Jetzt (wieder) neu: Bibel live auf YouTube und als Podcast

Am Freitag, den 22.11.2024 um 17.00 Uhr ist es soweit: Das erste Video des neuen YouTube-Kanals „Bibel Live“ hat Premiere.

Bibel Live befasst sich „mit den heißesten Themen rund um das Buch der Bücher. Wir beleuchten zentrale biblische Fragestellungen. Und wir sprechen über aktuelle Trends und Diskussionen im christlichen Umfeld.“

Der Name „Bibel Live“ ist nicht neu. Von Juni 2021 bis April 2022 wurden bereits 12 Podcastfolgen unter diesem Namen veröffentlicht. Die inhaltliche Ausrichtung war auch damals schon gleich. Und ich habe gemerkt: Über einen Podcast lassen sich doch deutlich mehr Menschen ansprechen als über Blogartikel. Leider hatte die Kraft nicht gereicht, um sowohl Artikel zu schreiben als auch Podcastfolgen zu produzieren. Aber jetzt möchte ich es noch einmal versuchen und dabei einen Schritt weitergehen: Jetzt soll es auch Videos geben. Das bietet den Vorteil, dass man Clips, Bilder, Zitate, Überschriften und Bibelstellen einblenden kann. Alle Bibel Live Videos werden aber zusätzlich auch wieder im Podcast hochgeladen.

Die erste Folge beschäftigt sich mit der Frage: Was bedeutet es eigentlich, Christ zu sein? Ist man ein Christ, wenn man getauft wurde? Oder wenn man Jesus als Vorbild nacheifert? Oder ist man ein Christ, wenn man sich bekehrt hat und ein Übergabegebet gesprochen hat? Kann man das überhaupt so klar und eindeutig definieren? Sollte das nicht lieber jeder für sich selbst entscheiden? Was wird im kirchlichen Umfeld über diese Fragen gedacht (dazu werden wir einige Stimmen und Zitate hören)? Und was sagt die Bibel dazu? Diese grundlegenden Fragen zum Christsein geht das Video vor allem auf der Grundlage von Galater 5, 13 – 25 auf den Grund.

Ich lade alle Leser meines Blogs herzlich ein, bei Bibel Live vorbeizuschauen, egal ob auf YouTube oder im Podcast. Und ich freue mich über Feedback.

Dekonstruktion – Wie gehen wir damit um?

Der zweite Teil des Doppelvortrags zum Thema „Dekonstruktion“ geht den Fragen nach: Was genau geschieht eigentlich in einem Dekonstruktionsprozess? Gibt es auch gesunde und hilfreiche Formen von Dekonstruktion? Was kennzeichnet im Kern postevangelikale und progressive Theologie? Und was müssen wir tun, um ungesunden Dekonstruktionsprozessen zu begegnen? Der Vortrag wurde im YouTube-Kanal von offen.bar veröffentlicht:

Die Grafiken zum Vortrag können hier heruntergeladen werden.

Das Skript zum Vortrag kann hier heruntergeladen werden.

Weiterführende Links zu den 4 Bruchstellen in postevangelikaler Theologie:

Die letzte Bank – Auftreten ist das Mindeste

„Die letzte Bank – Fragen an das Leben“ heißt das neue, von den Kirchen verantwortete Gesprächsformat, das ab jetzt in der ZDFmediathek zu finden ist.“

So schreibt es die EKD in einer aktuellen Pressemeldung. In der Folge 4 („Von der Kirche zum Tantra“) wird die ehemalige Grundschullehrerin Regina Heckert interviewt. Sie beschreibt dort Tantra als

„ein spiritueller Weg, genauso wie jetzt der christliche Glaube ein spiritueller Weg ist, … der auch offen ist für alle Religionen oder gar keine Religion, der diese Dimension in der körperlichen Begegnung mit dabei hat und nicht abspaltet.“ (ab 11:17)

Die IDEA-Redakteurin Alexandra Weber schreibt über das Video:

„Die ehemalige Lehrerin erzählt, wie sie ihr früheres Leben hinter sich ließ, um durch Sex spirituelle Erfahrungen zu machen. Und was fällt dem Pastor dazu ein? Er lobt ihren Mut. Dann berichtet die Frau auch noch, wie sie einen Rosenkranz umfunktionierte, um ihre Liebesnächte mit Männern daran abzuzählen – 59 Perlen für 59 Liebesnächte mit 7 Männern in 9 Monaten. Und der Pastor antwortet sichtlich beeindruckt: „Das ist spannend, dass Sie ein urkatholisches Symbol (einen Rosenkranz) umgedeutet haben, um für sich auch etwas Heiliges daraus zu machen.“

Eine neue Dimension

Ich bin kein Tantra-Kenner. Bei Wikipedia lese ich: Tantra sei durchdrungen von okkulten und magischen Vorstellungen. Das heißt also für dieses Video: Unter dem Bild des Gekreuzigten, der qualvoll für unsere Sünden sein Leben gab, ermutigt die Kirche zum Sündigen durch Esoterik und durch das hemmungslose Ausleben von wahllosem Sex. Dabei wird der christliche Glaube als einer von vielen „spirituellen Wegen“ auf eine Ebene mit sexualisierter Esoterik gestellt. Für Christen wie mich ein unerträglicher Vorgang.

Schräge und häretische Stimmen gibt es natürlich seit langem in der Kirche. Aber dieses Video ist für mich doch noch einmal eine neue Dimension. Denn hier haben wir ja nicht nur eine Einzelstimme vor uns. Die EKD hat in ihrer Presseerklärung ausdrücklich die Verantwortung für dieses Video übernommen. Sie hat als Institution diesen Inhalt aktiv gefördert und beworben. Nüchtern betrachtet hat die EKD damit den Boden des Christentums verlassen.

Es wundert mich vor dem Hintergrund dieses Videos nicht mehr, dass die EKD sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 engagiert. Freier Sex, der von jeglicher Verantwortung völlig entkoppelt ist, geht eben irgendwann immer einher mit der Tötung von ungewollten, ungeborenen Kindern. Die Gebote Gottes („Du sollst nicht ehebrechen.“ „Du sollst nicht töten.“) spielen demnach in der EKD keine Rolle mehr.

Was wollt ihr eigentlich damit erreichen?

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die bei solchen Vorfällen einen hochroten Kopf und Schnappatmung bekommen. Mir ist klar, dass hier wohlmeinende Menschen unterwegs sind, die eben nur ihre theologischen Weichen vollkommen anders gestellt haben als ich und die sich deshalb auch für meine Meinung in keinster Weise interessieren. Es bringt nichts, sich aufzuregen.

Das einzige, was ich die EKD gerne fragen würde, wäre: Was wollt ihr mit so einem Video eigentlich erreichen? Hofft denn ernsthaft irgendjemand in der EKD, dass man die leeren Kirchenbänke mit Leuten füllen kann, die sich für Tantra und freien Sex begeistern? Auch euch müsste doch klar sein, dass ihr mit so einem Video vor allem zwei Effekte erzielt: Fromme Christen werden vergrault. Und viele Andere empfinden die Kirche als noch beliebiger und belangloser, weil sie von der Kirche letztlich nur die Botschaft vernehmen: Anything goes, solange es sich für Dich gut anfühlt. Für diese Botschaft braucht man keine Kirche.

Aber das sind Fragen, die die EKD-Leitung mit sich selbst klären muss. Diesen Artikel schreibe ich, weil ich mich vor allem frage: Was können wir Evangelikale und Pietisten aus diesem Vorfall lernen?

Wenn der Anker gelöst ist, gibt es kein Halten mehr

Immer wieder höre ich im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld Stimmen, die sagen: Lasst uns doch nicht streiten um sexualethische Themen! Das sind doch Randfragen, die zudem seelsorgerlich komplex sind. Wir brauchen Öffnung und Toleranz. Nur dann finden wir die Einheit in Vielfalt, die wir als Kirche Jesu so dringend brauchen und die Gott viel mehr Ehre macht als Streit und Spaltung.

Das klingt gut. Aber erstens hält das Neue Testament sexualethische Verfehlungen in keinster Weise für nebensächlich. Und zweitens können wir an der EKD anschaulich lernen: Wenn erst einmal der biblische Anker gelöst wird, der Gottes Liebe und seine Gebote zusammenhält, dann gibt es kein Halten mehr.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man sexualethische Konfliktherde einfach totschweigen oder mit kleinen Kompromissen entschärfen könnte. Die Realität ist vielmehr: Die progressive Sexualethik entwickelt sich rasant. Sie stellt immer weitergehende Forderungen. Sie ist missionarisch und kompromisslos. Sie nimmt Spaltung in Kauf, wenn sie damit ihre Agenda durchsetzen kann. Je länger wir ihr durch unser Schweigen einfach das Feld überlassen, je größer wird der Schaden für unsere Gemeinden und Gemeinschaften.

Wir müssen Sprach-fähig werden

Deshalb empfehle ich uns Evangelikalen und Pietisten: Lasst uns doch lieber frühzeitig, öffentlich und profiliert darauf antworten, wenn in unserer Mitte versucht wird, Gottes Liebe von Gottes Geboten zu entkoppeln. Mehr noch: Lasst uns auch unabhängig von konkreten Vorfällen regelmäßig und öffentlich in einer biblisch fundierten, klugen, differenzierten und seelsorgerlich verantwortlichen Weise über die biblische Botschaft sprechen. Lasst uns gemeinsam die Schönheit der biblischen Sexualethik zum Leuchten bringen!

Dafür müssen wir in Bezug auf Gottes gute Gebote wieder Sprach-fähig werden. Wir müssen begründen können, warum wir an ihnen festhalten und warum sie für unser Leben so heilsam und segensreich sind. Und wir müssen begründen lernen, warum wir die Bibel auch heute noch für aktuell und vertrauenswürdig halten, obwohl große Teile der Gesellschaft und der kirchlichen Theologie in ihr nur noch ein völlig überholtes antikes Dokument sehen.

Wo sind die Stimmen aus dem landeskirchlichen Pietismus?

Ich selbst gehöre zur evangelischen Kirche. Ich schätze meine Wurzeln im landeskirchlichen Pietismus sehr. Lokal setze ich mich in meiner evangelischen Kirchengemeinde dafür ein, dass Menschen zu Jesus finden und sich in seinem rettenden Wort verwurzeln.

Deshalb möchte ich gerne ganz besonders die landeskirchlichen Vertreter aus Pietismus und kirchlicher Erneuerung fragen: Wie gehen wir mit der immer offeneren und Scham-loseren Häresie in unserer Kirche um? Ich bin der Meinung: Einfach Schweigen kann keine Option sein. Ulrich Parzany hat den Satz geprägt: „Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.“ Es mag sein, dass wir die Kirchenleitungen und kirchlichen Medienvertreter nicht umstimmen können. Aber wir tragen doch Verantwortung für die Menschen, die uns anbefohlen sind! Wenn wir schweigen, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich auch in unseren erwecklichen Gruppen und Gemeinschaften immer öfter der Zeitgeist zum Heiligen Geist gesellt und zu Streit und Spaltung führt.

Leider habe ich bislang zu vergleichbaren Fällen von pietistischen und evangelikalen Verantwortlichen in der Landeskirche kaum eine Äußerung wahrgenommen (wenn ich etwas übersehen habe, dann freue ich mich sehr über Hinweise!). Das finde ich traurig. Wenn pietistische Leiter sich zwar öffentlich Sorgen machen um rechtspopulistische Tendenzen unter Evangelikalen, aber zugleich zu derart krasser Häresie kaum Worte finden, dann gewinne ich als Christ an der Basis den Eindruck: Wir landeskirchliche Evangelikale und Pietisten haben keine Stimme in der Kirche. Niemand steht an unserer Seite, wenn wir vor Ort von solchen Einflüssen bedrängt werden. Dabei bräuchten wir doch so dringend Ermutigung durch vernehmbare und profilierte Stimmen von Verantwortlichen.

Auftreten ist das Mindeste

Der Name der Sendung passt zur Situation der Kirche: In zahlreichen evangelischen Gemeinden ist sonntags nur noch „die letzte Bank“ besetzt. Viele Gemeinden stehen vor dem Abgrund. Immer mehr Gemeinden sind schon einen Schritt weiter. Kirchen und Gemeindehäuser werden verkauft. Gemeinden werden „zusammengelegt“. Aber je mehr die evangelische Kirche verschwindet, umso größer wird das Vakuum, das in unserem Land entsteht. Es sind keine guten Kräfte, die machtvoll in dieses Vakuum hineinstoßen.

Ich finde: Umso mehr dürfen wir Evangelikale und Pietisten in Landes- und Freikirchen nicht so tun, als gingen uns diese Entwicklungen nichts an. Was wir jetzt so dringend brauchen, sind erweckliche, lebendige Gemeinschaften und Gemeinden, die die Kirchen wieder füllen, die von liberalen Theologen leergepredigt wurden. Das kann nur gelingen, wenn wir lernen, uns profiliert, klug, differenziert und leidenschaftlich zu Gottes Wort und Gebot zu bekennen. Denn an Gottes Segen ist alles gelegen! Und Gottes Segen ist nun einmal untrennbar mit dem Festhalten an Gottes Wort und Gebot verknüpft.

Wir leben in Zeiten, in denen es schon jetzt immer öfter einen Preis kostet, sich zur Gültigkeit von Gottes Wort zu bekennen. Umso mehr sollten wir als Leiter Vorbilder sein und mutig damit anfangen. Dabei sollten wir uns bewusst machen: Gottes Segen ist so unendlich viel wichtiger als der Segen der Kirchenleitung oder der Beifall der Öffentlichkeit.

Wir Evangelikale werden oft als die Stillen im Lande bezeichnet. Darin sonnen wir uns auch ganz gerne. Das klingt so demütig und friedfertig. Aber sind wir uns wirklich sicher, dass hinter unserem Schweigen nicht auch ganz oft Menschenfurcht und Abhängigkeit von menschengemachten Strukturen, Meinungen und Finanzen steckt?

Ich meine nach wie vor: Es muss nicht jeder, der Jesus und sein Wort liebt, angesichts solch fürchterlicher Irrlehren aus der Landeskirche austreten. Aber Auftreten ist das Mindeste.

Dekonstruktion – Eine Bestandsaufnahme

Was verbirgt sich eigentlich hinter Begriffen wie „Dekonstruktion“, „Postevangelikalismus“ und „Progressive Theologie“? Warum breitet sich diese Art von Theologie scheinbar so rasant auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aus? Welche Folgen hat diese Entwicklung?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich der erste Teil des Doppelvortrags von Markus Till zum Thema „Dekonstruktion“, der unter dem Titel „Warum postevangelikale Theologie so attraktiv ist“ in der Mediathek offen.bar erschienen ist. Der Vortrag liefert eine Bestandsaufnahme wichtiger Entwicklungen der letzten 10 Jahre. Und er beschreibt 4 Milieus sowie 4 Megatrends, die sich in dieser Zeit im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld entwickelt haben.

Die Grafiken zum Vortrag können hier heruntergeladen werden.

Das Skript zum Vortrag kann hier heruntergeladen werden.

Weiterführende Links:

Wenn ein Theologe die Dekonstruktion dekonstruiert

und zudem das Kernproblem unserer Gesellschaft und der evangelischen Allianz aufdeckt

„Meines Erachtens ist es an der Zeit, aus der Defensiv-Theologie auszusteigen und in neue Räume des Denkens vorzustoßen.“
(Dr. Gerrit Hohage, Tief verwurzelt glauben, S. 339)

Kritik an liberaler Theologie gibt es in konservativen Kreisen zuhauf. Ich finde das gut. Wer allerdings immer nur meckert, wirkt mit der Zeit eng, verbittert und unattraktiv. Viele Evangelikale wollen sich deshalb lieber nur noch auf positive theologische Äußerungen beschränken. Aber auch das ist problematisch. Denn die Folge ist, dass es Christen an Orientierung fehlt im Umgang mit den vielen postevangelikalen und „progressiven“ Stimmen, die längst auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld lautstark zu hören sind.

In seinem Buch „Tief verwurzelt glauben“ zeigt Dr. Gerrit Hohage, wie es besser gehen kann. Als Leser spürt man von Beginn an: Hier schreibt kein nörgelnder Besserwisser, sondern ein brillanter und kenntnisreicher Denker, der zugleich praktizierender Seelsorger ist. Hohage geht es niemals nur um Abwehr und um „Rechtgläubigkeit“. Es geht ihm letztlich immer positiv um die schlüssige Darstellung unseres Glaubens sowie um das Wohl der Menschen und der Kirche. Seine seelsorgerliche Feinfühligkeit ändert aber nichts daran, dass Hohage messerscharf analysieren kann. Ein Beispiel gefällig?

Die fatalen Folgen der Wunderkritik

„Zu den erstaunlichsten und problematischsten Erscheinungen der Moderne gehört für mich, dass die wissenschaftliche Theologie … den Glauben, dass es keinen Gott gibt, der in die ausgedehnte Welt eingreift, in großem Stil übernommen hat. … Der Mainstream mindestens der deutschsprachigen Theologie betreibt diese allen kritischen Anfragen zum Trotz seit mehr als 200 Jahren methodisch so, »als ob es Gott nicht gäbe«. Das wird oft in Wortwatte verpackt und ungern offen eingeräumt. Aber wenn man genau hinsieht, dann findet man dies als selbstverständliche Voraussetzung in theologischer Literatur bis heute.“ (S. 97/98)

Hohage bestätigt hier, was ich auch in meinem Artikel „Das wunderkritische Paradigma“ beschrieben habe: Die Theoriebildung in der akademischen Theologie arbeitet (wie auch in den anderen Fakultäten) mit Prämissen, in denen „Wissenschaftlichkeit“ gleichgesetzt wird mit dem prinzipiellen Ausschluss übernatürlicher Ursachen (also Wunder und Offenbarungsereignisse).[1] Hohage kommentiert völlig zurecht: „Keine dieser Prämissen wurde jemals bewiesen oder ist logisch beweisbar. Es sind sämtlich Glaubenssätze und Vorannahmen.“ (S. 206) Wissenschaftlichkeit und intellektuelle Redlichkeit müsste also keinesfalls dazu führen, der Bibel ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit abzusprechen[2]. Zumal die Wunderkritik für die Kirche katastrophale Folgen hat:

„Die Kirche kann ihre Glaubensinhalte nicht mehr vermitteln, weil sie sich im Lauf von zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hat, deren Grundlage als »unhistorisch« zu betrachten und es darum gerade für junge Menschen »nur Gerede« zu sein scheint, hinter dem keine Tatsachen stecken.“ (S. 195)

Wenn Gott durch „Gottesbilder“ ersetzt wird

Eine Theologie, die aus Prinzip nicht mit göttlicher Offenbarung rechnet, hat ein weiteres Problem. Sie spricht zunehmend nur noch von „Gottesbildern“ statt von Gott:

„Ich staune immer wieder über die völlige Unbefangenheit, mit der hier und da über »Gottesbilder« geredet wird, als gäbe es in der Bibel kein Gebot, das da lautet: »Du sollst dir kein Bildnis machen von dem Herrn, deinem Gott.«“ (S. 233)

Hohage begründet eindrücklich, warum diese Entwicklung so problematisch ist:

„Mein Gottesbild provoziert mich nicht und fordert mich nicht heraus. Es stört mich nicht in meinen Lebensabläufen, sondern es gibt mir ein gutes Gefühl. Mein Wellness-Gott für Mußestunden. Aber hilft mir mein Gottesbild, wenn ich in Not bin? Wenn ich krank bin? Wenn ich alt bin und nicht mehr sprechen kann? Hilft mir mein Gottesbild, wenn ich sterbe? Hilft es mir durch den Tod? Mein Gottesbild kann mir gar nicht durch den Tod helfen, weil es meines ist, es ist in mir, es hängt an mir und es stirbt mit mir. … So ein Mas-Gott-chen braucht niemand wirklich; … Nur ein Gott, der real ist, kann uns real durch den Tod tragen und uns real ewiges Leben geben. Diesen realen Gott müssen wir kennen und kein noch so nices »Gottesbild«.“ (S. 233/234)

Hohage schildert hier eine zentrale Ursache für die dramatische Selbstmarginalisierung der evangelischen Kirche, in der er selbst als Pfarrer tätig ist. Zurecht wirbt er deshalb für ein grundlegendes Prinzip des Christentums, das auch bei der Namensgebung der Mediathek „offen.bar“ leitend war:

„Ich baue meinen Gott nicht zusammen; ich erfinde meinen Jesus nicht. Sondern der wirkliche, der auferstandene Jesus enthüllt sich mir als der, der ist, und der war, und der kommt. Es geht um Offenbarung, nicht um Interpretation. Das Christentum ist und war nie eine spekulative Philosophie – es ist in seinem innersten Wesenskern eine Offenbarungsreligion.“ (S. 41/42)

Die Knackpunktfrage: Wie gehen wir mit der Bibel um?

Aber woher können wir wissen, wer und wie dieser wahre Jesus wirklich ist? Bei dieser Frage spielt die Bibel für Hohage eine entscheidende Rolle: „Jesus, die Wahrheit, ist ohne die Wahrheit der Bibel nicht zu haben. An Jesus zu glauben setzt voraus, dass wir der Bibel glauben.“ (S. 114) Denn nur in der Bibel finden wir Jesu Worte, auf die wir als Jünger Jesu hören sollen: „Wahrhaftige Jüngerschaft setzt das Vertrauen in die Verlässlichkeit, d. h. Wahrheit der Worte Jesu voraus.“ (S. 112)

Aber was bedeutet „der Bibel glauben“ konkret? Welches Bibelverständnis muss uns dabei leiten? Hohage kritisiert jeden Versuch, das Wort Gottes in der Bibel ganz oder teilweise vom menschlichen Wort zu trennen, sei es durch eine Überbetonung einer „Christusmitte“[3] oder durch die weit verbreitete Formel von der Bibel als „Gottes im Menschenwort“[4]. Stattdessen ist die Bibel für Hohage zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort:

„Einerseits hören wir in der Bibel das Wort des lebendigen Gottes, und andererseits sehen wir ihre Menschlichkeit und können nicht so tun, als wäre sie vom Himmel gefallen wie der Koran – zumindest behauptet das der Islam. Es ist wie bei Christus, dem Wort, das Fleisch wurde. … Wir haben in Jesus nicht halb-und halb, sondern ganz-und-ganz vor uns. … Wir haben in den Worten der Apostel, wie sie in der Gestalt der biblischen Schriften gefasst sind, nicht halb-und-halb, sondern ganz und-ganz vor uns: Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, »unvermischt und ungetrennt«“ (S. 241/242)

Die Kernfrage unseres Glaubens: Warum starb Jesus am Kreuz?

Besonders wichtig wird dieses Bibelverständnis, wenn es um den Kreuzestod Jesu geht. Hohage kritisiert hier eine Theologie, die meint: Das Kreuz würde nur für uns Menschen eine Rolle spielen. Aber in Bezug auf Gott will man „das Opfer von jedem Gedanken an eine transzendente Wirkung freihalten; es darf bei Gott nichts bewirken, das ist das No-Go.“ (S. 273) Hohage macht deutlich, dass dies nicht nur Anselm und Luther sondern auch die biblischen Schriften ganz anders sehen: „Gott ist nach dem Neuen Testament sowohl der Geber als auch – gemeinsam mit dem Menschen – der Empfänger des Opfers Christi.“ (S. 274) Im AiGG-Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ habe ich dargelegt, warum diese Einsicht so zentral wichtig ist und warum sich gerade an diesem Punkt die Geister so sehr scheiden.

Zur Beschreibung des Heilsgeschehens am Kreuz lobt Hohage Luthers Formulierung vom „fröhlichen Tausch“. Das Kreuz bringt uns Heil, „weil Christus meine Sünde auf sich genommen und zu seiner eigenen gemacht hat. Er ist jetzt der Sünder, und ich bin jetzt durch ihn gerecht. Das ist konkret und auf einer tiefen Ebene verständlich. Denn was »tauschen« ist, weiß jedes Kind.“ (S. 276) Der Verlust dieser Wahrheit ist für Hohage nicht nur für die Kirche ein großer Schaden. Letztlich leidet die ganze Gesellschaft darunter: „Eine Gesellschaft, die die stellvertretende Sühne des Kreuzes nicht mehr kennt, wird gnadenlos und von Angst geprägt.“ (S. 279)

Folgerichtig verteidigt Hohage auch das Festhalten an der unpopulären, aber biblischen Realität des Zornes Gottes, auf dem zwar Paulus seine Evangeliumsbotschaft aufbaut (Römer 2,1-5), das aber in der heutigen Theologie (selbst im evangelikalen Umfeld) leider oft negiert wird – mit traurigen Konsequenzen:

„Wenn wir die Passagen über den Zorn Gottes den Menschen zuweisen und auf diese Weise biblische Sachkritik betreiben, nehmen wir die Anfechtung, die darin liegt, nicht an. Wir suchen unser Heil darin, sie zu umgehen, und zwar durch Subtraktion. Sachkritik ist eine Subtraktionsmethode, nichts anderes: »Menschenwort, kein Gotteswort«. Dabei sind es nach meiner Erfahrung gerade diese Passagen, in denen die tiefsten Wachstumsschritte stecken.“ (S. 254)

Und damit sind wir bei einer zentralen Fragestellung in Hohages Buch:

Was tun, wenn unser Glaube durch Zweifel erschüttert wird?

Hohage stellt zunächst klar: Er will aus guten Gründen lieber von „Anfechtung“ statt von „Zweifeln“ zu sprechen, denn:

„Am Glauben zweifeln können Glaubende und Glaubenwollende, Nichtglaubende und Nichtglaubenwollende, für die der Zweifel ein Selbstzweck ist, nämlich als Methode, um Gott auf Abstand zu halten. Solche Zweifler fühlen sich im Zweifeln wohl, vielleicht sogar überlegen. Bei glaubenden Christen ist das anders.“ (S. 125)

Für einen gesunden Umgang mit Anfechtung entwickelt Hohage ein differenziertes Diagnostikinstrument (eine „Typologie der Anfechtung“), um unterscheiden zu können, woher unsere Anfechtung kommt (von anderen Menschen, vom Teufel oder von Gott?), auf welcher Ebene sie stattfindet (im Denken, im Fühlen oder im Wollen?) und wohin sie zielt (auf die Gottesbeziehung oder auf unsere Beziehung zur Kirche?). Damit wird auch deutlicher, welchen Wert Apologetik (also die Verteidigung des Glaubens mit rationalen Argumenten) hat. Sie kann immer dann hilfreich sein, wenn unsere Anfechtung auf der Ebene des Denkens stattfindet. „Apologetik, so verstand es Sven Findeisen später, ist »Seelsorge auf dem Feld des Denkens«.“ (S. 124)

Apologetik kann uns zudem helfen, mit Anfechtung richtig umzugehen. Einen Umzug in ein ganz neues „Glaubenshaus“, wie er im postevangelikalen Umfeld oft beworben wird, hält er für die falsche Strategie:

„Wenn uns unser Glaube zu eng vorkommt, stehen wir vor einer Entscheidung: Erweitern wir unseren Wohnbereich in dem Glaubenshaus der weltweiten Kirche Jesu Christi oder wohnen wir uns aus diesem Haus heraus? Für letzteres gibt es drei Kennzeichen … : Distanzierung, Subtraktion und Substitution. … Dann erwartet man in der Bibel keine Anrede von Gott mehr, sondern nur noch antike Literatur oder ein Programm für christliche Kultur. Dann löst man Glaubensfragen dadurch, dass man Glaubensaussagen abschafft oder als praktisch irrelevant behandelt. … unser Problem ist, dass solche Vorgänge bereits zahlreichen Spielarten der klassischen liberalen Theologie zu Grunde liegen und ihre Ergebnisse für christlich gehalten werden, es aber im Grunde genommen nicht mehr sind – an genau diesem Phänomen gehen gerade unsere Landeskirchen zugrunde.“ (S. 185)

Glaube verflacht, wenn wir anstößige biblische Aussagen beschneiden. Deshalb gilt auch umgekehrt: „Begeisternder und begeisterter Glaube braucht Menschen, die den Mut haben, sich auf den Gott der Bibel ganz und gar einzulassen.“ (S. 175)

Eine treffende Gesellschaftsanalyse

Hohage spricht mir mit seinen theologischen Überlegungen an vielen Stellen sehr aus dem Herzen – auch wenn ich durchaus kritische Rückfragen zu einigen Formulierungen habe [5]. Mindestens genauso beeindruckt mich seine Beschreibung der aktuellen Dynamiken in unserer Gesellschaft. Seine zentrale Beobachtung ist:

„Der Horizont … ist weggewischt. Wahrheitsansprüche sind nur noch Machtansprüche, nichts weiter. … Den Beweis ersetzte der »Narrativ« (die »große Erzählung«); diskursive Macht (Empörung und Shitstorms) ersetzte die Debatte.“ (S. 19)

Die Welle der Dekonstruktion, die über unsere Gesellschaft hereingebrochen ist, schien sich lange Zeit nur gegen Machtstrukturen zu richten, die man als überkommen und repressiv empfunden hat. Aber Hohage beobachtet: Jetzt trifft uns der Sog der Rückseite dieser Welle. Eine Gesellschaft ohne objektive Wahrheiten und ohne feste Bezugspunkte hat Populisten, Verführern und manipulatorischen Machtmenschen nichts entgegenzusetzen. Stattdessen „kommt es zur Bildung von tribes (engl. Stämmen) aus Gleichgesinnten, die die Sprechweisen anderer tribes versuchen zu canceln. Was dabei heraus kommt ist eine Welt, in der so etwas wie ein Gemeinwohl aller immer weniger vorstellbar wird.“ (S. 72)

Die zentrale Herausforderung der evangelischen Allianz

Wir alle spüren aktuell, wie zutreffend diese Diagnose ist. Umso dringender bräuchte es gerade jetzt eine Kirche Jesu, die dieser Gesellschaft mit einer klaren, orientierunggebenden Evangeliumsbotschaft begegnet. Davon ist aber nicht nur die evangelische Kirche weit entfernt. Auch die evangelische Allianz tut sich schwer damit. Hohage legt dar, warum das so ist:

In der ursprüngliche Glaubensbasis der Evangelischen Allianz werden die Heiligen Schriften der Bibel noch „als göttlich inspiriert angesehen und als unbedingte Autorität anerkannt. Sie gelten für sich alleine als ausreichend, um dem echten Jesus Christus zu begegnen und das ewige Heil zu erlangen“. … Dieser Konsens beendet nicht die konfessionelle Verschiedenheit und soll es auch gar nicht. Aber er gewährleistet kraft verbindlicher Partnerschaft durch die Bindung unter (!) die Heilige Schrift die Apostolizität der im Detail sehr unterschiedlichen Gemeinden und Denominationen der Ev. Allianz. … Leider hat diese Lösung nur so lange funktioniert, wie die Sprache auf ein gemeinsames Gemeintes verweisen konnte.“

Genau das hat sich durch die Einflüsse der Postmoderne leider geändert – mit gravierenden Folgen:

„Wenn man die Bibel als »Gotteswort im Menschenwort« statt als Gotteswort »in, mit und unter« dem Menschenwort versteht und das erstere aus letzterem mittels selbstgebastelter Kriterien herausschälen möchte, … dann kann die Heilige Schrift die Apostolizität und Glaubenseinheit der Partner-Denominationen auch nicht mehr gewährleisten. Genau dasselbe ist ja seit langem in den Landeskirchen der Fall. Damit ist auch in der Evangelischen Allianz die Frage wieder offen: Auf welchem Wege wird die Apostolizität unserer Gemeinden und Denominationen gewährleistet? Das ist das Sachproblem, vor dem die protestantische Konfessionsfamilie heute angesichts der Postmoderne steht und das derzeit in der Evangelischen Allianz für jede Menge Konflikte sorgt.“

Genau so ist es. Mit den Konflikten, die sich aus der Erosion der verbindenden Glaubensfundamente ergeben, habe ich mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Und ich engagiere mich leidenschaftlich für eine Lösung, die auch Hohage aufgreift:

„Es gibt einen Lösungsversuch, der … dem Bekenntnis die Funktion einer verbindlichen hermeneutischen Richtschnur zuweist. … Das Problem daran ist schon lange die Verbindlichkeit, die nicht mehr gesehen wird – zumindest nicht so, dass sie einen Einfluss auf die Theologie hätte. … Der Vorschlag, in der Evangelischen Allianz eine solche Verbindlichkeitskultur zu etablieren, stößt, wie Thorsten Dietz gezeigt hat, auf ein strukturelles Problem: »Als breite Bewegung kann sie theologische Fragen nicht verbindlich klären. Dafür hat sie weder die Strukturen noch die Durchsetzungsmöglichkeit.« Ich glaube allerdings, dass Dietz es sich hier zu einfach macht – immerhin hat diese Bewegung die theologischen Fragen, um die es hier geht, schon einmal geklärt, nur dass diese Klärung über der Postmoderne inzwischen implodiert ist und also ersetzt oder zumindest ergänzt werden muss. Man kann dem Versuch einer solchen Ergänzung, um die sich z.B. das »Netzwerk Bibel und Bekenntnis« bemüht, natürlich kritisch gegenüberstehen. Aber dann müssen eben andere Antworten auf das dahinterstehende Sachproblem gefunden werden.“ (S. 301)

Hohage lässt das so offen stehen, schildert aber selbst keine Alternative zu diesem Lösungsvorschlag. Vielleicht, weil er keine andere Alternative sieht? Jedenfalls betont er selbst, wie unverzichtbar Bekenntnisse für unser gemeinsames „christliches Haus“ sind:

„Allen christlichen Kirchen gemeinsam ist das »Nicänische Glaubensbekenntnis« … Mit dem Bild des Fachwerkhauses gesprochen bildet es die Eckbalken des Fachwerks. Es markiert, bis wohin das Haus des Glaubens geht, also den Raum, in dem man diesem Gott begegnen kann. Innerhalb dieser Eckbalken erhebt sich das weitverzweigte Bauwerk der Erkenntnis Gottes.“ (S. 187)

Genau deshalb engagieren wir uns im Netzwerk Bibel und Bekenntnis dafür, dass diese zentralen Bekenntnisse wieder stark gemacht und zum Leuchten gebracht werden. Wir glauben: Als Kirche Jesu müssen wir neu begründen lernen, warum wir fest zu diesen ewigen Glaubenswahrheiten stehen und warum sie für die Kirche Jesu so heilsam und unaufgebbar wichtig sind. Darin liegt auch ein notwendiger Bildungsauftrag. Denn völlig zurecht schreibt Hohage:

„Die Gemeinde vor Anfechtung abzuschirmen ist weniger nachhaltig, als sie fit zu machen, um in ihr zu bestehen. Die hierfür notwendigen Kompetenzen gilt es mit der Gemeinde einzuüben.“ (S. 307)

Ich freue mich umso mehr, dass Gerrit Hohage bei der Konferenz JESUS25 das Forum Apologetik mit leiten wird, von dem ich mir für diesen Bildungsauftrag wichtige Impulse erhoffe.

Mein Fazit: Ich kann nur hoffen, dass das Buch von Gerrit Hohage dazu beiträgt, dass gerade auch im Umfeld der evangelischen Allianz über diese Themen wieder vertieft gesprochen wird. Angesichts der vielen wertvollen Inhalte (auch dieser längere Artikel konnte nur eine kleine Auswahl wiedergeben) möchte ich allen meinen Lesern dringend empfehlen, dieses Buch zu lesen und weiterzuempfehlen.

Das Buch „Tief verwurzelt glauben“ ist 2024 bei SCM R. Brockhaus erschienen und kann hier bestellt werden.


[1] Hohage macht deutlich, dass ein Verstoß gegen diese Gleichsetzung schwerwiegende Konsequenzen hat: „Man erkennt unschwer, dass es um die obigen Axiome … und deren unbedingte Anerkennung als soziale Voraussetzung für die Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs geht. Wer daran rüttelt, der ist in der Theologie wissenschaftlich erledigt, dem wird der Diskurs verweigert, wie gut seine Argumente auch sein mögen.“ (S. 332, Endnote 144) Diese Realität kann ich nur bestätigen. Man sollte sie kennen, wenn man sich fragt, warum sich selbst konservativere Theologen im akademischen Umfeld so schwertun, in ihrer Theoriebildung mit Wundern und Offenbarungsereignissen zu rechnen.

[2] Allerdings halte ich bei diesem Thema die Argumentationsstrategie von Hohage für fragwürdig und unnötig kompliziert. Hohage meint: Wir müssen akzeptieren, dass der Begriff „historisch“ untrennbar mit wunderkritischen Axiomen verknüpft sei, denn es sei doch „sehr unwahrscheinlich, dass man sich im Wissenschaftsbetrieb auf eine Dehnung der Prinzipien ernsthaft einlassen würde.“ (S. 215) Das stimmt zwar. Aber das wird auch für viele andere „evangelikale“ Überzeugungen gelten, die Hohage in seinem Buch selbstbewusst vertritt. Warum also gerade hier diese Kapitulation? Ich würde uns raten, lieber selbstbewusst davon zu sprechen, dass die historisch gemeinten Texte der Bibel (genau wie die historisch gemeinten Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses) auch realhistorisch ernst genommen werden dürfen und müssen. Denn Hohage stellt ja selbst zurecht fest, dass für den „common sense“ die folgende Kombination gilt: „historisch = wirklich/real = wahr  unhistorisch = nicht wirklich/nicht real = nicht wahr.“ Ich meine: Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, das Wort „historisch“ in der Bedeutung zu nutzen, wie es von den meisten Menschen intuitiv verstanden wird.

[3] „In zahlreichen kirchlichen Verlautbarungen … wird inzwischen betont, dass Christus die Mitte der Heiligen Schrift ist. … Das Problem hat sich durch diese Einsicht aber nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn welcher Christus darf’s denn sein als Mitte der Schrift? … Dies bleibt unklar, und deswegen ist dieses inflationär beliebte Kriterium nicht brauchbarer als frühere Kriterien, die heute als zeitbedingte Konstruktionen gelten. Luther hat seinen Satz »Kanonisch ist, was Christum treibet« nicht dazu gedacht, um innerhalb einzelner biblischer Schriften kanonische von nicht-kanonischen Anteilen zu unterscheiden. Er setzt die Ganzheit der Heiligen Schrift voraus. Denn ohne sie kann der echte Jesus Christus in seiner Identität gar nicht als ihre Mitte gewonnen werden. An diesem Punkt sind Christologie und Hermeneutik (=Lehre vom Verstehen) untrennbar miteinander verkoppelt.“ (S. 241)

[4] Denn die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ „klärt nämlich gar nichts, weil sie an der entscheidenden Stelle uneindeutig bleibt. … was bedeutet »im«? Der Kern in der Schale? Zwei Worte, die man voneinander trennen kann – hier Menschenwort, da Gotteswort? Nach welchen Kriterien?“ (S. 243)

[5] So greift Hohage die Rede von einer „zweiten Naivität“ auf und schreibt auf S. 250: „Andere haben gegenüber der ersten Naivität sehr viel weniger Berührungsängste und lassen die Möglichkeit eines »wortwörtliches« Verständnisses offen. … Denn welchen Weg wir nehmen, damit Gottes Wort uns erreichen kann, ist m.E. weniger wichtig als dass es uns faktisch erreicht, dass wir es hören und es in uns den Glauben wirken kann. Der auf Gottes Reden hörende Gebrauch der Schrift ist unser »erster Ausgangspunkt«, nicht die richtige Theorie über die Schrift. Nicht was wir über die Schrift denken, ist wichtig, sondern ob wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören.“ (S. 250) An anderen Stellen im Buch macht Hohage selbst deutlich: Natürlich ist das, was wir über die Schrift denken, auf Dauer äußerst wichtig für die Frage, ob wir Gottes Stimme darin hören können. Wenn ich mein Gegenüber wirklich hören und verstehen will, dann muss ich ihn sagen lassen, was er sagen will. Konservativen geht es ja nicht um ein „wortwörtliches Verständnis“, sondern um das reformatorische Prinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, auch bei der Frage nach der richtigen Textgattung eines bestimmten Abschnitts. Der Bibel glauben und Gottes Stimme in ihr hören heißt auch: Wir versuchen, die Schrift selbst klären und entscheiden zu lassen, welche Passagen realhistorisch und welche metaphorisch gemeint sind. Ein solches Bibelverständnis hat nichts mit Naivität zu tun – weder mit einer ersten noch mit einer zweiten. Gestutzt habe ich übrigens auch beim überschwänglichen Lob für Heinzpeter Hempelmann (S. 11), der zu meinem großen Bedauern inzwischen postevangelikales Gedankengut verbreitet und nach meiner Wahrnehmung angesichts seines immer noch großen Einflusses zu einer wirklichen Belastung für die pietistische und evangelikale Welt geworden ist.

Geh und heirate eine Hure!

Bewegende Einblicke in das innerste Herz Gottes

Kann es sein, dass ein allmächtiger Gott weint? Die Bibel sagt: Ja! Über Jesus berichtet sie: „Als er … die Stadt [Jerusalem] vor sich liegen sah, weinte er über sie und sagte: „Wenn du wenigstens heute noch erkennen würdest, was dir den Frieden bringt! Doch du bist blind dafür.“ (Lukas 19,41-42) Und Matthäus überliefert dazu Jesu bewegende Worte: „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir geschickt werden. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie die Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt! Doch ihr habt nicht gewollt. Seht, euer Haus wird verwüstet und verlassen sein. Denn ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft: ‚Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!’“ (Matth. 23,37-38)

Ein weinender Gott, der zerbrochen ist, weil seine Liebe nicht erwidert und seine Hilfe verschmäht wird, weil seine Warnungen in den Wind geschlagen werden und weil ihn die furchtbaren Konsequenzen quälen. Ist dieses Bild eines hoch emotional liebenden und trauernden Gottes vielleicht nur eine Erfindung des Neuen Testaments? Nein. Auch im Alten Testament wird Gott schon genau so beschrieben. Zum Beispiel im Buch des Propheten Hosea. Da sagt Gott:

 „Wie man Trauben in der Wüste findet, so fand ich Israel. Wie die erste Frucht am jungen Feigenbaum, so sah ich eure Väter.“ (9,10) „Als Israel jung war, gewann ich es lieb … Doch sooft ich die Israeliten durch Propheten rief, gingen sie von ihnen weg. Sie opferten den Baalen und räucherten den Götzen. Ich, ich lehrte Efraïm laufen, ich nahm es auf meine Arme! Doch sie begriffen nicht, dass ich sie heilte. Mit menschlichen Fesseln zog ich sie herbei, mit Seilen der Liebe. Ich war wie ein Elternpaar für sie, das sich den Säugling an die Wange hebt. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen.“ (11,1-4)

Also auch hier: Ein fürsorglicher, zärtlicher, versorgender Gott, dessen werbende Liebe brutal enttäuscht wird: „Ich habe dich in der Wüste versorgt, im Land der glühenden Hitze. Als sie ihre Weide hatten, wurden sie satt. Als sie satt waren, überhoben sie sich. Darum vergaßen sie mich.“ (13,5-6)

Verstörende Befehle an den Propheten

Um dem Volk deutlich zu machen, wie sehr Gott unter der Untreue seines Volkes leidet, erhält der Prophet einen verstörenden Befehl: „Geh und heirate eine Hure. Mit ihr sollst du Hurenkinder zeugen. Das ist ein Sinnbild dafür, dass das Land zur Prostituierten geworden ist: Es hat den Bund mit mir gebrochen und ist vom HERRN abgefallen.“ (1,2) „Geh noch einmal hin und liebe eine Frau, die einen Liebhaber hat und im Ehebruch lebt. Denn genauso liebt Jahwe die Israeliten, obwohl sie sich anderen Göttern zuwenden.“ (3,1)

Die Zeichenhandlungen des Propheten sind keineswegs ein Ausdruck für die Wertschätzung von Prostitution als „Sexarbeit“. Vielmehr sollen sie verdeutlichen: Gott ist wie ein Mann, der seine Frau von Herzen liebt und doch mit anschauen muss, wie sie permanent mit anderen Männern schläft. Entsprechend sagt Gott zu Israel: „Du hast es mit vielen getrieben und dich so von deinem Gott entfernt.“ (9,1b) Es ist herzzerreißend.

Doch es kommt noch schlimmer: Gott muss mit anschauen, wie sich sein geliebtes Volk immer tiefer in üble Verbrechen verstrickt: „Wahrheit und Liebe und Gotteserkenntnis sind nicht mehr im Land. Nein, Fluch und Lüge, Mord und Diebstahl und Ehebruch machen sich breit. Verbrechen reiht sich an Verbrechen.“ (4,1b-2) „Tief verdorben ist ihr Tun.“ (9,9) Gerade diejenigen, die eigentlich dafür sorgen sollten, dass Israel mit Gott in Verbindung bleibt, sind selbst die größten Übeltäter: „Die Rotte der Priester liegt auf der Lauer wie eine Bande von Räubern. Auf dem Weg nach Sichem töten sie, ja, sie tun grässliche Dinge.“ (6,9)

Die tragischen Konsequenzen für Israel – und für uns heute

Und schließlich muss Gott mit ansehen, wie sehr sein geliebtes Volk selbst unter seinem Abfall leidet: „Sie essen zwar, werden aber nicht satt; sie treiben es mit vielen, vermehren sich aber nicht, denn sie haben es aufgegeben, Jahwe zu achten.“ (4,10) „Fremde verzehren ihre Kraft.“ (7,9) „Sie säen Wind, und sie ernten den Sturm.“ (8,7a)

Kennen wir das heute nicht ebenso? Wir haben Wohlstand. Aber wir sind nicht glücklich. Wir haben freien Sex. Aber immer weniger Kinder. Wir erleben, wie unsere gesellschaftliche Stärke dahinschmilzt wie Eis in der prallen Sonne. Wir ernten Zerfall, Kämpfe, Konflikte, Angst.

Gott stellt klar, was die Wurzel all dieser Probleme ist: „Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis.“ (4,6) Das liegt nicht etwa daran, dass Gott nicht gesprochen hätte, im Gegenteil: „Ich hatte sie belehrt und stark gemacht.“ (7,15) Gott hat sein Volk zudem immer und immer wieder durch die Propheten leidenschaftlich zur Umkehr gerufen:

„Kommt, wir kehren zu Jahwe zurück! Er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen! Er hat uns geschlagen, er verbindet uns auch! Nach zwei Tagen belebt er uns neu, und am dritten richtet er uns auf, dass wir in seiner Gegenwart leben! Lasst uns nach Erkenntnis streben, nach der Erkenntnis Jahwes! Er kommt so sicher wie das Morgenrot, er kommt zu uns wie der Regen, der Frühlingsregen, der die Erde tränkt.“ (6,1-3)

Zugleich hat Gott die Konsequenzen der Gottlosigkeit offen angekündigt: „Ich kündige den Stämmen Israels an, was mit Sicherheit geschehen wird.“ (5,9b) „Ich bestrafe sie, wie es ihnen angekündigt war.“ (7,12b) „Es ist dein Untergang, Israel, dass du gegen mich, deine Hilfe, bist. Wo ist nun der Schutz deines Königs, der dich rettet in all deinen Städten?“ (13,9+10a)

Gott lockt und warnt. Aber alle Beschwörungen halfen nichts. Resignierend sagt Gott: „Schriebe ich ihm meine Gebote zehntausendfach auf, sie würden denken, es gehe sie nichts an.“ (8,12)

Gottes innerer Kampf zwischen Zorn und Mitleid

Auch heute leben wir in einer Gesellschaft, die glaubt, dass uns die Gebote Gottes nichts angehen. Dabei wurden auch wir mit der Reformation und mit vielen herausragenden Botschaftern des Evangeliums reich gesegnet. Ich frage mich: Wie würde ich reagieren, wenn ich Gott wäre? Ich würde wohl sagen: Dann macht euren Sch… halt alleine! Selber schuld, wenn euer Land dann den Bach runtergeht…

Aber Gott ist anders. Als Richter ist er zwar der Gerechtigkeit für die Opfer von Israels Verbrechen verpflichtet. Ein simples „Schwamm drüber“ ist keine Option für ihn. Trotzdem quält sich Gott mit dem Gedanken, Israel bestrafen zu müssen: „Ich würde sie gern erlösen, aber sie reden ja nur Lügen über mich.“ (7,13b) „Ich kann dich doch nicht vernichten wie Adma, dich wie Zebjuim behandeln [das waren Städte, die zum Gebiet von Sodom und Gomorra gehörten]! Das Herz dreht sich mir im Leibe herum, mein ganzes Mitleid ist erregt. Ich will meinen lodernden Zorn nicht vollstrecken, will Efraïm nicht noch einmal vernichten.“ (11,8b)

Das heißt: Gott hat keine Freude an Strafe oder am Unglück von Sündern und Verbrechern, im Gegenteil. Aber er sieht auch die Opfer und ihren Schrei nach Gerechtigkeit. Das weckt zurecht seinen Zorn, der die Kehrseite seiner Liebe ist. Denn wer liebt, wird zornig, wenn geliebten Menschen übel mitgespielt wird. Alles andere wäre Gleichgültigkeit. Zorn und Mitleid ringen im Herzen Gottes miteinander. Beides ist Ausdruck seiner Liebe.

Schließlich straft Gott Israel doch – aber nicht ohne zugleich anzukündigen, dass sich das Schicksal seines geliebten Volkes eines Tages wenden wird:

Die Zukunft ist herrlich – und sie hat schon begonnen

„Sie werden eine lange Zeit ohne König und Obere bleiben, ohne Schlachtopfer und Kultstein, ohne Priesterorakel und Götzenbild.“ (3,4) In der Tat hat diese Zeit nun schon fast 2000 Jahre gedauert. Doch jetzt gibt es Bewegung. Israel hat wieder einen Staat mit eigener Obrigkeit. Und noch weitere Ankündigungen Gottes gehen gerade jetzt in Erfüllung:

„Ich will ihre Untreue heilen, sie aus freien Stücken lieben. Mein Zorn hat sich von ihnen abgewandt. Ich werde für Israel sein wie der Tau. Es soll blühen wie die Lilie, Wurzeln schlagen wie der Libanonwald. Seine Triebe sollen sich ausbreiten, dass seine Pracht wie der Ölbaum sei, sein Duft wie der vom Libanonwald. Die in seinem Schatten wohnen, kehren zurück. Sie bauen wieder Getreide an und blühen auf wie der Weinstock, dessen Ruf wie der Wein vom Libanon ist.“ (14,5-8)

Genau das geschieht vor unseren Augen: Die Juden kehren zurück in ihr Land. Das Gebiet, das bis vor 70 Jahren noch weitgehend eine Wüste war, ergrünt und erblüht. Israel exportiert Nahrungsmittel und Wein in alle Welt. Ein Wunder vor unseren Augen.

Das macht Mut, dass sich auch die folgende Vorhersage noch erfüllen wird: „Dann aber werden sie umkehren und sich Jahwe, ihrem Gott, zuwenden und ihrem König aus der Nachkommenschaft Davids. Am Ende der Zeit werden sie zitternd zu Jahwe kommen und seine Güte suchen.“ (3,4+5)

Israel kehrt um zum Sohn Davids. Das erinnert an die Vorhersagen des Propheten Sacharja (Sach. 12,10) und des Apostels Paulus (Römer 11,25-27). Wir leben in spannenden Zeiten! Wird es in Israel bald eine große Erweckung geben? Und wird dann Jesus, der Sohn Davids, wiederkommen, so dass Israel rufen wird: „Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ (Matth. 23,39)?

Fast wie in einem Groschenroman

Ich weiß nicht, wie das genau ablaufen wird. Aber so viel ist sicher: Gottes dramatische Liebesgeschichte mit seinem Volk hat ein Happy End:

„Dann aber will ich selbst sie verlocken. Ich führe sie in die Wüste und rede ihr zu Herzen. … Dort wird sie meine Liebe erwidern wie damals in ihrer Jugend, als sie aus Ägypten kam. An jenem Tag, spricht Jahwe, wirst du zu mir sagen: „Mein Mann!“ und nennst mich nicht weiter: „Mein Baal!“ (2, 16,17b+18)

Es ist fast wie in einem Groschenroman: Nach vielen Irrungen und Wirrungen kommt das Paar doch noch zusammen und entbrennt in Liebe füreinander. Die Weltgeschichte läuft letztlich auf eine Hochzeit zu (Offenb. 19,7-9).

Wie kaum ein anderes biblisches Buch gibt uns der Prophet Hosea tiefe Einblicke in das Herz und die Gefühlswelt Gottes. Mit dramatischen Worten, Bildern und Zeichenhandlungen bestätigt und illustriert er das, was der Apostel Johannes in drei Worten zusammenfasst: „Gott ist Liebe.“ (1. Joh. 4,16) Sein ganzes Fühlen, Denken und Handeln ist von Liebe geprägt.

Ist das nicht atemberaubend? Ich kann einfach nur staunen über den Gott, den uns die Bibel offenbart.

Lieber Andreas Malessa…

Gedanken zu einem Buch über gefährliche Konservative

Lieber Andreas Malessa,

vielen Dank, dass Sie ein Buch für mich geschrieben haben! Es richtet sich ja an „Konservative, die fürchten, dass man der Bibel untreu wird, wenn man den Liberalen glaubt“. (S. 10) Und ja, ich gestehe: Ich bin einer davon.

Vielleicht hat das ja mit meiner Biografie zu tun. Ich bin evangelisch. Ich erlebe hautnah, was Ihnen Reinhold Scharnowski im Livenet-Gespräch gesagt hat: „Die Bibelkritik hat einen ziemlichen theologischen und geistlichen Kahlschlag in der Kirche angerichtet.“[1] Wie wahr. Bei vielen evangelischen Gemeinden muss man eigentlich nur noch klären, wer als letztes das Licht ausmacht. Dabei wären die Voraussetzungen noch immer super. Vom Steueraufkommen und vom Gebäudebestand der Landeskirche können die meisten freien Gemeinden nur träumen. Trotzdem geht es ihnen im Schnitt weit besser. Und mir fällt auf: Die wachsenden und blühenden Gemeinden, die ich kenne, wollen allesamt mit bibelkritischer evangelischer Theologie nichts am Hut haben. Ich werde den Eindruck nicht los: Liberale Theologie tut Kirchen und Gemeinden nicht gut.

Wer genau sind eigentlich die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“?

Sie sehen das genau anders herum, richtig? Zumindest sagen Sie ja: Unter den Evangelikalen „richtet ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel mehr Schaden an als eine Bibelkritik, die eigentlich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch irgendwie zu Ende gegangen ist.“[2] Hab ich was verpasst? Hat an den evangelischen Fakultäten jemand gesagt: Wir lassen das jetzt mal lieber mit der Bibelkritik? Da würde ich gerne mehr erfahren. Aber wie auch immer, Sie sagen jedenfalls: „Religionspädagogisch gefährlich“ für die Kirche Jesu seien nicht die Bibelkritiker, sondern die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“.[3] Und deshalb zielen (Reinhold Scharnowski spricht gar von „schießen“) Sie in Ihrem Buch vor allem in diese Richtung.[4] Dass das Wort „Fundamentalist“ inzwischen ein „allgemeines Schimpfwort“ ist, schreiben Sie ja selbst (S. 129). Trotzdem verwenden Sie es andauernd. Sind da wirklich so viele üble Gesellen unterwegs, dass Sie ihnen weite Strecken ihres Buchs widmen müssen? Und wen genau meinen Sie eigentlich? Bin am Ende womöglich auch ich gemeint? Stehe ich auch in der Schusslinie? Das habe ich mich nach der Lektüre Ihres Buches gefragt.

Als ich dann Ihr Livenet-Interview zu Ihrem Buch gesehen habe, habe ich mich erst einmal wieder entspannt. Denn offenbar zielen Sie ja auf Leute, die in Bezug auf die Bibel sagen, „man dürfe nicht oder man solle nicht über ihren Entstehungsprozess und über die Intention und die Kultur und den Kontext der Autoren sprechen.“[5] Also da kann ich Sie beruhigen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ berichte ich, dass ich eine gründliche Bibelwissenschaft, die Kultur und Kontext erforscht, um die Aussageintention des biblischen Autors sauber herauszuarbeiten, sehr schätze. Und in den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist mir auch noch niemand begegnet, der das anders sieht. Darf ich fragen: Wo tummeln sich denn diese gefährlichen Leute eigentlich?

Können Konservative die Textgattungen nicht auseinanderhalten?

Außerdem sind Sie sichtlich genervt von Leuten, die glauben: Gott hat die Erde in 6 Tagen geschaffen und „die Fossilien hat Gott da selber hingelegt … Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen.“[6] Ich bewege mich ja seit Jahrzehnten gerne auch im Umfeld der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Die nennen Sie in Ihrem Buch ja explizit als kreationistische „Lobby-Organisation“.[7] Aber komisch: Auch dort ist mir noch nie jemand begegnet, der glaubt, dass Gott die Fossilien selbst verbuddelt hätte. Ich kenne auch niemand, der den Glauben an die 6-Tage-Schöpfung für genauso wichtig hält wie den Osterglauben. Aber Sie sind ja Journalist. Gibt es Quellen und Zitate aus Deutschland, die ich nachschauen könnte?

Was Sie darüber hinaus stört ist, wenn „poetische Texte … naturwissenschaftlich missverstanden werden.“[8] Deshalb geben Sie in Ihrem Buch ein wenig Nachhilfeunterricht. Sie schreiben: „»In unseren Herzen ging die Sonne auf!« seht auf dem Cover der Klappkarte mit dem Babyphoto. Und innen: »Tobias, 13. März 2023, 4.30 Uhr, 337 Gramm, 51 cm.« Der erste Satz ist eine Metapher, der zweite eine Sachinfo.“ (S. 72)

Das leuchtet ein. Nur frage ich mich: Wo sind denn die Leute, die solche Unterschiede nicht verstehen? Ich kenne niemand, der auf Basis von 1. Mose 1,14 („An der Wölbung des Himmels sollen Lichter entstehen.“) nach einem buchstäblichen Himmelszelt sucht, an dem Scheinwerfer montiert sind. Aber ich kenne durchaus Leute, denen auffällt, dass das mit dem Schöpfungsakt beginnende Geschlechtsregister in 1. Mose 5 in etwa so unpoetisch klingt wie ein Telefonbuch. Und schon ab 1. Mose 2 finden sich detaillierte geografische Beschreibungen, Ortsnamen, Zeit-, Maß- und Altersangaben – eben ganz wie im Innentext Ihrer Klappkarte. Meine Freunde bei Wort und Wissen sagen deshalb: Ganz offenkundig wollte der Autor der Genesis nicht nur Poesie sondern auch Sachinfos weitergeben. Genau so sieht das übrigens auch der ganze Rest der Bibel. Und fast die komplette Kirchengeschichte. Und ja: Gemäß Ihrem Vergleich oben müsste das doch eigentlich auch ganz in Ihrem Sinne sein, oder? Sollten wir nicht ehrlich mit der Bibel umgehen und darauf achten, dass sachlich gemeinte Texte nicht zur Poesie umgedeutet werden, nur damit wir uns um schwierige Auslegungsfragen drücken können?

Sie schreiben in Bezug auf Christen, die in der biblischen Beschreibung der Erschaffung der Arten auch historische Elemente sehen: „Schöner wär’s, wenn gläubige Christinnen und Christen beim Bibellesen nicht das Denken aufgäben…“ (S. 66) Diesen Wunsch teilen wir. Aber haben Sie meine Freunde von Wort und Wissen schon einmal persönlich kennengelernt? Ich kenne nur wenige Christen, die Fragen im Bereich Glaube und Naturwissenschaft so gründlich und selbstkritisch durchdenken wie sie. Interviewen Sie doch mal jemand von ihnen! Fragen Sie am besten gleich auch noch nach dem Unterschied zwischen Intelligent Design und Kreationismus, die sie bei Ihren Ausführungen zur Bakteriengeißel leider durcheinanderwerfen. Und diskutieren Sie mal mit ihnen über das von Ihnen aufgewärmte Bonhoeffer’sche Lückenbüßerargument. Oder lesen Sie in meinem Artikel nach, warum ich dieses Argument angesichts der modernen wissenschaftlichen Trends für überholt halte.[9] Vielleicht ist ja doch nicht alles so schwarz-weiß, wie Sie das darstellen?

Ist Verbalinspiration ein fundamentalistischer Diktatglaube?

Aber gut, jetzt ist es raus: Ich schätze die Studiengemeinschaft Wort und Wissen sehr. Bin ich jetzt doch auch einer von den „ultraevangelikalen Fundamentalisten“, die Sie so gefährlich finden? Zumal ich auch der Verbalinspiration sehr viel abgewinnen kann. Ich glaube tatsächlich, dass nicht nur die Autoren, sondern gerade auch die Texte der Bibel vom Heiligen Geist inspiriert sind. Dazu schreiben Sie:

„Gott sei Dank hat Gott nicht alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Er hat den Menschen sein Wort gegeben. Nicht seine Wörter. Die stammen von Menschen. Darum sollen wir Gott zwar beim Wort, aber die Bibel um Gottes Willen nicht wörtlich nehmen!“ (Zitat Heinz Zahrnt, S. 61) „Evangelien und Briefe des NT sind von Menschen aufgeschrieben und zusammengestellt worden, die von Gottes Geist inspiriert waren. Fundamentalisten haben daraus die These einer »Verbal-Inspiration« gemacht, eines göttlichen Diktats, bei dem den Verfassern von magischer Hand der Griffel geführt wurde: »Es ist ganz sicher, dass die Offenbarung sich bis ins einzelne Wort hinein erstreckt.« Die Frage wäre bloß: In welches einzelne Wort aus welcher Übersetzung? Ohne nähere Begründung wird postuliert: »Der Kanon ist gottgewollt.«“ (S. 124-125)

Das Buch, aus dem Sie die beiden letzten Zitate entnommen haben, wurde von Stephan Holthaus (dem Direktor der Freien Theologischen Hochschule Gießen) und Karl-Heinz Vanheiden (dem Verfasser der Neuen evangelistischen Übersetzung) herausgegeben. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute nicht unterscheiden können zwischen Urtext und Übersetzung? Und haben Sie sie mal gefragt, ob sie tatsächlich an eine Diktattheorie glauben?

Ich selbst bin der Überzeugung: Die Bibel ist zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort. Das heißt: Menschen haben geschrieben. Bei vollem Bewusstsein. Ihre Perspektive, ihr spezieller Schreibstil und ihre Erfahrungshintergründe sind im Text ja unverkennbar. Von einem „Diktat“ ist das weit entfernt. Von einer „magischen Hand“ erst recht (außer bei den 10 Geboten, siehe 2. Mose 31,18). Aber auch ohne Diktat glaube ich: Der Heilige Geist hat die Worte so tief geprägt („durchhaucht“), dass sie zugleich ganz und gar dem Wesen und der Wahrheit Gottes entsprechen. Deshalb verlasse ich mich darauf: Gott hat wirklich alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Jedes Wort des Urtexts ist verlässlich wahr. „Ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt.“ So haben es die bunt zusammengewürfelten christlichen Leiter aus aller Welt in der Lausanner Verpflichtung formuliert. Hat ihnen dieser „Bibelfundamentalismus“ geschadet? Thorsten Dietz schreibt zum evangelikalen Aufbruch des letzten Jahrhunderts:

„Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.“[10]

Also irgendwie scheint dieses oft geschmähte hohe Vertrauen in die Autorität und Verlässlichkeit der Bibel der Kirche doch eher gut zu tun. Oder was meinen Sie?

Leiden Konservative an Spalteritis?

Jetzt schreiben Sie aber: Vor allem die Konservativen seien schuld an Konflikten unter Christen, weil „sich fast immer die Konservativen von den Liberalen trennen und dann die Konservativeren von den Nichtgenug-Konservativen.“ (S. 127) Sind Sie sich da sicher? Kürzlich waren bei uns an der Uni Tübingen die „Hochschultage“. Christen aus mehreren Gruppen haben sich fröhlich zusammengetan, um ihren Mitstudenten von Jesus zu erzählen. Wunderbar! Nur: Den liberalen volkskirchlichen Hochschulgruppen hat das nicht gepasst. Ohne das Gespräch zu suchen, haben sie Queerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Ähnliches gewittert. Sie haben sogar eine Gegendemo organisiert. Weil auch sie diese „fundamentalistisch-christlichen Kreise“ offenbar gefährlich finden. Wie traurig.

Ja, Sie haben recht: Die Evangelikalen streiten und spalten sich manchmal. Aber Streit ist nicht immer schlecht. Paare, die streiten, ringen noch umeinander. Erst wenn der Streit aufhört, ist die Ehe tot. Meine Beobachtung ist: Wenn der Umgang mit der Bibel beliebig wird, dann geschieht etwas schlimmeres als Streit: Man entfremdet sich. Weil man nicht mehr weiß, was eigentlich das gemeinsame Anliegen ist. Weil es nichts mehr gibt, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. So erlebe ich das in meiner evangelischen Kirche. Deshalb ahne ich: Wenn der EKD eines Tages die Kirchensteuermittel ausgehen, wird sie sich nicht streiten, nicht spalten, sondern sich ganz einfach auflösen. Und die streitbaren Konservativen werden weiter das Evangelium verbreiten. Und dafür werden sie sich immer wieder auch zusammenfinden. So wie in der Lausanner Bewegung. Oder bei den Hochschultagen. Oder wie im nächsten Jahr bei der Konferenz JESUS25, die ich mit auf den Weg bringen durfte. Wetten, dass?

Geht es den Konservativen nur um Sex?

An anderer Stelle im Buch trauen Sie den Konservativen dann doch plötzlich wieder erstaunlich viel Weite und Großzügigkeit zu. Sie glauben, dass Konservative sagen: „»Wir können alles Mögliche tolerieren. Außer Segen für Schwule.« Kern- und Grundsatz-Fragen, die 1.000 Jahre lang die Orthodoxen und Katholiken, 500 Jahre lang die Reformierten und Lutheraner, 400 Jahre lang die Methodisten, Baptisten, Mennoniten, Quäker und Pfingstler beschäftigten und voneinander trennten (!) – die Trinität Gottes, der Kreuzestod Jesu, der Auferstehungslaube, die Rolle der Geistesgaben, die Amtsautorität der Priester, die Säuglings- oder Gläubigentaufe, die Zugehörigkeit zur Gemeinde, das Abendmahl, die Beichte, der Gottesdienst – sind schlagartig weder Bekenntnisfragen noch Unterscheidungsmerkmal! Alles wurscht, alles marginal! Die neue Gretchenfrage der Rechtgläubigkeit lautet: »Segnet und traut ihr gleichgeschlechtliche Paare? Dürfen LGBTQ’ler bei euch mitarbeiten?« Daran, und nur noch daran, entscheide sich Wachstum oder Schrumpfung von Gemeinden. Verweisen die Abgelehnten dann darauf, dass derselbe Paulus gesagt hat: »Ihr seid alle Kinder Gottes, weil ihr durch den Glauben mit Christus verbunden seid. Ihr habt in der Taufe Christus angezogen und durch sie gehört ihr nun zu ihm. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen, denn durch eure Verbindung zu Christus Jesus seid alle wie ein Mensch geworden« – dann ist ein Bibelvers-Battle eröffnet, die Praxis einer »Pick-and-choose-Mentalität und selektive(n) Bibeltreue«, die erfahrungsgemäß in abseitiges Sektierertum führt, den christlichen Glauben in Verruf bringt, vor allem aber: Schwule lesbische und Transmenschen verbittern lässt.“ (S. 59/60)

Auch hier würde ich Sie gerne fragen: Von welchen Leuten reden Sie genau? Ich kenne viele konservative Vertreter zu diesem Thema. Sie sagen allesamt: Es geht in den aktuellen Debatten zwischen Progressiven und Konservativen im Kern nicht um Sex. Sondern um das Bibelverständnis. Um die Kreuzestheologie. Um das Evangelium. Also um den innersten Kern unseres Glaubens. Auch dazu würde ich Ihnen gerne mein Buch „Zeit des Umbruchs“ ans Herz legen.

Und nein: Niemand von ihnen macht sich die Frage leicht, welche biblischen Aussagen kulturell zeitbedingt zu verstehen sind und welche zeit- und kulturübergreifend normativen Charakter haben. Viele Konservative würden liebend gerne bei den Sexualethikthemen dem Mainstream folgen und sich die Konflikte ersparen, die man sich mit einer konservativen Position einhandelt. Sie suchen sich dieses Thema nicht aus. Aber sie merken nun einmal: Die Aussagen zu „verbotenen sexuellen Beziehungen“ („porneia“)[11] haben in der Bibel eine völlig andere Klarheit, Durchgängigkeit und Eindeutigkeit und zudem ein viel größeres Gewicht als beispielsweise Fragen zum Kopftuch oder zur Gebetshaltung. Deshalb ist ihr Gewissen bei diesem Thema (wie ich finde zurecht) durch die Worte Gottes gefangen.

Bringen Sie damit den christlichen Glauben in Verruf? Führen Sie die Kirche in ein abseitiges Sektierertum? Ich will dazu den Theologen N.T. Wright zitieren: „Während der gesamten ersten christlichen Jahrhunderte, als jede Art von Sexualpraktik, die in der Menschheit jemals bekannt war, in der antiken griechischen und römischen Gesellschaft weit verbreitet war, bestanden Christen wie Juden darauf, dass die ausgelebte Sexualität auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu beschränken sei. Heute wie damals denkt der Rest der Welt, das sei verrückt.“[12]

Könnte es sein, dass auch Sie in diese Richtung denken? Jedenfalls hat mich diese Passage in Ihrem Buch geschmerzt. Es tut mir weh, wenn Sie so viele Geschwister der weltweiten und historischen Christenheit, die es sich mit diesem Thema überhaupt nicht leicht machen und die ihr Bestes geben, um allen Menschen jesus-mäßig zu begegnen, pauschal in eine menschenverachtende Sektenecke schieben. Lieber Andreas Malessa, ich glaube, das können Sie besser.

Ja, es gibt sie: Die reflektierten Evangelikalen

Vielleicht können Sie für Ihr nächstes Buch ja noch ein wenig mehr recherchieren über reflektierte Evangelikale, die den Urtext der Bibel für verbalinspiriert und deshalb in einem bestimmten Sinn auch für unfehlbar halten[13], die aber zugleich Textgattungen unterscheiden, den historischen und heilsgeschichtlichen Kontext beachten und zudem liebe- und respektvoll mit Menschen umgehen, die in sexualethischen und anderen Fragen anderer Meinung sind. Ich kenne wirklich viele solche Leute. Es sind wunderbare Zeitgenossen, die Sie unbedingt kennenlernen sollten! Vielleicht merken Sie: Diese Leute sind alles andere als perfekt. Manchmal sind sie auch ein wenig schräg. Aber gefährlich sind sie nicht.


[1] Relevanz der Bibel im 21 Jahrhundert | Gespräch mit Andreas Malessa, Interview Livenet Schweiz von Reinhold Scharnowski am 29.2.24, https://youtu.be/eE5rYmPjap0, 21:50

[2] ebd. 23:05

[3] ebd. 24:54: Wenn einer mir den Glauben abhängig macht vom Buchstabenglauben an diese Bibel, dann bleibt mir nur, alles zu kippen. Deswegen halte ich einen ultraevangelikalen Fundamentalismus religionspädagogisch für gefährlich.“

[4] ebd. 21:30: Reinhold Scharnowski:Ja die Leute [d.h. die Fundamentalisten] mag es geben, die sind meiner Erfahrung nach zumindest hier in der Schweiz (und ich kenne auch die deutsche Szene so ein bisschen) eine Randgruppe. Aber es gibt dann auf der anderen Seite die Bibelkritiker, die sehr massiv mit dem übernatürlichen Kontext der Bibel umgehen, bishin zur Leugnung der Auferstehung. Die letzteren kommen bei dir ein bisschen sanfter weg und die ersteren, die Überfrommen, gegen die ja schießt du ziemlich stark. Das fiel mir richtig auf.“ Andreas Malessa: „Okay, ja dein Eindruck ist wahrscheinlich richtig.“

[5] ebd. 20:47

[6] ebd. 23:35: Wenn jemand rumläuft und sagt: Die zwei Schöpfungserzählungen (Klammer auf: In der Reihenfolge dessen, was da geschaffen wird höchst widersprüchlich, Klammer zu), die muss man wörtlich so nehmen: Die Welt ist in 6 Tagen mit 24 Stunden entstanden, und zwar durch Gottes Handeln und irgendwie hat sich der Colorado River durch den Grand Canyon geschnitten in sechs Tagen und die Fossilien hat Gott da selber hingelegt und so weiter…  Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen, wenn also eine mechanische Achse gelegt wird von poetischen Texten, die naturwissenschaftlich missverstanden werden, zu einem Vertrauensverhältnis zum Auferstanden, dann richtet das meines Erachtens mehr Schaden an, als wenn irgendeiner herkommt und sagt: »Das kannst du streichen und das kannst du streichen«“

[7] S. 65: „Einen Etikettenschwindel schickten auch sie [d.h. die Autoren der „Fundamentals“-Hefte] hier hinterher: Die biblische Genesis-Erzählung sei der »Schöpfungs-Bericht«. So, als hätte Mose mit dem Notizblock danebengestanden. Damit erwarben sich christliche »Fundamentalisten« das Zusatz-Etikett »Kreationisten« und gerieten in Konflikt mit den Ergebnissen aus 400 Jahren Archäologie, Geologie, Astronomie, Biologie, Zoologie, Anthropologie und Geschichtswissenschaft. Trotzdem erhoben (und erheben bis heute) finanzstark spendenfinanzierte Lobby-Stiftungen und -Organisationen den Anspruch, ihr Glaube müsse im Schulunterricht als wissenschaftlich gleichberechtigte Theorie gelehrt werden.“ „…in Deutschland die Studiengemeinschaft Wort und Wissen.“ (Endnote 4, Kap. 6, S. 175)

[8] Siehe Fußnote 6

[9] Markus Till: „Außerwissenschaftliche Vorannahmen: Denkvoraussetzungen von Wissenschaftlern und Theologen“, 27.2.2020, AiGG-Blog, blog.aigg.de/?p=4930

[10] Thorsten Dietz: „Menschen mit Mission“, SCM R. Brockhaus, 2022, S. 92

[11] Die Basisbibel übersetzt das griechische Wort „porneia“ mit „verbotene sexuelle Beziehungen“. Es kommt 25-mal im Neuen Testament vor und steht letztlich für sämtliche sexuelle Praktiken außerhalb der Ehe eines Mannes und einer Frau.

[12] Auszug aus den Seiten 229 – 231: Tom Wright, Warum Christ sein Sinn macht © 2009 Johannis bei SCM Hänssler

[13] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ 13.7.2018, AiGG-Blog: blog.aigg.de/?p=4212

So kommen die Evangelikalen aus der Krise

Der Begriff „evangelikal“ ist in Verruf geraten. Das liegt auch daran, dass er kaum definiert ist. Man verbindet ihn primär mit äußerlich sichtbaren Merkmalen und Praktiken, wie zum Beispiel: Evangelikale rufen zur Bekehrung auf. Sie sammeln sich um Bibel und Gebet. Das stimmt zwar. Aber es bleibt schwammig. Im Blick auf die USA hat der Begriff „evangelikal“ zudem eine stark politische Färbung bekommen. Die Folge ist: Immer mehr Evangelikale meiden diese Bezeichnung, weil sie sich bei weitem nicht mit allem identifizieren wollen, was heute als „evangelikal“ wahrgenommen wird.

Der Evangelikalismus muss theologisch definiert werden

Michael Reeves hat vor diesem Hintergrund in seinem Buch „Menschen des Evangeliums“ eine wichtige Forderung formuliert: Wir dürfen den Evangelikalismus nicht nur pragmatisch oder soziologisch definieren, sondern er „muss theologisch und mithilfe des Evangeliums definiert werden.“ (S. 145) Dabei muss gelten: Der „Gegenstand des Evangelikalismus ist das Evangelium, das durch die Schrift offenbart ist.“ (S. 9) Oder noch zugespitzter formuliert: „Evangelikal zu sein heißt, dass die Schrift alles übertrumpft.“ (S. 28) Denn Evangelikale sind überzeugt, dass die Bibel „völlig wahrheitsgemäß und daher völlig vertrauenswürdig ist. Wenn sie fehlerhaft wäre, wie könnten wir dann zulassen, dass sie alles andere außer Kraft setzt?“ (S. 35) Zwar hat für Evangelikale auch das Weltwissen, die Tradition und die Theologiegeschichte einen hohen Stellenwert. Trotzdem gilt in erster Linie: „Um dem Evangelium treu zu sein, müssen wir alles lehren, was die Heilige Schrift lehrt, und zwar mit der Gewichtung und dem Ton, den die Heilige Schrift vorgibt.“ (S. 135)

Im Zentrum der biblischen Lehre steht dabei der stellvertretende Opfertod von Jesus Christus: „Evangelikale verstehen, dass die Schrift von vielen Facetten des Kreuzes spricht: Am Kreuz offenbart sich die Herrlichkeit und Liebe Gottes. Auch triumphiert Christus dort über die Kräfte des Bösen. Beim Kreuz geht es jedoch nicht in erster Linie darum, uns die Liebe Gottes vor Augen zu führen oder Satan zu besiegen. Seit 1. Mose 3 war die große Frage in der Bibel stets: Wie können Sünder, Nachkommen von Adam und Eva, mit Gott versöhnt werden? Das große Problem war der Zorn Gottes über die Sünde (vgl. Röm 1, 18). Angefangen beim Passafest bis hin zu den Opfern des Gesetzes war die Lösung immer ein Stellvertreter, der die Strafe für unsere Sünden an unserer Stelle trug. Christus ist für uns, an unserer Stelle, gestorben, damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan werde und »wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn« (Röm 5, 8–9).“ (S. 60)

Den Evangelikalen geht es aber nicht nur um Lehre. Reeves betont: „Evangelikale müssen ihre Theologie auch anwenden.“ (S. 85) Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Heilige Geist: „Evangelikale sind Menschen, die »aus dem Geist geboren« sind (Joh 3, 6.8). … Die Wiedergeburt ist ein göttliches Werk des Geistes, bei dem ein neues geistliches Leben entsteht, was eine radikale Veränderung des Herzens bewirkt.“ (S. 80) „Wir, die wir von der Verurteilung durch das Gesetz befreit sind, fangen tatsächlich an, in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu leben, weil der Geist in uns wirkt. Unser Leben verändert sich.“ (S. 84)

Evangelikalismus ist das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum

Der Evangelikalismus ist also trinitarisch: Es geht ihm um die Offenbarung des Vaters in der Heiligen Schrift. Um die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod des Sohnes Jesus Christus. Und um ein neues, verändertes Leben durch den Heiligen Geist. Diese trinitarische Sicht findet sich auch im Nicänischen und im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Reeves zitiert deshalb zurecht den großen evangelikalen Theologen John Stott mit der Behauptung, „dass der evangelikale Glaube nichts anderes ist als der historische christliche Glaube: das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum. … Was wir Evangelikalen sein wollen, ist schlichtweg: biblische Christen. … Unser Ziel – in aller Demut – ist es, der biblischen Offenbarung gegenüber loyal zu sein.“ (S. 149, 39/40)

Einheit durch Treue zum Evangelium und Weite in Randfragen

Reeves legt zudem dar: Nur auf dieser soliden biblischen Grundlage ist es möglich, dass Evangelikale zu einer Einheit finden. Denn es muss ja der „Wunsch eines jeden gesunden Evangelikalen“ sein, „dass das Volk des Evangeliums in seinem Engagement für das Evangelium vereint ist. Dass sowohl dem streitsüchtigen Gruppendenken, das andere Themen auf die Ebene des Evangeliums hebt, als auch dem Verrat, der die wesentlichen Wahrheiten des Glaubens aufgibt, ein Ende gesetzt wird. Dass Evangelikale gemeinsam zur absoluten Autorität und Vertrauenswürdigkeit der Offenbarung Gottes stehen, die den einen wahren Gott, die Vollständigkeit und Hinlänglichkeit der Erlösung durch Christus und die Notwendigkeit und Bedeutung der Wiedergeburt durch den Geist verkündet.“ (S. 131)

Einheit durch Weite in theologischen Randfragen und unbedingte Treue zum biblisch bezeugten Evangelium. Einheit, die wächst, weil Jesus Christus unser gemeinsames Haupt ist und sein Wort unsere verbindet. Was für eine wunderbare Vision eines Gottesvolks, das tatsächlich von Christus selbst vereint und geprägt wird! Eine solche Einheit ist nicht abhängig von charismatischen Leiterfiguren, gemeinsamen Traditionen oder Institutionen.

Sie ist deshalb wesentlich stabiler sein als eine institutionelle Einheit, an die sich die großen Kirchen zunehmend vergeblich klammern. Und sie ist sehr viel nachhaltiger als der weit verbreitete Versuch, unsere Einheit durch Pragmatismus und die Vermeidung von Theologie zu retten. Grundlegende theologische Differenzen dürfen wir nicht unter den frommen Teppich kehren. Einheit gelingt auf Dauer auch nicht durch den einseitigen Fokus auf gemeinsame Praktiken, auf Lobpreis, Evangelisation oder Gemeindebau. Eine solide, in der Bibel gegründete Theologie ist ein unverzichtbarer Bestandteil für die Einheit der Kirche Jesu.

Der Begriff ist wertvoll – der Inhalt ist entscheidend

Aber brauchen wir den Begriff „evangelikal“ überhaupt? Auch ich wäre so gerne einfach Christ. Aber die traurige Realität ist eben auch: Es sind so viele Menschen unterwegs, die sich selbst Christen nennen, obwohl sie sich vom biblischen Evangelium weit entfernt haben. Wenn wir über die große Gruppe der Christen sprechen wollen, die an der Wahrheit und Verlässlichkeit der biblischen Offenbarung festhalten wollen, dann brauchen wir dafür einen Begriff. Die Evangelikalen bilden aktuell die zweitgrößte Gruppe der Christenheit. Eine alternative Bezeichnung für diese weltumspannende Bewegung ist nirgends in Sicht. Reeves schreibt deshalb zurecht:

„»Man hat immer wieder versucht, den Begriff evangelikal durch einen brauchbareren zu ersetzen, aber solche Bemühungen waren wenig erfolgreich. Der Grund dafür ist ganz einfach: Das Wort erreicht wirklich das, was es beabsichtigt. Das Wort identifiziert diejenigen, deren primäre Identität darin besteht, ein Volk des Evangeliums zu sein.«[1] Namen sind wichtig. Die Zukunft der Evangelikalen hängt jedoch nicht davon ab, wie wir genannt werden. Der Evangelikalismus wird überall dort stark sein, wo Gläubige Schulter an Schulter für den Glauben kämpfen, der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist. Er wird dort gedeihen, wo die Menschen des Evangeliums Integrität gegenüber dem Evangelium wahren.“ (S. 139/140)

Wie wahr! Und ich kenne kein anderes Buch, in dem dieser ein für alle Mal überlieferte Glaube so treffend und prägnant zusammengefasst wird. Für mich ist „Menschen des Evangeliums“ deshalb schon jetzt DAS Buch des Jahres 2024. Es skizziert in wunderbarer Weise die entscheidenden Wahrheiten, auf deren Grundlage diese bunte und vielfältige evangelikale Bewegung in Einheit für einen geistlichen Aufbruch beten und arbeiten kann.

Das Buch „Menschen des Evangeliums“ von Michael Reeves hat 173 Seiten. Es ist 2024 bei Verbum Medien erschienen und kann hier bestellt werden: https://verbum-medien.de/products/menschen-des-evangeliums


[1] zitiert von Albert Mohler, »Confessional Evangelicalism«, in Four Views on the Spectrum of Evangelicalism, Andrew David Naselli und Collin Hansen (Hrsg.), Grand Rapids: Zondervan, 2011, S. 69.

14 Ratschläge für die Politik

Ich habe Hochachtung vor Menschen, die politische Verantwortung übernehmen und sich in den Sturm der Öffentlichkeit stellen. Deshalb will ich vorsichtig damit sein, Politikern Ratschläge zu erteilen. Aber gerne gebe ich die Ratschläge eines erfahrenen Politikers aus der Bibel weiter. König Salomo galt als ein ausgesprochen kluger und weiser Regierungschef. Hier kommen 16 seiner Sprüche[1] und daraus abgeleitet 14 Ratschläge, die mir auch heute noch sehr aktuell zu sein scheinen:

1. Politik sollte nicht nur reagieren, sondern erkennbar und nachvollziehbar lenken und gestalten:

„Wo es an Führung mangelt, zerfällt ein Volk.“ (11,14)

2. Politik soll für gute Rahmenbedingungen sorgen, aber nicht übermäßig viele Steuern erheben:

„Ein König, der für Recht sorgt, gibt seinem Land Bestand; wer nur Steuern erpresst, zerstört es.“ (29,4)

3. Es ist nicht klug, stur an der eigenen Agenda zu kleben. Man sollte offen sein für den Rat seiner Experten:

„Ein Dummkopf hält alles, was er tut, für recht, doch ein Weiser hört auf Rat.“ (12,15)

4. Vorsicht im Wahlkampf! Unerfüllbare Versprechen rächen sich:

„Wie Wolken und Wind, aber kein Regen, so ist jemand, der Versprechungen macht, sie aber nicht hält.“ (25,14)

5. „Negative Campaigning“ und Schimpfen auf Andere bringt vielleicht Klicks und Aufmerksamkeit, aber auf Dauer steht man als Verleumder da:

„Die Worte des Verleumders sind wie Leckerbissen; man verschlingt sie mit großem Appetit.“ (18,8)

6. Politik hat die Aufgabe, das Recht der Schwachen, der Ungeborenen und Kranken zu schützen:

„Sprich du für die Sprachlosen! Tritt du für die Schwachen und ihren Rechtsanspruch ein! Richte gerecht und verschaffe dem Recht, der sich selbst nicht helfen kann!“ (31,8+9)

7. Bescheidenheit ist und bleibt eine wichtige Tugend:

„Mag ein anderer dich loben, doch nicht dein eigener Mund; ein Fremder mag dich rühmen, doch nicht deine eigenen Lippen.“ (27,2)
„Hochmut kommt vor dem Fall und Stolz vor dem Sturz.“ (16,18)

8. Gewissenlose Leute erkennt man daran, dass sie gewissenlose Leute loben:

„Wer Gottes Weisung verlässt, wird den Gottlosen loben“ (28,4)

9. Wer alle Normen, Werte und alles Heilige verachtet, zerstört die Gesellschaft:

„Ohne Prophetenwort verwildert ein Volk, doch wohl ihm, wenn es das Gesetz bewahrt.“ (29,18)

10. Es ist besser, wo möglich Kritik auszuhalten, statt immer gleich dagegen vorzugehen:

„Ein Dummkopf zeigt seinen Ärger sofort, doch wer die Beleidigung einsteckt, ist klug.“ (12,16)

11. Es ist ratsam, überlegt und mit Bedacht zu sprechen statt schnell wie ein Maschinengewehr:

„Siehst du einen, der hastig und gedankenlos spricht? Für einen Dummkopf ist mehr Hoffnung als für ihn.“ (29,20)

12. Die Verachtung früherer Generationen ist ein NoGo:

„Was ist das für eine Generation, die den Vater verflucht und der Mutter kein gutes Wort mehr schenkt; die sich selbst für fehlerfrei hält, doch besudelt ist mit persönlicher Schuld; eine Generation, die hoch von sich denkt und verachtungsvoll blickt“ (30,11)

13. Politik sollte sich für den Erhalt des Gottesbezugs im Grundgesetzt („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,“) einsetzen und das „so wahr mir Gott helfe“ in im Amtseid nicht vergessen, denn:

„Der Anfang aller Weisheit ist Ehrfurcht vor Jahwe. Den Heiligen erkennen, das ist Verstand.“ (9,10)
„Wer sich von Gott gelöst hat, wird irregeführt.“ (12,26)

14. Auf Dauer lohnt es sich, aufrichtig zu sein, auch wenn es zwischendurch nicht populär sein sollte:

„Aufrichtige werden von Ehrlichkeit geführt, Treulose von ihrer Falschheit zersetzt.“ (11,3)


[1] Aus dem biblischen Buch der Sprüche in der Formulierung der Neuen evangelistischen Übersetzung (in Klammer jeweils Kapitel und Vers)

Erweckung Teil 3: Vorsicht Fake

Der dritte Teil dieser kleinen Serie über Erweckung fällt mir am schwersten. Aber es ist nun einmal eine Tatsache: Nicht alles, was vorgibt, eine Erweckung zu sein, ist auch tatsächlich eine. Das Problem dabei ist: Die Unterscheidung zwischen echt und falsch ist oft gar nicht so leicht. Fast jede Erweckungsbewegung ist von Teilen der Kirche abgelehnt oder sogar offen bekämpft worden. Das liegt auch daran, dass Erweckungsbewegungen zu Beginn oft wenig ausgewogen sind. Sie atmen oft eine gewisse Radikalität. Sie enthalten oft Irrtümer und Übertreibungen. Sie sind oft wenig sensibel und erzeugen deshalb fast immer auch Opfer.

Es ist daher immer leicht, neue geistliche Aufbrüche zu kritisieren. Die Gefahr dabei ist: So leicht kann man das Kind mit dem Bad ausschütten. So leicht kann man dazu beitragen, geistliche Aufbrüche zu ersticken und die Kirche zu spalten. Gerade in Deutschland haben wir immer wieder unter solchen Problemen gelitten.

Vorsicht vor vorschneller Kritik!

Ich verstehe deshalb, wenn einige Christen sagen: Ich werde neue christliche Bewegungen grundsätzlich nicht kritisieren. Man kann diese Zurückhaltung auch biblisch gut begründen. Jesus hat gesagt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Matth.7,16) Ein junger Baum trägt nicht gleich Früchte. Es braucht Zeit, bis man sich vom Charakter und von den Auswirkungen einer neuen Bewegung ein Bild machen kann. Frucht kann man nicht eben mal schnell aus der Distanz prüfen. Ein kurzer Artikel oder eine einzelne Meinungsäußerung reicht nicht, um sich ein wirkliches Bild zu machen.

Trotz aller Vorsicht gilt: Prüft alles!

Trotz aller gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung bleibt das Gebot bestehen: „Prüft aber alles“ (1.Thess.5,21). Paulus bezieht dieses Gebot auf prophetische Aussagen. Wir können es aber natürlich auch auf Bewegungen anwenden, die für sich selbst in Anspruch nehmen, prophetischen Charakter zu haben. Bei Bewegungen, die sich selbst als erwecklich betrachten, ist das häufig der Fall.

Das Neue Testament macht zudem klar, dass das Prüfungsgebot auch für Personen gilt. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Jesus die Gemeinde in Ephesus mit den folgenden Worten lobt: Du hast die, die sich als Apostel ausgeben, geprüft und sie als Lügner entlarvt. (Offb.2,2) Es ist also keine Heldentat, Leute einfach gewähren zu lassen, um ja niemand zu kritisieren. Im Gegenteil: Es gehört zur Verantwortung christlicher Leiter, „Influencer“ im christlichen Umfeld zu prüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen. Es geht dabei nicht ums Rechthaben oder um Macht. Es geht um den Schutz von Menschen und Gemeinden. Denn falsche Lehrer richten immer Schaden an. Sie verletzen Menschen. Sie zerstören Gemeinschaften. Sie spalten die Kirche.

Die Wort + Geist Katastrophe

Ein trauriges Beispiel hat in den 2000er-Jahren die charismatisch geprägte Christenheit im deutschsprachigen Raum in Aufruhr versetzt. Die sogenannte „Wort + Geist-Bewegung“ wurde im Jahr 1999 gegründet und erlangte rasch großen Einfluss. Viele Gemeinden luden den Gründer Helmut Bauer zu Heilungsgottesdiensten ein. Ich habe selbst einen solchen Heilungsgottesdienst erlebt. Es lag eine Euphorie in der Luft. Viele Christen haben gehofft, dass von dieser Bewegung ein kraftvoller Ermutigungs- und Erneuerungsimpuls ausgeht.

Nur wenig später haben Leiter wie Peter Wenz, Wolfram Kopfermann, Bernhard Olpen oder die evangelische Allianz Nürnberg intensiv vor Wort + Geist gewarnt. Sie wiesen auf eine Reihe von grundlegend falschen Lehren und Praktiken hin. Es gab in der Folge eine Reihe von Spaltungen. Die Zahl an verletzten Menschen und zerstörten Gemeinschaften ist wohl schwer abzuschätzen. Es ist tragisch. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn der Mann, der sich später selbst als „Völkerapostel“ bezeichnen ließ, schon früher als falscher Apostel entlarvt worden wäre?

Die fragwürdigen Praktiken von Benny Hinn

Auch mit dem US-amerikanischen „Fernsehprediger“ Benny Hinn hatte ich Berührungspunkte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir ein Bekannter begeistert Szenen aus seinen großen Heilungsgottesdiensten zeigte. Ich kaufte mir Hinns Buch „Guten Morgen, Heiliger Geist!“. Manches erschien mir eigenartig. Und doch empfand ich eine Faszination. Wer sehnt sich nicht nach einem Mehr an Wundern, Heilungen und Gottes Kraft?

Im Jahr 2024 veröffentlichte der US-amerikanische Pastor und YouTuber Mike Winger ein 4-stündiges Video über Benny Hinn. Winger ist genau wie ich ein charismatisch geprägter Christ. Er glaubt an die Realität von Wundern und Heilungen. In den 10 Kapiteln seines Videos dokumentiert er jedoch zahlreiche Fälle von Lügen, falscher Lehre, falschen Prophetien, Pseudoheilungen, höchst fragwürdige Spendenpraktiken und Fälle von angeblicher Buße, die aber zu keiner Verhaltensänderung führten. Unter seinem Video, das inzwischen schon rund 800.000 mal angeklickt wurde, schreibt Winger: „Benny Hinn is a very bad man.“ Ich kann nur empfehlen, sich die Zeit zu nehmen und das komplette Video von Winger anzuschauen (youtu.be/X2Ip_3A32W0), bevor man Winger für dieses scharfe Urteil kritisiert.

Falsche Prophetien und falsche Versprechen

Eine „Prophetie“ Benny Hinns aus den 90er Jahren zeigt beispielhaft, warum Winger derart kritisch ist (ab 1:24:18):

„Ich prophezeie: Wir stehen vor der größten Erntezeit seit Pfingsten. … Ich beobachte Israel. Ich beobachte Bill Clinton, unseren Präsidenten, der versucht, den Frieden zwischen den Syrern und den Israelis wiederherzustellen. Wenn die Syrer und die Israelis endlich diesen Friedensvertrag unterzeichnen … – und das müssen sie, weil Gott sagt, dass sie es tun werden – in der Sekunde … werden sie die gesamte arabische Welt in das Friedenslager holen, einschließlich dem Irak … . Drei Dinge werden geschehen. Ich prophezeie erstens die größte Evangelisationsbewegung in der Weltgeschichte! In dieser kurzen Zeitspanne werden mehr Menschen gerettet werden als in der gesamten Zeit seit Pfingsten. Und ich prophezeie durch die Salbung Gottes, die ich auf mir spüre: Jeder geliebte Mensch, für den Du gebetet hast, jeder Ehemann, jedes Kind, jeder Bruder und jede Schwester wird von Neuem geboren werden, wenn diese Bewegung eintritt. Ich sage euch, es wird geschehen. Daran gibt es keinen Zweifel. Die zweite Sache, die passieren wird, ist eine Bewegung mit Wundern, die es in der Weltgeschichte noch nie gegeben hat. Meine Damen und Herren, wir werden sehen, wie … kreative Wunder geschehen. Wir werden sehen, wie massenhaft Menschen geheilt werden. … Drittens: Die größte Wohlstandsbewegung der Weltgeschichte. Ich weiß, Sie haben Gott angefleht: … Oh Gott, ich kann diese Rechnungen nicht bezahlen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass der Herr Ihnen ein Wunder schenken wird, wie er es vor so langer Zeit in Ägypten getan hat. Der Reichtum der Sünder ist im Begriff, jedem Gläubigen gegeben zu werden. Aber mein Bruder: Erwarte diesen Reichtum nicht, wenn du nicht dafür gesät hast. Du musst erst säen, bevor du ernten kannst. Ich bin hier, um zu prophezeien. Ich predige heute Abend nicht. Ich prophezeie heute Abend. Aber schau, jetzt warten wir alle auf diese mächtige Bewegung, die unmittelbar bevorsteht, Wochen entfernt, nicht mehr als ein paar Monate entfernt. Aber wir müssen jetzt dafür säen. Ich möchte, dass du zum Telefon greifst. Mache eine Spendenzusage.“

Drei Anmerkungen dazu:

  • Hinn richtet seinen Spendenaufruf primär an verschuldete Menschen. Er verspricht: Gib mir jetzt dein letztes Geld, dann wird Gott dich finanziell segnen. Winger dokumentiert in seinem Video: Für diese Praxis hat Hinn später öffentlich Buße getan. Er hat eingeräumt, dass man damit Menschen vollends in den Ruin treiben kann. Aber Winger dokumentiert: Kurz darauf hat Hinn wieder genau das Gleiche getan.
  • Hinn erzeugt Emotionen mit unrealistischen Versprechungen: Eine gewaltige Erweckung mit spektakulären Wundern steht bevor! Alle Deine Angehörigen werden sich bekehren! Deine Rechnungen werden bezahlt! Die Ungläubigen werden den Gläubigen ihren Reichtum geben! Das kann Euphorie auslösen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ habe ich von Menschen berichtet, die unter einem „postcharismatischen Syndrom“ leiden. Der Grund: Euphorisierung durch Luftnummern schlägt am Ende eben oft ins Gegenteil um. Nach meiner Beobachtung stellt diese Dynamik eine wichtige Wurzel der heutigen postevangelikalen Bewegung dar.
  • Was wirklich unfassbar ist: Obwohl kein Satz dieser „Prophetie“ wahr wurde, hat Hinn im September 2023 die exakt gleiche Prophetie erneut verkündet (im Video zu sehen ab 1:09:30). Wieder behauptet er: Eine neue Ära („Season“) hat begonnen! Israelis und Araber versöhnen sich – spätestens im Jahr 2024! Das löst eine gewaltige weltweite Erweckung mit zahlreichen Wundern aus! Alle Deine Lieben, für die Du betest, werden sich bekehren! Die Welt wird ihren Reichtum den Gläubigen geben („wealth transfer“)! Du wirst finanzielle Wunder erleben – sofern Du mir jetzt Dein Geld spendest…

Es kam wieder ganz anders: Statt Versöhnung folgte nur wenige Tage später am 7. Oktober 2023 der grauenvollste Terroranschlag auf Juden seit dem Holocaust. Seither erleben wir eine beispiellose weltweite Welle des Antisemitismus. Während ich das schreibe, sehe ich mit Schrecken die antisemitischen Proteste an US-amerikanischen Eliteuniversitäten, bei der sich islamistische und woke linke Strömungen miteinander verbinden. Wie vor 100 Jahren in Deutschland wird wieder Juden der Zugang zu Universitäten versperrt. Trotzdem habe ich nichts davon gehört, dass Benny Hinn seine „Prophetie“ zurückgenommen hätte. Sie ist nach wie vor online auf seinem Kanal (hier und hier).

Mich macht das zornig. Wer eine grundfalsche „Prophetie“ Jahre später wiederholt, sie wieder mit genau den gleichen illusionären Versprechungen verknüpft, um erneut verschuldeten Menschen ihr letztes Geld aus der Tasche zu ziehen, dem sollten wir nicht vertrauen. Ich kann beim besten Willen keine Option erkennen, wie wir ein solches Verhalten rechtfertigen, entschuldigen oder auch nur verharmlosen könnten.

Falsche Lehre richtet Schaden an

In all dem tun mir vor allem all die Menschen und Familien leid, die auf diese Weise in noch tiefere finanzielle Probleme geraten sind, während Hinn in Privatjets und Luxushotels um die Welt reist. Mir tun die Menschen leid, die ihr Heil vergeblich in fragwürdigen Proklamationstechniken („name it and claim it“) und in einem unbiblischen Gesundheits- und Wohlstandsevangelium („health and wealth gospel“, „prosperity gospel“) suchten. Mir tun die Kranken leid, die zusätzlich zu ihrem Leiden auch noch von dem Gedanken geplagt werden, dass sie nicht genügend Glauben für ihre Heilung haben. Mir tun die Menschen leid, die trotz ihrer offenkundigen Krankheitssymptome bis zuletzt ihre angeblich bereits erfolgte Heilung proklamiert haben. Mir tun die Familien leid, die sich deshalb nicht von Ihren Angehörigen verabschieden konnten – und nebenbei durch diesen Unsinn vom christlichen Glauben abgeschreckt wurden.

Sehnsucht nach echter Erweckung

Winger berichtet: Benny Hinn besitzt bis heute großen Einfluss. Weltweit zieht er zahllose Menschen in seinen Bann. Bekannte christliche Leiter stellen sich öffentlich zu ihm. Bill Johnson, der Leiter der international einflussreichen Bethel-Gemeinde in Redding (Kalifornien), hat ihn sogar als persönlichen Freund bezeichnet. Und ich frage mich: Ist das mangelndes Unterscheidungsvermögen? Haben wir denn nichts aus vergangenen Katastrophen durch falsche Lehrer und Apostel gelernt?

Umso mehr sehne ich mich nach echter Erweckung. Ich halte Ausschau nach einem neuen geistlichen Aufbruch mit all den Kennzeichen, die wir auch in biblischen Erweckungen finden (siehe Teil 2 dieser Serie): Eine neue Liebe und Ehrfurcht vor Gottes Wort. Eine große Zahl von Menschen, die Buße tun und umkehren zu Gott. Eine wachsende, geeinte Kirche Jesu mit Ausstrahlung, die Licht und Salz ist für die Gesellschaft. Lasst uns nicht aufhören, für eine solche Erweckung gemeinsam zu beten und zu arbeiten.

Hier findest Du die ersten beiden Teile dieser Artikelserie: