen einbringen. Dann bekommt meine Organisation vielleicht ein paar mehr Stellen und ein wenig mehr Geld aus den Kirchensteuer- bzw. Spendentöpfen. Und damit könnte man doch so großartige Dinge bewegen…

Auf solche Spielchen ließ Jesus sich nicht ansatzweise ein: „Da sagte Jesus zu ihm: »Weg mit dir, Satan! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren!‹« Daraufhin verließ ihn der Teufel. Und es kamen Engel und sorgten für ihn.“ Die Grundlage für den Dienst Jesu lag darin, all diesen Versuchungen zur Macht gründlich zu widerstehen. Stattdessen behielt er den Fokus auf Gottes Macht und Souveränität. Seine feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift war dafür von entscheidender Bedeutung.

Wir müssen uns bewusst machen, wie verführbar wir sind

Die Botschaft dieser biblischen Episode ist drastisch: Wehe uns, wenn wir selbst die Macht in den Gemeinden und Kirchen übernehmen, statt Christus das Haupt der Kirche sein zu lassen. Wehe uns, wenn wir Gott für unsere eigenen Ziele missbrauchen. Wehe uns, wenn wir das Evangelium beschneiden, um von weltlicher oder kirchlicher Macht profitieren zu wollen. Ja, natürlich sollen wir unsere Talente und unseren Einfluss weise nutzen. Natürlich sollen wir Gottes Macht endlos viel zutrauen. Natürlich sollen Christen auch die Welt mitgestalten und dafür gerne auch politische Macht anstreben. Aber wir müssen uns dabei jederzeit unserer enormen Verführbarkeit bewusst sein. Wir müssen uns immer wieder klar machen: Die Versuchung zum Machtmissbrauch ist gigantisch. Das gilt besonders dann, wenn wir persönlichen Mangel erleben und gerade durch eine Wüstenzeit gehen.

Es gibt für uns nur einen Schutz: Die Anbetung Gottes. Die feste Verwurzelung in dem Vertrauen, dass ER uns versorgt und sein Werk in der Kirche Jesu und in der Welt tut, so dass wir ihm nicht mit eigenen Machtmitteln vorgreifen müssen. Und die feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift. Dieser Fokus, dieses Vertrauen und diese Verwurzelung war die unverzichtbare Grundlage für den Dienst Jesu. Wir sollten nicht glauben, dass wir diesen Versuchungen entgehen können, wenn wir diesen Fokus und diese Verwurzelung nicht haben.

Es sollte uns in eine gesunde Unruhe versetzen, wenn wir sehen, wie viele geistliche Leiter in eine oder mehrere dieser Fallen getappt sind und dadurch schlimmen Schaden für sich selbst und für die Kirche Jesu verursacht haben. Immer wieder will ich mir deshalb bewusst machen: Ich bin nicht besser als sie! Ich bin genauso verführbar! Die Versuchung klopft genauso auch an meine Tür! Und ich habe selbst oft genug versagt. Ich brauche Gottes Gnade, das Aufschauen zu Jesus und die feste Verwurzelung in seinem Wort, um so wie Jesus bestehen zu können und dadurch bereit zu werden für einen gesegneten Dienst.

Spaltet Populismus die Evangelikalen?

Ein Narrativ geht durch die evangelikale Welt. Man könnte es in etwa so formulieren: Die größte Gefahr für evangelikale Christen liege heutzutage darin, rechtspopulistischen Versuchungen zu erliegen.[1] Eine Reihe von Signalen eines „rechtspopulistisch verfremdeten Christentums“ gibt demnach Anlass zur Sorge[2]: Abgrenzung gegen den gesellschaftlichen und medialen „Mainstream“. Eine kämpferische Rhetorik. Eine pessimistische bis apokalyptische Gesinnung. Eine identitätsstiftende „Anti-Haltung“, auf deren Basis man auch Verbindungen mit nichtchristlichen rechten Organisationen nicht mehr scheut. Als abschreckendes Beispiel dient der Blick in die USA, wo 80% der weißen Evangelikalen Donald Trump gewählt haben. Das hat dem Ruf der Evangelikalen sehr geschadet. Sind solche Entwicklungen auch in Deutschland zu befürchten?

Nach meiner Beobachtung ist es unter anderem auch diese Sorge, die dazu führt, dass viele christliche Leiter sich immer skeptischer und distanzierter verhalten gegenüber Christen, die sich aus ihrer Sicht nicht klar genug abgrenzen von politischen Positionen rechts der Mitte. Auf gar keinen Fall möchte man in Verbindung gebracht werden mit „Impfskeptikern“, „Klimaleugnern“ oder „radikalen Abtreibungsgegnern“. Misstrauen zieht ein, selbst unter Christen, die in Bezug auf ihre Theologie und Prägung eigentlich ganz nah beieinander sein sollten. Mich betrübt das sehr.

Umso mehr war ich überrascht von der EKD-Synode in Magdeburg. Mir fiel auf: Sämtliche oben genannte Signale waren dort in Reinform zu finden. Ich kenne keine Bewegung, die so pessimistisch, ja apokalyptisch ist wie die „Letzte Generation“. Diese Gruppe ist kämpferisch, nicht nur verbal, sondern auch durch ihre gesetzeswidrigen Aktionsformen. Sie stellt sich auf den Straßen sichtbar gegen den Mainstream, der aus ihrer Sicht viel zu zögerlich auf die Klimakrise reagiert. Sie hat eine klare Anti-Haltung gegenüber unserer sozialen Marktwirtschaft, weil aus ihrer Sicht der „westliche Kapitalismus“ für die Klimakrise verantwortlich sei und überwunden werden müsse. Trotzdem rief die Präses der EKD Anna Nicole Heinrich dazu auf, dass die Kirche sich mit diesen „radikalen Klimaaktivist*innen“ vernetzen und solidarisieren solle. Der einzige Unterschied zum eingangs geschilderten Narrativ: Diese Organisation ist nicht „rechts“, im Gegenteil: Auf der Homepage der Letzten Generation wird für eine Solidaritätserklärung der Interventionistischen Linken geworben, die vom Verfassungsschutz beobachtet und als linksextremistisch betrachtet wird.

Nun stellt sich mir die Frage: Warum höre ich von Christen, die das eingangs geschilderte Narrativ so betonen, jetzt so wenig Kritik? Und überhaupt: Warum blickt dieses Narrativ denn eigentlich nur nach „rechts“? Gibt es auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht genau die gleiche Gefahr? Macht nicht gerade diese EKD-Synode mehr als deutlich, dass „links“ genau die gleiche Versuchung lauert?

Mein Eindruck ist: Auch ein einseitiger und inflationärer Gebrauch des Populismusvorwurfs kann zu Polarisierung und Spaltung führen, auch unter Christen. Und wir sollten uns immer bewusst sein: Der Kirche Jesu droht immer eine weit grundsätzlichere Gefahr als Populismus. Egal wie wichtig und richtig bestimmte Anliegen wie der Klima- oder der Lebensschutz auch sein mögen: Die Mitte der Kirche Jesu muss immer das Feuer der Liebe Gottes und die Leidenschaft für das Evangelium sein. Randthemen drängen sich immer besonders dann besonders leicht ins Zentrum, wenn dieses Feuer erkaltet und das Evangelium verschwimmt. Wenn die Identität in Christus schwindet, dann wächst die Versuchung, eine Ersatzidentität in (populistischen) politischen Zielen zu suchen. Dann wird die christliche Hoffnung überlagert von Sorge und Angst. Dann schieben sich andere Botschaften vor die Botschaft vom Kreuz. Dann werden politische Übereinstimmungen plötzlich wichtiger als der gemeinsame Glaube. Dann hält die gesellschaftliche Polarisierung Einzug in die Kirche.

Ich finde es gut, wenn Christen sich auch politisch engagieren. Und ich unterstütze die Warnung vor undemokratischen Extremen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Zugleich meine ich, dass wir Christen uns nicht voneinander distanzieren sollten, nur weil wir zu Themen wie Impfung, Klima, Medien oder Parteien unterschiedliche Einschätzungen haben. In politischen Fragen waren sich Christen noch nie einig. Was die Kirche eint, ist die Liebe zu Christus und der gemeinsame Auftrag, den Christus uns gegeben hat: Machet zu Jüngern alle Völker. Es gibt keinen besseren Schutz vor “populistischen” Versuchungen als die heiße Liebe zu Jesus, das demütige Hören auf sein Wort sowie die gemeinsame Leidenschaft für seine Rettungsbotschaft, die allen Menschen gilt. Die Besinnung auf dieses Zentrum würde ich gerade auch meiner evangelischen Kirche dringendst wünschen und empfehlen.

[1] So schreibt Thorsten Dietz im Buch „Menschen mit Mission“: „Ich sehe in der rechtspopulistischen Versuchung die größte Gefahr der Evangelikalen in der Gegenwart.“ (S. 301)

[2] Ausführlich im Präsesbericht 2022 von Steffen Kern Seite 21 ff. (https://www.gnadauer.de/uploads/_gnadauer/2022/03/22-02-Pra%CC%88sesbericht-Druck.pdf)