Geh und heirate eine Hure!

Bewegende Einblicke in das innerste Herz Gottes

Kann es sein, dass ein allmächtiger Gott weint? Die Bibel sagt: Ja! Über Jesus berichtet sie: „Als er … die Stadt [Jerusalem] vor sich liegen sah, weinte er über sie und sagte: “Wenn du wenigstens heute noch erkennen würdest, was dir den Frieden bringt! Doch du bist blind dafür.“ (Lukas 19,41-42) Und Matthäus überliefert dazu Jesu bewegende Worte: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir geschickt werden. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie die Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Doch ihr habt nicht gewollt. Seht, euer Haus wird verwüstet und verlassen sein. Denn ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft: ‘Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!’“ (Matth. 23,37-38)

Ein weinender Gott, der zerbrochen ist, weil seine Liebe nicht erwidert und seine Hilfe verschmäht wird, weil seine Warnungen in den Wind geschlagen werden und weil ihn die furchtbaren Konsequenzen quälen. Ist dieses Bild eines hoch emotional liebenden und trauernden Gottes vielleicht nur eine Erfindung des Neuen Testaments? Nein. Auch im Alten Testament wird Gott schon genau so beschrieben. Zum Beispiel im Buch des Propheten Hosea. Da sagt Gott:

 „Wie man Trauben in der Wüste findet, so fand ich Israel. Wie die erste Frucht am jungen Feigenbaum, so sah ich eure Väter.“ (9,10) „Als Israel jung war, gewann ich es lieb … Doch sooft ich die Israeliten durch Propheten rief, gingen sie von ihnen weg. Sie opferten den Baalen und räucherten den Götzen. Ich, ich lehrte Efraïm laufen, ich nahm es auf meine Arme! Doch sie begriffen nicht, dass ich sie heilte. Mit menschlichen Fesseln zog ich sie herbei, mit Seilen der Liebe. Ich war wie ein Elternpaar für sie, das sich den Säugling an die Wange hebt. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.“ (11,1-4)

Also auch hier: Ein fürsorglicher, zärtlicher, versorgender Gott, dessen werbende Liebe brutal enttäuscht wird: „Ich habe dich in der Wüste versorgt, im Land der glühenden Hitze. Als sie ihre Weide hatten, wurden sie satt. Als sie satt waren, überhoben sie sich. Darum vergaßen sie mich.“ (13,5-6)

Verstörende Befehle an den Propheten

Um dem Volk deutlich zu machen, wie sehr Gott unter der Untreue seines Volkes leidet, erhält der Prophet einen verstörenden Befehl: “Geh und heirate eine Hure. Mit ihr sollst du Hurenkinder zeugen. Das ist ein Sinnbild dafür, dass das Land zur Prostituierten geworden ist: Es hat den Bund mit mir gebrochen und ist vom HERRN abgefallen.“ (1,2) „Geh noch einmal hin und liebe eine Frau, die einen Liebhaber hat und im Ehebruch lebt. Denn genauso liebt Jahwe die Israeliten, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden.” (3,1)

Die Zeichenhandlungen des Propheten sind keineswegs ein Ausdruck für die Wertschätzung von Prostitution als “Sexarbeit”. Vielmehr sollen sie verdeutlichen: Gott ist wie ein Mann, der seine Frau von Herzen liebt und doch mit anschauen muss, wie sie permanent mit anderen Männern schläft. Entsprechend sagt Gott zu Israel: „Du hast es mit vielen getrieben und dich so von deinem Gott entfernt.“ (9,1b) Es ist herzzerreißend.

Doch es kommt noch schlimmer: Gott muss mit anschauen, wie sich sein geliebtes Volk immer tiefer in üble Verbrechen verstrickt: „Wahrheit und Liebe und Gotteserkenntnis sind nicht mehr im Land. Nein, Fluch und Lüge, Mord und Diebstahl und Ehebruch machen sich breit. Verbrechen reiht sich an Verbrechen.“ (4,1b-2) „Tief verdorben ist ihr Tun.“ (9,9) Gerade diejenigen, die eigentlich dafür sorgen sollten, dass Israel mit Gott in Verbindung bleibt, sind selbst die größten Übeltäter: „Die Rotte der Priester liegt auf der Lauer wie eine Bande von Räubern. Auf dem Weg nach Sichem töten sie, ja, sie tun grässliche Dinge.“ (6,9)

Die tragischen Konsequenzen für Israel – und für uns heute

Und schließlich muss Gott mit ansehen, wie sehr sein geliebtes Volk selbst unter seinem Abfall leidet: „Sie essen zwar, werden aber nicht satt; sie treiben es mit vielen, vermehren sich aber nicht, denn sie haben es aufgegeben, Jahwe zu achten.“ (4,10) „Fremde verzehren ihre Kraft.“ (7,9) „Sie säen Wind, und sie ernten den Sturm.“ (8,7a)

Kennen wir das heute nicht ebenso? Wir haben Wohlstand. Aber wir sind nicht glücklich. Wir haben freien Sex. Aber immer weniger Kinder. Wir erleben, wie unsere gesellschaftliche Stärke dahinschmilzt wie Eis in der prallen Sonne. Wir ernten Zerfall, Kämpfe, Konflikte, Angst.

Gott stellt klar, was die Wurzel all dieser Probleme ist: „Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis.“ (4,6) Das liegt nicht etwa daran, dass Gott nicht gesprochen hätte, im Gegenteil: „Ich hatte sie belehrt und stark gemacht.“ (7,15) Gott hat sein Volk zudem immer und immer wieder durch die Propheten leidenschaftlich zur Umkehr gerufen:

„Kommt, wir kehren zu Jahwe zurück! Er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen! Er hat uns geschlagen, er verbindet uns auch! Nach zwei Tagen belebt er uns neu, und am dritten richtet er uns auf, dass wir in seiner Gegenwart leben! Lasst uns nach Erkenntnis streben, nach der Erkenntnis Jahwes! Er kommt so sicher wie das Morgenrot, er kommt zu uns wie der Regen, der Frühlingsregen, der die Erde tränkt.“ (6,1-3)

Zugleich hat Gott die Konsequenzen der Gottlosigkeit offen angekündigt: „Ich kündige den Stämmen Israels an, was mit Sicherheit geschehen wird.“ (5,9b) „Ich bestrafe sie, wie es ihnen angekündigt war.“ (7,12b) „Es ist dein Untergang, Israel, dass du gegen mich, deine Hilfe, bist. Wo ist nun der Schutz deines Königs, der dich rettet in all deinen Städten?“ (13,9+10a)

Gott lockt und warnt. Aber alle Beschwörungen halfen nichts. Resignierend sagt Gott: „Schriebe ich ihm meine Gebote zehntausendfach auf, sie würden denken, es gehe sie nichts an.“ (8,12)

Gottes innerer Kampf zwischen Zorn und Mitleid

Auch heute leben wir in einer Gesellschaft, die glaubt, dass uns die Gebote Gottes nichts angehen. Dabei wurden auch wir mit der Reformation und mit vielen herausragenden Botschaftern des Evangeliums reich gesegnet. Ich frage mich: Wie würde ich reagieren, wenn ich Gott wäre? Ich würde wohl sagen: Dann macht euren Sch… halt alleine! Selber schuld, wenn euer Land dann den Bach runtergeht…

Aber Gott ist anders. Als Richter ist er zwar der Gerechtigkeit für die Opfer von Israels Verbrechen verpflichtet. Ein simples „Schwamm drüber“ ist keine Option für ihn. Trotzdem quält sich Gott mit dem Gedanken, Israel bestrafen zu müssen: „Ich würde sie gern erlösen, aber sie reden ja nur Lügen über mich.“ (7,13b) „Ich kann dich doch nicht vernichten wie Adma, dich wie Zebjuim behandeln [das waren Städte, die zum Gebiet von Sodom und Gomorra gehörten]! Das Herz dreht sich mir im Leibe herum, mein ganzes Mitleid ist erregt. Ich will meinen lodernden Zorn nicht vollstrecken, will Efraïm nicht noch einmal vernichten.“ (11,8b)

Das heißt: Gott hat keine Freude an Strafe oder am Unglück von Sündern und Verbrechern, im Gegenteil. Aber er sieht auch die Opfer und ihren Schrei nach Gerechtigkeit. Das weckt zurecht seinen Zorn, der die Kehrseite seiner Liebe ist. Denn wer liebt, wird zornig, wenn geliebten Menschen übel mitgespielt wird. Alles andere wäre Gleichgültigkeit. Zorn und Mitleid ringen im Herzen Gottes miteinander. Beides ist Ausdruck seiner Liebe.

Schließlich straft Gott Israel doch – aber nicht ohne zugleich anzukündigen, dass sich das Schicksal seines geliebten Volkes eines Tages wenden wird:

Die Zukunft ist herrlich – und sie hat schon begonnen

„Sie werden eine lange Zeit ohne König und Obere bleiben, ohne Schlachtopfer und Kultstein, ohne Priesterorakel und Götzenbild.“ (3,4) In der Tat hat diese Zeit nun schon fast 2000 Jahre gedauert. Doch jetzt gibt es Bewegung. Israel hat wieder einen Staat mit eigener Obrigkeit. Und noch weitere Ankündigungen Gottes gehen gerade jetzt in Erfüllung:

„Ich will ihre Untreue heilen, sie aus freien Stücken lieben. Mein Zorn hat sich von ihnen abgewandt. Ich werde für Israel sein wie der Tau. Es soll blühen wie die Lilie, Wurzeln schlagen wie der Libanonwald. Seine Triebe sollen sich ausbreiten, dass seine Pracht wie der Ölbaum sei, sein Duft wie der vom Libanonwald. Die in seinem Schatten wohnen, kehren zurück. Sie bauen wieder Getreide an und blühen auf wie der Weinstock, dessen Ruf wie der Wein vom Libanon ist.“ (14,5-8)

Genau das geschieht vor unseren Augen: Die Juden kehren zurück in ihr Land. Das Gebiet, das bis vor 70 Jahren noch weitgehend eine Wüste war, ergrünt und erblüht. Israel exportiert Nahrungsmittel und Wein in alle Welt. Ein Wunder vor unseren Augen.

Das macht Mut, dass sich auch die folgende Vorhersage noch erfüllen wird: „Dann aber werden sie umkehren und sich Jahwe, ihrem Gott, zuwenden und ihrem König aus der Nachkommenschaft Davids. Am Ende der Zeit werden sie zitternd zu Jahwe kommen und seine Güte suchen.“ (3,4+5)

Israel kehrt um zum Sohn Davids. Das erinnert an die Vorhersagen des Propheten Sacharja (Sach. 12,10) und des Apostels Paulus (Römer 11,25-27). Wir leben in spannenden Zeiten! Wird es in Israel bald eine große Erweckung geben? Und wird dann Jesus, der Sohn Davids, wiederkommen, so dass Israel rufen wird: „Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ (Matth. 23,39)?

Fast wie in einem Groschenroman

Ich weiß nicht, wie das genau ablaufen wird. Aber so viel ist sicher: Gottes dramatische Liebesgeschichte mit seinem Volk hat ein Happy End:

„Dann aber will ich selbst sie verlocken. Ich führe sie in die Wüste und rede ihr zu Herzen. … Dort wird sie meine Liebe erwidern wie damals in ihrer Jugend, als sie aus Ägypten kam. An jenem Tag, spricht Jahwe, wirst du zu mir sagen: “Mein Mann!” und nennst mich nicht weiter: “Mein Baal!” (2, 16,17b+18)

Es ist fast wie in einem Groschenroman: Nach vielen Irrungen und Wirrungen kommt das Paar doch noch zusammen und entbrennt in Liebe füreinander. Die Weltgeschichte läuft letztlich auf eine Hochzeit zu (Offenb. 19,7-9).

Wie kaum ein anderes biblisches Buch gibt uns der Prophet Hosea tiefe Einblicke in das Herz und die Gefühlswelt Gottes. Mit dramatischen Worten, Bildern und Zeichenhandlungen bestätigt und illustriert er das, was der Apostel Johannes in drei Worten zusammenfasst: „Gott ist Liebe.“ (1. Joh. 4,16) Sein ganzes Fühlen, Denken und Handeln ist von Liebe geprägt.

Ist das nicht atemberaubend? Ich kann einfach nur staunen über den Gott, den uns die Bibel offenbart.

Lieber Andreas Malessa…

Gedanken zu einem Buch über gefährliche Konservative

Lieber Andreas Malessa,

vielen Dank, dass Sie ein Buch für mich geschrieben haben! Es richtet sich ja an „Konservative, die fürchten, dass man der Bibel untreu wird, wenn man den Liberalen glaubt“. (S. 10) Und ja, ich gestehe: Ich bin einer davon.

Vielleicht hat das ja mit meiner Biografie zu tun. Ich bin evangelisch. Ich erlebe hautnah, was Ihnen Reinhold Scharnowski im Livenet-Gespräch gesagt hat: „Die Bibelkritik hat einen ziemlichen theologischen und geistlichen Kahlschlag in der Kirche angerichtet.“[1] Wie wahr. Bei vielen evangelischen Gemeinden muss man eigentlich nur noch klären, wer als letztes das Licht ausmacht. Dabei wären die Voraussetzungen noch immer super. Vom Steueraufkommen und vom Gebäudebestand der Landeskirche können die meisten freien Gemeinden nur träumen. Trotzdem geht es ihnen im Schnitt weit besser. Und mir fällt auf: Die wachsenden und blühenden Gemeinden, die ich kenne, wollen allesamt mit bibelkritischer evangelischer Theologie nichts am Hut haben. Ich werde den Eindruck nicht los: Liberale Theologie tut Kirchen und Gemeinden nicht gut.

Wer genau sind eigentlich die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“?

Sie sehen das genau anders herum, richtig? Zumindest sagen Sie ja: Unter den Evangelikalen „richtet ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel mehr Schaden an als eine Bibelkritik, die eigentlich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch irgendwie zu Ende gegangen ist.“[2] Hab ich was verpasst? Hat an den evangelischen Fakultäten jemand gesagt: Wir lassen das jetzt mal lieber mit der Bibelkritik? Da würde ich gerne mehr erfahren. Aber wie auch immer, Sie sagen jedenfalls: „Religionspädagogisch gefährlich“ für die Kirche Jesu seien nicht die Bibelkritiker, sondern die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“.[3] Und deshalb zielen (Reinhold Scharnowski spricht gar von „schießen“) Sie in Ihrem Buch vor allem in diese Richtung.[4] Dass das Wort „Fundamentalist“ inzwischen ein „allgemeines Schimpfwort“ ist, schreiben Sie ja selbst (S. 129). Trotzdem verwenden Sie es andauernd. Sind da wirklich so viele üble Gesellen unterwegs, dass Sie ihnen weite Strecken ihres Buchs widmen müssen? Und wen genau meinen Sie eigentlich? Bin am Ende womöglich auch ich gemeint? Stehe ich auch in der Schusslinie? Das habe ich mich nach der Lektüre Ihres Buches gefragt.

Als ich dann Ihr Livenet-Interview zu Ihrem Buch gesehen habe, habe ich mich erst einmal wieder entspannt. Denn offenbar zielen Sie ja auf Leute, die in Bezug auf die Bibel sagen, “man dürfe nicht oder man solle nicht über ihren Entstehungsprozess und über die Intention und die Kultur und den Kontext der Autoren sprechen.”[5] Also da kann ich Sie beruhigen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ berichte ich, dass ich eine gründliche Bibelwissenschaft, die Kultur und Kontext erforscht, um die Aussageintention des biblischen Autors sauber herauszuarbeiten, sehr schätze. Und in den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist mir auch noch niemand begegnet, der das anders sieht. Darf ich fragen: Wo tummeln sich denn diese gefährlichen Leute eigentlich?

Können Konservative die Textgattungen nicht auseinanderhalten?

Außerdem sind Sie sichtlich genervt von Leuten, die glauben: Gott hat die Erde in 6 Tagen geschaffen und “die Fossilien hat Gott da selber hingelegt … Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen.“[6] Ich bewege mich ja seit Jahrzehnten gerne auch im Umfeld der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Die nennen Sie in Ihrem Buch ja explizit als kreationistische „Lobby-Organisation“.[7] Aber komisch: Auch dort ist mir noch nie jemand begegnet, der glaubt, dass Gott die Fossilien selbst verbuddelt hätte. Ich kenne auch niemand, der den Glauben an die 6-Tage-Schöpfung für genauso wichtig hält wie den Osterglauben. Aber Sie sind ja Journalist. Gibt es Quellen und Zitate aus Deutschland, die ich nachschauen könnte?

Was Sie darüber hinaus stört ist, wenn „poetische Texte … naturwissenschaftlich missverstanden werden.“[8] Deshalb geben Sie in Ihrem Buch ein wenig Nachhilfeunterricht. Sie schreiben: „»In unseren Herzen ging die Sonne auf!« seht auf dem Cover der Klappkarte mit dem Babyphoto. Und innen: »Tobias, 13. März 2023, 4.30 Uhr, 337 Gramm, 51 cm.« Der erste Satz ist eine Metapher, der zweite eine Sachinfo.“ (S. 72)

Das leuchtet ein. Nur frage ich mich: Wo sind denn die Leute, die solche Unterschiede nicht verstehen? Ich kenne niemand, der auf Basis von 1. Mose 1,14 („An der Wölbung des Himmels sollen Lichter entstehen.“) nach einem buchstäblichen Himmelszelt sucht, an dem Scheinwerfer montiert sind. Aber ich kenne durchaus Leute, denen auffällt, dass das mit dem Schöpfungsakt beginnende Geschlechtsregister in 1. Mose 5 in etwa so unpoetisch klingt wie ein Telefonbuch. Und schon ab 1. Mose 2 finden sich detaillierte geografische Beschreibungen, Ortsnamen, Zeit-, Maß- und Altersangaben – eben ganz wie im Innentext Ihrer Klappkarte. Meine Freunde bei Wort und Wissen sagen deshalb: Ganz offenkundig wollte der Autor der Genesis nicht nur Poesie sondern auch Sachinfos weitergeben. Genau so sieht das übrigens auch der ganze Rest der Bibel. Und fast die komplette Kirchengeschichte. Und ja: Gemäß Ihrem Vergleich oben müsste das doch eigentlich auch ganz in Ihrem Sinne sein, oder? Sollten wir nicht ehrlich mit der Bibel umgehen und darauf achten, dass sachlich gemeinte Texte nicht zur Poesie umgedeutet werden, nur damit wir uns um schwierige Auslegungsfragen drücken können?

Sie schreiben in Bezug auf Christen, die in der biblischen Beschreibung der Erschaffung der Arten auch historische Elemente sehen: „Schöner wär’s, wenn gläubige Christinnen und Christen beim Bibellesen nicht das Denken aufgäben…“ (S. 66) Diesen Wunsch teilen wir. Aber haben Sie meine Freunde von Wort und Wissen schon einmal persönlich kennengelernt? Ich kenne nur wenige Christen, die Fragen im Bereich Glaube und Naturwissenschaft so gründlich und selbstkritisch durchdenken wie sie. Interviewen Sie doch mal jemand von ihnen! Fragen Sie am besten gleich auch noch nach dem Unterschied zwischen Intelligent Design und Kreationismus, die sie bei Ihren Ausführungen zur Bakteriengeißel leider durcheinanderwerfen. Und diskutieren Sie mal mit ihnen über das von Ihnen aufgewärmte Bonhoeffer’sche Lückenbüßerargument. Oder lesen Sie in meinem Artikel nach, warum ich dieses Argument angesichts der modernen wissenschaftlichen Trends für überholt halte.[9] Vielleicht ist ja doch nicht alles so schwarz-weiß, wie Sie das darstellen?

Ist Verbalinspiration ein fundamentalistischer Diktatglaube?

Aber gut, jetzt ist es raus: Ich schätze die Studiengemeinschaft Wort und Wissen sehr. Bin ich jetzt doch auch einer von den „ultraevangelikalen Fundamentalisten“, die Sie so gefährlich finden? Zumal ich auch der Verbalinspiration sehr viel abgewinnen kann. Ich glaube tatsächlich, dass nicht nur die Autoren, sondern gerade auch die Texte der Bibel vom Heiligen Geist inspiriert sind. Dazu schreiben Sie:

„Gott sei Dank hat Gott nicht alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Er hat den Menschen sein Wort gegeben. Nicht seine Wörter. Die stammen von Menschen. Darum sollen wir Gott zwar beim Wort, aber die Bibel um Gottes Willen nicht wörtlich nehmen!“ (Zitat Heinz Zahrnt, S. 61) „Evangelien und Briefe des NT sind von Menschen aufgeschrieben und zusammengestellt worden, die von Gottes Geist inspiriert waren. Fundamentalisten haben daraus die These einer »Verbal-Inspiration« gemacht, eines göttlichen Diktats, bei dem den Verfassern von magischer Hand der Griffel geführt wurde: »Es ist ganz sicher, dass die Offenbarung sich bis ins einzelne Wort hinein erstreckt.« Die Frage wäre bloß: In welches einzelne Wort aus welcher Übersetzung? Ohne nähere Begründung wird postuliert: »Der Kanon ist gottgewollt.«“ (S. 124-125)

Das Buch, aus dem Sie die beiden letzten Zitate entnommen haben, wurde von Stephan Holthaus (dem Direktor der Freien Theologischen Hochschule Gießen) und Karl-Heinz Vanheiden (dem Verfasser der Neuen evangelistischen Übersetzung) herausgegeben. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute nicht unterscheiden können zwischen Urtext und Übersetzung? Und haben Sie sie mal gefragt, ob sie tatsächlich an eine Diktattheorie glauben?

Ich selbst bin der Überzeugung: Die Bibel ist zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort. Das heißt: Menschen haben geschrieben. Bei vollem Bewusstsein. Ihre Perspektive, ihr spezieller Schreibstil und ihre Erfahrungshintergründe sind im Text ja unverkennbar. Von einem „Diktat“ ist das weit entfernt. Von einer „magischen Hand“ erst recht (außer bei den 10 Geboten, siehe 2. Mose 31,18). Aber auch ohne Diktat glaube ich: Der Heilige Geist hat die Worte so tief geprägt („durchhaucht“), dass sie zugleich ganz und gar dem Wesen und der Wahrheit Gottes entsprechen. Deshalb verlasse ich mich darauf: Gott hat wirklich alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Jedes Wort des Urtexts ist verlässlich wahr. „Ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt.“ So haben es die bunt zusammengewürfelten christlichen Leiter aus aller Welt in der Lausanner Verpflichtung formuliert. Hat ihnen dieser „Bibelfundamentalismus“ geschadet? Thorsten Dietz schreibt zum evangelikalen Aufbruch des letzten Jahrhunderts:

„Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.“[10]

Also irgendwie scheint dieses oft geschmähte hohe Vertrauen in die Autorität und Verlässlichkeit der Bibel der Kirche doch eher gut zu tun. Oder was meinen Sie?

Leiden Konservative an Spalteritis?

Jetzt schreiben Sie aber: Vor allem die Konservativen seien schuld an Konflikten unter Christen, weil „sich fast immer die Konservativen von den Liberalen trennen und dann die Konservativeren von den Nichtgenug-Konservativen.“ (S. 127) Sind Sie sich da sicher? Kürzlich waren bei uns an der Uni Tübingen die „Hochschultage“. Christen aus mehreren Gruppen haben sich fröhlich zusammengetan, um ihren Mitstudenten von Jesus zu erzählen. Wunderbar! Nur: Den liberalen volkskirchlichen Hochschulgruppen hat das nicht gepasst. Ohne das Gespräch zu suchen, haben sie Queerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Ähnliches gewittert. Sie haben sogar eine Gegendemo organisiert. Weil auch sie diese „fundamentalistisch-christlichen Kreise“ offenbar gefährlich finden. Wie traurig.

Ja, Sie haben recht: Die Evangelikalen streiten und spalten sich manchmal. Aber Streit ist nicht immer schlecht. Paare, die streiten, ringen noch umeinander. Erst wenn der Streit aufhört, ist die Ehe tot. Meine Beobachtung ist: Wenn der Umgang mit der Bibel beliebig wird, dann geschieht etwas schlimmeres als Streit: Man entfremdet sich. Weil man nicht mehr weiß, was eigentlich das gemeinsame Anliegen ist. Weil es nichts mehr gibt, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. So erlebe ich das in meiner evangelischen Kirche. Deshalb ahne ich: Wenn der EKD eines Tages die Kirchensteuermittel ausgehen, wird sie sich nicht streiten, nicht spalten, sondern sich ganz einfach auflösen. Und die streitbaren Konservativen werden weiter das Evangelium verbreiten. Und dafür werden sie sich immer wieder auch zusammenfinden. So wie in der Lausanner Bewegung. Oder bei den Hochschultagen. Oder wie im nächsten Jahr bei der Konferenz JESUS25, die ich mit auf den Weg bringen durfte. Wetten, dass?

Geht es den Konservativen nur um Sex?

An anderer Stelle im Buch trauen Sie den Konservativen dann doch plötzlich wieder erstaunlich viel Weite und Großzügigkeit zu. Sie glauben, dass Konservative sagen: „»Wir können alles Mögliche tolerieren. Außer Segen für Schwule.« Kern- und Grundsatz-Fragen, die 1.000 Jahre lang die Orthodoxen und Katholiken, 500 Jahre lang die Reformierten und Lutheraner, 400 Jahre lang die Methodisten, Baptisten, Mennoniten, Quäker und Pfingstler beschäftigten und voneinander trennten (!) – die Trinität Gottes, der Kreuzestod Jesu, der Auferstehungslaube, die Rolle der Geistesgaben, die Amtsautorität der Priester, die Säuglings- oder Gläubigentaufe, die Zugehörigkeit zur Gemeinde, das Abendmahl, die Beichte, der Gottesdienst – sind schlagartig weder Bekenntnisfragen noch Unterscheidungsmerkmal! Alles wurscht, alles marginal! Die neue Gretchenfrage der Rechtgläubigkeit lautet: »Segnet und traut ihr gleichgeschlechtliche Paare? Dürfen LGBTQ’ler bei euch mitarbeiten?« Daran, und nur noch daran, entscheide sich Wachstum oder Schrumpfung von Gemeinden. Verweisen die Abgelehnten dann darauf, dass derselbe Paulus gesagt hat: »Ihr seid alle Kinder Gottes, weil ihr durch den Glauben mit Christus verbunden seid. Ihr habt in der Taufe Christus angezogen und durch sie gehört ihr nun zu ihm. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen, denn durch eure Verbindung zu Christus Jesus seid alle wie ein Mensch geworden« – dann ist ein Bibelvers-Battle eröffnet, die Praxis einer »Pick-and-choose-Mentalität und selektive(n) Bibeltreue«, die erfahrungsgemäß in abseitiges Sektierertum führt, den christlichen Glauben in Verruf bringt, vor allem aber: Schwule lesbische und Transmenschen verbittern lässt.“ (S. 59/60)

Auch hier würde ich Sie gerne fragen: Von welchen Leuten reden Sie genau? Ich kenne viele konservative Vertreter zu diesem Thema. Sie sagen allesamt: Es geht in den aktuellen Debatten zwischen Progressiven und Konservativen im Kern nicht um Sex. Sondern um das Bibelverständnis. Um die Kreuzestheologie. Um das Evangelium. Also um den innersten Kern unseres Glaubens. Auch dazu würde ich Ihnen gerne mein Buch „Zeit des Umbruchs“ ans Herz legen.

Und nein: Niemand von ihnen macht sich die Frage leicht, welche biblischen Aussagen kulturell zeitbedingt zu verstehen sind und welche zeit- und kulturübergreifend normativen Charakter haben. Viele Konservative würden liebend gerne bei den Sexualethikthemen dem Mainstream folgen und sich die Konflikte ersparen, die man sich mit einer konservativen Position einhandelt. Sie suchen sich dieses Thema nicht aus. Aber sie merken nun einmal: Die Aussagen zu „verbotenen sexuellen Beziehungen“ („porneia“)[11] haben in der Bibel eine völlig andere Klarheit, Durchgängigkeit und Eindeutigkeit und zudem ein viel größeres Gewicht als beispielsweise Fragen zum Kopftuch oder zur Gebetshaltung. Deshalb ist ihr Gewissen bei diesem Thema (wie ich finde zurecht) durch die Worte Gottes gefangen.

Bringen Sie damit den christlichen Glauben in Verruf? Führen Sie die Kirche in ein abseitiges Sektierertum? Ich will dazu den Theologen N.T. Wright zitieren: „Während der gesamten ersten christlichen Jahrhunderte, als jede Art von Sexualpraktik, die in der Menschheit jemals bekannt war, in der antiken griechischen und römischen Gesellschaft weit verbreitet war, bestanden Christen wie Juden darauf, dass die ausgelebte Sexualität auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu beschränken sei. Heute wie damals denkt der Rest der Welt, das sei verrückt.“[12]

Könnte es sein, dass auch Sie in diese Richtung denken? Jedenfalls hat mich diese Passage in Ihrem Buch geschmerzt. Es tut mir weh, wenn Sie so viele Geschwister der weltweiten und historischen Christenheit, die es sich mit diesem Thema überhaupt nicht leicht machen und die ihr Bestes geben, um allen Menschen jesus-mäßig zu begegnen, pauschal in eine menschenverachtende Sektenecke schieben. Lieber Andreas Malessa, ich glaube, das können Sie besser.

Ja, es gibt sie: Die reflektierten Evangelikalen

Vielleicht können Sie für Ihr nächstes Buch ja noch ein wenig mehr recherchieren über reflektierte Evangelikale, die den Urtext der Bibel für verbalinspiriert und deshalb in einem bestimmten Sinn auch für unfehlbar halten[13], die aber zugleich Textgattungen unterscheiden, den historischen und heilsgeschichtlichen Kontext beachten und zudem liebe- und respektvoll mit Menschen umgehen, die in sexualethischen und anderen Fragen anderer Meinung sind. Ich kenne wirklich viele solche Leute. Es sind wunderbare Zeitgenossen, die Sie unbedingt kennenlernen sollten! Vielleicht merken Sie: Diese Leute sind alles andere als perfekt. Manchmal sind sie auch ein wenig schräg. Aber gefährlich sind sie nicht.


[1] Relevanz der Bibel im 21 Jahrhundert | Gespräch mit Andreas Malessa, Interview Livenet Schweiz von Reinhold Scharnowski am 29.2.24, https://youtu.be/eE5rYmPjap0, 21:50

[2] ebd. 23:05

[3] ebd. 24:54: Wenn einer mir den Glauben abhängig macht vom Buchstabenglauben an diese Bibel, dann bleibt mir nur, alles zu kippen. Deswegen halte ich einen ultraevangelikalen Fundamentalismus religionspädagogisch für gefährlich.“

[4] ebd. 21:30: Reinhold Scharnowski:Ja die Leute [d.h. die Fundamentalisten] mag es geben, die sind meiner Erfahrung nach zumindest hier in der Schweiz (und ich kenne auch die deutsche Szene so ein bisschen) eine Randgruppe. Aber es gibt dann auf der anderen Seite die Bibelkritiker, die sehr massiv mit dem übernatürlichen Kontext der Bibel umgehen, bishin zur Leugnung der Auferstehung. Die letzteren kommen bei dir ein bisschen sanfter weg und die ersteren, die Überfrommen, gegen die ja schießt du ziemlich stark. Das fiel mir richtig auf.“ Andreas Malessa: „Okay, ja dein Eindruck ist wahrscheinlich richtig.“

[5] ebd. 20:47

[6] ebd. 23:35: Wenn jemand rumläuft und sagt: Die zwei Schöpfungserzählungen (Klammer auf: In der Reihenfolge dessen, was da geschaffen wird höchst widersprüchlich, Klammer zu), die muss man wörtlich so nehmen: Die Welt ist in 6 Tagen mit 24 Stunden entstanden, und zwar durch Gottes Handeln und irgendwie hat sich der Colorado River durch den Grand Canyon geschnitten in sechs Tagen und die Fossilien hat Gott da selber hingelegt und so weiter…  Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen, wenn also eine mechanische Achse gelegt wird von poetischen Texten, die naturwissenschaftlich missverstanden werden, zu einem Vertrauensverhältnis zum Auferstanden, dann richtet das meines Erachtens mehr Schaden an, als wenn irgendeiner herkommt und sagt: »Das kannst du streichen und das kannst du streichen«“

[7] S. 65: „Einen Etikettenschwindel schickten auch sie [d.h. die Autoren der „Fundamentals“-Hefte] hier hinterher: Die biblische Genesis-Erzählung sei der »Schöpfungs-Bericht«. So, als hätte Mose mit dem Notizblock danebengestanden. Damit erwarben sich christliche »Fundamentalisten« das Zusatz-Etikett »Kreationisten« und gerieten in Konflikt mit den Ergebnissen aus 400 Jahren Archäologie, Geologie, Astronomie, Biologie, Zoologie, Anthropologie und Geschichtswissenschaft. Trotzdem erhoben (und erheben bis heute) finanzstark spendenfinanzierte Lobby-Stiftungen und -Organisationen den Anspruch, ihr Glaube müsse im Schulunterricht als wissenschaftlich gleichberechtigte Theorie gelehrt werden.“ „…in Deutschland die Studiengemeinschaft Wort und Wissen.“ (Endnote 4, Kap. 6, S. 175)

[8] Siehe Fußnote 6

[9] Markus Till: „Außerwissenschaftliche Vorannahmen: Denkvoraussetzungen von Wissenschaftlern und Theologen“, 27.2.2020, AiGG-Blog, blog.aigg.de/?p=4930

[10] Thorsten Dietz: „Menschen mit Mission“, SCM R. Brockhaus, 2022, S. 92

[11] Die Basisbibel übersetzt das griechische Wort „porneia“ mit „verbotene sexuelle Beziehungen“. Es kommt 25-mal im Neuen Testament vor und steht letztlich für sämtliche sexuelle Praktiken außerhalb der Ehe eines Mannes und einer Frau.

[12] Auszug aus den Seiten 229 – 231: Tom Wright, Warum Christ sein Sinn macht © 2009 Johannis bei SCM Hänssler

[13] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ 13.7.2018, AiGG-Blog: blog.aigg.de/?p=4212

So kommen die Evangelikalen aus der Krise

Der Begriff „evangelikal“ ist in Verruf geraten. Das liegt auch daran, dass er kaum definiert ist. Man verbindet ihn primär mit äußerlich sichtbaren Merkmalen und Praktiken, wie zum Beispiel: Evangelikale rufen zur Bekehrung auf. Sie sammeln sich um Bibel und Gebet. Das stimmt zwar. Aber es bleibt schwammig. Im Blick auf die USA hat der Begriff „evangelikal“ zudem eine stark politische Färbung bekommen. Die Folge ist: Immer mehr Evangelikale meiden diese Bezeichnung, weil sie sich bei weitem nicht mit allem identifizieren wollen, was heute als „evangelikal“ wahrgenommen wird.

Der Evangelikalismus muss theologisch definiert werden

Michael Reeves hat vor diesem Hintergrund in seinem Buch „Menschen des Evangeliums“ eine wichtige Forderung formuliert: Wir dürfen den Evangelikalismus nicht nur pragmatisch oder soziologisch definieren, sondern er „muss theologisch und mithilfe des Evangeliums definiert werden.“ (S. 145) Dabei muss gelten: Der „Gegenstand des Evangelikalismus ist das Evangelium, das durch die Schrift offenbart ist.“ (S. 9) Oder noch zugespitzter formuliert: „Evangelikal zu sein heißt, dass die Schrift alles übertrumpft.“ (S. 28) Denn Evangelikale sind überzeugt, dass die Bibel „völlig wahrheitsgemäß und daher völlig vertrauenswürdig ist. Wenn sie fehlerhaft wäre, wie könnten wir dann zulassen, dass sie alles andere außer Kraft setzt?“ (S. 35) Zwar hat für Evangelikale auch das Weltwissen, die Tradition und die Theologiegeschichte einen hohen Stellenwert. Trotzdem gilt in erster Linie: „Um dem Evangelium treu zu sein, müssen wir alles lehren, was die Heilige Schrift lehrt, und zwar mit der Gewichtung und dem Ton, den die Heilige Schrift vorgibt.“ (S. 135)

Im Zentrum der biblischen Lehre steht dabei der stellvertretende Opfertod von Jesus Christus: „Evangelikale verstehen, dass die Schrift von vielen Facetten des Kreuzes spricht: Am Kreuz offenbart sich die Herrlichkeit und Liebe Gottes. Auch triumphiert Christus dort über die Kräfte des Bösen. Beim Kreuz geht es jedoch nicht in erster Linie darum, uns die Liebe Gottes vor Augen zu führen oder Satan zu besiegen. Seit 1. Mose 3 war die große Frage in der Bibel stets: Wie können Sünder, Nachkommen von Adam und Eva, mit Gott versöhnt werden? Das große Problem war der Zorn Gottes über die Sünde (vgl. Röm 1, 18). Angefangen beim Passafest bis hin zu den Opfern des Gesetzes war die Lösung immer ein Stellvertreter, der die Strafe für unsere Sünden an unserer Stelle trug. Christus ist für uns, an unserer Stelle, gestorben, damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan werde und »wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn« (Röm 5, 8–9).“ (S. 60)

Den Evangelikalen geht es aber nicht nur um Lehre. Reeves betont: „Evangelikale müssen ihre Theologie auch anwenden.“ (S. 85) Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Heilige Geist: „Evangelikale sind Menschen, die »aus dem Geist geboren« sind (Joh 3, 6.8). … Die Wiedergeburt ist ein göttliches Werk des Geistes, bei dem ein neues geistliches Leben entsteht, was eine radikale Veränderung des Herzens bewirkt.“ (S. 80) „Wir, die wir von der Verurteilung durch das Gesetz befreit sind, fangen tatsächlich an, in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu leben, weil der Geist in uns wirkt. Unser Leben verändert sich.“ (S. 84)

Evangelikalismus ist das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum

Der Evangelikalismus ist also trinitarisch: Es geht ihm um die Offenbarung des Vaters in der Heiligen Schrift. Um die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod des Sohnes Jesus Christus. Und um ein neues, verändertes Leben durch den Heiligen Geist. Diese trinitarische Sicht findet sich auch im Nicänischen und im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Reeves zitiert deshalb zurecht den großen evangelikalen Theologen John Stott mit der Behauptung, „dass der evangelikale Glaube nichts anderes ist als der historische christliche Glaube: das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum. … Was wir Evangelikalen sein wollen, ist schlichtweg: biblische Christen. … Unser Ziel – in aller Demut – ist es, der biblischen Offenbarung gegenüber loyal zu sein.“ (S. 149, 39/40)

Einheit durch Treue zum Evangelium und Weite in Randfragen

Reeves legt zudem dar: Nur auf dieser soliden biblischen Grundlage ist es möglich, dass Evangelikale zu einer Einheit finden. Denn es muss ja der „Wunsch eines jeden gesunden Evangelikalen“ sein, „dass das Volk des Evangeliums in seinem Engagement für das Evangelium vereint ist. Dass sowohl dem streitsüchtigen Gruppendenken, das andere Themen auf die Ebene des Evangeliums hebt, als auch dem Verrat, der die wesentlichen Wahrheiten des Glaubens aufgibt, ein Ende gesetzt wird. Dass Evangelikale gemeinsam zur absoluten Autorität und Vertrauenswürdigkeit der Offenbarung Gottes stehen, die den einen wahren Gott, die Vollständigkeit und Hinlänglichkeit der Erlösung durch Christus und die Notwendigkeit und Bedeutung der Wiedergeburt durch den Geist verkündet.“ (S. 131)

Einheit durch Weite in theologischen Randfragen und unbedingte Treue zum biblisch bezeugten Evangelium. Einheit, die wächst, weil Jesus Christus unser gemeinsames Haupt ist und sein Wort unsere verbindet. Was für eine wunderbare Vision eines Gottesvolks, das tatsächlich von Christus selbst vereint und geprägt wird! Eine solche Einheit ist nicht abhängig von charismatischen Leiterfiguren, gemeinsamen Traditionen oder Institutionen.

Sie ist deshalb wesentlich stabiler sein als eine institutionelle Einheit, an die sich die großen Kirchen zunehmend vergeblich klammern. Und sie ist sehr viel nachhaltiger als der weit verbreitete Versuch, unsere Einheit durch Pragmatismus und die Vermeidung von Theologie zu retten. Grundlegende theologische Differenzen dürfen wir nicht unter den frommen Teppich kehren. Einheit gelingt auf Dauer auch nicht durch den einseitigen Fokus auf gemeinsame Praktiken, auf Lobpreis, Evangelisation oder Gemeindebau. Eine solide, in der Bibel gegründete Theologie ist ein unverzichtbarer Bestandteil für die Einheit der Kirche Jesu.

Der Begriff ist wertvoll – der Inhalt ist entscheidend

Aber brauchen wir den Begriff „evangelikal“ überhaupt? Auch ich wäre so gerne einfach Christ. Aber die traurige Realität ist eben auch: Es sind so viele Menschen unterwegs, die sich selbst Christen nennen, obwohl sie sich vom biblischen Evangelium weit entfernt haben. Wenn wir über die große Gruppe der Christen sprechen wollen, die an der Wahrheit und Verlässlichkeit der biblischen Offenbarung festhalten wollen, dann brauchen wir dafür einen Begriff. Die Evangelikalen bilden aktuell die zweitgrößte Gruppe der Christenheit. Eine alternative Bezeichnung für diese weltumspannende Bewegung ist nirgends in Sicht. Reeves schreibt deshalb zurecht:

„»Man hat immer wieder versucht, den Begriff evangelikal durch einen brauchbareren zu ersetzen, aber solche Bemühungen waren wenig erfolgreich. Der Grund dafür ist ganz einfach: Das Wort erreicht wirklich das, was es beabsichtigt. Das Wort identifiziert diejenigen, deren primäre Identität darin besteht, ein Volk des Evangeliums zu sein.«[1] Namen sind wichtig. Die Zukunft der Evangelikalen hängt jedoch nicht davon ab, wie wir genannt werden. Der Evangelikalismus wird überall dort stark sein, wo Gläubige Schulter an Schulter für den Glauben kämpfen, der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist. Er wird dort gedeihen, wo die Menschen des Evangeliums Integrität gegenüber dem Evangelium wahren.“ (S. 139/140)

Wie wahr! Und ich kenne kein anderes Buch, in dem dieser ein für alle Mal überlieferte Glaube so treffend und prägnant zusammengefasst wird. Für mich ist „Menschen des Evangeliums“ deshalb schon jetzt DAS Buch des Jahres 2024. Es skizziert in wunderbarer Weise die entscheidenden Wahrheiten, auf deren Grundlage diese bunte und vielfältige evangelikale Bewegung in Einheit für einen geistlichen Aufbruch beten und arbeiten kann.

Das Buch „Menschen des Evangeliums“ von Michael Reeves hat 173 Seiten. Es ist 2024 bei Verbum Medien erschienen und kann hier bestellt werden: https://verbum-medien.de/products/menschen-des-evangeliums


[1] zitiert von Albert Mohler, »Confessional Evangelicalism«, in Four Views on the Spectrum of Evangelicalism, Andrew David Naselli und Collin Hansen (Hrsg.), Grand Rapids: Zondervan, 2011, S. 69.

14 Ratschläge für die Politik

Ich habe Hochachtung vor Menschen, die politische Verantwortung übernehmen und sich in den Sturm der Öffentlichkeit stellen. Deshalb will ich vorsichtig damit sein, Politikern Ratschläge zu erteilen. Aber gerne gebe ich die Ratschläge eines erfahrenen Politikers aus der Bibel weiter. König Salomo galt als ein ausgesprochen kluger und weiser Regierungschef. Hier kommen 16 seiner Sprüche[1] und daraus abgeleitet 14 Ratschläge, die mir auch heute noch sehr aktuell zu sein scheinen:

1. Politik sollte nicht nur reagieren, sondern erkennbar und nachvollziehbar lenken und gestalten:

„Wo es an Führung mangelt, zerfällt ein Volk.“ (11,14)

2. Politik soll für gute Rahmenbedingungen sorgen, aber nicht übermäßig viele Steuern erheben:

„Ein König, der für Recht sorgt, gibt seinem Land Bestand; wer nur Steuern erpresst, zerstört es.“ (29,4)

3. Es ist nicht klug, stur an der eigenen Agenda zu kleben. Man sollte offen sein für den Rat seiner Experten:

„Ein Dummkopf hält alles, was er tut, für recht, doch ein Weiser hört auf Rat.“ (12,15)

4. Vorsicht im Wahlkampf! Unerfüllbare Versprechen rächen sich:

„Wie Wolken und Wind, aber kein Regen, so ist jemand, der Versprechungen macht, sie aber nicht hält.“ (25,14)

5. „Negative Campaigning“ und Schimpfen auf Andere bringt vielleicht Klicks und Aufmerksamkeit, aber auf Dauer steht man als Verleumder da:

„Die Worte des Verleumders sind wie Leckerbissen; man verschlingt sie mit großem Appetit.“ (18,8)

6. Politik hat die Aufgabe, das Recht der Schwachen, der Ungeborenen und Kranken zu schützen:

„Sprich du für die Sprachlosen! Tritt du für die Schwachen und ihren Rechtsanspruch ein! Richte gerecht und verschaffe dem Recht, der sich selbst nicht helfen kann!“ (31,8+9)

7. Bescheidenheit ist und bleibt eine wichtige Tugend:

„Mag ein anderer dich loben, doch nicht dein eigener Mund; ein Fremder mag dich rühmen, doch nicht deine eigenen Lippen.“ (27,2)
„Hochmut kommt vor dem Fall und Stolz vor dem Sturz.“ (16,18)

8. Gewissenlose Leute erkennt man daran, dass sie gewissenlose Leute loben:

„Wer Gottes Weisung verlässt, wird den Gottlosen loben“ (28,4)

9. Wer alle Normen, Werte und alles Heilige verachtet, zerstört die Gesellschaft:

„Ohne Prophetenwort verwildert ein Volk, doch wohl ihm, wenn es das Gesetz bewahrt.“ (29,18)

10. Es ist besser, wo möglich Kritik auszuhalten, statt immer gleich dagegen vorzugehen:

„Ein Dummkopf zeigt seinen Ärger sofort, doch wer die Beleidigung einsteckt, ist klug.“ (12,16)

11. Es ist ratsam, überlegt und mit Bedacht zu sprechen statt schnell wie ein Maschinengewehr:

„Siehst du einen, der hastig und gedankenlos spricht? Für einen Dummkopf ist mehr Hoffnung als für ihn.“ (29,20)

12. Die Verachtung früherer Generationen ist ein NoGo:

„Was ist das für eine Generation, die den Vater verflucht und der Mutter kein gutes Wort mehr schenkt; die sich selbst für fehlerfrei hält, doch besudelt ist mit persönlicher Schuld; eine Generation, die hoch von sich denkt und verachtungsvoll blickt“ (30,11)

13. Politik sollte sich für den Erhalt des Gottesbezugs im Grundgesetzt („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,“) einsetzen und das „so wahr mir Gott helfe“ in im Amtseid nicht vergessen, denn:

„Der Anfang aller Weisheit ist Ehrfurcht vor Jahwe. Den Heiligen erkennen, das ist Verstand.“ (9,10)
„Wer sich von Gott gelöst hat, wird irregeführt.“ (12,26)

14. Auf Dauer lohnt es sich, aufrichtig zu sein, auch wenn es zwischendurch nicht populär sein sollte:

„Aufrichtige werden von Ehrlichkeit geführt, Treulose von ihrer Falschheit zersetzt.“ (11,3)


[1] Aus dem biblischen Buch der Sprüche in der Formulierung der Neuen evangelistischen Übersetzung (in Klammer jeweils Kapitel und Vers)

Erweckung Teil 3: Vorsicht Fake

Der dritte Teil dieser kleinen Serie über Erweckung fällt mir am schwersten. Aber es ist nun einmal eine Tatsache: Nicht alles, was vorgibt, eine Erweckung zu sein, ist auch tatsächlich eine. Das Problem dabei ist: Die Unterscheidung zwischen echt und falsch ist oft gar nicht so leicht. Fast jede Erweckungsbewegung ist von Teilen der Kirche abgelehnt oder sogar offen bekämpft worden. Das liegt auch daran, dass Erweckungsbewegungen zu Beginn oft wenig ausgewogen sind. Sie atmen oft eine gewisse Radikalität. Sie enthalten oft Irrtümer und Übertreibungen. Sie sind oft wenig sensibel und erzeugen deshalb fast immer auch Opfer.

Es ist daher immer leicht, neue geistliche Aufbrüche zu kritisieren. Die Gefahr dabei ist: So leicht kann man das Kind mit dem Bad ausschütten. So leicht kann man dazu beitragen, geistliche Aufbrüche zu ersticken und die Kirche zu spalten. Gerade in Deutschland haben wir immer wieder unter solchen Problemen gelitten.

Vorsicht vor vorschneller Kritik!

Ich verstehe deshalb, wenn einige Christen sagen: Ich werde neue christliche Bewegungen grundsätzlich nicht kritisieren. Man kann diese Zurückhaltung auch biblisch gut begründen. Jesus hat gesagt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Matth.7,16) Ein junger Baum trägt nicht gleich Früchte. Es braucht Zeit, bis man sich vom Charakter und von den Auswirkungen einer neuen Bewegung ein Bild machen kann. Frucht kann man nicht eben mal schnell aus der Distanz prüfen. Ein kurzer Artikel oder eine einzelne Meinungsäußerung reicht nicht, um sich ein wirkliches Bild zu machen.

Trotz aller Vorsicht gilt: Prüft alles!

Trotz aller gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung bleibt das Gebot bestehen: „Prüft aber alles“ (1.Thess.5,21). Paulus bezieht dieses Gebot auf prophetische Aussagen. Wir können es aber natürlich auch auf Bewegungen anwenden, die für sich selbst in Anspruch nehmen, prophetischen Charakter zu haben. Bei Bewegungen, die sich selbst als erwecklich betrachten, ist das häufig der Fall.

Das Neue Testament macht zudem klar, dass das Prüfungsgebot auch für Personen gilt. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Jesus die Gemeinde in Ephesus mit den folgenden Worten lobt: Du hast die, die sich als Apostel ausgeben, geprüft und sie als Lügner entlarvt. (Offb.2,2) Es ist also keine Heldentat, Leute einfach gewähren zu lassen, um ja niemand zu kritisieren. Im Gegenteil: Es gehört zur Verantwortung christlicher Leiter, „Influencer“ im christlichen Umfeld zu prüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen. Es geht dabei nicht ums Rechthaben oder um Macht. Es geht um den Schutz von Menschen und Gemeinden. Denn falsche Lehrer richten immer Schaden an. Sie verletzen Menschen. Sie zerstören Gemeinschaften. Sie spalten die Kirche.

Die Wort + Geist Katastrophe

Ein trauriges Beispiel hat in den 2000er-Jahren die charismatisch geprägte Christenheit im deutschsprachigen Raum in Aufruhr versetzt. Die sogenannte „Wort + Geist-Bewegung“ wurde im Jahr 1999 gegründet und erlangte rasch großen Einfluss. Viele Gemeinden luden den Gründer Helmut Bauer zu Heilungsgottesdiensten ein. Ich habe selbst einen solchen Heilungsgottesdienst erlebt. Es lag eine Euphorie in der Luft. Viele Christen haben gehofft, dass von dieser Bewegung ein kraftvoller Ermutigungs- und Erneuerungsimpuls ausgeht.

Nur wenig später haben Leiter wie Peter Wenz, Wolfram Kopfermann, Bernhard Olpen oder die evangelische Allianz Nürnberg intensiv vor Wort + Geist gewarnt. Sie wiesen auf eine Reihe von grundlegend falschen Lehren und Praktiken hin. Es gab in der Folge eine Reihe von Spaltungen. Die Zahl an verletzten Menschen und zerstörten Gemeinschaften ist wohl schwer abzuschätzen. Es ist tragisch. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn der Mann, der sich später selbst als „Völkerapostel“ bezeichnen ließ, schon früher als falscher Apostel entlarvt worden wäre?

Die fragwürdigen Praktiken von Benny Hinn

Auch mit dem US-amerikanischen „Fernsehprediger“ Benny Hinn hatte ich Berührungspunkte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir ein Bekannter begeistert Szenen aus seinen großen Heilungsgottesdiensten zeigte. Ich kaufte mir Hinns Buch „Guten Morgen, Heiliger Geist!“. Manches erschien mir eigenartig. Und doch empfand ich eine Faszination. Wer sehnt sich nicht nach einem Mehr an Wundern, Heilungen und Gottes Kraft?

Im Jahr 2024 veröffentlichte der US-amerikanische Pastor und YouTuber Mike Winger ein 4-stündiges Video über Benny Hinn. Winger ist genau wie ich ein charismatisch geprägter Christ. Er glaubt an die Realität von Wundern und Heilungen. In den 10 Kapiteln seines Videos dokumentiert er jedoch zahlreiche Fälle von Lügen, falscher Lehre, falschen Prophetien, Pseudoheilungen, höchst fragwürdige Spendenpraktiken und Fälle von angeblicher Buße, die aber zu keiner Verhaltensänderung führten. Unter seinem Video, das inzwischen schon rund 800.000 mal angeklickt wurde, schreibt Winger: „Benny Hinn is a very bad man.“ Ich kann nur empfehlen, sich die Zeit zu nehmen und das komplette Video von Winger anzuschauen (youtu.be/X2Ip_3A32W0), bevor man Winger für dieses scharfe Urteil kritisiert.

Falsche Prophetien und falsche Versprechen

Eine „Prophetie“ Benny Hinns aus den 90er Jahren zeigt beispielhaft, warum Winger derart kritisch ist (ab 1:24:18):

“Ich prophezeie: Wir stehen vor der größten Erntezeit seit Pfingsten. … Ich beobachte Israel. Ich beobachte Bill Clinton, unseren Präsidenten, der versucht, den Frieden zwischen den Syrern und den Israelis wiederherzustellen. Wenn die Syrer und die Israelis endlich diesen Friedensvertrag unterzeichnen … – und das müssen sie, weil Gott sagt, dass sie es tun werden – in der Sekunde … werden sie die gesamte arabische Welt in das Friedenslager holen, einschließlich dem Irak … . Drei Dinge werden geschehen. Ich prophezeie erstens die größte Evangelisationsbewegung in der Weltgeschichte! In dieser kurzen Zeitspanne werden mehr Menschen gerettet werden als in der gesamten Zeit seit Pfingsten. Und ich prophezeie durch die Salbung Gottes, die ich auf mir spüre: Jeder geliebte Mensch, für den Du gebetet hast, jeder Ehemann, jedes Kind, jeder Bruder und jede Schwester wird von Neuem geboren werden, wenn diese Bewegung eintritt. Ich sage euch, es wird geschehen. Daran gibt es keinen Zweifel. Die zweite Sache, die passieren wird, ist eine Bewegung mit Wundern, die es in der Weltgeschichte noch nie gegeben hat. Meine Damen und Herren, wir werden sehen, wie … kreative Wunder geschehen. Wir werden sehen, wie massenhaft Menschen geheilt werden. … Drittens: Die größte Wohlstandsbewegung der Weltgeschichte. Ich weiß, Sie haben Gott angefleht: … Oh Gott, ich kann diese Rechnungen nicht bezahlen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass der Herr Ihnen ein Wunder schenken wird, wie er es vor so langer Zeit in Ägypten getan hat. Der Reichtum der Sünder ist im Begriff, jedem Gläubigen gegeben zu werden. Aber mein Bruder: Erwarte diesen Reichtum nicht, wenn du nicht dafür gesät hast. Du musst erst säen, bevor du ernten kannst. Ich bin hier, um zu prophezeien. Ich predige heute Abend nicht. Ich prophezeie heute Abend. Aber schau, jetzt warten wir alle auf diese mächtige Bewegung, die unmittelbar bevorsteht, Wochen entfernt, nicht mehr als ein paar Monate entfernt. Aber wir müssen jetzt dafür säen. Ich möchte, dass du zum Telefon greifst. Mache eine Spendenzusage.”

Drei Anmerkungen dazu:

  • Hinn richtet seinen Spendenaufruf primär an verschuldete Menschen. Er verspricht: Gib mir jetzt dein letztes Geld, dann wird Gott dich finanziell segnen. Winger dokumentiert in seinem Video: Für diese Praxis hat Hinn später öffentlich Buße getan. Er hat eingeräumt, dass man damit Menschen vollends in den Ruin treiben kann. Aber Winger dokumentiert: Kurz darauf hat Hinn wieder genau das Gleiche getan.
  • Hinn erzeugt Emotionen mit unrealistischen Versprechungen: Eine gewaltige Erweckung mit spektakulären Wundern steht bevor! Alle Deine Angehörigen werden sich bekehren! Deine Rechnungen werden bezahlt! Die Ungläubigen werden den Gläubigen ihren Reichtum geben! Das kann Euphorie auslösen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ habe ich von Menschen berichtet, die unter einem „postcharismatischen Syndrom“ leiden. Der Grund: Euphorisierung durch Luftnummern schlägt am Ende eben oft ins Gegenteil um. Nach meiner Beobachtung stellt diese Dynamik eine wichtige Wurzel der heutigen postevangelikalen Bewegung dar.
  • Was wirklich unfassbar ist: Obwohl kein Satz dieser “Prophetie” wahr wurde, hat Hinn im September 2023 die exakt gleiche Prophetie erneut verkündet (im Video zu sehen ab 1:09:30). Wieder behauptet er: Eine neue Ära (“Season”) hat begonnen! Israelis und Araber versöhnen sich – spätestens im Jahr 2024! Das löst eine gewaltige weltweite Erweckung mit zahlreichen Wundern aus! Alle Deine Lieben, für die Du betest, werden sich bekehren! Die Welt wird ihren Reichtum den Gläubigen geben („wealth transfer“)! Du wirst finanzielle Wunder erleben – sofern Du mir jetzt Dein Geld spendest…

Es kam wieder ganz anders: Statt Versöhnung folgte nur wenige Tage später am 7. Oktober 2023 der grauenvollste Terroranschlag auf Juden seit dem Holocaust. Seither erleben wir eine beispiellose weltweite Welle des Antisemitismus. Während ich das schreibe, sehe ich mit Schrecken die antisemitischen Proteste an US-amerikanischen Eliteuniversitäten, bei der sich islamistische und woke linke Strömungen miteinander verbinden. Wie vor 100 Jahren in Deutschland wird wieder Juden der Zugang zu Universitäten versperrt. Trotzdem habe ich nichts davon gehört, dass Benny Hinn seine „Prophetie“ zurückgenommen hätte. Sie ist nach wie vor online auf seinem Kanal (hier und hier).

Mich macht das zornig. Wer eine grundfalsche „Prophetie“ Jahre später wiederholt, sie wieder mit genau den gleichen illusionären Versprechungen verknüpft, um erneut verschuldeten Menschen ihr letztes Geld aus der Tasche zu ziehen, dem sollten wir nicht vertrauen. Ich kann beim besten Willen keine Option erkennen, wie wir ein solches Verhalten rechtfertigen, entschuldigen oder auch nur verharmlosen könnten.

Falsche Lehre richtet Schaden an

In all dem tun mir vor allem all die Menschen und Familien leid, die auf diese Weise in noch tiefere finanzielle Probleme geraten sind, während Hinn in Privatjets und Luxushotels um die Welt reist. Mir tun die Menschen leid, die ihr Heil vergeblich in fragwürdigen Proklamationstechniken („name it and claim it“) und in einem unbiblischen Gesundheits- und Wohlstandsevangelium („health and wealth gospel“, „prosperity gospel“) suchten. Mir tun die Kranken leid, die zusätzlich zu ihrem Leiden auch noch von dem Gedanken geplagt werden, dass sie nicht genügend Glauben für ihre Heilung haben. Mir tun die Menschen leid, die trotz ihrer offenkundigen Krankheitssymptome bis zuletzt ihre angeblich bereits erfolgte Heilung proklamiert haben. Mir tun die Familien leid, die sich deshalb nicht von Ihren Angehörigen verabschieden konnten – und nebenbei durch diesen Unsinn vom christlichen Glauben abgeschreckt wurden.

Sehnsucht nach echter Erweckung

Winger berichtet: Benny Hinn besitzt bis heute großen Einfluss. Weltweit zieht er zahllose Menschen in seinen Bann. Bekannte christliche Leiter stellen sich öffentlich zu ihm. Bill Johnson, der Leiter der international einflussreichen Bethel-Gemeinde in Redding (Kalifornien), hat ihn sogar als persönlichen Freund bezeichnet. Und ich frage mich: Ist das mangelndes Unterscheidungsvermögen? Haben wir denn nichts aus vergangenen Katastrophen durch falsche Lehrer und Apostel gelernt?

Umso mehr sehne ich mich nach echter Erweckung. Ich halte Ausschau nach einem neuen geistlichen Aufbruch mit all den Kennzeichen, die wir auch in biblischen Erweckungen finden (siehe Teil 2 dieser Serie): Eine neue Liebe und Ehrfurcht vor Gottes Wort. Eine große Zahl von Menschen, die Buße tun und umkehren zu Gott. Eine wachsende, geeinte Kirche Jesu mit Ausstrahlung, die Licht und Salz ist für die Gesellschaft. Lasst uns nicht aufhören, für eine solche Erweckung gemeinsam zu beten und zu arbeiten.

Hier findest Du die ersten beiden Teile dieser Artikelserie:

Erweckung Teil 2

Lektionen aus der Erweckung unter König Hiskia

Sind Erweckungen ausschließlich ein Werk Gottes? Können wir außer Warten und Beten gar nichts dazu beitragen? Oder hängt es vielleicht sogar ganz im Gegenteil an uns, ob eine Erweckung kommt oder nicht? Der biblische Bericht in 2. Chronik 29-32 über die Erweckung unter König Hiskia gibt uns zu diesen und weiteren Fragen rund um das Thema Erweckung wertvolle Antworten.

1. Auch in finsteren Zeiten kann Erweckung sehr plötzlich kommen

Der Vater und Vorgänger von König Hiskia hieß Ahas. Von ihm heißt es: „Er tat nicht, was dem Herrn gefiel.“ (28,1) Er schloss den Tempel und plünderte ihn aus. Er förderte den Götzendienst im ganzen Land. Er ließ sogar seinen Sohn als Götzenopfer verbrennen, und zwar im Hinnom-Tal, das in der Bibel zum Sinnbild für die Hölle wird. Man kann also sagen: In Juda war buchstäblich die Hölle los. Die Konsequenzen waren bitter: Ahas wurde beraubt und im Krieg besiegt. Feindliche Völker fingen an, Städte in Juda einzunehmen. Die Situation konnte düsterer kaum sein.

Und doch war die Erweckung nahe! In Kap. 29,3 lesen wir: Gleich im ersten Monat seines ersten Amtsjahres“ setzte Hiskia viele Reformen um, die die Grundlage für diese Erweckung legten. Die Menschen staunten und freuten sich, denn: „Alles war sehr schnell gelungen.“ (29,36) Für uns bedeutet das: Gott kann Situationen schneller verändern, als wir uns das vorstellen können. Erweckung ist jederzeit möglich! Vielleicht werden auch wir schon bald überrascht sein und staunen, wie rasch sich die scheinbar aussichtslose Situation der Kirche Jesu gewandelt hat.

2. Die Orientierung an Gottes Wort ist unverzichtbar

In Kap. 29,15b lesen wir: „Dann begannen sie, das Haus des Herrn zu reinigen, wie der König es gemäß dem Wort des Herrn angeordnet hatte.“ Es war Hiskia also wichtig, nicht irgendetwas für Gott zu tun, sondern sich genau an Gottes Wort zu orientieren. Das galt auch für die Anbetung: „Dann ließ König Hiskia die Leviten mit Zimbeln, Harfen und Zithern im Haus des Herrn Aufstellung nehmen, wie es der HERR geboten hatte.“ (29,25)

Hiskia hatte offenkundig verstanden: Erweckung bekommen wir nur, wenn wir uns an Gottes Spielregeln halten! Wilder Aktionismus führt zu nichts. Und ich bin überzeugt: So ist es auch heute noch. Erweckung geht niemals nach unseren Regeln, sondern ausschließlich nach den Regeln Gottes. Es kann keine Erweckung geben an Gottes Wort vorbei. Menschen, die sich für eine echte Erweckung engagieren wollen, müssen deshalb tief verwurzelt sein in Gottes Wort. Sie müssen es lieben und ehrfürchtig zum Maßstab ihres Denkens und Handelns machen. Voraussetzung für eine Erweckung ist immer die Umkehr und die bewusste Unterordnung unter Gottes heiliges Wort.

3. Menschen handeln – aber Gottes Wirken ist entscheidend

In Vers 36 lesen wir: „Und Hiskia und das ganze Volk freuten sich sehr über das, was Gott für das Volk getan hatte.“ Diese Aussage kommt an dieser Stelle ein wenig überraschend. Denn eigentlich ist diesem Kapitel überhaupt nicht die Rede davon, dass Gott irgendetwas getan hätte. Geschildert wird nur, was Hiskia getan hat: Hiskia befahl, den Tempel zu öffnen und ihn aufzuräumen. Hiskia befahl den Priestern, Opfer zu bringen. Hiskia befahl den Leviten, Gott wieder anzubeten. Die Priester und Leviten taten, was ihnen befohlen wurde. Trotzdem haben sie sich am Ende nicht an ihren Arbeitsergebnissen gefreut. Vielmehr haben sie verstanden: Hier ist in Wahrheit Gott am Werk!

Daraus können wir eine doppelte und scheinbar in sich widersprüchliche Lektion ableiten. Die eine Seite der Wahrheit ist: Um Erweckung zu erleben, gibt es Dinge, die von Menschen getan werden müssen. Erweckung bedeutet Arbeit. Es ist somit nicht einfach nur Gottes Schuld, wenn keine Erweckung kommt. Wir können die Verantwortung nicht einfach auf ihn abschieben, während wir tatenlos in unseren müden Kirchen sitzen.

Aber zugleich gilt: Erweckung ist zuerst und zuletzt ein Werk unseres großen Gottes. Wann immer wir glauben, dass ein geistlicher Aufbruch das Resultat unserer Arbeit, unserer Talente und unserer Methoden wäre, sind wir auf dem Holzweg. Eine gute Methode kann zwar sehr hilfreich sein. Aber wenn wir unsere Hoffnung und unser Vertrauen auf eine Methode setzen statt auf Gott, dann werden die Methoden zu Götzen – und verhindern Erweckung. In Gottes Reich gibt es eine ewig gültige Grundregel, die lautet: An Gottes Segen ist alles gelegen. Geistliches Wachstum ist immer ein Wunder und ein Geschenk Gottes. Wo das vergessen wird, ist am Ende alle Arbeit umsonst.

Dieses doppelte Prinzip wird noch deutlicher in Kap. 30, 1-12:

„Nun ließ Hiskia ganz Israel und Juda zusammenrufen und auch Ephraim und Manasse durch Briefe einladen, zum Haus des Herrn in Jerusalem zu kommen, um das Passah des Herrn, des Gottes Israels, zu feiern. … Auf Befehl des Königs zogen Boten in ganz Israel und Juda umher. Sie hatten Briefe des Königs und seiner führenden Männer bei sich, in denen stand: »Ihr Israeliten, kehrt um zum Herrn, dem Gott Abrahams, Isaaks und Israels … Wendet euch dem Herrn, eurem Gott, zu, damit sein Zorn sich von euch abwendet. … Wenn ihr zu ihm zurückkehrt, wird er euch nicht abweisen.« Die Boten zogen von Stadt zu Stadt durch Ephraim und Manasse, bis nach Sebulon. Doch die meisten Menschen lachten nur über sie und verhöhnten sie. … Zur gleichen Zeit legte Gott seine Hand auf das Volk von Juda und weckte in den Menschen den gemeinsamen Wunsch, dem Befehl des Königs und seiner Männer zu folgen, wie es dem Wort des Herrn entsprach.“ (2. Chronik 30, 10-12)

Auch hier haben sich Menschen an die Arbeit gemacht. Sie sind umhergereist, um die Menschen aufzurufen, zu Gott umzukehren. Die meisten hatten für Gottes Botschaft aber nur Hohn und Spott übrig. Nur bei den Menschen von Juda tat Gott ein Wunder: Er weckte in ihnen den Wunsch, zu Gott zu kommen.

Es stimmt also tatsächlich: Wir können Erweckung nicht machen. Wir können und sollen zwar losgehen und die Menschen einladen. Unser Wort und unser Engagement ist wichtig. Aber es wird fruchtlos bleiben ohne Gottes Wirken. Am Ende hängt alles daran, ob Gott die Menschen aufweckt oder nicht.

Damit drängt sich eine große Frage auf: Warum weckte Gott nur die Menschen in Juda auf? Warum nicht auch in den anderen Gebieten? Ich glaube, dass es dafür einen Grund gab: Im Herzen des Gebiets von Juda gab es einige Leute, die entschieden hatten: Wir stellen Gott wieder in die Mitte. Wir richten uns nach seinem Wort. Wir beten ihn an. Wir beugen vor ihm die Knie.

Ja, es stimmt, dass wir Erweckung nicht machen können. Aber das heißt nicht, dass wir deshalb einfach nur geduldig warten müssen, bis Gott es sich mal überlegt und Erweckung schenkt. Erweckung beginnt, wo einige Menschen anfangen, Gott wieder in die Mitte zu nehmen. Ihn anzubeten. Auf sein Wort zu hören. Vor ihm die Knie zu beugen. Wo Menschen das tun, stellt sich Gott dazu. Dann legt er seine Hand auf die Herzen von weiteren Menschen und weckt in ihnen den Wunsch, sich Gott zuzuwenden.

4. Es lohnt sich – Der Segen Gottes ist alle Arbeit wert

Ich liebe den Bericht des Chronisten über die Ereignisse, die nun folgten:

„Und so kam im zweiten Monat eine riesige Menschenmenge in Jerusalem zusammen, um das Fest der ungesäuerten Brote zu feiern. Die Menschen machten sich daran, die Altäre aus der Stadt zu entfernen, rissen die Räucheraltäre nieder und schafften sie zum Bach Kidron. Am 14. Tag des zweiten Monats wurden die Passahlämmer geschlachtet. Die Priester und Leviten bekannten ihre Schuld und reinigten sich und brachten Brandopfer zum Haus des Herrn. … So feierten die Israeliten, die in Jerusalem versammelt waren, voller Freude sieben Tage lang das Fest der ungesäuerten Brote. Jeden Tag sangen die Leviten und Priester das Loblied des Herrn, begleitet von den mächtigen Instrumenten des Herrn. … Sieben Tage dauerte das Fest, und sie aßen und opferten Friedensopfer und dankten dem Herrn, dem Gott ihrer Vorfahren. Danach beschloss die ganze Gemeinschaft, das Fest noch weitere sieben Tage fortzusetzen, und voller Freude feierten sie noch eine Woche lang. … Es herrschte großer Jubel in der Stadt, denn ein solches Fest hatte Jerusalem seit den Tagen Salomos, des Sohnes von König David von Israel, nicht mehr erlebt.“ (2. Chronik 30, 13-26)

Das ist Erweckung: Massenhaft Menschen feiern Gott. Sie beten ihn an. Sie bekennen ihre Sünden. Sie sagen sich von den Götzen los. Sie jubeln. Sie freuen sich. Sie lieben es so sehr, Gott zu feiern, dass sie nach 7 Tagen sagen: Lasst uns das noch einmal 7 Tage lang machen.

Das ist typisch für Erweckungszeiten. Ohne Erweckung heißt es oft: Puh, der Gottesdienst dauert heute aber lang. Und der Pfarrer darf gerne über alles predigen, aber bitte nicht über 20 Minuten. In Erweckungszeiten ist es genau umgekehrt. Da können die Leute nicht genug davon bekommen, Gott zu feiern und auf sein Wort zu hören. Die fromme Pflicht wird zur Kür. Die moralinsaure, bleierne Schwere wird durch fröhliche Leidenschaft ersetzt.

Aber es bleibt nicht bei einem fröhlichen Fest. Danach geht es erst richtig los: Hiskia fängt an, das Land neu zu organisieren. Er ordnet das religiöse Leben. Er baut die Mauern der Stadt aus. Dazu baut er Brunnen, Bewässerungstunnel und Türme. Manche davon kann man heute noch besichtigen. Der Chronist klärt uns auf, woher all diese Erfolge kommen: „In allem, was er für das Haus Gottes tat, und in seinem aufrichtigen Bemühen, das Gesetz und die Gebote zu halten, suchte Hiskia seinen Gott von ganzem Herzen. Und ihm glückte alles, was er unternahm.“(31, 21)

Erfolg ist hier also nicht die Konsequenz der richtigen Strategie oder von Klugheit, von Talenten oder guten Ratgebern. Erfolg ist hier eine Konsequenz der richtigen Haltung! Eine Haltung, die sich konsequent an Gott und an seinem Wort ausrichtet. Eine Haltung, die Gott sucht und ihn immer an die oberste Stelle setzt. Das ist die Haltung, zu der Gott das Gelingen hinzufügt.

Das zeigt sich besonders krass, als Juda von einem feindlichen Heer angegriffen wird. Hiskias Vater Ahas hatte in solchen Situationen versucht, Verbündete zu finden und andere Könige zu bestechen. Es hatte ihm aber nichts genutzt. Was tat Hiskia? In Kap. 32, 20-21 lesen wir:„Da beteten König Hiskia und der Prophet Jesaja, der Sohn von Amoz, deswegen und flehten den Himmel an. Und der Herr schickte einen Engel, der das Heer im Lager des Königs von Assur mit all seinen Befehlshabern und Obersten vernichtete. Und Sanherib musste gedemütigt den Rückzug in sein eigenes Land antreten.“

Weil Hiskia an Gott hing, musste er gar nicht mehr selbst kämpfen! Gott kämpfte für ihn. Und ich frage mich: Wie viel Kraft und wie viele Verluste hat Hiskia wohl gespart, weil er diese richtige Priorität hatte? Bei uns ist es so oft genau umgekehrt: Wir sind so beschäftigt mit unserem (frommen) Programm, dass wir sagen: Wir haben keine Zeit zu beten. Wir haben keine Zeit zum Bibellesen. Und trotz unserem Stress sind unsere Erfolge dürftig.

Der Bericht über die Erweckung unter Hiskia macht deutlich: Jede Stunde Gebet ist eine gut und klug investierte Stunde. Jede Stunde, die wir demütig in die Bibel schauen, um von ihr zu lernen, ist eine gut und klug investierte Stunde. Jede Stunde, die wir Gott anbeten und ihn loben, ist eine gut investierte Stunde.

Deshalb sollten wir genau das tun: Unseren Gott in die Mitte nehmen. Ihn suchen im Gebet und in der Anbetung. Auf sein Wort hören. Damit es auch bei uns schnell geht. Denn genau das ist es, was unser Land so dringend braucht! Auch die besten Politiker werden die Probleme dieses Landes nicht lösen können. Die Probleme liegen tiefer, als dass man sie allein mit besseren Gesetzen lösen könnte. Dieses Land braucht vor allem anderen schnell eine Erweckung. Damit die Menschen heimkommen zum Vater und bei ihm das Leben finden. Ewiges Leben. Damit die Kirche Jesu wieder wachsen und Frucht bringen kann. Damit unsere Gesellschaft wieder auf gesunde Pfade findet. Damit Gott die Ehre bekommt, die ihm gebührt.

Erweckung

Teil 1: Was die Bibel dazu sagt und warum wir sie unbedingt brauchen

„Ich kenne dein Tun und weiß, dass du im Ruf stehst, lebendig zu sein. Aber du bist tot. Werde wach und stärke den Rest, der noch Leben hat, damit er nicht vollends stirbt!“ (Offb. 3, 1-2)

Was für eine heftige Diagnose: Eine Gemeinde hat den Ruf, lebendig zu sein. Aber Jesus sieht hinter die Kulissen und sagt: In Wahrheit ist das geistliche Leben weitgehend abgestorben. Höchste Zeit, wieder aufzuwachen. Höchste Zeit für eine Erweckung!

Der Begriff „Erweckung“ ist unter Christen umstritten. Das liegt zum einen daran, dass er in der Bibel so nicht vorkommt. Zum zweiten gibt es die Sorge, Christen könnten lieber in Erweckungsträumen schwelgen, statt jetzt und hier tatkräftig anzupacken. Und schließlich gibt es nicht wenige Christen, die das Konzept und die Realität von „Erweckungen“ ganz grundsätzlich bezweifeln.

Dabei sind Erweckungsbewegungen sowohl in der Bibel als auch in der Kirchengeschichte eine breit bezeugte Realität. Schon das Alte Testament berichtet von beeindruckenden geistlichen Erneuerungsbewegungen, z.B. unter König Hiskia (2. Chronik 29-31), unter König Joschija (2. Chronik 34-35) oder unter Nehemia (Nehemia 8-10). Die Kennzeichen dieser Erweckungsbewegungen sind immer wieder ähnlich:

  • Eine leidenschaftliche Hinwendung zu Gott und Abkehr von den Götzen: „Joschija ließ nun auch in allen übrigen Gebieten Israels all die abscheulichen Götzen entfernen und hielt alle, die dort wohnten, dazu an, Jahwe, ihrem Gott, zu dienen.“ (2. Chronik 34, 33)
  • Die ehrfürchtige Unterordnung unter Gottes Wort und Gebot: „Er ließ ihnen das ganze Bundesbuch vorlesen, das im Haus Jahwes gefunden worden war. Dann trat der König auf sein Podest und schloss den Bund vor Jahwe, dass man ihm nachfolgen wolle, seine Gebote, Mahnungen und Ordnungen mit ganzem Herzen und ganzer Kraft befolgen und alles genau tun wolle, was in dem Buch geschrieben steht.“ (34, 30+31)
  • Die Wiederherstellung des Gottesdienstes und der Anbetung: „Joschija feierte in Jerusalem ein Passafest zur Ehre Jahwes. … Die Sänger aus der Nachkommenschaft Asafs blieben für die Dauer des Festes an ihrem Platz, wie es David, Asaf, Heman und der königliche Seher Jedutun angeordnet hatten. … Ein solches Passafest hatte es in Israel seit der Zeit des Propheten Samuel nicht mehr gegeben.“ (35, 1+18)
  • Große Opferbereitschaft: „Joschija spendete aus dem königlichen Besitz für das versammelte Volk … Auch seine hohen Beamten spendeten freiwillig für das Volk.“ (35, 7+8)
  • In der Folge sichtbarer Segen: „Ja, du hast dich vor mir gedemütigt, deine Gewänder eingerissen und vor mir geweint. Darum habe ich auch auf dich gehört, spricht Jahwe. Wenn ich dich dann sterben lasse, wirst du friedlich im Grab deiner Väter bestattet werden.“ (34, 27+28)

Die alttestamentlichen Erweckungsbewegungen waren keinesfalls nur eine Sache der Leiter des Volkes, im Gegenteil: Große Teile der Bevölkerung wurden tief im Herzen bewegt und kehrten leidenschaftlich zu Gott um, wie der bewegende Bericht im Buch Nehemia zeigt:

 „Als der 7. Monat herankam und die Israeliten in ihren Städten wohnten, versammelte sich das ganze Volk auf dem Platz vor dem Wassertor. Sie baten den Gesetzeslehrer Esra, das Buch mit dem Gesetz Moses herbeizubringen, dem Gesetz, das Jahwe den Israeliten verordnet hat. … Vom frühen Morgen bis zum Mittag las er auf dem Platz vor dem Wassertor aus dem Gesetzbuch vor. Das ganze Volk hörte aufmerksam auf die Worte des Buches. … Esra öffnete die Schriftrolle vor aller Augen, denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das tat, standen alle auf. Zuerst pries Esra Jahwe, den großen Gott, und alle antworteten mit erhobenen Händen: “Amen, Amen!” Dann warfen sie sich vor Jahwe auf die Knie, und beugten sich mit dem Gesicht bis auf die Erde. Die Leviten … halfen den Zuhörern, das Gesetz zu verstehen. Das Volk blieb dabei an seinem Platz. Sie übersetzten die vorgelesenen Abschnitte und erklärten die Weisung Gottes, damit die Leute sie verstehen konnten. Als die Israeliten die Worte des Gesetzes vernahmen, fingen sie an zu weinen. Da sagten der Statthalter Nehemia, der Priester und Gesetzeslehrer Esra und die Leviten, die das Volk unterwiesen: “Seid nicht traurig und weint nicht, denn dieser Tag ist Jahwe, eurem Gott, geweiht! … Heute ist ein Festtag für Jahwe. Seid nicht traurig, denn die Freude am Herrn ist eine Festung für euch!” (Nehemia 8, 1-10)

Umkehr zu Gott, Unterordnung unter sein Wort, Aufblühen von Gebet und Anbetung, große Opferbereitschaft, eine gesegnete, aufblühende Kirche: All diese Merkmale von Erweckung können wir auch in vielen Erweckungsbewegungen quer durch die Kirchengeschichte beobachten. Immer wieder gab es solche besonderen Zeiten der leidenschaftlichen Hinwendung zu Gott und der ehrfürchtigen Unterordnung unter sein Wort und Gebot. Oft sind in diesen Zeiten neue Lieder und neue Formen der Anbetung entstanden. Nicht selten kann man am Alter der meistgesungenen Lieder und manchmal sogar noch an den Gebäuden erkennen, aus welcher Erweckung eine kirchliche Gruppierung hervorgegangen ist. Aber nicht nur die Kirche profitiert von Erweckungen. Große Erweckungsbewegungen haben immer auch auf die Gesellschaft abgefärbt. Besonders deutlich kann man das anhand des Einflusses der „Great Awakenings“ im 19. Jahrhundert in den USA nachweisen. Aber auch meine schwäbische Heimat profitiert bis heute vom Fleiß, von der Ehrlichkeit und der sozialen Ader vieler pietistisch geprägter Unternehmer.

Ich bin deshalb überzeugt: Was Deutschland vor allem braucht, ist eine Erweckung! Auch die besten Konzepte werden die weit verbreitete Fruchtlosigkeit der Kirche Jesu in unserem Land nicht grundlegend ändern können. Auch die besten Politiker werden die wachsenden gesellschaftlichen Probleme unseres Landes nicht lösen. Demokratie funktioniert auf Grundlagen, die sie selbst nicht schaffen kann: Respekt vor der unveräußerlichen Würde jedes Menschen. Ehrlichkeit. Mitmenschlichkeit. Toleranz. Demut. Eine dienende Haltung. Vishal Mangalwadi hat in seinem „Buch der Mitte“ eindrucksvoll nachgewiesen, wie eng alle diese Werte mit unserem reformatorischen Erbe zusammenhängen. Deshalb gilt:

Wenn wir die Kirche Jesu wieder aufblühen und wachsen sehen wollen…

Wenn wir sehen wollen, wie viele Menschen zum Glauben kommen und das ewige Leben finden…

Wenn wir unsere Demokratie bewahren wollen…

… dann sollten wir auf die Knie gehen und um eine neue Erweckung beten. Wir sollten uns demütigen und unterordnen unter Gottes heiliges Wort. Wir sollten Buße tun und umkehren, wo unser Leben den Geboten Gottes widerspricht. Wir sollten uns Zeit nehmen, um gemeinsam im Gebet Gottes Angesicht zu suchen und uns dabei Gottes Verheißung für sein Volk vor Augen halten:

Wenn ich den Himmel verschließe und es nicht mehr regnet, wenn ich den Heuschrecken befehle, das Land kahl zu fressen, und wenn ich die Pest unter mein Volk sende, und wenn dann mein Volk, über dem mein Name ausgerufen ist, sich demütigt und zu mir betet, wenn es meine Gegenwart sucht und von seinen bösen Wegen umkehrt, dann werde ich es vom Himmel her hören, ihre Sünden vergeben und ihr Land heilen.“ (2. Chronik 7, 13+14)

Es bewegt mich immer sehr, wenn ich sehe, dass es solche Bewegungen des Gebets und der Umkehr in unserem Land bereits gibt. Der Abschlussgottesdienst zum Gebets- und Fasttag für Erweckung in Deutschland ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Du nicht dabei sein konntest empfehle ich Dir von Herzen, diese Impulse und Gebete auf Dich wirken zu lassen:

Aber wie kommt es zu einer Erweckung? Können wir Menschen überhaupt etwas dazu beitragen? Ist es nicht vollkommen unrealistisch, in absehbarer Zeit in der westlichen Welt eine Erweckung zu erwarten? Zu diesen und weiteren Fragen rund um das Thema Erweckung werden wir uns in Teil 2 dieses Artikels genauer anschauen, welche wichtigen Lektionen wir aus der Erweckung unter König Hiskia lernen können.

Muss der Evangelikalismus dekonstruiert werden?

Das ging schnell. Das Buch „Deconstruct Faith – Discover Jesus“ („Dekonstruiere den Glauben – Entdecke Jesus“) des US-amerikanischen Theologen und Pastors Preston Ulmer ist erst am 6.6.2023 erschienen. Nur etwa 7 Monate später hat nun der Verlag SCM R. Brockhaus die deutsche Übersetzung vorgelegt unter dem Titel: „Anders als geglaubt – Mit Christus vor Augen Dekonstruktion verstehen“.

Nach der Lektüre muss ich sagen: Der englische Buchtitel ist passender. Denn tatsächlich ist dieses Buch ein Aufruf, Glaubensdekonstruktion aktiv voranzutreiben. In seinem Vorwort schreibt Ulmer: „Dieses Buch schreibe ich als Fürsprecher – stellvertretend für alle, die eine Dekonstruktion des Glaubens fordern, weil sie sehen, welchen Schaden bestimmte christliche Traditionen und Sichtweisen angerichtet haben.“ (S. 9) Und Ulmer lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, an welchen Glauben, an welche christliche Tradition und an welche Sichtweise er dabei denkt:

Evangelikalismus im Fadenkreuz der Dekonstruktion

Ulmer will mit seinem Buch zeigen, „wie man am besten vorankommt, wenn Teile des Christentums (nämlich der Evangelikalismus) ganz klar dekonstruiert werden müssen.“ (S. 110/111) „Jesus im einundzwanzigsten Jahrhundert zu folgen bedeutet, ihm außerhalb bestimmter evangelikaler Normen zu folgen. Es bedeutet, diese Tempel des Götzendienstes abzubauen und andere zu ermutigen, dasselbe zu tun. In den Interviews und Recherchen, die ich für dieses Buch geführt habe, kamen viele verschiedene evangelikale Normen als Themen zur Sprache, die Christen heute dekonstruieren. Einige der großen Themen waren Politik, Purity Culture, eine „platte“, wenig differenzierte Lesart der Bibel, die Behandlung und Ausgrenzung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die Lehre von der Hölle und Scheinheiligkeit.“ (S. 103) Zur Einordnung des Evangelikalismus zitiert Ulmer zudem die US-amerikanische Autorin Kristin Kobes Du Mez: „Auch wenn Evangelikale häufig behaupten, dass die Bibel die Quelle ihres sozialen und politischen Engagements ist, muss der Evangelikalismus eher als eine kulturelle und politische Bewegung gesehen werden und nicht als eine Gemeinschaft, die sich in erster Linie durch ihre Theologie definiert.“ (S. 153)

Ulmer scheut sich nicht, diese Dekonstruktion des Evangelikalismus in eine direkte Linie zu stellen mit den Auseinandersetzungen Jesu, der alttestamentlichen Propheten, der Apostel und der Reformatoren mit den religiösen Autoritäten ihrer Zeit.[1] Ulmer hält Dekonstruktion sogar für „heilig“ (S. 17) und für einen notwendigen Weg, um Jesus zu folgen und „seiner Autorität das letzte Wort zu überlassen“ (S. 181). Dekonstruktion ist für ihn „ein Spezialgebiet Jesu, und die Anhänger Jesu täten gut daran, es sich zurückzuerobern.“ (S. 18)

Sind Evangelikale für Ulmer also so etwas wie die Pharisäer der Moderne? Tatsächlich schreibt er: „Die Gebote Gottes außer Kraft zu setzen und stattdessen an menschlichen Überlieferungen festzuhalten, das ist die Hauptsünde, gegen die in der exvangelikalen Welt ermittelt wird.“ (S. 132)

Jesus, Geist und Liebe versus Buchstabe, Gesetz und Dogma

Man sollte meinen: Wer so pauschal gegen die zweitgrößte Gruppe der weltweiten Christenheit wettert und sich dabei auch noch auf Jesus, die Apostel, die Propheten und die Reformatoren beruft, dem wird eine solide Begründung dieser Sichtweise wichtig sein. Jedoch: Eine auch nur einigermaßen fundierte theologische Argumentation sucht man in „Anders als geglaubt“ vergeblich. Lediglich aus verstreuten Andeutungen kann man grob das folgende Bild von Ulmers Theologie skizzieren:

Immer wieder macht Ulmer deutlich, dass für ihn das „Leben Jesu“[2] und „die Liebe“[3] vorherrschende hermeneutische Schlüssel sind, an denen sich jede Bibelauslegung und jede ethische Entscheidung messen lassen muss: „Wichtiger als die Stabilität der christlichen Lehre scheint die Fähigkeit zu sein, wie ein echter Christ zu lieben. Und das ist die Grundlage jeder Lehre, die wir anderen vermitteln wollen!“ (S. 22) „Jede unserer Regeln, die nicht dem Wesen Jesu entspricht, das Liebe ist, gehört nicht ins Haus Gottes.“ (S. 158) Wir sollen uns deshalb ausschließlich „an Jesus und die ursprüngliche Kirche binden“. (S. 137) Tradition und Wahrheit hingegen sollen hinter die gute Botschaft von Jesus zurücktreten.[4] Um das zu erreichen, versuche „die Dekonstruktionsbewegung …, Jesus aus ungesunden und wenig hilfreichen Interpretationen der Bibel zu entschlüsseln.“ (S. 194) Jesu Heilungswunder am Sabbat (die in der Tora nirgends verboten werden) und die Bergpredigt sollen laut Ulmer zeigen, „wie der Buchstabe des Gesetzes im Licht des Geistes des Gesetzes umgeschrieben wird.“ (S. 148) Ulmer sieht einen Gegensatz zwischen dem „Dogma“ auf der einen Seite und „Liebe, Akzeptanz und Gnade“ auf der anderen Seite. Die geistliche Haltung sei wichtiger als die Loyalität zu einer Position.[5] „Das Gesetz zu erfüllen, bedeutet, den Geist des Gesetzes zu ehren, den Grund, aus dem es überhaupt erst geschaffen wurde.“ (S. 148)

Die Konsequenzen dieses Ansatzes zeigen sich am deutlichsten im Feld der Sexualethik. Ulmer sieht im gnädigen Umgang Jesu mit der Ehebrecherin und mit der Samariterin am Brunnen den Beweis, dass Jesus heutzutage evangelikale Sexualethik dekonstruieren würde. Dabei beruft sich Ulmer auch auf den bekannten postevangelikalen Theologen David Gushee, der sich jüngst auch in Deutschland für die Überwindung evangelikaler sexualethischer Sichtweisen stark gemacht hat.

Den evangelikalen Widerstand gegen Dekonstruktion führt Ulmer letztlich auf niedrige Motive zurück: „Dekonstruktion verärgert die Pastoren, und zwar, weil nicht Gott in Frage gestellt wird, sondern sie.“ (S. 49) Ulmer sehnt sich nach einer neuen Reformation, die „aus der Wiederentdeckung alter Wahrheiten“ erwächst. „Die alte Wahrheit, die so leicht verloren zu gehen scheint, sind die Person und das Werk Jesu als unsere deutlichste Offenbarung Gottes.“ (S. 138)

Die Frage ist: Kann man sich für solche Sichtweisen tatsächlich auf Jesus, die Propheten, die Apostel und die ursprüngliche Kirche berufen? Was genau ist denn die „alte Wahrheit“, die uns durch Jesus offenbart wurde?

Preston Ulmers Theologie im Faktencheck

Wenn man Jesus und die Liebe gegen die Buchstaben und Worte der Bibel in Stellung bringt, hat man immer ein grundsätzliches Problem: Wir wissen nun einmal absolut nichts über Jesus und sein Verständnis von Liebe außer das, was die Worte der Bibel uns berichten. Und was wir da lesen, ergibt doch ein deutlich differenzierteres Bild. Der biblische Jesus hatte immer beides im Blick: Die Liebe Gottes genauso wie seine Heiligkeit. Niemand spricht in der Bibel so häufig über die Hölle und das Gericht wie er. Der Versuch, „Jesus aus ungesunden und wenig hilfreichen Interpretationen der Bibel zu entschlüsseln“, bedeutet letztlich, dass unser eigenes Urteil darüber, was wir als gesund und hilfreich empfinden, zum Maßstab wird für unser Bild von Jesus und seiner Botschaft. Dann landen wir letztlich bei einer menschengemachten Religion.

Im ganzen Neuen Testament finden wir zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus oder die Apostel mit dem Alten Testament auf Kriegsfuß gestanden hätten. „Habt ihr nicht gelesen?“ war für Jesus regelmäßig die Grundlage seiner Argumentation. Gerade in der Bergpredigt hat sich Jesus ausdrücklich hinter jeden Punkt und Strich des Gesetzes gestellt (Matth. 5, 17-19). Er sah keinen Widerspruch zwischen Liebe und Gebot (Joh. 14, 15). Er hat die Ehebrecherin zwar vor der Steinigung bewahrt, den Ehebruch aber trotzdem als Sünde bezeichnet (Joh. 8, 11). Jesus hat „Unzucht“ („porneia“, also sämtliche sexuelle Praktiken außerhalb einer Ehe von Mann und Frau) genau wie die Apostel (Apg. 15, 20) ganz klar abgelehnt (z.B. Matth. 15, 19). Gerade im Feld der Sexualethik hat Jesus die alttestamentliche Gesetzgebung nicht nur bestätigt, sondern sogar verschärft. Für den Theologen Gerhard Maier steht fest, dass der historische Jesus ganz eindeutig ein durch und durch schrifttreuer Jude war: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz. … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt.“[6] Jesus hatte in Bezug auf die Heilige Schrift also keine Buchstabenphobie. Wer so wie Ulmer einen künstlichen Gegensatz konstruiert zwischen Gesetz und Geist bzw. Buchstabe und Liebe, der kann sich damit nicht auf Jesus berufen.

Völlig absurd wird es schließlich, wenn Ulmer sich für seine Position auf die „ursprüngliche Kirche“ beruft. Denn diese war im Feld der Sexualethik eher noch strenger und konservativer als die heutige evangelikale Welt (siehe dazu z.B. die Vorträge von Prof. Roland Werner über Polykarp von Smyrna).

Insgesamt muss man sich wundern, warum Ulmer mit seiner Forderung nach Dekonstruktion speziell auf den Evangelikalismus zielt. Die Evangelikalen sind ja bei weitem nicht die Ersten und Einzigen, die die gesamte Heilige Schrift als autoritativen Maßstab des christlichen Glaubens ansehen und praktizierte Sexualität exklusiv dem geschützten Rahmen der Ehe zuordnen. Mit seiner LGBTQ+-konformen „Hermeneutik der Liebe und des Lebens Jesu“ dekonstruiert Ulmer nicht nur die Evangelikalen, sondern faktisch weite Teile der historischen und der weltweiten Kirche.

Quo vadis SCM R. Brockhaus?

Ja, es gibt sie: Gut durchdachte postevangelikale Bücher, die mich zum gründlicheren Reflektieren meiner eigenen Positionen animieren, manche Entwicklungen im Evangelikalismus zurecht kritisch beleuchten und somit auch eine gute Grundlage für einen sinnvollen Dialog darstellen können. Das Buch „Anders als geglaubt“ gehört nicht dazu. Es begründet seinen undifferenzierten Pauschalangriff auf den Evangelikalismus derart oberflächlich, dass ich mich frage: Was hat SCM R. Brockhaus nur motiviert, ausgerechnet dieses Buch im Eiltempo zu übersetzen?

Der R. Brockhaus-Verlag hat eine lange Geschichte. Die meiste Zeit seines Bestehens wurde er der konservativen Brüderbewegung zugerechnet. Wir verdanken diesem Verlag nicht nur die Elberfelder Bibel sondern viele herausragende evangelikale theologische Werke. Auf Wikipedia kann man lesen: SCM R. Brockhaus hat das „Ziel, Publikationen aus dem Spektrum evangelikaler Theologie zu veröffentlichen.” Das hat sich offenbar verändert. Es ist schmerzhaft, dass ausgerechnet in diesem traditionsreichen evangelikalen Verlag jetzt ein Buch erschienen ist, das den Evangelikalismus überwinden will.

Das Buch „Anders als geglaubt“ ist im Januar 2024 im SCM R. Brockhaus-Verlag erschienen. Es ist hier erhältlich:
www.scm-shop.de/anders-als-geglaubt-mit-christus-vor-augen-dekonstruktion-verstehen.html


[1] „Fällt dir auf, wie ähnlich die Propheten den Protestanten um 1500 sind? Und wie ähnlich die Protestierer von heute den Propheten von damals sind? Wie die Propheten rufen auch moderne Protestierer gegen die christliche Kultur die Leitenden in der evangelikalen Landschaft auf, zu Gerechtigkeit und Großzügigkeit zurückzukehren.“ (S. 35) „Für viele Christen ist Dekonstruktion keine Phase und kein Modewort, sondern eine Gewohnheit. … Du bist ein Dekonstruierender. Dein Verstand wägt alles ab. Und in letzter Zeit hat dich alles, was das evangelikale Christentum betrifft, runtergezogen. Die gute Nachricht ist: Du bist in guter Gesellschaft! Und die noch bessere Nachricht? Du bist in der Gesellschaft von Jesus.“ (S. 21)

[2] „Vor einigen Jahren, als ich selbst in einem Prozess der Dekonstruktion steckte, habe ich verzweifelt nach einem Glaubenssystem gesucht, das in den Stürmen des Lebens nicht in Mitleidenschaft gezogen werden würde. … Das Leben von Jesus – das ist jetzt der Eckpfeiler meiner Ansichten über Gott, die Bibel, die Hölle, Politik, Sexualität und jedes anderen Tabuthema (und bei keinem davon sind die Evangelikalen die Marktführer).“ (S. 12)

[3] „Wichtiger als die Stabilität der christlichen Lehre scheint die Fähigkeit zu sein, wie ein echter Christ zu lieben. Und das ist die Grundlage jeder Lehre, die wir anderen vermitteln wollen!“ (S. 22)

[4] „Meiner Meinung nach sollten wir aufhören, Nebensachen zu Hauptsachen zu erklären, und beides, Tradition und Wahrheit hinter die gute Botschaft von Jeus zurücktreten zu lassen.“ (S. 140)

[5] S. 147: „Wenn Menschen sich von Dogma und Gesetzlichkeit entfernen und sich zu Liebe, Akzeptanz und Gnade hinwenden, werden sie von vielen Vertretern des Evangelikalismus als Bedrohung angesehen. Aber diese Menschen setzen voll und ganz auf den Geist des Gesetzes, nicht auf das Gesetz selbst. Das führt mich zu der Frage: Ist es besser, den Buchstaben des Gesetzes zu befolgen, oder sich zu bemühen, nach dem Geist des Gesetzes zu leben? … Das Wesen Gottes, wie es sich in Jesus offenbart hat, sollte der Maßstab für alle Gesetze, Traditionen und christlichen Glaubensinhalte sein.“(S. 147) „In der Bergpredigt werden wir Zeugen davon, wie der Buchstabe des Gesetzes im Licht des Geistes des Gesetzes umgeschrieben wird. … Aus dieser Botschaft geht hervor, dass die geistliche Haltung eines Glaubenden wichtiger ist als seine unbedingte Loyalität gegenüber einer bestimmten Position.“ (S. 148)

[6] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik, Witten, 1998, S. 149

Die verlorene Heiligkeit wieder entdecken

Eindrücke aus dem Buch „Majestät“ von Rainer Harter

„Gott ist Liebe.“ (1. Johannes 4, 8+16)

Nur zweimal finden wir diese enorm wichtige Aussage in der Bibel. Sie hat sie unsere heutige Theologie stark geprägt – zurecht. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Heißt das, dass Gott immer nett und entgegenkommend ist? Geht er jederzeit nachsichtig und großzügig mit uns um? Hat er immer nur mutmachende und aufrichtende Worte für uns? In seinem Buch „Majestät“ macht der Autor Rainer Harter deutlich: Man kann die Liebe Gottes nur dann richtig verstehen, wenn man zugleich eine weitere zentrale Eigenschaft Gottes im Blick behält:

„Heilig, heilig, heilig ist der HERR.“ (Jesaja 6,3; Offb. 4,8)

Meine Wahrnehmung ist: Diese Eigenschaft Gottes kommt in vielen Predigten heute eher selten vor. Rainer Harter schreibt sogar: „Die postmoderne Kirche hat die Erkenntnis und Erfahrung von Gottes Heiligkeit in weiten Teilen verloren. Dadurch ist der unfassbare, geheimnisvolle, unbezähmbare und majestätische Gott zu einer diffusen „Macht“ für die einen und zu einer Art spirituellem Übervater für die anderen geworden. Dem Begriff „Gott“ wurde die ihm innewohnende Herrlichkeit, Gewalt, Wildheit und Kraft genommen, die uns die Bibel beschreibt. Damit wurde uns der Weg zu einem „hausgemachten Gottesbild“ gebahnt, welches zum Verlust des Staunens, der Ehrfurcht und der Dankbarkeit geführt hat.“ (S. 19) Harter untermauert diese Einschätzung durch eine US-amerikanische Studie, die im Ergebnis das Bild eines Leibes Christi zeichnet, „dessen Glieder zu einer Gemeinde gehören und die Bibel lesen, das Konzept oder die Bedeutung der Heiligkeit jedoch nicht verstehen, sich persönlich nicht nach Heiligkeit ausstrecken und deshalb wenig oder nichts dafür tun, um ihr nachzujagen.“ (S. 25)

Die Heiligkeit Gottes: Eine zentrale Botschaft der Bibel

Neu ist dieses Problem nicht. Auch Billy Graham fiel schon auf: „Wir haben den Blick für die Heiligkeit und Reinheit Gottes heute weitestgehend verloren. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir Sünde so leicht tolerieren.“ (S. 54) Eigentlich ist das erstaunlich. Denn in der Bibel ist die Heiligkeit Gottes ein enorm wichtiges Thema: „Die Aussage, dass Gott heilig ist, ist zentral und unersetzlich für den christlichen Glauben. Es ist die Grundbotschaft der Heiligen Schrift. … Eine weitere die Heiligkeit betreffende biblische Grundaussage, … die sich durch die gesamte biblische Geschichte zieht, ist die Feststellung, dass der Mensch seit dem Sündenfall nicht mehr heilig ist.“ (S. 54/56) „Die Bibel lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Gedanke der göttlichen Heiligkeit eines ihrer wichtigsten Grundkonzepte ist. Wäre Gott nicht heilig und wäre er nicht in der Lage zu heiligen, gäbe es keine Schuld, weil ohne einen klaren Maßstab auch nichts als Abweichung gelten könnte. Aber es gäbe auch keine Vergebung und schon gar keine Möglichkeit für den Menschen, Jesus ähnlicher zu werden. Dies alles steht und fällt mit der Frage nach Gottes Heiligkeit. Würden wir Gott in unserem Denken und Handeln seiner Heiligkeit berauben, würden wir zugleich dem christlichen Glauben eine seiner zentralen Grundlagen nehmen. Dann ergäbe unser Glaube keinen Sinn mehr.“ (S. 52) Harter tritt zudem dem Gerücht entgegen, dass die Heiligkeit Gottes vor allem ein Thema des Alten Testaments sei: „Nirgendwo im Neuen Testament gibt es einen Hinweis darauf, dass Jesus die Heiligkeit des Vaters oder den Aufruf Gottes an seine Kinder, ein heiliges Leben zu führen, in irgendeiner Form abgemildert hätte.“ (S. 30)

Der Verlust der Heiligkeit hat Konsequenzen

Es ist angesichts dieses beeindruckenden biblischen Befunds kein Wunder, dass der Verlust der Heiligkeit Gottes weitreichende Konsequenzen für viele Aspekte unseres Glaubens hat: „Selbst die Gnade Gottes wirkt billig und seine Liebe bekommt den Anschein, selbstverständlich zu sein, wenn wir sie nicht aus dem Blickwinkel seiner Heiligkeit betrachten. Alles wird schal und im schlimmsten Fall empfinden wir sogar Langeweile bei einem so wunderbaren Satz wie „Gott liebt dich“, wenn wir nicht eine Ahnung davon haben, wer und wie er ist.“ (S. 20) Harter sieht zudem einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust der Heiligkeit und der Lauheit in unserem christlichen Leben: „Ein … ausschließlich zum „lieben Vater“ degradierter Gott weckt kaum Leidenschaft in uns.“ (S. 34) Deshalb ist es aus der Sicht von Harter „unklug, die Ehrfurcht vor Gottes Heiligkeit zugunsten einer falsch verstandenen Niederschwelligkeit in unseren Gottesdiensten abzuschaffen. Spätestens wenn wir damit anfangen, diejenigen Eigenschaften und Worte Gottes, die in unseren Augen nicht mehr zeitgemäß oder für uns schwer verständlich sind, bewusst zu verschweigen oder gar zu verleugnen, sind wir der Versuchung erlegen, uns einen Gott nach unserem Bilde zu schaffen. … Mit guten Absichten laden wir Menschen zu uns ein und präsentieren ihnen ein unrealistisches Gottesbild, das aus einer Mischung von „gutem Onkel“ und „Kumpel im Alltag“ besteht. Das Credo lautet nicht mehr: „Wir glauben an einen heiligen Gott“, sondern „Gott will, dass es uns gut geht“. Der Verlust der Heiligkeit macht Kirche letztlich zu einer fantasievoll ausgestalteten Umkreisung des Menschen um sich selbst.“ (S. 29)

Der Verlust der Heiligkeit hat auch für unsere Gottesdienste weitreichende Konsequenzen: „Ohne die Realität des Heiligen in unserer Mitte müssen wir Wege finden, um Kirche durch andere Dinge attraktiv zu machen. … Verlieren wir die Realität der Heiligkeit aus dem Blick, werden unsere Gottesdienste bald zu „Menschendiensten“, in denen ein „Evangelium light“ präsentiert wird und das Empfangen im Vordergrund steht, während die Verehrung Gottes und das Geheimnisvolle ausgeblendet werden.“ (S. 27/28) Harter stellt sogar in Frage, ob ein Gottesdienst, in dem die Heiligkeit Gottes keine zentrale Rolle spielt, überhaupt noch etwas mit dem wahren Gott zu tun hat: „Alle Engel und die seltsamen Wesen sowie die geheimnisvollen Ältesten reagieren in Gottes Nähe ausschließlich mit Ehrfurcht und Anbetung. Denken Sie jetzt im Vergleich dazu noch einmal an unsere Gottesdienste. Wir behaupten zwar, dass wir Gott dort begegnen, doch scheint diese Begegnung wenig Ehrfurcht, Kapitulation oder echte Herzensanbetung in uns zu wecken. Das Staunen über die Heiligkeit Gottes ist uns verloren gegangen. Gott ist uns zum Gewohnten geworden. Oder ist es vielleicht gar nicht Gott, an den wir uns da gewöhnt haben? … Eine traurige Armut und Hilflosigkeit liegen über so manchen Kirchengemeinden. Programme und Aktivitäten können das staunende Erleben der Heiligkeit Gottes einfach nicht ersetzen.“ (S. 95)

Ein falsches Konzept von Heiligung

Aber woran liegt es eigentlich, dass die Heiligkeit Gottes und der Ruf zur Heiligung derart aus der Mode gekommen ist? Rainer Harter schreibt: „Es gibt durchaus die Angst, unsere über Jahre erworbene Freiheit der Gnade wieder zu verlieren und zurück in alte Systeme zu fallen, die uns eher geknechtet als frei gemacht haben. Tatsächlich beanspruchten manche der alten Formen vordergründig, zur Heiligkeit zu führen, in der Realität hatten sie aber viel mehr mit einem leistungsorientierten oder sogar unterdrückenden Glauben zu tun als mit der Heiligkeit, die Gott meint.“ (S. 42) Diese Beobachtung kann ich nur bestätigen. Leider geschieht es immer wieder, dass Christen und Gemeinden die Notwendigkeit zur Heiligung auf einen moralischen Appell reduzieren, der uns unter Druck bringt und uns überfordert. Dabei ist der Prozess der Heiligung in der Bibel nicht das Ergebnis menschlicher Anstrengung sondern ein Wirken und ein Geschenk Gottes: „Alles Verändernde kommt von Gott alleine.“ (S. 191) Diese Veränderung beginnt nicht mit guten Vorsätzen, sondern mit einer Kapitulation: „Lassen Sie uns damit aufhören, nach außen heiliger wirken zu wollen, als wir es sind. In der Regel sind wir nämlich nicht so heilig, wie wir uns gerne sehen möchten oder wie andere uns wahrnehmen. Einige Ausdrucksformen unserer Heiligkeit sind nichts anderes als Scheinheiligkeit. Lassen wir das lieber gleich. Stattdessen steht am Beginn des Weges eine Kapitulation; wir geben zu, dass wir aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, wie Jesus zu werden. Wir sind völlig von Gott und seiner Hilfe abhängig. … Im Neuen Testament wird deutlich, dass nur Gott selbst durch das vollkommene Opfer seines eigenen Sohnes ein neues Leben für uns möglich machen und uns heiligen kann.“ (S. 168)

Diese Kapitulation beinhaltet auch die Erkenntnis: Nicht wir ändern unser Leben aus eigener Kraft, sondern ER verwandelt unser Leben in sein Bild, wenn wir im Aufschauen zu ihm unser Leben führen: „Verabschieden Sie sich also besser gleich vom ungesunden Unterdrücken und starten Sie mit einer Strategie, die wesentlich besser funktioniert: Vertrauen Sie sich Gottes Hilfe an. Tun Sie, was die Bibel Ihnen rät, um wie Jesus zu werden: Schauen Sie ihn an. Beim Lesen der Bibel, im stillen Gebet, im Nachdenken über seine Worte, indem Sie sich in eine biblische Person hineinversetzen und nachspüren, wie deren Begegnung mit Jesus war. … Anstatt sich anzustrengen, nutzen Sie Ihre Zeit und Energie lieber dafür, Gott besser kennenzulernen. Nehmen Sie sich Zeit, um ihn in seiner Schönheit zu betrachten. Wenn Sie erst einmal gesehen haben, wie schön er ist, und gespürt haben, wie sehr er Sie liebt, werden Sie sich nicht mehr so leicht mit Ersatzlösungen zufriedengeben. In der Nähe Gottes wird in Ihnen eine geheimnisvolle Kraft aufsteigen, die Sie nach und nach entdecken lässt: Ich habe mich wirklich verändert.“ (S. 166/167) Wenn Gott uns beschenkt, können wir sehr viel leichter die sündigen Dinge loslassen, die uns selbst und Anderen schaden: „Wer gelernt hat, durch Gottes Liebe in seiner Seele satt zu werden, wird in die Lage versetzt, plötzlich Dinge loslassen zu können, die zuvor sehr bedeutend für sein Leben waren, die aber vielleicht zur Sammlung seiner Ersatzlösungen gehört haben oder schlicht Sünde sind.“ (S.186)

Ein weitere Grundlage für einen gesunden Prozess der Heiligung ist die Entscheidung, dass Jesus der Herr unseres Lebens sein soll: „Es ist Zeit für eine Palastrevolution. Anstatt weiter den König „ICH“ unseren Herrn sein zu lassen, sollten wir den König der Heiligkeit wählen, der uns heil machen kann und durch uns seine Heiligkeit in diese Welt bringen möchte.“ (S. 204)

Die Heiligkeit Gottes: Ein Schlüssel für gesunden Glauben und eine attraktive Kirche

Heiligung ist also möglich. Und die Bibel macht immer wieder deutlich: Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Lebens als Nachfolger Jesu:

„Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin.“ (3. Mose 11,44; 19,2; 1.Petr. 1,16)

Rainer Harter schreibt dazu: „Eine Kirche ohne Heiligkeit kann nicht Kirche Jesu sein. Wenn die Menschen draußen die verändernde Kraft der Gnade Gottes nicht an uns sehen können, werden sie auch nicht auf die Idee kommen, dass Gott mit uns ist, und nicht nach ihm fragen. Kirche muss „anders“ sein, um attraktiv für Menschen zu sein, die Gott noch nicht kennen. Kirche muss Anleitung dafür geben, wie ihre Mitglieder ein Leben der Heiligung führen können, um so von Jesus zu zeugen. Wir sind schlechte Botschafter, wenn wir unsere Botschaft vergessen haben und denjenigen, der uns gesandt hat, nur aus der Ferne kennen. Vielfach stehen wir als Kirche heute vor den Menschen dieser Welt und versuchen, auf unterschiedliche Art und Weise ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Doch wenn die grundlegende und lebensverändernde Wahrheit über Gottes Wesen und die daraus resultierenden Handlungen Gottes nicht mehr verstanden und gepredigt werden und deshalb unser eigenes Leben nicht von ihm zeugt, wird das auf Dauer nicht funktionieren. Was wir wirklich brauchen, ist die Gegenwart des heiligen Gottes. Wir brauchen sie in unseren Familien und an unserem Arbeitsplatz, in unseren Versammlungen und Gottesdiensten. Wenn Menschen dann in Berührung mit dem Geheimnis seines Wesens und seiner Kraft kommen, werden Gemeinden wieder wachsen, und das Evangelium wird unsere Städte durchdringen.“ (S. 208/209)

Wie wahr! Ich kann deshalb das neu aufgelegte Buch „Majestät“ von Rainer Harter nur von Herzen empfehlen und hoffe, dass dieser wichtige Impuls weite Verbreitung findet.

Das Buch „Majestät“ von Rainer Harter kann hier direkt vom Gebetshaus Freiburg bezogen werden:
https://www.gebetshaus-freiburg.org/product-page/buch

Die verlorene Kraft des Evangeliums

„Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht. Denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben.“ (Römer 1, 16)

Dieser Vers ist meine Konfirmationsspruch. Der darin enthaltene Begriff „Evangelium“ wurde in der Antike verwendet, wenn der Kaiser oder der König eine wichtige gute Nachricht zu verkünden hatte. Ein militärischer Sieg zum Beispiel. Oder die Geburt eines Thronfolgers. Paulus will mit diesem Begriff offenkundig deutlich machen: Auch ich habe eine ganz entscheidende, frohe Botschaft vom König aller Könige Jesus Christus zu verkünden. Eine Botschaft, für die ich mich nicht schämen muss. Denn es handelt sich um eine heilbringende, rettende und seligmachende Botschaft, die allen Menschen gilt. Die große Frage ist nur: Wenn Paulus doch einfach nur eine frohe Botschaft zu verkünden hatte, warum wurde er dann immer wieder vertrieben, eingesperrt, geschlagen und gesteinigt? Warum wurde er am Ende sogar umgebracht?

Dieser Artikel gehört zum offen.bar-Vortrag “Die verlorene Kraft des Evangeliums”:

Warum löste das Evangelium weltweit so viel Widerstand aus? Und warum wird es bei uns hingegen als harmlos und banal empfunden?

Diese Frage stellt sich auch heute noch. Weltweit werden hunderte Millionen von Christen verfolgt. Warum eigentlich? Christen sind bekanntermaßen ein fröhliches und friedliches Völkchen. Sie reden gerne und viel von der Liebe Gottes. Sie werden durch ihren Glauben verpflichtet, die Autoritäten ihres Landes zu respektieren. Niemand müsste vor Christen Angst haben. Warum also löst diese frohe Evangeliumsbotschaft einen derart drastischen Widerstand aus? Warum wird weltweit die Bibel in vielen Ländern verboten?

Und noch eine Frage stellt sich: Der Römerbrief ist historisch gesehen wohl der wirkmächtigste und einflussreichste Brief, der je geschrieben wurde. Kein Brief hat die Kultur der westlichen Welt so geprägt wie dieser Brief. Die Botschaft von Paulus wirkte ein Stück weit wie ein Manifest. Sie enthielt revolutionäre Botschaften: Dass jeder Mensch eine gottgegebene Würde hat. Dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Dass man deshalb armen, kranken und schwachen Menschen helfen sollte. Das war damals völlig neu! Bis zur Ausbreitung des Christentums galten Eroberer als Helden, ganz egal, wie grausam und grauenvoll sie vorgegangen sind. Dass wir heute Friedensstifter feiern, die sich für das Wohl von Ausgegrenzten und Schwachen einsetzen, geht allein auf das Christentum zurück, nicht auf römische oder griechische Philosophen.

Aber wenn man sich heute in unserem Land umschaut, könnte man meinen: Diese Botschaft interessiert kaum noch jemand. Das Wort „Evangelium“ hört man in kirchlichen Kreisen zwar noch des Öfteren. Aber irgendwie lässt es die Leute kalt. Das Evangelium wird bestenfalls als nette, herzerwärmende Botschaft wahrgenommen, die doch zugleich aber harmlos, marginal und belanglos erscheint.

Die große Frage ist: Warum löst diese Botschaft, mit der Paulus doch so unfassbar viel bewegt hat, heute nur noch Schulterzucken aus? Könnte es sein, dass mit der heutigen Verkündigung des Evangeliums irgendetwas nicht stimmt? Könnte es sein, dass das Evangelium, das wir heute verkünden, oft nicht mehr übereinstimmt mit der Evangeliumsbotschaft von Paulus? Und wenn das stimmen sollte: Was genau haben wir denn verändert an diesem Evangelium?

Ich finde, man kann die Bedeutung dieser Frage kaum überschätzen. Denn tatsächlich bin ich überzeugt: Der Bedeutungsverlust der Kirche Jesu in unserem Land hat so einiges, vielleicht sogar hauptsächlich damit zu tun, dass wir das Evangelium von Paulus geglättet, verharmlost, entschärft und entstellt haben. Ich möchte diese These belegen anhand von 7 Eckpfeilern des Evangeliums im Römerbrief, die Antwort geben auf 7 Grundfragen der Menschheit. Ich hoffe, dass ich dabei deutlich machen kann: Diese 7 Eckpfeiler haben auch heute noch absolut nichts von ihrer Brisanz, Schärfe und Kraft verloren. Wenn wir eine Kirche Jesu wollen, die Salz und Licht ist in diesem Land, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir eine klare Sicht haben über die folgenden 7 Grundaussagen der Evangeliumsbotschaft im Römerbrief.

7 Grundfragen der Menschheit – 7 Eckpfeiler des Evangeliums im Römerbrief

Die erste Grundfrage, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet, heißt:

1. Gibt es objektive Wahrheit über Gott?

Diese Frage galt in Europa lange Zeit als entschieden. Die wissenschaftliche Revolution in der westlichen Welt basierte auf der grundlegenden Annahme: Es gibt Wahrheit und Irrtum. Und nur die Wahrheit wird uns freimachen. So steht es zum Beispiel auf einem zentralen Gebäude der Universität Freiburg: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Auf Basis des Jesusworts in Johannes 8, 32 sollte damit deutlich werden: Wir müssen die Wahrheit herausfinden! Denn nur die Orientierung an der Realität wird am Ende dazu führen, dass unser Leben besser wird. Dieses Prinzip galt damals nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern für alle Fakultäten und Disziplinen, einschließlich der Theologie.

Heute müssen wir jedoch beobachten, dass diese Grundlage des Denkens ins Wanken gerät. Fast überall kann man heute die These hören: Jeder soll doch nach seiner eigenen Façon selig werden. Persönliche Religiosität ist O.K., solange sie nicht den Anspruch erhebt, dass Andere das Gleiche glauben sollten. In der Postmoderne geht man davon aus: In Glaubensfragen ist Wahrheit nur subjektiv gültig, niemals objektiv. Wer im religiösen Bereich die Existenz von allgemeingültigen Wahrheiten vertritt, die für alle Menschen gleichermaßen gelten sollen, der liegt nicht nur falsch. Der ist auch intolerant und gefährlich. Der gefährdet den gesellschaftlichen Frieden. Man darf deshalb in der Postmoderne zwar seine persönlichen Glaubensüberzeugungen haben. Aber dabei muss klar sein: Diese Überzeugungen gelten nur für Dich persönlich. Für Andere kann eine völlig andere Überzeugung genauso richtig sein.

Wie sieht das Paulus? Der erste Eckpfeiler seines Evangeliums sagt:

Es gibt Wahrheit und Irrtum. Nur der Glaube an die Wahrheit rettet!

Gleich in den ersten beiden Versen des Römerbriefs schreibt Paulus dazu:

„Es schreibt Paulus, ein Sklave von Christus Jesus, berufen zum Apostel und dazu bestimmt, Gottes Freudenbotschaft bekannt zu machen. Dieses Evangelium hat Gott schon im Voraus durch seine Propheten in heiligen Schriften angekündigt.“ (Römer 1, 1-2)

Paulus stellt also klar: Was ihr hier lest, ist nicht einfach nur eine Idee oder ein Vorschlag von mir, über den man diskutieren kann. Ich bin ein Diener von Jesus Christus. Ich bin zum Apostel, also zum Sendboten Gottes berufen. Von ihm bin ich dazu bestimmt, nicht meine, sondern GOTTES Gute Nachricht zu verkünden. Und das ist eine Nachricht, die Gott schon im Voraus durch die Propheten angekündigt hat. Was für ein ungeheuerlicher Anspruch! Letztlich sagt Paulus: Achtung! Diese Botschaft ist nicht von dieser Welt. Wir haben es mit göttlicher Wahrheit zu tun. Und das Grundproblem der Menschheit liegt darin, dass sie genau diese göttliche Wahrheit verworfen hat.

In Römer 1, 25 schreibt Paulus: „Die Menschen tauschten die Wahrheit Gottes gegen die Lüge.“ Für ihn ist also klar: Es gibt auch bei der Frage nach Gott richtig und falsch. Es gibt auch bei der Frage nach Gott objektiv gültige Wahrheiten und Realitäten, die für alle Menschen gelten! Und jede Aussage, die dieser Wahrheit widerspricht, ist nicht einfach nur eine alternative Wahrheit. Nein, sie ist falsch. Sie ist ein Irrtum. Und Paulus unterstellt sogar, dass es Menschen gibt, die diese falschen Aussagen wissentlich in die Welt setzen. Er sagt: Diese Aussagen sind eine Lüge.

Das ist natürlich harter Tobak. Und schon hier merken wir, wie hochaktuell und brisant die Botschaft von Paulus bis heute ist. Denn Paulus macht damit klar: Sein Evangelium steht ganz grundlegend auf dem Konzept von Wahrheit und Irrtum. Es basiert auf dem Anspruch, dass hier eine objektive Wahrheit verkündet wird, die für alle Menschen gilt, unabhängig davon, ob sie diese Wahrheit verstehen und akzeptieren oder nicht. Die Idee, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, wäre zwar bequem. Sie klingt nett und tolerant. Aber sie passt in keiner Weise zur Botschaft von Paulus. Der Gedanke, dass sich jeder selbst eine Religion zusammen zimmern kann, die sich für ihn am besten anfühlt, ist für Paulus genauso absurd, wie der Gedanke, dass Du gegen Deine Krankheit einfach die Pille nimmst, die Dir am besten schmeckt. Das kannst Du ja gerne machen. Aber gesund machen wird Dich nur die Pille, die tatsächlich genau den Wirkstoff enthält, der genau die Krankheit bekämpft, die Du tatsächlich in der Realität hast. Die Wirksamkeit der Pille hängt von der objektiven Wahrheit der Diagnose ab, nicht von Geschmacksfragen. Ganz genauso geht es Paulus um die Frage: Was ist objektiv aus Gottes Sicht tatsächlich die Wahrheit über Gott und über die Welt? An welcher Realität müssen wir uns orientieren, damit uns wirklich geholfen werden kann?

Auch mit dem zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums gibt Paulus eine Antwort auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

2. Woher kommen wir?

Dazu schreibt Paulus in Römer 1, 19-22:

„Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen bekannt, weil Gott es ihnen längst vor Augen gestellt hat. Seine unsichtbare Wirklichkeit, seine ewige Macht und göttliche Majät sind nämlich seit Erschaffung der Welt in seinen Werken zu erkennen. Die Menschen haben also keine Entschuldigung. Trotz allem, was sie von Gott wussten, ehrten sie ihn aber nicht als Gott und brachten ihm auch keinerlei Dank. Stattdessen verloren sich ihre Gedanken ins Nichts, und in ihrem uneinsichtigen Herzen wurde es finster. Sie hielten sich für Weise und wurden zu Narren. Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschten sie mit Bildern von sterblichen Menschen, mit Abbildern von Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren.“

Wir können auf dieser Grundlage den zweiten Eckpfeiler seines Evangeliums wie folgt zusammenfassen:

Die Schöpfung beweist, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient!

Die Beweisführung von Paulus für diesen Eckpfeiler ist denkbar einfach und für jeden Menschen sofort verständlich. Paulus sagt ganz simpel: Schau Dich um in der Natur. Was siehst du da? Du siehst überall Geschöpfe. Und wo es Geschöpfe gibt, da muss es einen Schöpfer geben. Auch wir sagen heute noch: Wo es eine Uhr gibt, da muss es einen Uhrmacher geben. Wo es ein Kunstwerk gibt, da muss es einen Künstler geben. Und Paulus schlussfolgert weiter: Wenn es einen Schöpfer gibt, dann hat unser Schöpfer auch unsere Verehrung verdient. Wir sind schließlich heute immer noch der Meinung, dass der Schöpfer eines Kunstwerks es verdient hat, dass sein Name genannt und geehrt wird. Auch heute noch würde niemand ein Konzert geben mit einer wundervollen Symphonie, ohne dazu zu sagen, wer diese Symphonie komponiert hat. Es wäre völlig absurd, sich stattdessen vor den Notenblättern zu verneigen, weil sie uns diese Symphonie vorgegeben haben. Aber Paulus sagt: Genau das tun die Menschen! Sie verneigen sich vor den Geschöpfen statt vor dem Schöpfer. Sie verneigen sich vor Bildern und Statuen. Wie absurd! Sie sind zu Narren geworden!

Heute halten wir uns für klüger. Wir verneigen uns nicht mehr vor Statuen und Bildern. Sind wir heute also besser als die Menschen damals? Na ja. Wir verneigen uns zwar nicht mehr vor Bildern und Statuen. Aber wir verneigen uns trotzdem nicht vor dem Schöpfer. Wir verneigen uns einfach vor gar niemandem mehr. Wir sagen: Es gibt gar keinen Schöpfer. Es ist alles von selbst durch Zufall entstanden. Das ist, wie wenn wir am Ende der Symphonie sagen würden: Wahrscheinlich hat ein Zufallsgenerator die Noten aufs Papier gezaubert. Wir brauchen keinem Komponisten die Ehre geben. Es gibt ja keinen. Ist das wirklich besser als das, was die Menschen zur Zeit von Paulus getan haben?

Tatsache ist: Wir leben wir in einer Welt, in der seit gut 200 Jahren Heerscharen von Wissenschaftlern versucht haben, die simple Beweisführung von Paulus zu widerlegen. In der akademischen Welt wird die Beweisführung von Paulus heute als „Intelligent Design“ bezeichnet. „Intelligent Design“ besagt ganz einfach: Die Natur weist Eigenschaften auf, die darauf hinweisen, dass sie von einem intelligenten Designer konzipiert worden sein muss. Dafür gibt es in der Tat sehr starke Argumente. Trotzdem wird heutzutage diese Sichtweise eher lächerlich gemacht und als unwissenschaftlicher Unfug dargestellt. Das ist bemerkenswert. Denn zugleich wussten wir noch nie so gut wie heute, wie viele Hinweise auf einen Schöpfer in der Welt existieren: Die Feinabstimmung der Naturkonstanten, die codierte Information der DNA, die molekularen Maschinen in unseren Zellen, die extreme Komplexität der biologischen Baupläne, dazu die Realität von Bewusstsein, Geist, Schönheit und Moral: All das sind natürlich extrem starke Hinweise darauf, dass es einen Schöpfer geben muss, der all das erschaffen hat. Denn alle unsere Experimente zeigen wieder und wieder, dass solche Dinge nicht von selbst entstehen. Die Vorstellung, unsere Welt könnte durch eine „Selbstorganisation der Materie“, also durch ziellose materielle Prozesse von selbst entstanden sein, ist angesichts unserer Kenntnisse über die Beschaffenheit der Welt heute mehr denn je absurd.

Trotzdem ehren wir den Schöpfer nicht. Warum nicht? Könnte es sein, dass das auch damit zusammenhängt, dass die Existenz eines Schöpfers die Autonomie der Geschöpfe in Frage stellen würde? Ein Schöpfer könnte uns ja womöglich eine Schöpfungsordnung mitgegeben haben, an die wir uns halten müssten. Könnte es sein, dass wir lieber autonom sein wollen? Könnte es sein, dass wir lieber selbst bestimmen wollen, wer wir sind und wie wir leben wollen?

Tatsache ist: Die Argumentation von Paulus steht bis heute unwiderlegt im Raum. Wer die Schöpfung sieht und dem Schöpfer trotzdem die Ehre verweigert, muss sich vorwerfen lassen, vor der offenkundigen Wahrheit davon zu rennen. Wir haben bis heute allen Grund, uns von diesem simplen Argument von Paulus provozieren, herausfordern und in Frage stellen zu lassen.

Nun könnte man natürlichauch sagen: Ja, ich erkenne ja an, dass es wohl einen Schöpfer geben muss. Aber das hat für mich keine Konsequenzen. Denn dieser Schöpfer hat sich bei mir noch nicht gemeldet. Also kann ich trotzdem weiterhin so leben, wie ich das für richtig halte. Wer das tut, den konfrontiert Paulus mit dem 3. Eckpfeiler seines Evangeliums, der wieder eine Antwort gibt auf eine zentrale Grundfrage der Menschheit:

3. Gibt es eine letzte Gerechtigkeit?

Oder anders gefragt: Kommen all die Ausbeuter und Gewalttäter und Betrüger einfach so davon? Oder wird eines Tages die schreiende Ungerechtigkeit dieser Welt noch einmal richtig gestellt?

Im Moment scheint kaum noch jemand zu glauben, dass es diese letzte Gerechtigkeit geben wird. Das war früher anders. Christen haben regelmäßig im apostolischen Glaubensbekenntnis bekannt: „Von dort wird er kommen, zu richten, die Lebenden und die Toten.“ Heute scheint die Vorstellung vom letzten Gericht immer mehr in der Versenkung zu verschwinden – auch in den Kirchen.

Diese Entwicklung führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Die einen fangen an, sich in einen ganz verbissenen Kampf für Gerechtigkeit zu begeben, weil sie sagen: Es gibt keinen Gott, der am Ende für Gerechtigkeit sorgt. Das müssen wir schon selber machen. Da reicht es heute auch nicht einmal mehr, dass jeder die gleichen Chancen hat. Nein, es muss sogar Gleichheit und Gleichstellung hergestellt werden. Gleich viele Männer und Frauen müssen in verantwortlichen Positionen sein. Und wenn sich das nicht von selbst einstellt, dann muss das mit Quoten erzwungen werden.

Die andere Konsequenz ist das Verschwinden von Gottesfurcht. In einer bekannten Zeitung erschien vor Kurzem ein Artikel mit dem Titel: „Warum ich gerne klaue“. Darin rechtfertigt sich der Autor für seine permanenten Diebstähle. Der Gedanke, dass er anderen Menschen damit schadet, kommt ihm nicht. Gleich gar nicht kommt ihm in den Sinn, dass seine Diebstähle irgendwann noch einmal vor einem göttlichen Gericht verhandelt werden könnten. Das zeigt: Der Schrei nach Gerechtigkeit ist in unserer heutigen Gesellschaft zwar groß. Dabei gilt aber: Wir wollen selbst die Richter sein! Wir wollen selbst entscheiden, was wir für gerecht halten und was nicht. Genau diesem Denken widerspricht Paulus ganz direkt, wenn er schreibt:

„Rechnest Du wirklich damit, dem Urteil Gottes entgehen zu können? … Du bist starrsinnig und im tiefsten Herzen nicht bereit, dich zu ändern. Und so ziehst du dir selbst mehr und mehr den Zorn Gottes zu bis zum Tag des Zorns. Das ist der Tag, an dem Gott sich als gerechter Richter offenbart. Gott wird allen das geben, was sie für ihre Taten verdienen. … Über jeden Menschen, der Böses tut, lässt er Not und Verzweiflung hereinbrechen. … Denn Gott richtet ohne Ansehen der Person.“ (Römer 2, Verse 3b,5,6,9,11)

Paulus lässt also überhaupt keinen Zweifel am dritten Eckpfeiler seines Evangeliums:

Es kommt ein Tag, an dem alles noch einmal vor dem Richterstuhl Gottes auf den Tisch kommt!

Paulus macht hier völlig klar: Diesem Gott entgeht nichts. Und dieser Gott wird zornig angesichts unseres ungerechten, egoistischen Verhaltens, mit dem wir uns und anderen Menschen schaden. Dieser Gott wird eines Tages alle unsere Taten ans Licht bringen und im Gericht für Gerechtigkeit sorgen.

Obwohl Paulus sich hier so eindeutig äußert, hört man diese Botschaft heute kaum noch von den Kanzeln. Selbst innerhalb der Kirche wird oft gesagt: Man darf doch mit solchen Gerichtsandrohungen nicht aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft machen. Das klingt einleuchtend. Das Problem ist nur: Jesus lehrt das letzte Gericht. Und Paulus lehrt es auch. In aller Deutlichkeit! Will Paulus die Menschen etwa einschüchtern? Will er sie manipulieren, um sie bei der christlichen Stange zu halten?

Tatsache ist: Düstere Warnungen dieser Art wären natürlich hochgradig verwerflich, wenn jemand sie bewusst erfunden hätte, um Menschen Angst zu machen und zu manipulieren. Aber wenn die Aussicht real ist, dass es einen göttlichen Richter gibt, der uns am Ende für unser Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen wird, dann wäre die Sachlage genau umgekehrt. Dann wäre es verwerflich, auf die Warnung zu verzichten! Dann müssten diejenigen schuldig gesprochen werden, die für die Warnung verantwortlich waren, sie aber – aus welchen Gründen auch immer – verschwiegen haben. Und für Paulus ist völlig klar: Das finale Gericht über alle Taten der Menschheit ist eine Realität. Es wäre fatal und verantwortungslos, das zu verschweigen.

Zumal diese Botschaft ja auch eine Hoffnungsbotschaft ist, und zwar für all die Unterdrückten, Ausgebeuteten, Bedrängten und Betrogenen dieser Welt, die von keinem weltlichen Gericht Gerechtigkeit erwarten können. Es wäre doch katastrophal, wenn wir diesen Menschen sagen müssten: Nichts und niemand wird sich jemals für das Unrecht interessieren, das dir widerfahren ist. Die gute Nachricht des Evangeliums ist aber: Am Ende kommt alles noch einmal auf den Tisch! Am Ende wird Recht gesprochen. Und diese Nachricht bleibt eine Bedrohung, eine Provokation und ein Ärgernis für Alle, die es sich bequem machen wollen in einer Welt ohne Gott, ohne Gericht, ohne Strafe, ohne Konsequenzen. Und sie nagt natürlich noch mehr als die Botschaft vom Schöpfer an der Autonomie des Menschen. Denn hier hören wir die Botschaft: Am Ende werden wir alle noch einmal konfrontiert mit dem, was wir getan haben, welchen Menschen wir geschadet haben und was wir damit angerichtet haben. Paulus macht also Allen einen dicken Strich durch die Rechnung, die nach dem Motto leben: Ich lebe mein Leben wie ich will und dafür muss ich mich vor niemand rechtfertigen.

Damit stellt sich aber jetzt die Frage: Müssen wir denn etwas befürchten in diesem letzten göttlichen Gericht? Oder können wir diesem Gericht beruhigt entgegen sehen, solange wir ein halbwegs ordentliches Leben führen, unsere Steuern zahlen, uns um unsere Familie kümmern und soweit es geht zu allen nett und freundlich sind? Damit kommen wir zur 4. Grundfrage der Menschheit, die Paulus in seinem Evangelium beantwortet:

4. Was ist die Ursache für das Drama der Menschheit?

Woran liegt es eigentlich, dass wir Menschen nicht einfach friedlich zusammenleben können? Warum bauen wir uns nicht einfach gemeinsam ein Paradies auf Erden? Warum haben wir stattdessen Krieg und Konflikte, Streit, Neid, Armut und Hunger, obwohl die Ressourcen der Erde doch locker für alle reichen würden? Warum ist das so?

Auf diese herausfordernde Frage gibt es sehr verschiedene Antworten. Vor allem in der Zeit der Aufklärung war eine Reihe von Philosophen der Meinung: Der Kern unseres Problems ist, dass wir die menschliche Vernunft viel zu lange begrenzt haben durch religiöse Autoritäten, durch angebliche heilige Schriften oder durch Traditionen, die doch längst überkommen sind. Wenn wir endlich die Vernunft nicht länger einschränken, dann wird schon bald der menschliche Fortschritt eine wunderbare Welt erschaffen. Aber nach der Aufklärung folgten die beiden schlimmsten Weltkriege aller Zeiten, begleitet vom entsetzlichen Massenmord an den Juden. Es ist erschreckend, wie viele Gelehrte in Deutschland dieses menschenverachtende Gedankengut unterstützt und befürwortet haben. Ganz offenkundig ist unsere menschliche Vernunft bei weitem nicht so verlässlich, wie manche Philosophen das behauptet haben.

Andere Leute im kommunistischen Umfeld vertraten die Position: Der Kern des Problems sind die ungerechten Umstände! Menschen sind böse, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wenn wir die Ungerechtigkeit beseitigen, dann wird das Gute im Menschen hervorkommen und wir werden uns gemeinsam das Paradies auf Erden errichten. Die kommunistischen Systeme haben aber leider nicht das Paradies sondern eine beispiellose Blutspur hinterlassen.

Was sagt nun Paulus zu dieser Frage? Der 4. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet: Nicht die Beschränkung der Vernunft, nicht die ungerechten Umstände, sondern…

Wir selbst sind der Kern unserer Probleme!

Oder anders ausgedrückt: Das Herz des Problems ist das Problem des menschlichen Herzens, das zutiefst verstrickt ist in sündiges, egoistisches Verhalten. In Römer 1, 28-30 schreibt Paulus:

„Sie hielten es nicht für wichtig, Gott anzuerkennen. Deshalb hat Gott sie ihrer schändlichen Gesinnung ausgeliefert. Daher tun sie, was sich nicht gehört. Sie strotzen vor Unrecht, Bosheit, Habgier und Schlechtigkeit. Sie sind voller Neid, Mordlust, Streitsucht, Hinterhältigkeit, Heimtücke, Verleumdung und übler Nachrede. Sie verachten Gott, sind gewalttätig, hochmütig und prahlerisch. Im Bösen sind sie erfinderisch und ihren Eltern gegenüber ungehorsam.“

Deutlicher kann man es nicht sagen. Besonders niederschmetternd für uns Menschen: Das Gericht Gottes besteht darin, dass er uns einfach unserer eigenen Gesinnung ausliefert. Er lässt uns einfach machen, wie wir denken und wollen. Gott muss uns nicht aktiv bestrafen. Wir Menschen bereiten uns schon selbst gegenseitig die Hölle auf Erden, wenn Gott uns einfach nur in die Autonomie entlässt, die wir so lautstark verlangen. Diese Aussage ist tatsächlich der ultimative Tiefschlag für uns Menschen. Mehr Provokation geht eigentlich nicht.

Aber Paulus setzt noch einen drauf: „Juden und Griechen befinden sich gleichermaßen in der Gewalt der Sünde. So steht es auch in der Heiligen Schrift: „Keiner ist gerecht – nicht ein Einziger. Keiner ist einsichtig, keiner fragt nach Gott. Alle sind sie von ihm abgefallen, allesamt sind sie verdorben. Es gibt keinen, der etwas Gutes tut! Auch nicht einen Einzigen!“ (Römer 3, 9-12) Und in Römer 7, 14 macht Paulus deutlich, dass er sich selbst hier überhaupt nicht ausnimmt: „Ich weiß: So wie ich von Natur aus bin, wohnt in mir nichts Gutes.“ Spätestens beim Lesen dieser Sätze wird klar, warum die „Gute Nachricht“ von Paulus oft so schlecht angekommen ist. Wer will sich denn schon gerne ein derart vernichtendes Urteil ausstellen lassen? Tatsächlich könnte man Paulus fragen: Muss das wirklich sein? Könntest Du Deine Botschaft nicht ein wenig netter vermitteln?

Ich selbst würde diese Botschaft von Paulus jedenfalls nicht ungefiltert jedem Mitmenschen einfach so aufs Brot schmieren. Aber eigentlich gilt hier doch genau das Gleiche, was schon bei der Botschaft des Gerichts galt: Wäre diese Diagnose aus der Luft gegriffen, um Menschen klein und gefügig zu machen, dann wäre sie hochgradig verwerflich. Aber wenn sie zutrifft, dann wäre es verwerflich, diese Diagnose zu verschweigen. Ein Arzt, der bei der Diagnose nicht schonungslos ehrlich ist, findet auch keine Therapie, die wirklich heilen kann. Ein guter Arzt muss ehrlich sein, auch wenn die Wahrheit erschütternd ist. Sonst wäre er kein guter Arzt. Und deshalb lautet die entscheidende Frage: Hat Paulus recht mit seiner niederschmetternden Diagnose?

Paulus steht mit seiner Position in der Bibel nicht alleine da. Dieses pessimistische Menschenbild zieht sich quer durch die ganze Bibel. Das beginnt schon in 1. Mose 8, 21: „Der Mensch ist böse von Jugend auf.“ Immer und immer wieder schildert die Bibel, wie die Menschen sich verrennen in zerstörerischen Verhaltensweisen, in Lug und Trug, in Ausbeutung und Gewalt.

Aber wie sieht es aus, wenn wir heute auf unsere Welt und in unsere Geschichte schauen? Müssen wir nicht ehrlicherweise sagen, dass die Diagnose von Paulus zutrifft? Auch heute müssen wir überall auf der Welt auf unseren Geldbeutel und unsere Wertsachen aufpassen. Überall in der Welt wird Polizei und eine ordnende Staatsmacht benötigt, um das Böse in Schach zu halten. Wir Menschen haben es nirgends je geschafft, ein System zu entwickeln, in dem einfach alle Menschen gut miteinander umgehen. Keine Systemänderung hat dazu geführt, dass plötzlich überall der gute Kern des Menschen die Oberhand gewinnt.

Ganz offenkundig schaffen wir Menschen es einfach nicht, uns unser eigenes Paradies zu bauen. Der gute König, der einfach nur das Beste für sein Volk will, existiert nur im Märchen. Sex, Macht und Geld korrumpiert uns Menschen. Die Demokratie ist gerade deshalb eine so gute Staatsform, weil in ihr jede Macht von anderen Mächten kontrolliert wird und im Zweifelsfall abgesetzt werden kann. Deshalb bin ich der Meinung: Die Geschichte hat wieder und wieder bewiesen, dass Paulus recht hat mit seiner Diagnose.

Aber wenn es stimmt, dass wir Menschen Sünder sind und Schuld auf uns laden, folgt daraus die nächste große Grundfrage der Menschheit:

5. Wer erlöst uns von Schuld und Scham?

Ich höre oft die These, dass der moderne Mensch sich nicht mehr interessieren würde für die Frage nach der Erlösung von Schuld. Die Menschen würden sich doch gar nicht mehr schuldig fühlen. Also brauchen sie auch keine Erlösung. Meine Beobachtung ist offen gesagt eine völlig andere. Erst kürzlich hat sich ein Bekannter von mir in den Urlaub verabschiedet. Er hatte eine tolle Reise geplant auf einen anderen Kontinent, eine Kombination aus Flugreise und Rundreise mit einem Mietwagen. Aber am Ende unseres Gesprächs sagte er: Ich habe ja so ein schlechtes Gewissen! Ich zerstöre damit doch das Klima! Welche Welt hinterlasse ich meinen Nachkommen?

Meine Wahrnehmung ist: Schuld ist tatsächlich gerade jetzt wieder ein riesengroßes Thema in unserer westlichen Welt! Wir sind schuld am Klimawandel. An der Umweltverschmutzung. Am Artensterben. An Armutsmigration, Flucht und Vertreibung. Wir sind schuld an ungerechten Lieferketten. An Diskriminierung, Rassismus und Kolonialismus. Wir könnten die Reihe noch lange fortsetzen.

Schuld und Moral hat Konjunktur in unserer Gesellschaft. Sogar die Witze von Otto Waalkes werden heute offenbar als so diskriminierend empfunden, dass man vor ihnen warnen muss. Winnetou wird aus den Medien verbannt, weil das ja kulturelle Aneignung sei. Das Problem daran ist: Wenn der Moralismus derart stark wird, dann hat auch Schuld und Scham Hochkonjunktur. Denn wer von uns ist denn noch in Ordnung, wenn sogar Otto Waalkes und Winnetou, die Helden unserer Kindheit, Diskriminierer sind?

Eine Antwort unserer Zeit lautet: Vielleicht können wir uns ja freikaufen! Wir könnten parallel zur Flugbuchung für ein Aufforstungsprojekt spenden. Oder wir werden Veganer. Oder wir verzichten auf Kinder, um CO2 zu sparen. Oder wir schmücken uns mit Regenbogenfarben und bauen sogar Sternchen und Sprechpausen in unsere Sprache ein, um ja niemand zu vergessen oder zu verletzen. Die Frage ist nur: Wird das reichen? Werden wir dadurch erlöst von Schuld und Scham? Paulus hat dazu eine überaus klare Position. Der 5. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir können uns nicht selbst erlösen. Allein aus Gnade werden wir gerettet!

Paulus hat dazu im Römerbrief revolutionäre Sätze geprägt, die später auch die Reformation vorangetrieben haben:

„Denn wir sind der Überzeugung, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens gerecht ist – unabhängig davon, ob er das Gesetz befolgt.“ (Römer 3, 28) „Wenn es aber aus Gnade geschah, dann spielen die eigenen Taten dabei keine Rolle. Sonst wäre die Gnade ja nicht wirklich Gnade.“ (Römer 11, 6)

Für Paulus gilt also: Kein noch so frommes oder gut gemeintes Werk bringt mir Erlösung, im Gegenteil: Jede Leistung, mit der ich mir ein gutes Gewissen oder gar Gottes Gunst verdienen will, wirft mich aus der Spur des gesunden, rettenden Glaubens, der allein auf die unverdiente Gnade Gottes setzt und der sagt: Ich kann mich nicht selbst erlösen. Aber ich bin von Gott angenommen, weil Jesus alles Notwendige bereits getan hat. Ich bin gerecht, weil Gott am Kreuz für mich Gerechtigkeit erworben hat und sie mir ohne mein Zutun schenkt. Das ist das Evangelium. Das ist Rechtfertigung allein aus Gnade.

Die große Not unserer Gesellschaft ist demnach, dass sie diese Gnade nicht kennt und dass sie diese Gnade auch gar nicht haben will. Ich kann das verstehen. Ich will ja auch lieber sitzen bleiben auf dem hohen Ross meiner Selbstgerechtigkeit. Ich will auch lieber Lohn für meine Leistung statt gnädig beschenkt zu werden. Die Gnade, die Gott uns anbietet, ist demütigend! Denn sie sagt uns: Wir sind so schuldig, dass ein anderer für uns sterben muss. Wir sind so hoffnungslos verloren, dass ein anderer am Kreuz die Suppe auslöffeln muss, die wir eingebrockt haben. Wie demütigend ist das! Und wie erlösend zugleich! Denn jetzt hängt meine Erlösung nicht mehr von mir ab und von meinen guten Vorsätzen, die ich doch morgen wieder fallen lasse. Jetzt werde ich wirklich befreit von Schuld und Scham. Denn was Jesus am Kreuz getan hat, ist genug – ein für alle Mal. Das ist wirklich, wirklich gute Nachricht. Das ist echtes, befreiendes Evangelium.

Darauf könnten Kritiker jetzt allerdings antworten: Ernsthaft? Unsere Schuld wird einfach so vergeben? Wir bekommen einfach so einen Freibrief und können ansonsten weitermachen wie bisher? Das soll die ganze christliche Botschaft sein? Tatsächlich ist das noch nicht die ganze Botschaft. Der 6. Eckpfeiler im Evangelium von Paulus gibt wieder Antwort auf eine große Grundfrage der Menschheit:

6. Was macht uns zu besseren Menschen?

Oder anders gefragt: Wie können wir Menschen uns bessern im Umgang mit uns selbst und mit anderen? Diese Frage bewegt viele Menschen. Wenn wir in eine Buchhandlung gehen, können wir dazu zahlreiche Ratgeber finden. Der Tenor vieler dieser Bücher lautet in etwa so: Folge deinem Herzen! Werde du selbst! Entdecke Dein Potenzial! Nimm Dein Leben in die Hand! Dann kannst du über dich hinauswachsen! Dann kannst du dich selbst und deine Umwelt verändern! Dann wirst du glücklich, zufrieden und erfolgreich!

Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Einfach nur ein gutes Buch kaufen, und schon geht es aufwärts in meinem Leben. Aber funktioniert das wirklich? Paulus macht uns wenig Hoffnung, im Gegenteil: Der 6. Eckpfeiler seines Evangeliums lautet:

Wir werden verändert durch die Erneuerung unseres Herzens!

Und Erneuerung bedeutet für ihn: Unser altes Leben muss sterben, damit ein neues Leben geboren werden kann. In Römer 6, 6-8+11 schreibt Paulus dazu:

„Wir wissen doch: Der alte Mensch, der wir früher waren, ist mit Christus am Kreuz gestorben. Dadurch wurde der Leib vernichtet, der im Dienst der Sünde stand. Jetzt sind wir ihr nicht mehr unterworfen. Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr. Wir sind nun also mit Christus gestorben. Darum glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. … Genau das sollt ihr auch von euch denken: Für die Sünde seid ihr tot. Aber ihr lebt für Gott, weil ihr zu Christus Jesus gehört.“

Paulus knüpft hier an seine These an, dass alle Menschen unter dem Diktat der Sünde stehen. Das heißt: Wir können unseren Lebensstil nicht einfach so ändern. Jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Die Chance, die Gott uns anbietet, besteht vielmehr darin, dass wir unser bisheriges Leben mit Christus am Kreuz „sterben“ lassen, damit Raum für ein neues Leben entsteht, das nicht mehr unter dem Diktat der Sünde steht. Erst durch dieses Sterben und dieses Neuwerden wird die Sündenverstrickung durchbrochen.

Wir finden diesen Gedanken auch bei Jesus: Im Gespräch mit Nikodemus sagt er in Johannes 3, 3: Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen. Entsprechend spricht Paulus auch an anderen Stellen immer wieder von einem alten und einem neuen Menschen (z.B. Epheser 4, 22-24). In Galater 2, 20 geht er sogar so weit, zu sagen: „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“

Das heißt: Beim Evangelium von Paulus geht es gerade nicht darum, die inneren Potenziale zu heben. Im Gegenteil: Hier geht es darum, unser bisheriges Wesen sterben zu lassen. Und Sterben heißt: Loslassen. Aufgeben. Ich hänge meinen Stolz, meine Selbstgerechtigkeit und meinen Eigensinn an den Nagel. Ich gehe innerlich und äußerlich auf die Knie und sage zu Gott: Ich kann es nicht! Ich brauche Deine Kraft! Ich lasse mich taufen, um mein altes Wesen in den Tod zu geben und in der Kraft des Heiligen Geistes ein neues Leben beginnen. Ich bete um die Fülle des Heiligen Geistes, damit ER ein neues Wesen, einen christusgemäßen Charakter in mir wachsen lässt, geprägt von Liebe statt Gleichgültigkeit, Freude statt Zynismus, Freundlichkeit statt Ungeduld, Güte statt Härte, Treue statt Egoismus, Selbstbeherrschung statt Faulheit.

Das mag von außen so aussehen, als ob jemand einfach nur sein Verhalten ändert. Aber Christen sind überzeugt: Hinter dieser äußerlich sichtbaren Veränderung steht Gott selbst, der durch den Heiligen Geist unsere Herzen erneuert. Genau das hat Gott durch die Propheten angekündigt. In Jeremia 31, 33 sagt Gott: „Doch dies ist der neue Bund, den ich an jenem Tag mit dem Volk Israel schließen werde, spricht der Herr. Ich werde ihr Denken mit meinem Gesetz füllen, und ich werde es in ihr Herz schreiben.“ Gott schenkt uns ein neues Herz, das die Gebote Gottes liebt und sie von Herzen gerne lebt.

Damit sind wir beim 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus, der uns eine Antwort auf die folgende grundlegende Menschheitsfrage gibt:

7. Wie werden wir Menschen wirklich frei?

Unsere Antwort darauf lautet normalerweise: Wir werden frei, indem wir uns von Zwängen entledigen. Freiheit bedeutet: Menschen müssen sich nach nichts und niemandem mehr richten. Sie bestimmen ihr Leben selbst. Freiheit bedeutet Autonomie, also die Befreiung von äußeren Zwängen und Regeln.

Aber die große Frage ist: Macht Autonomie uns Menschen wirklich frei? Paulus sagt dazu zwar einerseits: Ja, es stimmt, Christen sind zur Freiheit berufen. Er spricht sogar von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Römer 8,21). Nur: Diese Freiheit ist gerade das Gegenteil von Autonomie. Der 7. Eckpfeiler des Evangeliums von Paulus lautet:

Jesus ist Herr! Freiheit und Gehorsam gehören zusammen!

Wir finden diesen Eckpfeiler gleich zu Beginn des Römerbriefs. Da schreibt Paulus einen Satz, der so gar nicht zur Freiheit des Menschen zu passen scheint: „Was ich verkünde, ist die gute Nachricht von Jesus Christus, unserem Herrn! … Sie sollen Christus gehorsam sein, den Glauben annehmen und so seinem Namen Ehre machen.“ (Römer 1, 4b+5b) Und in Römer 6, 17 fügt Paulus hinzu: „Dank sei Gott! Denn früher wart ihr Diener der Sünde. Aber jetzt gehorcht ihr von ganzem Herzen der Lehre, auf die ihr verpflichtet worden seid.“ Christen sollen also gehorsam sein! Sie gehören nicht sich selbst, im Gegenteil: „Denn wir gehören zu Christus Jesus, unserem Herrn.“ (Römer 6, 23) Das ist also buchstäblich das Gegenteil von Autonomie. Wir gehören nicht uns selbst. Wir gehören Jesus.

Bibelleser sollte das eigentlich nicht überraschen. Denn in den Evangelien wird ja immer wieder deutlich: Die Botschaft Jesu drehte sich im Kern um ein Königreich. Immer und immer wieder sagt er: Ändert euch. Kehrt um. Denn das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes ist nahe. Jesus lehrt uns beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Und Jesus betont: „MIR ist alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde.“ (Matthäus 28,18) Und „wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote befolgen.“ (Johannes 14, 15) Da wird also ein ganz klarer Herrschaftsanspruch formuliert! Aber wie passt diese Botschaft von der notwendigen Unterordnung unter die Herrschaft Jesu dazu, dass Christen frei sind?

Genau darauf gibt Paulus in den Kapiteln 6-8 des Römerbriefs eine ganz klare Antwort. Im Kern sagt er: Eine souveräne Freiheit im Sinne einer völligen Unabhängigkeit gibt es für uns Menschen nicht. Niemals. Für niemand von uns! Wir Menschen sind immer von etwas bestimmt – entweder vom Geist Gottes oder aber von unserer menschlichen, in Sünde verstrickten Natur. Die Wahrheit ist laut Paulus also paradox: Je mehr wir uns von Gott frei machen wollen, umso mehr werden wir zu Gefangenen und Getriebenen unserer Wünsche, Süchte, Begierden und der Erwartungen anderer Menschen. Aber je mehr wir uns der Herrschaft Jesu unterordnen, umso mehr dürfen wir erleben, wie ER unsere Füße auf weiten Raum stellt und uns in wahre Freiheit führt.

Der Einstieg in die Freiheit besteht also gerade nicht darin, dass wir uns von allen Geboten entledigen. Im Gegenteil: Die Freiheit beginnt dort, wo wir uns freiwillig unter die Herrschaft Gottes begeben. Christen nennen Jesus ganz bewusst und mit Freude „Herr“. Und Gott schenkt ihnen wachsende Freude daran, ein Leben zu führen, das seinen Geboten und Ordnungen entspricht – nicht aus Zwang und Druck sondern aus dem Erleben, dass Gottes Gebote keine einengenden Schikanen sind, sondern dass es sich um heilsame Hilfen zum Leben handelt. Und Gottes Geist schenkt uns die Kraft und das Verlangen, in diesen heilsamen Ordnungen zu leben. DAS führt uns in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Ist das nicht großartig?

Das Evangelium erklärt und provoziert die Welt

Ich hoffe, ich konnte zeigen: Das Evangelium ist tatsächlich viel mehr als eine nette Botschaft von der grenzenlose Liebe Gottes. Der bekannte englische Schriftsteller C.S. Lewis hat einmal geschrieben:

„Ich glaube an Christus, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.“

Genau so geht es mir, wenn ich auf diese 7 Punkte schaue. Sie zeigen mir nicht nur, wer und wie Gott ist. Im Licht dieser Botschaft kann ich auch mich selbst erkennen. Ich kann erkennen, welche Würde ich habe als sein Geschöpf. Aber ich verstehe auch, wie tief ich verstrickt bin in Sünde und was diese Sünde in meinem Leben anrichtet. Ich verstehe, wie rettungsbedürftig ich bin. Und ich verstehe immer besser, was in dieser Welt geschieht und warum sie so ist, wie sie ist. Mir fallen so viele Belege und Erfahrungen ein, die mir zeigen: Ja, dieses Evangelium ist tatsächlich wahr. Diese Diagnose trifft zu. Und deshalb kann ich mich auch darauf verlassen, dass in diesem Evangelium die heilende und rettende Botschaft enthalten ist, die mir tatsächlich hilft. Deshalb kann ich mit Freude mein Leben auf diese Botschaft bauen. Darin liegt für mich die ganze Kraft und Schönheit des Evangeliums.

Zudem wird in diesen 7 Punkten deutlich, warum dieses Evangelium zu allen Zeiten auf so viel Widerstand gestoßen ist. Ja, das Evangelium ist sehr gute Nachricht. Es ist rettende Nachricht, wenn wir verstanden haben, wie rettungsbedürftig wir sind. Aber solange wir der Meinung sind, dass wir eigentlich soweit ganz in Ordnung sind, ist dieses Evangelium pure Provokation. Und es steht damals wie heute im grundlegenden Widerspruch zu vielen Denkweisen, die in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlich sind.

Es ist nun einmal ein riesiger Unterschied, ob …

… wir die Wahrheit in uns selbst finden oder ob sie von außen auf uns zukommt und uns gegenübertritt.

… wir selbst und unsere subjektiven Erfahrungen der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis sind, oder ob der Maßstab für unsere Gotteserkenntnis objektive Wahrheiten sind, die Gott uns in der Bibel offenbart.

… die Schöpfung nur auf ziellose Zufallsprozesse hinweist, die uns in unserer Autonomie in keiner Weise stören, oder ob die Schöpfung auf einen Schöpfer hinweist, der unsere Verehrung verdient.

… wir selbst beurteilen, was gerecht ist, oder ob wir uns bewusst sind, dass wir uns eines Tages vor dem Richterstuhl Gottes verantworten müssen, wo wir nach Gottes Maßstäben beurteilt werden und nicht nach unseren eigenen Maßstäben.

… das Grundproblem der Menschheit die bösen Umstände sind oder ob wir selbst das Problem sind, weil unser eigenes Herz hoffnungslos verstrickt ist in Sünde.

… wir uns selbst erlösen wollen durch moralisches Verhalten oder ob uns Erlösung ausschließlich durch Gnade geschenkt wird durch das Erlösungswerk Jesu am Kreuz.

… wir bessere Menschen werden, indem wir unsere eigenen Potenziale entfalten oder ob wir unseren alten Menschen am Kreuz in den Tod geben, damit der Heilige Geist uns ein neues Herz schenken kann und wir von neuem geboren werden.

… wir frei werden durch das Ablegen von äußeren Zwängen oder ob wir ganz im Gegenteil frei werden durch die Unterordnung unter die gute und heilsame Herrschaft Jesu!

Mir macht diese Gegenüberstellung zwischen dem Evangelium von Paulus und den Denkweisen in unserer Gesellschaft deutlich: Die gute Nachricht, die Paulus damals so viel Widerstand eingebracht hat, ist seither nicht populärer geworden. Auch heute noch steht sie so ziemlich gegen alles, was in unserer Gesellschaft scheinbar ganz selbstverständlicher Mainstream ist. Paulus hat damals geschrieben, dass seine Botschaft eine Torheit ist und ein Ärgernis ist (1. Korinther 1, 23). Diese Gegenüberstellung zeigt: Das hat sich bis heute nicht geändert.

Welches Evangelium predigen wir?

Umso mehr frage ich mich: Predigen wir in unseren Kirchen und Gemeinden wirklich das paulinische Evangelium? Konkret gefragt: Sprechen wir über Wahrheit und Irrtum? Oder wollen wir lieber niemand auf die Füße treten in Bezug auf seine persönlichen religiösen Vorstellungen? Sprechen wir darüber, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Verehrung verdient? Sprechen wir darüber, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass Gott uns im Gericht verurteilen muss? Machen wir deutlich, dass wir uns aus diesem Zustand nicht selbst retten können und dass wir deshalb von neuem geboren werden müssen? Rufen wir dazu auf, vor Jesus die Knie zu beugen und ihn zum Herrn unseres Lebens zu machen? Oder geht es uns letztlich um – vielleicht sogar fromme – Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung? Stehen wir und unsere Bedürfnisse im Zentrum unserer Botschaft oder steht Jesus und seine Herrschaft im Mittelpunkt?

Dieses Evangelium hat offenkundig noch nie dem Zeitgeist entsprochen. Dieses Evangelium kann und wird uns auch heute noch Widerspruch einbringen. Aber vergessen wir nicht: Trotzdem ist genau dieses Evangelium die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten! Es war dieses Evangelium, das einst das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden und die Welt umgekrempelt hat. Es ist dieses Evangelium, das bis heute alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute verfolgt, bekämpft und unterdrückt wird. Ich bin überzeugt: Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat und den unsere Gesellschaft so dringend braucht! Denn dieses Evangelium operiert nicht an den Symptomen der menschlichen Probleme herum. Dieses Evangelium geht an die Wurzel der Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben. Und die Wurzel der Probleme ist und bleibt unser Herz, das in Sünde verstrickt ist.

Nachhaltige Gesellschaftstransformation bringt nur das Evangelium

So viele Erweckungsbewegungen der Vergangenheit haben bewiesen: Echte Gesellschaftstransformation entsteht nicht durch Aktivismus oder Umstürze sondern durch die Transformation der Herzen, die nur das Evangelium bewirken kann. Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft, weil es wahr ist, weil es eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit ist, weil es die richtige Diagnose über den Zustand von uns Menschen stellt und weil es uns deshalb auch die richtige Therapie bringt.

Und deshalb habe ich eine dringende Bitte an unsere Gemeinde- und Kirchenleiter, Verkündiger und Theologen: Bitte predigt genau dieses Evangelium, das Paulus gepredigt hat! Ich bin überzeugt, dass ihr feststellen werdet: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist. Im Gegenteil, ich bin mir sicher: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem Evangelium entfernen! Denn die Menschen spüren, dass jede andere Botschaft oberflächlich bleibt. Ein abgespecktes Evangelium mag nett und eingängig klingen, aber die Menschen spüren, dass es unsere Probleme nicht löst, dass es nur eine dünne Suppe ist, von der sich niemand ernähren kann. Aber das biblische Evangelium ist kraftvoll. Es macht den Menschen Mut und Hoffnung. Dieses Evangelium erneuert die Herzen und damit auch ganze Familien, Betriebe und Gemeinschaften. Deshalb lasst uns gemeinsam alles dafür tun, um diesen kostbaren Schatz zu hüten und zu bewahren. Und lasst uns gemeinsam mit Leidenschaft und Freude dieses Evangelium den Menschen und der Welt verkünden.