Muss der Evangelikalismus dekonstruiert werden?

Das ging schnell. Das Buch „Deconstruct Faith – Discover Jesus“ („Dekonstruiere den Glauben – Entdecke Jesus“) des US-amerikanischen Theologen und Pastors Preston Ulmer ist erst am 6.6.2023 erschienen. Nur etwa 7 Monate später hat nun der Verlag SCM R. Brockhaus die deutsche Übersetzung vorgelegt unter dem Titel: „Anders als geglaubt – Mit Christus vor Augen Dekonstruktion verstehen“.

Nach der Lektüre muss ich sagen: Der englische Buchtitel ist passender. Denn tatsächlich ist dieses Buch ein Aufruf, Glaubensdekonstruktion aktiv voranzutreiben. In seinem Vorwort schreibt Ulmer: „Dieses Buch schreibe ich als Fürsprecher – stellvertretend für alle, die eine Dekonstruktion des Glaubens fordern, weil sie sehen, welchen Schaden bestimmte christliche Traditionen und Sichtweisen angerichtet haben.“ (S. 9) Und Ulmer lässt von Beginn an keinen Zweifel daran, an welchen Glauben, an welche christliche Tradition und an welche Sichtweise er dabei denkt:

Evangelikalismus im Fadenkreuz der Dekonstruktion

Ulmer will mit seinem Buch zeigen, „wie man am besten vorankommt, wenn Teile des Christentums (nämlich der Evangelikalismus) ganz klar dekonstruiert werden müssen.“ (S. 110/111) „Jesus im einundzwanzigsten Jahrhundert zu folgen bedeutet, ihm außerhalb bestimmter evangelikaler Normen zu folgen. Es bedeutet, diese Tempel des Götzendienstes abzubauen und andere zu ermutigen, dasselbe zu tun. In den Interviews und Recherchen, die ich für dieses Buch geführt habe, kamen viele verschiedene evangelikale Normen als Themen zur Sprache, die Christen heute dekonstruieren. Einige der großen Themen waren Politik, Purity Culture, eine „platte“, wenig differenzierte Lesart der Bibel, die Behandlung und Ausgrenzung der LGBTQ+-Gemeinschaft, die Lehre von der Hölle und Scheinheiligkeit.“ (S. 103) Zur Einordnung des Evangelikalismus zitiert Ulmer zudem die US-amerikanische Autorin Kristin Kobes Du Mez: „Auch wenn Evangelikale häufig behaupten, dass die Bibel die Quelle ihres sozialen und politischen Engagements ist, muss der Evangelikalismus eher als eine kulturelle und politische Bewegung gesehen werden und nicht als eine Gemeinschaft, die sich in erster Linie durch ihre Theologie definiert.“ (S. 153)

Ulmer scheut sich nicht, diese Dekonstruktion des Evangelikalismus in eine direkte Linie zu stellen mit den Auseinandersetzungen Jesu, der alttestamentlichen Propheten, der Apostel und der Reformatoren mit den religiösen Autoritäten ihrer Zeit.[1] Ulmer hält Dekonstruktion sogar für „heilig“ (S. 17) und für einen notwendigen Weg, um Jesus zu folgen und „seiner Autorität das letzte Wort zu überlassen“ (S. 181). Dekonstruktion ist für ihn „ein Spezialgebiet Jesu, und die Anhänger Jesu täten gut daran, es sich zurückzuerobern.“ (S. 18)

Sind Evangelikale für Ulmer also so etwas wie die Pharisäer der Moderne? Tatsächlich schreibt er: „Die Gebote Gottes außer Kraft zu setzen und stattdessen an menschlichen Überlieferungen festzuhalten, das ist die Hauptsünde, gegen die in der exvangelikalen Welt ermittelt wird.“ (S. 132)

Jesus, Geist und Liebe versus Buchstabe, Gesetz und Dogma

Man sollte meinen: Wer so pauschal gegen die zweitgrößte Gruppe der weltweiten Christenheit wettert und sich dabei auch noch auf Jesus, die Apostel, die Propheten und die Reformatoren beruft, dem wird eine solide Begründung dieser Sichtweise wichtig sein. Jedoch: Eine auch nur einigermaßen fundierte theologische Argumentation sucht man in „Anders als geglaubt“ vergeblich. Lediglich aus verstreuten Andeutungen kann man grob das folgende Bild von Ulmers Theologie skizzieren:

Immer wieder macht Ulmer deutlich, dass für ihn das „Leben Jesu“[2] und „die Liebe“[3] vorherrschende hermeneutische Schlüssel sind, an denen sich jede Bibelauslegung und jede ethische Entscheidung messen lassen muss: „Wichtiger als die Stabilität der christlichen Lehre scheint die Fähigkeit zu sein, wie ein echter Christ zu lieben. Und das ist die Grundlage jeder Lehre, die wir anderen vermitteln wollen!“ (S. 22) „Jede unserer Regeln, die nicht dem Wesen Jesu entspricht, das Liebe ist, gehört nicht ins Haus Gottes.“ (S. 158) Wir sollen uns deshalb ausschließlich „an Jesus und die ursprüngliche Kirche binden“. (S. 137) Tradition und Wahrheit hingegen sollen hinter die gute Botschaft von Jesus zurücktreten.[4] Um das zu erreichen, versuche „die Dekonstruktionsbewegung …, Jesus aus ungesunden und wenig hilfreichen Interpretationen der Bibel zu entschlüsseln.“ (S. 194) Jesu Heilungswunder am Sabbat (die in der Tora nirgends verboten werden) und die Bergpredigt sollen laut Ulmer zeigen, „wie der Buchstabe des Gesetzes im Licht des Geistes des Gesetzes umgeschrieben wird.“ (S. 148) Ulmer sieht einen Gegensatz zwischen dem „Dogma“ auf der einen Seite und „Liebe, Akzeptanz und Gnade“ auf der anderen Seite. Die geistliche Haltung sei wichtiger als die Loyalität zu einer Position.[5] „Das Gesetz zu erfüllen, bedeutet, den Geist des Gesetzes zu ehren, den Grund, aus dem es überhaupt erst geschaffen wurde.“ (S. 148)

Die Konsequenzen dieses Ansatzes zeigen sich am deutlichsten im Feld der Sexualethik. Ulmer sieht im gnädigen Umgang Jesu mit der Ehebrecherin und mit der Samariterin am Brunnen den Beweis, dass Jesus heutzutage evangelikale Sexualethik dekonstruieren würde. Dabei beruft sich Ulmer auch auf den bekannten postevangelikalen Theologen David Gushee, der sich jüngst auch in Deutschland für die Überwindung evangelikaler sexualethischer Sichtweisen stark gemacht hat.

Den evangelikalen Widerstand gegen Dekonstruktion führt Ulmer letztlich auf niedrige Motive zurück: „Dekonstruktion verärgert die Pastoren, und zwar, weil nicht Gott in Frage gestellt wird, sondern sie.“ (S. 49) Ulmer sehnt sich nach einer neuen Reformation, die „aus der Wiederentdeckung alter Wahrheiten“ erwächst. „Die alte Wahrheit, die so leicht verloren zu gehen scheint, sind die Person und das Werk Jesu als unsere deutlichste Offenbarung Gottes.“ (S. 138)

Die Frage ist: Kann man sich für solche Sichtweisen tatsächlich auf Jesus, die Propheten, die Apostel und die ursprüngliche Kirche berufen? Was genau ist denn die „alte Wahrheit“, die uns durch Jesus offenbart wurde?

Preston Ulmers Theologie im Faktencheck

Wenn man Jesus und die Liebe gegen die Buchstaben und Worte der Bibel in Stellung bringt, hat man immer ein grundsätzliches Problem: Wir wissen nun einmal absolut nichts über Jesus und sein Verständnis von Liebe außer das, was die Worte der Bibel uns berichten. Und was wir da lesen, ergibt doch ein deutlich differenzierteres Bild. Der biblische Jesus hatte immer beides im Blick: Die Liebe Gottes genauso wie seine Heiligkeit. Niemand spricht in der Bibel so häufig über die Hölle und das Gericht wie er. Der Versuch, „Jesus aus ungesunden und wenig hilfreichen Interpretationen der Bibel zu entschlüsseln“, bedeutet letztlich, dass unser eigenes Urteil darüber, was wir als gesund und hilfreich empfinden, zum Maßstab wird für unser Bild von Jesus und seiner Botschaft. Dann landen wir letztlich bei einer menschengemachten Religion.

Im ganzen Neuen Testament finden wir zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus oder die Apostel mit dem Alten Testament auf Kriegsfuß gestanden hätten. „Habt ihr nicht gelesen?“ war für Jesus regelmäßig die Grundlage seiner Argumentation. Gerade in der Bergpredigt hat sich Jesus ausdrücklich hinter jeden Punkt und Strich des Gesetzes gestellt (Matth. 5, 17-19). Er sah keinen Widerspruch zwischen Liebe und Gebot (Joh. 14, 15). Er hat die Ehebrecherin zwar vor der Steinigung bewahrt, den Ehebruch aber trotzdem als Sünde bezeichnet (Joh. 8, 11). Jesus hat „Unzucht“ („porneia“, also sämtliche sexuelle Praktiken außerhalb einer Ehe von Mann und Frau) genau wie die Apostel (Apg. 15, 20) ganz klar abgelehnt (z.B. Matth. 15, 19). Gerade im Feld der Sexualethik hat Jesus die alttestamentliche Gesetzgebung nicht nur bestätigt, sondern sogar verschärft. Für den Theologen Gerhard Maier steht fest, dass der historische Jesus ganz eindeutig ein durch und durch schrifttreuer Jude war: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz. … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt.“[6] Jesus hatte in Bezug auf die Heilige Schrift also keine Buchstabenphobie. Wer so wie Ulmer einen künstlichen Gegensatz konstruiert zwischen Gesetz und Geist bzw. Buchstabe und Liebe, der kann sich damit nicht auf Jesus berufen.

Völlig absurd wird es schließlich, wenn Ulmer sich für seine Position auf die „ursprüngliche Kirche“ beruft. Denn diese war im Feld der Sexualethik eher noch strenger und konservativer als die heutige evangelikale Welt (siehe dazu z.B. die Vorträge von Prof. Roland Werner über Polykarp von Smyrna).

Insgesamt muss man sich wundern, warum Ulmer mit seiner Forderung nach Dekonstruktion speziell auf den Evangelikalismus zielt. Die Evangelikalen sind ja bei weitem nicht die Ersten und Einzigen, die die gesamte Heilige Schrift als autoritativen Maßstab des christlichen Glaubens ansehen und praktizierte Sexualität exklusiv dem geschützten Rahmen der Ehe zuordnen. Mit seiner LGBTQ+-konformen „Hermeneutik der Liebe und des Lebens Jesu“ dekonstruiert Ulmer nicht nur die Evangelikalen, sondern faktisch weite Teile der historischen und der weltweiten Kirche.

Quo vadis SCM R. Brockhaus?

Ja, es gibt sie: Gut durchdachte postevangelikale Bücher, die mich zum gründlicheren Reflektieren meiner eigenen Positionen animieren, manche Entwicklungen im Evangelikalismus zurecht kritisch beleuchten und somit auch eine gute Grundlage für einen sinnvollen Dialog darstellen können. Das Buch „Anders als geglaubt“ gehört nicht dazu. Es begründet seinen undifferenzierten Pauschalangriff auf den Evangelikalismus derart oberflächlich, dass ich mich frage: Was hat SCM R. Brockhaus nur motiviert, ausgerechnet dieses Buch im Eiltempo zu übersetzen?

Der R. Brockhaus-Verlag hat eine lange Geschichte. Die meiste Zeit seines Bestehens wurde er der konservativen Brüderbewegung zugerechnet. Wir verdanken diesem Verlag nicht nur die Elberfelder Bibel sondern viele herausragende evangelikale theologische Werke. Auf Wikipedia kann man lesen: SCM R. Brockhaus hat das „Ziel, Publikationen aus dem Spektrum evangelikaler Theologie zu veröffentlichen.” Das hat sich offenbar verändert. Es ist schmerzhaft, dass ausgerechnet in diesem traditionsreichen evangelikalen Verlag jetzt ein Buch erschienen ist, das den Evangelikalismus überwinden will.

Das Buch „Anders als geglaubt“ ist im Januar 2024 im SCM R. Brockhaus-Verlag erschienen. Es ist hier erhältlich:
www.scm-shop.de/anders-als-geglaubt-mit-christus-vor-augen-dekonstruktion-verstehen.html


[1] „Fällt dir auf, wie ähnlich die Propheten den Protestanten um 1500 sind? Und wie ähnlich die Protestierer von heute den Propheten von damals sind? Wie die Propheten rufen auch moderne Protestierer gegen die christliche Kultur die Leitenden in der evangelikalen Landschaft auf, zu Gerechtigkeit und Großzügigkeit zurückzukehren.“ (S. 35) „Für viele Christen ist Dekonstruktion keine Phase und kein Modewort, sondern eine Gewohnheit. … Du bist ein Dekonstruierender. Dein Verstand wägt alles ab. Und in letzter Zeit hat dich alles, was das evangelikale Christentum betrifft, runtergezogen. Die gute Nachricht ist: Du bist in guter Gesellschaft! Und die noch bessere Nachricht? Du bist in der Gesellschaft von Jesus.“ (S. 21)

[2] „Vor einigen Jahren, als ich selbst in einem Prozess der Dekonstruktion steckte, habe ich verzweifelt nach einem Glaubenssystem gesucht, das in den Stürmen des Lebens nicht in Mitleidenschaft gezogen werden würde. … Das Leben von Jesus – das ist jetzt der Eckpfeiler meiner Ansichten über Gott, die Bibel, die Hölle, Politik, Sexualität und jedes anderen Tabuthema (und bei keinem davon sind die Evangelikalen die Marktführer).“ (S. 12)

[3] „Wichtiger als die Stabilität der christlichen Lehre scheint die Fähigkeit zu sein, wie ein echter Christ zu lieben. Und das ist die Grundlage jeder Lehre, die wir anderen vermitteln wollen!“ (S. 22)

[4] „Meiner Meinung nach sollten wir aufhören, Nebensachen zu Hauptsachen zu erklären, und beides, Tradition und Wahrheit hinter die gute Botschaft von Jeus zurücktreten zu lassen.“ (S. 140)

[5] S. 147: „Wenn Menschen sich von Dogma und Gesetzlichkeit entfernen und sich zu Liebe, Akzeptanz und Gnade hinwenden, werden sie von vielen Vertretern des Evangelikalismus als Bedrohung angesehen. Aber diese Menschen setzen voll und ganz auf den Geist des Gesetzes, nicht auf das Gesetz selbst. Das führt mich zu der Frage: Ist es besser, den Buchstaben des Gesetzes zu befolgen, oder sich zu bemühen, nach dem Geist des Gesetzes zu leben? … Das Wesen Gottes, wie es sich in Jesus offenbart hat, sollte der Maßstab für alle Gesetze, Traditionen und christlichen Glaubensinhalte sein.“(S. 147) „In der Bergpredigt werden wir Zeugen davon, wie der Buchstabe des Gesetzes im Licht des Geistes des Gesetzes umgeschrieben wird. … Aus dieser Botschaft geht hervor, dass die geistliche Haltung eines Glaubenden wichtiger ist als seine unbedingte Loyalität gegenüber einer bestimmten Position.“ (S. 148)

[6] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik, Witten, 1998, S. 149

Wie umgehen mit postevangelikaler Theologie im evangelikalen Umfeld?

Dieser Artikel ist der Abschluss einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.
Der vollständige Artikel mit allen 3 Teilen kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Im zweiten Artikel habe ich begründet, warum diese Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aktuell so erfolgreich ist. In beiden Artikeln habe ich die These aufgestellt: Postevangelikale und progressive Theologie hat sich im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld in vielen Verlagen, Medien, Gemeinden, Gemeinschaften, Verbünden, Missionswerken und Ausbildungsstätten bereits etabliert. Nicht selten ist sie schon jetzt vorherrschend und dominant.

Heimatverlust für Evangelikale

Für viele Evangelikale ist diese Entwicklung schon jetzt mit einem Gefühl von Heimatverlust verbunden. Das geht auch mir so. Im Nachbarort meiner Heimatgemeinde ist der Hänssler-Verlag angesiedelt. Dem inzwischen verstorbenen Verlagsgründer Friedrich Hänssler durfte ich noch persönlich begegnen. Was für ein Glaubensvorbild! Jahrzehntelang galt für mich: Bei Büchern aus diesem Verlag muss ich nicht prüfen, ob sie theologisch auf einer soliden Basis stehen. Ich kann nach Herzenslust stöbern. Heute gehört Hänssler zur SCM-Verlagsgruppe. Bei SCM musste ich mich daran gewöhnen, dass neben evangelikalen Produkten auch Bücher mit progressiver und postevangelikaler Theologie und Sexualethik verbreitet werden. Eine neue Dimension war für mich jedoch die Nachricht, dass die SCM-Stiftung eine auf mehrere Jahre angelegte „Sexualitätsstudie“ in Auftrag gegeben hat, die in “Veröffentlichungen, Vorträge, Veranstaltungen und Workshops” münden soll[1]. Durchgeführt werden soll diese Studie ausgerechnet vom Institut empirica der CVJM Hochschule Kassel, deren Leiter Tobias Faix und Tobias Künkler zu den bekanntesten Verfechtern für die Durchsetzung progressiver Sexualethik im freikirchlich-evangelikalen Umfeld zählen.

Seit Jahren habe ich die immer wiederkehrende Aufforderung evangelikaler Leiter im Ohr: Wir sollten uns um der Einheit willen doch auf Gemeindebau und Mission konzentrieren, statt über das Thema Homosexualität zu streiten![2] Aber jetzt muss ich zur Kenntnis nehmen: SCM schiebt selbst dieses weltweit spaltende Thema ins Rampenlicht und macht sich durch die Auswahl der Akteure zum aktiven Motor für die Durchsetzung der progressiven Sexualethikagenda im allianzevangelikalen Umfeld. Das hat mich wirklich erschüttert.

Wachsende Konflikte

Im Jahr 2021 schrieb Ulrich Eggers in der Zeitschrift AUFATMEN:

 „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“[3]

Eggers bestätigt also: Die Wahrnehmung wachsender Spannungen und Konflikte ist keine Einzelbeobachtung. Es gibt einen echten Trend, der vielen Leitern auffällt. Und dieser Trend ist bedrückend! Gemäß Jesu Gebet in Johannes 17 ist Einheit nicht nur ein Herzensanliegen Gottes, sie ist auch eine entscheidende Grundlage für die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und somit für unsere missionarische Dynamik!

Die Gretchenfrage der evangelikalen Bewegung

Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen kann m.E. die Dringlichkeit der folgenden Frage kaum überschätzt werden: Wie soll die evangelikale Welt umgehen mit der Ausbreitung von postevangelikaler und progressiver Theologie in evangelikalen Gemeinden, Gemeinschaften, Werken und Bünden?

Zu dieser Frage nehme ich im allianzevangelikalen Umfeld aktuell drei verschiedene Positionen wahr:

Position 1: Offene Evangelikale waren schon immer „progressiv“. Sie haben immer schon den Glauben weiterentwickelt, um das Evangelium den Menschen ihrer jeweiligen Zeit bezeugen zu können. Wichtig sei deshalb, die notwendige theologische „Modernisierung“ rasch voranzutreiben, damit auf dieser progressiven Basis Einheit gelebt werden kann und die evangelikale Welt endlich aus der Sackgasse von weltfremdem und menschenfeindlichem Fundamentalismus herausfindet.

Position 2: Postevangelikalismus ist eine Spielart evangelikalen Glaubens. Die Differenzen betreffen nicht den Kern des Christentums. Wichtig sei deshalb, Christus als personifiziertes (nicht dogmatisches!) Zentrum zu betonen („Wir glauben an Christus und nicht an die Bibel“ bzw. „Wir glauben einander den Glauben“), damit trotz theologischer Differenzen Einheit zwischen Evangelikalen, Postevangelikalen und Progressiven gelebt werden kann.

Position 3: Postevangelikalismus weicht in zentralen Glaubensfragen fundamental von evangelikalen Überzeugungen ab. Wichtig sei deshalb, an den unaufgebbaren Glaubensgrundlagen des evangelikalen bzw. historisch-orthodoxen Christentums festzuhalten und sie auch gegen Widerspruch zu verteidigen, damit auf dieser Basis Einheit gelebt, evangelisiert und Gemeinde gebaut werden kann.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Auffällig ist: Alle drei Positionen wollen Einheit! Aber sie haben vollkommen unterschiedliche, ja gegensätzliche Konzepte, um diese Einheit zu erreichen! Position 1 und 3 streben eine gewisse Homogenität bei zentralen theologischen Weichenstellungen an – entweder in Richtung progressiver oder in Richtung evangelikaler Theologie. Position 2 hingegen möchte ganz bewusst untheologisch bleiben, weil man meint: Zu viel Theologie erzeugt nur Streit. Man setzt deshalb stärker darauf, dass die gemeinsam erlebte Christusfrömmigkeit verbindend wirken soll.

Für jede dieser drei Positionen gibt es aktuell gewichtige Befürworter im evangelikalen Umfeld. Die Frage, welche Position sich durchsetzen wird, ist nach meiner Wahrnehmung im Moment völlig offen. Dabei kann man die Bedeutung dieser Weichenstellung kaum überschätzen. Sämtliche Vertreter dieser drei Positionen sind ja überzeugt, dass die jeweils anderen Positionen zum Verlust der Einheit führen werden. Niemand glaubt, dass es egal wäre, welchen Weg die evangelikale Bewegung einschlägt.

Deshalb ist die Frage so ungeheuer dringend: Evangelikale Bewegung, wohin? Dabei muss klar sein: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung! Denn der zweite Artikel dieser Serie hat ja deutlich gemacht: Es gibt gute Gründe dafür, warum progressive Theologie sich in den vergangenen Jahren auch im allianzevangelikalen Umfeld so rasch ausgebreitet hat. Diese Theologie hat eine enorme Anziehungskraft! Sie wird nach menschlichem Ermessen nicht einfach wieder von selbst verschwinden, sondern sich vermutlich – so wie in meiner evangelischen Kirche – weiter ausbreiten und Machtpositionen besetzen, sofern evangelikale Leiter und Theologen dieser Entwicklung einfach nur passiv zusehen.

Deshalb möchte diese Artikelserie beenden mit

3 Thesen für eine gesunde Weiterentwicklung der evangelikalen Bewegung

1. Wir brauchen eine Belebung der ersten Liebe zu Christus!

Für echte Einheit nach biblischem Vorbild genügt eine dogmatische Übereinstimmung nicht. Das Zentrum unseres Glaubens ist tatsächlich nicht ein Dogma, sondern der lebendige Christus! Jesus hat gesagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wo die Liebe zu Christus schwindet, da schwindet bald auch alles Andere (Offb. 2, 4+5). Dann wird auch gesunde Lehre zur kalten Rechthaberei. Deshalb brauchen wir mehr als alles andere die im Alltag gelebte Liebesbeziehung zu unserem Herrn Jesus Christus. Und da sind wir alle persönlich gefragt: Wieviel Raum hat Bibel und Gebet in unserem Alltag? Haben wir noch diese Leidenschaft, dieses Feuer, diese brennende Liebe für Jesus? Wie sieht das in unseren Gemeinden und Gemeinschaften aus? Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam um eine Erweckung beten- für uns persönlich, für unsere Gemeinden, für die Kirche Jesu und für unser Land.

2. Wir brauchen Gemeinden und Gemeinschaften mit gesunden Beziehungen und einer lebendigen, von Liebe und Annahme geprägten Frömmigkeit!

Wir müssen uns nicht wundern, dass Christen unser evangelikales Umfeld verlassen, wenn wir sie mit ihren Fragen und Nöten alleine lassen, wenn unser Glaube gesetzlich ist, wenn wir christliche Ethik mit Druck durchsetzen, ohne dass etwas von der Kraft und der Gnade Gottes in unserer Mitte spürbar ist. Unsere Gemeinschaft muss geprägt sein von echter Liebe Gottes und von der Kraft des Heiligen Geistes.

3. Wir brauchen eine verbindende Bekenntnisgrundlage in den zentralen Fragen des christlichen Glaubens!

Zu allen Zeiten haben Christen gespürt: Einheit in Vielfalt ist nicht möglich ohne gemeinsames Bekenntnis. Der lebendige Christus kann und darf niemals ausgespielt werden gegen sein lebendiges und kraftvolles Wort, das uns verlässlich in der Bibel begegnet und das uns eine verbindliche, verbindende Lehr- und Bekenntnisgrundlage gibt.

Um diese Grundlage zu stärken, müssen wir…

wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens! Es reicht nicht, dass unsere Glaubensgrundlagen irgendwo auf unserer Homepage stehen. Wir müssen sie verstehen. Wir müssen darüber sprechen. Wir müssen leidenschaftlich und öffentlich davon schwärmen.

… neu lernen, zu begründen, warum diese Glaubensbasis für uns unaufgebbar wichtig ist. In der Theologie nennt man das „Apologetik“, also die Begründung und Verteidigung des christlichen Glaubens mit rationalen Argumenten. Leider haben wir im evangelikalen Umfeld zu lange diese Denkarbeit vernachlässigt. So wichtig Gefühle in einem ganzheitlichen Christsein sind, so sehr braucht die Christenheit auch kluge, rationale Denker, die uns helfen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und nachvollziehbare Antworten zu geben auf die herausfordenden Fragen unserer Zeit.

wieder lernen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft nicht schick. Aber die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen falsche Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Schon Paulus hat sich nicht gescheut, selbst Petrus namentlich öffentlich zu kritisieren, wenn es ums Evangelium ging (Gal. 2, 11-14). Glauben wir wirklich, dass wir diesen orientierunggebenden Dienst der Unterscheidung ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten?

Mein Plädoyer ist deshalb: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und zu verteidigen! Liebevoll. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Und vor allem: Wir tun es aus Gehorsam gegenüber unserem Herrn, der uns geboten hat: „Lehrt sie, alles zu halten, was ich euch befohlen habe.“ (Matthäus 28, 19) Kirche Jesu kann nur gebaut werden auf dem Grund der Propheten und der Apostel, mit Jesus Christus als dem Grundstein (Epheser 2, 20). Das feste Vertrauen auf das grund-legende, unfehlbare Wort, das wir in der Bibel finden, war für die Apostel, für die Kirchenväter, für die Reformatoren und für Evangelikale immer von entscheidender Bedeutung. Auch heute noch gilt: Nur auf dieser ein für allemal überlieferten Grundlage hat die Kirche Jesu Zukunft.

Fußnoten:

[1] Zitat aus der SCM-Presseinformation, die inzwischen nicht mehr online ist.

[2] So schreibt z.B. Ulrich Eggers: Das Thema Homosexualität „ist derzeit wohl der Kern der Entfremdung und die wichtigste Nahrung für die laufende Polarisierung unter uns. Gibt es Lösungs-Wege? Finden die Jesus-Bewegten aller Art ein neues „Agree to disagree“ – unter der starken Ziel-Gebung des gemeinsamen Auftrags zu Mission und Gebet? … Wenn Streit und Homogenität in den Mittelpunkt rücken, sehe ich keine Chance auf Einheit – erst recht nicht unter den andrängenden gesellschaftlichen Fragen rund um die Gender- und LGBTI-Problematik. Wenn unser missionarischer Auftrag im Mittelpunkt steht, Gebet, Begegnung und die gemeinsame Orientierung an Jesus – dann könnte es gelingen.“ In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 57

[3] In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 52

Warum ist postevangelikale und progressive Theologie so erfolgreich?

Dieser Artikel gehört zu einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Am Ende habe ich die These aufgestellt: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr! Vor allem in den Leitungsebenen ist sie längst auf breiter Front angekommen. Das gilt für viele größere als evangelikal geltenden Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für einige Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn z.B. der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) Prof. Volker Gäckle berichtet:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“

Anders ausgedrückt: Während die Abgrenzung gegenüber „liberaler Theologie“ früher ein gemeinsames Merkmal der evangelikalen Bewegung war, ist die Frage nach dem Umgang mit liberaler Theologie heute ein innerer Spaltpilz im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld. Das führt zu der Frage: Wie konnte es soweit kommen? Warum ist postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld offenkundig derart anschlussfähig? Warum gewinnt diese Theologie so viele evangelikal geprägte Köpfe und Herzen, obwohl sie doch bislang nirgends bewiesen hat, dass man mit ihr fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen kann[1]?

Die Biografie vieler Postevangelikaler ist auch eine Verletzungsgeschichte

Eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei dieser Entwicklung spielen zweifellos persönliche Verletzungen. Wenn man sich mit der Biografie von Postevangelikalen beschäftigt, begegnet man immer wieder auch traurigen Geschichten. Viele beklagen nachvollziehbar, dass sie ihr evangelikales Umfeld als überaus eng erlebt haben:

Oft hat es zum Beispiel am Raum zum Denken gefehlt. Tatsächlich müssen wir Evangelikale uns fragen: Sind wir nicht vielfach in oberflächliche, gefühlige theologische Banalitäten abgerutscht? Wo finden wir in unserem Umfeld durchdachte Begründungen für den christlichen Glauben und kluge Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit („Apologetik“)? Wo werden bei uns heiße Eisen offen angesprochen? Wo reden wir in unseren Gemeinschaften und Gemeinden über Homosexualität, über Sex vor der Ehe, über scheinbare Widersprüche in der Bibel, über Gewalttexte im Alten Testament, über die Hölle, über den Exklusivanspruch Jesu, über Schöpfung und Evolution, über das stellvertretende Sühneopfer und viele weitere Fragen, die jedem gläubigen Menschen fast zwangsläufig kommen müssen, wenn er klassische christliche Überzeugungen mit den dominanten Denkweisen unserer Kultur vergleicht?

Enge entsteht aber auch, wenn der Glaube gesetzlich wird, wenn die Liebe Gottes zum theoretischen Konzept wird und wenn ethische Ansprüche ohne die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes vermittelt werden. Dann wird unser Glaube zur Leistungsreligion, die uns irgendwann dazu bringt, erschöpft auszubrechen. Wo der Heilige Geist schwindet, kann das Christentum immer nur entweder liberal oder gesetzlich werden. Beides hat gleichermaßen katastrophale Folgen.

Enge entsteht schließlich auch immer dann, wenn Menschen mit einer schwachen Identität Ämter und Positionen missbrauchen, um Menschen an sich statt an Christus zu binden. Geistlicher (Macht-)Missbrauch kommt leider auch unter Christen vor, und zwar sowohl im liberal/progressiven wie im konservativ-evangelikalen Umfeld. Die Frage ist: Haben wir für dieses Übel eine Antenne? Haben wir reife Leiter, die solche Machtmenschen in die Schranken weisen und die Gemeindeglieder vor Missbrauch und Manipulation schützen?

Tatsache ist: Nicht wenige Christen werden postevangelikal, weil sie im evangelikalen Umfeld keine vernünftigen Antworten auf ihre drängenden Fragen bekommen und deshalb denken, sie müssten sich für universitäre Theologie öffnen, um intellektuell redlich glauben zu können. Andere werden postevangelikal, weil sie ihren Glauben als belastend und bedrückend empfinden oder weil sie von Evangelikalen enttäuscht und verletzt worden sind. Es ist wichtig, dass wir Evangelikale uns solchen Problemen ehrlich und schonungslos stellen.

Vier Gründe für die Anziehungskraft postevangelikaler / progressiver Theologie

Zugleich müssen wir aber auch wissen: Es liegt nicht nur an Schwächen oder Fehlern von Evangelikalen, dass sich so viele Christen für postevangelikales und progressives Gedankengut öffnen. Wir müssen realistisch sehen: Postevangelikale und Progressive Theologie hat aus mehreren Gründen eine enorme Anziehungskraft:

1. Postevangelikale/Progressive Theologie umgibt sich mit einer Aura von Aufgeklärtheit, Wissenschaftlichkeit und intellektueller Überlegenheit

Das immer wieder zu hörende Narrativ lautet in etwa: Akademische Theologie basiere auf objektiver Wissenschaft statt auf naivem Glauben. Sie sei aufgeklärt und auf der Höhe der Zeit, während sich die Evangelikalen in voraufklärerischen, prämodernen Denkmustern einbunkern. Sie ordne die biblischen Aussagen in den historischen Kontext ein, statt die Bibel einfach so „wörtlich“ zu nehmen. Sie sei intellektuell redlich, befreie sich selbst von Brillen und Vorurteilen und sei deshalb auch zum wissenschaftlichen Diskurs fähig. Spätestens hier geht es dann auch um Geld und Posten, die man eben nur dann im kirchlichen und universitären Umfeld bekommt, wenn man ein „fundamentalistisches“ Bibelverständnis hinter sich lässt.

2. Postevangelikale/Progressive Frömmigkeit präsentiert sich als ein Glaube mit Reife, Weite, Menschenfreundlichkeit und Toleranz

Postevangelikale und Progressive werden in den Gesprächen oft als die „Offenen“ bezeichnet. Gerne stellt man sich so dar, dass man eher in der Lage sei, eigene Standpunkte zu hinterfragen, mit Meinungsverschiedenheiten zu leben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, gelassen mit unterschiedlichen Positionen umgehen zu können und darüber den Respekt und die Liebe zu Geschwistern nicht zu verlieren. Beliebte Aussagen sind zum Beispiel: Wir wollen einander den Glauben glauben. Wir wollen einander nicht richten oder verurteilen. Es sei doch ein Zeichen von Unreife und Angst, wenn man so fest an eigenen Dogmen klebt. Und die Menschenfreundlichkeit dieses Ansatzes zeige sich auch darin, dass er sich sehr viel mehr um die praktischen Nöte der Mitmenschen kümmere. Es gehe anders als bei Evangelikalen eben nicht nur darum, anderen die eigenen dogmatischen Überzeugungen überzustülpen. Es gehe auch nicht nur ums ewige Heil und die Vertröstung aufs Jenseits. Nein, hier gehe es darum, Menschen praktisch zu helfen durch Engagement für Gerechtigkeit, Umweltschutz und gesellschaftliche Transformation.

3. Postevangelikale/Progressive Theologie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und Werten unserer Kultur

Wer heute noch konservative sexualethische Positionen vertritt, steht nicht nur in der Gefahr, mit sozialer und gesellschaftlicher Ächtung konfrontiert zu werden. Darüber hinaus geht es hier zunehmend auch um ganz praktische Konsequenzen: Kirchliche oder staatliche Fördermittel. Zugang zu Posten und Gremien. Beteiligung an öffentlichen Diskursen. Schutz vor gesellschaftlicher und beruflicher Ausgrenzung. Ein Pfarrer, der heutzutage predigt, dass praktizierte Homosexualität Sünde ist, wird von landeskirchlichen Führungsgremien in keiner Weise geschützt oder verteidigt, wenn ein öffentlicher Sturm der Entrüstung losbricht.

Aber nicht nur der gesellschaftliche Druck sondern auch das eigene Gewissen kann in Bezug auf biblische Sexualethik zum Problem werden. Die Bibel beschränkt praktizierte Sexualität auf den Bereich der Ehe. Sie fordert uns auf zu lebenslanger Treue und Monogamie. Progressive Theologen weisen zurecht darauf hin, dass eine simple Buchstaben-Gebotsethik der Komplexität des Lebens manchmal nicht gerecht wird. Der individuelle seelsorgerliche Umgang mit biblischen Werten kann komplex sein, wenn zum Beispiel ein Partner psychisch oder gar physisch gewalttätig wird. Aber seien wir ehrlich: Jeder von uns steht in der Versuchung, biblische Gebote auch schlicht deshalb ignorieren zu wollen, weil uns etwas überaus attraktiv erscheint. Das gilt erst recht angesichts einer uns umgebenden Kultur, die die Übertretung einiger biblischer Gebote für völlig normal hält. Es ist deshalb kein Wunder, dass eine Theologie, die uns aus bestimmten Konflikten und Geboten entlässt, attraktiv erscheinen kann.

4. Postevangelikale/Progressive Theologie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung

Genau das postuliert ja zum Beispiel der Titel des aktuellen Buchs von Michael Diener: Mit der Anpassung bzw. „Modernisierung“ unserer Theologie finden wir endlich heraus aus der Sackgasse, heraus aus dem Abseits, in die sich eine konservativ / fundamentalistische Christenheit selbst hineinmanövriert habe. Solche Versprechen sind im Umfeld der liberalen Theologie nicht neu. Seit jeher haben liberale Theologen versprochen: Wir wollen die christliche Kirche retten! Wir wollen ihr helfen, damit sie nicht gesellschaftlich ausgeschlossen und geächtet wird. Wir wollen dazu beitragen, dass sie weiter am akademischen Diskurs teilnehmen kann, in intellektuellen Eliten Ansehen findet und damit auch gesellschaftlich anschlussfähig bleibt.

Strohmänner und falsche Versprechen

Natürlich wird bei diesen Narrativen immer wieder auch mit Strohmännern gearbeitet. Es werden verzerrte Karikaturen von evangelikaler Theologie aufgebaut. Dazu werden durchaus fragwürdige Versprechen gemacht:

Es ist ja keineswegs belegt, dass im Umfeld liberaler Theologie mehr Diakonie und praktische Hilfeleistung gedeihen konnte als unter Evangelikalen, die heute in aller Welt Krankenstationen, Waisenhäuser und Brunnen bauen und sich zudem sehr viel vernehmbarer für verfolgte Christen in aller Welt einsetzen. Dass evangelikale Theologie keineswegs unwissenschaftlich sein muss, sondern einfach nur auf anderen, rational gut begründbaren außerwissenschaftlichen Voraussetzungen („Paradigmen“) beruht, habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt.[2]

Vollkommen haltlos sind zudem die Versprechen, die Kirche könne aufblühen, wenn sie ihre theologischen Überzeugungen an gesellschaftliche Denkweisen anpasst. So ist zum Beispiel die Bultmann’sche Theologie vollständig gescheitert in ihrem Anspruch, die Kirche durch die Anpassung an den damals sehr dominanten Rationalismus gesellschaftsrelevanter zu machen. Es handelte sich vielmehr immer nur um eine „Pfarrertheologie“, die für Pfarrer gerade auch deshalb so interessant war, weil viele von ihnen während des Studiums durch die massive Bibelkritik an den theologischen Fakultäten zutiefst verunsichert waren. Diese Theologie hat also ein Problem „gelöst“, das sie selbst mit erschaffen hat. Aber die breite Bevölkerung und auch die kirchliche Basis konnte mit dieser Theologie nie etwas anfangen. Im Gegenteil: Die landeskirchliche Theologie leidet heute mehr denn je an einer massiven Entfremdung von der gemeindlichen Praxis. Die Kirche hat ihr Profil und ihre Kernbotschaft weitgehend verloren.

Bei genauerem Hinsehen sind postevangelikal/progressive Theologen auch keineswegs so offen und tolerant, wie sie zunächst glauben machen wollen. Prof. Christoph Raedel hat berichtet, dass im Umfeld der theologischen Fakultäten geradezu eine „Ekelschranke“ in Bezug auf evangelikale Theologie („Fundamentalismus“) existiert. Auch viele Worthausvorträge dokumentieren diese polemisch herablassende Sichtweise auf Evangelikale.

Noch sehr viel stärker ausgeprägt ist die Intoleranz im Bereich der Sexualethik. Die evangelikale bzw. historisch/orthodoxe Position zur Sexualethik wird im postevangelikal/progressiven Umfeld häufig mit Diskriminierung, Lieblosigkeit, Ausgrenzung und Schädigung „queerer“ Menschen gleichgesetzt, was letztlich zwangsläufig zu Spaltungen führen muss, wie der FeG-Pastor Johannes Traichel in seinem aktuellen Buch “Evangelikale und Homosexualität” zutreffend dargelegt hat.[3]

Die genannten Narrative, Strohmänner und Versprechen halten also einer genaueren Prüfung nicht stand. Trotzdem sollten wir keinesfalls glauben, dass sie von allen durchschaut werden. Ich kann nur staunen über die immer wieder geäußerte Idee, man solle doch gerade auch jungen Christen vertrauen, dass sie sich selbst im Dschungel der verschiedenen theologischen Ideen orientieren könnten. Das Gegenteil ist nach meiner Beobachtung der Fall: Christen brauchen heute mehr denn je kluge, differenzierte und leidenschaftlich vorgetragene biblische Lehre, um sich im theologischen Stimmengewirr orientieren zu können.

Evangelikale Bewegung, wohin? Wie gehen wir um mit dieser Situation?

Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum progressive Theologie sich auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld rasch ausbereitet. Es ist nicht zu erwarten, dass sie einfach so von selbst wieder verschwindet, im Gegenteil: In meiner evangelischen Kirche erlebe ich, dass diese Theologie sämtliche Macht- und Ausbildungszentren komplett erobert hat. Und sie achtet streng darauf, dass evangelikales Gedankengut keinen relevanten Einfluss mehr bekommt. Der Versuch, diesen theologischen Trend einfach “totzuschweigen” wird also ebensowenig funktionieren wie der Versuch, den Konflikt durch Bagatellisierung der Differenzen kleinzureden oder sich irgendwie neutral zu verhalten.

Das führt zu der drängenden Frage: Wie sollten evangelikale Leiter umgehen mit dieser neuen Situation, die das Zitat von Volker Gäckle zu Beginn dieses Artikels beschreibt? Wie gehen wir damit um, dass postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld immer dominanter wird und evangelikale Positionen immer offener und lautstärker diskreditiert?

Zu dieser höchst brisanten Frage beobachte ich aktuell drei sehr verschiedene, geradezu gegensätzliche Ansätze. Jeder dieser Ansätze wird von gewichtigen Vertretern im allianzevangelikalen Umfeld vertreten. Aber welcher dieser Ansätze deutet in die richtige Richtung? Damit wird sich der dritte und letzte Teil dieser Artikelserie befassen.

Fußnoten

[1] In seinem überaus empfehlenswerten Buch „Untergehen oder Umkehren“ beschreibt Pfarrer Alexander Garth auf Basis seiner weltweiten Einblicke und Erfahrungen genau das Gegenteil: „Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 62) „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174)

[2] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Das wunderkritische Paradigma“ (blog.aigg.de/?p=5240) sowie den Vortrag: „Brauchen wir wissenschaftliche Theologie?“ in der offen.bar-Mediathek (https://youtu.be/zjV4WQ-B9iA)

[3] Der FeG-Pastor Johannes Traichel beschreibt in seinem aktuellen Buch „Evangelikale und Homosexualität“, wie postevangelikal/progressive Sexualethik sich im konservativen Umfeld stufenweise etabliert, letztlich aber zu Spaltung führt: „Das Thema Homosexualität polarisiert und spaltet bekanntlich. Dies muss allen Beteiligten mehr als deutlich sein. Gleichzeitig bauen viele Beteiligte eine emotionale Spannung auf, die einen sachgerechten Dialog kaum möglich macht. Hier werden unsachgemäße Vorwürfe geäußert, homosexuell empfindende Menschen seien in evangelikalen Gemeinden nicht willkommen. … Oder Vorwürfe, dass die traditionelle christliche Ethik grundsätzlich eine Diskriminierung darstelle, für Suizide verantwortlich ist und der Art Jesu widerspricht. Ob dies ein guter Stil ist, das dürfte eine andere Frage sein, die nicht allzu schwer zu beantworten sein sollte. … Während es, vermutlich ohne besondere Verwerfungen, möglich sein dürfte, sich in bestehenden liberal geprägten Gemeindestrukturen, wie den evangelischen Landeskirchen, zu organisieren und LGBTQ-Gemeinden (die auch bereits vorhanden sind) zu gründen, erscheint es mir nun, dass hier der Weg des maximalen Konfliktes gewählt wird. So ist zu beobachten, dass auch in Denominationen, die traditionell eine konservative Ethik vertreten, eine gut vernetzte und teilweise auch recht offensiv auftretende Minderheit versucht, diesen Konsens zu kippen. Die Methodik ist hier zwar teilweise leicht zu durchschauen und simpel in der Art, aber dennoch erfolgreich. Hier wird meiner Beobachtung nach zuerst mit einem großen Selbstbewusstsein Toleranz und Akzeptanz für die liberale Position eingefordert, in dem Wissen, dass diese nicht mit dem Konsens der Denomination in Einklang zu bringen ist. Sie werben um Verständnis und beginnen die Gewissensfreiheit ins Feld zu führen. Die zweite Stufe ist dann, dass sie die neue Position auch offiziell zu Gehör bringen wollen. Wenn ein offizielles Papier der Denomination verabschiedet wird, das ganz selbstverständlich die bisherige Sicht darlegt, legen sie zuerst leichten und dann immer deutlicheren Protest ein und erheben die Forderung, dass auch die neue liberale/progressive Position zumindest positiv als Alternative und anschlussfähige Sichtweise genannt wird. Eine Phase, die immer danach mehr zu beobachten ist, ist die scharfe Verurteilung der traditionellen Position, indem sie diese mit emotional aufgeladenen Vorurteilen verleumden. So wird regelmäßig in sozialen Medien oder in Veranstaltungsforen die traditionelle Form als unerträglich, als diskriminierend, als schädlich und als menschenverachtend beschrieben. Eine Sichtweise, die heute nicht mehr vertretbar sei, wenn man gesellschaftsrelevante Gemeinde bauen, missional aktiv sein möchte und den Menschen keine Hindernisse zum Glauben aufbauen will. Auf diese Art und Weise wird ein Weg eingeschlagen, der meines Erachtens die Spaltung von Gemeinden und Denominationen billigend in Kauf nimmt, wenn nicht gar aktiv befeuert.“ (S. 241 – 243)

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?

Das Thema Wissenschaft spielt auch im Kapitel über die sogenannten „Postevangelikalen“ eine wichtige Rolle. Gleich zweimal äußert Dietz: Postevangelikale legen (großen) Wert auf intellektuelle Redlichkeit. (S. 316 und 326) Konkret bedeutet das:

  • Sie halten zwar am Offenbarungsglauben und an der Heiligen Schrift fest. Sie setzen sich aber ab von einer Entwicklung innerhalb des Evangelikalismus, die die Irrtumslosigkeit der Bibel zum zentralen Maßstab der Bibeltreue gemacht hat. (S. 316)
  • Postevangelikale distanzieren sich vom Fundamentalismus im Allgemeinen und vom fundamentalistischen Schriftverständnis im Besonderen. … Sie lehnen den Kreationismus ab. (S. 326)
  • Sie bejahen die evangelikale Bewegung, insofern sie eine Selbstbehauptung des christlichen Glaubens im Zeitalter zunehmender Säkularisierung war. Es sind die massiven antimodernen Haltungen, denen sie widersprechen: dem apokalyptischen Geist, der die Moderne pauschal eines unaufhaltsamen Niedergangs bezichtigt; dem fundamentalistischen Versuch, die Bibel als Grundlage eines Weltbildes zu verwenden, das sich von der wissenschaftlichen Welterkenntnis der Gegenwart unabhängig macht, und schließlich dem Bestreben, mit politischen Mitteln eine autoritäre Gegenkultur zu errichten, die klassische Hierarchien der Geschlechter und Kulturen gegen die Gleichheitsideale der Neuzeit aufrechtzuerhalten versucht. (S. 329)

Demnach wären es nicht etwa die Postevangelikalen, die sich von evangelikalen Überzeugungen entfernt haben. Es gäbe vielmehr unter Evangelikalen negative Trends, die Postevangelikale nicht mitgehen wollen, um intellektuell redlich leben und glauben zu können. Dietz stellt gar die Frage: Handelt es sich beim Postevangelikalismus also um Erfahrungen des Glaubenswachstums?[1] (S. 326) Er will sich aber diesbezüglich nicht festlegen: Müsste man daher sagen, dass es eigentlich umgekehrt ist: Wenden sich Postevangelikale nicht von der evangelikalen Bewegung … ab, sondern nur von seinen fundamentalistischen Entstellungen? … Mein Vorschlag ist an dieser Stelle, Postevangelikale weder als liberale Abtrünnige noch als Flüchtende vor dem Fundamentalismus zu betrachten. Für zusammenfassende Bewertungen des Spektrums ist es noch zu früh. (S. 320)

Dietz äußert sich durchaus auch kritisch über Postevangelikale, wenn er schreibt: Bisweilen kommen sie dabei im Umgang mit der Heiligen Schrift zu einer Beliebigkeit, die weit hinter dem zurückbleibt, was in allen nicht evangelikalen Kirchengemeinschaften betont wird. Die Verbindlichkeit der Bibel als Grundlage von Glauben und Leben ist keine evangelikale oder fundamentalistische Idee. In den neutestamentlichen Texten sind die heiligen Schriften Israels keine bloßen Meinungsäußerungen. Wenn Postevangelikale im Gegensatz zum bisherigen Fundamentalismus ihr freies Verhältnis zur Bibel betonen, die sie für gute Literatur halten, aber nicht als Autorität in irgendeinem Sinne, ist das keine liberale Theologie, sondern kaum noch christliche Theologie. (S. 326/327) Sind einige Postevangelikale in ihrem Umgang mit der Bibel also noch liberaler als die großen Kirchen? Richtig ist, dass kirchliche Bekenntnisse der Bibel eine hohe Autorität einräumen und dass Pfarrer im Ordinationsgelübde darauf verpflichtet werden. Meine Beobachtung ist aber auch: In der universitären theologischen Praxis wird die biblische Autorität vielfach noch viel weitergehender verworfen als ich das aus postevangelikalen Äußerungen kenne.

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Thorsten Dietz schreibt: Allzu oft wurden Menschen vermeintlich absolute Wahrheiten im Namen der Bibel entgegengehalten, die lediglich auf menschlich allzu menschlichen Festlegungen beruhten. Auf solche Zumutungen mit Vertrauensverweigerung zu reagieren, ist gesund und notwendig. (S. 327) Dieses Problem kenne ich aus vielen Begegnungen mit Postevangelikalen, die mir gezeigt haben: Manche evangelikale Milieus leiden tatsächlich unter Enge, Denkfeindlichkeit sowie unter dem manipulativen Einfluss von Machtmenschen, die ihre ganz persönliche Bibelauslegung zum autoritativen Maßstab für alle machen wollen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass nicht wenige Gruppierungen stark von einzelnen charismatischen Leiterpersönlichkeiten geprägt sind. Dazu schreibt Dietz: Diese charismafreundliche Religionsstruktur ist höchst missbrauchsanfällig. Mit dieser Ambivalenz umzugehen ist eine der großen Herausforderungen der evangelikalen Welt. (S. 437) Die Skandale um evangelikale Leitungspersönlichkeiten beweisen, dass Dietz hier einen wichtigen Punkt anspricht.

Richtig ist auch, dass viele Postevangelikale auf intellektuelle Redlichkeit besonderen Wert legen und dass sie deshalb den akademischen Anspruch universitärer Theologie für attraktiv halten. Die Frage ist nur: Ist progressive bzw. liberale Theologie intellektuell wirklich befriedigender als seriöse evangelikale Theologie? Legen Evangelikale denn wirklich pauschal weniger Wert auf intellektuelle Redlichkeit als Postevangelikale?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Ich selbst gehöre definitiv zu denen, die unmöglich auf Dauer gegen ihren Intellekt anglauben könnten. Natürlich gibt es Fragen, auf die ich in meinem Welt-, Gottes- und Menschenbild keine Antwort weiß. Ich bin jedoch der Meinung: Es gibt im Moment kein einziges Welterklärungsmodell, das nicht mit massiven Problemen zu kämpfen hätte. Mit ungeklärten Fragen müssen wir alle leben. Auch in postevangelikalen Denksystemen fallen nicht nur mir erhebliche Dissonanzen und Widersprüche auf. Oft begegnen mir dort auch Argumentationen, die eher gefühlsgeleitet statt sachorientiert sind. Könnte es sein, dass es hier manchmal weniger um mehr intellektuelle Redlichkeit geht, sondern schlicht um die Frage: Wem vertraue ich auf Basis meiner Erfahrungen und Denkvoraussetzungen mehr?

Was mir bei allen Überlegungen von Thorsten Dietz zum Thema Postevangelikalismus ganz grundsätzlich fehlt, ist die simple und naheliegende Frage: Treffen denn die vier evangelikalen Grundmerkmale nach Bebbington (Bekehrung, Aktivismus, Biblizismus, Kreuzeszentrierung) noch auf die Postevangelikalen zu? Dietz fokussiert als Beispiel für ein postevangelikales Milieu auf die Hörerschaft des Podcasts „Hossa Talk“ von Jakob Friedrichs und Gottfried Müller. Gerade hier lässt sich zeigen, dass diese Merkmale deutlich verlassen werden. So äußert zum Beispiel Thorsten Hebel in Folge 5 („Ex-Evangelisten unter sich“): „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. … Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren.“ Stattdessen schildert er ein Bekehrungsverständnis, das auch der Postevangelikale Rolf Krüger beschreibt: „Ziel von Mission ist … nicht ein Religionswechsel, sondern ein Gesinnungswechsel.“ Mehrfach wird im Hossa Talk die These vertreten, dass Muslime keine Christen werden müssen, um gerettet zu sein. Und mehrfach wird dort das Verständnis des Kreuzestodes als stellvertretendes Sühneopfer in aller Deutlichkeit verworfen.

Auch in der Worthaus-Mediathek findet man Vorträge, in denen das stellvertretende Sühneopfer (teils in drastischer Deutlichkeit) verworfen[2] oder zumindest subjektiviert[3] wird. Zudem gibt es eine Reihe von Vorträgen, in denen auch zentrale biblische Aussagen in Frage gestellt werden. Diese Differenzen mit evangelikalen Kernüberzeugungen kommentiert Dietz, der gemeinsam mit Siegfried Zimmer inzwischen der prominenteste Vertreter von Worthaus ist, nur knapp mit den Worten: Obwohl bei Worthaus inzwischen circa 30 Theologinnen und Theologen aufgetreten sind, die ein breites Spektrum der Theologie abdecken, von denen aber so gut wie kaum jemand liberal im engeren Sinne ist, gilt Worthaus bei manchen Evangelikalen als liberale Gefahr, als Bedrohung für bibeltreue Gemeinden, als ein Phänomen, an dem sich die Meinungen spalten. (S. 334) Richtig daran ist: Die Worthaus-Referenten sind mehrheitlich nicht „liberal“ im Sinne der universitären Definition für liberale Theologie (laut der auch Rudolf Bultmann kein liberaler Theologe war). Aber wenn Siegfried Zimmer z.B. äußert, dass Jesus nichts vorhersehen konnte[4], oder wenn er mosaische Gesetze als Männer- und Priesterphantasien bezeichnet[5], dann wird deutlich: Diese Theologie ist trotzdem weit liberaler als evangelikale Theologie! Siegfried Zimmer warnt sogar explizit vor dem Evangelikalismus mit den Worten: „Auf keinen Fall evangelikal!“ Seine Vorträge sind durchzogen mit herabwürdigenden Äußerungen über Evangelikale und ihre Positionen. Kein Wunder, dass Worthaus tatsächlich vielerorts zu Streit und Spaltung führt, wie mir seit meinen Blogartikel zum Thema „Worthaus“ immer wieder aus dem ganzen Land berichtet wird.

Auf Seite 317 schreibt Thorsten Dietz: Sind Postevangelikale also auf dem Weg zu einem liberalen Christentum? Aus Tomlinsons Sicht ist diese Frage ein typisches Problem evangelikaler Wahrnehmungsverengung. … In der Bindung an ein solches Entweder-oder-Denken liege eine Grenze des bisherigen Evangelikalismus. Angesichts des kulturellen Wandels werden Evangelikale zunehmend sprachunfähig. Es stimmt ohne Zweifel, dass die Evangelikalen zunehmend sprachunfähig werden. Aber liegt das wirklich an ihrer fehlenden „Ambiguitätstoleranz“ gegenüber postevangelikalen Positionen?

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Artikel aus dem Jahr 2021 von Volker Gäckle, dem Leiter der Internationalen Hochschule Liebenzell. Er berichtet, dass das Klima im evangelikal-pietistischen Umfeld längst nicht mehr nur wegen der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität „gereizt und nicht selten überhitzt“ ist. Die Debatte drehe sich um viel zentralere Themen: „Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ Auch Steffen Kern schrieb 2019 im Buch „Mission Zukunft“: „Selbst in den zentralsten Glaubens- und Lebensfragen werden viele unsicher. Was früher manchmal so klar schien, scheint auf einmal zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Kirchen und Gemeinden, die Haltungen und Positionen werden pluraler, Orientierung zu finden immer schwieriger. Darum verfallen wir über Frömmigkeitsgrenzen hinweg ins Schweigen.“ [Unterstreichung nachträglich]

Nicht fehlende Toleranz, sondern im Gegenteil ausufernde Pluralität ist demnach der Grund, warum Evangelikale ihre Einheit und ihre Sprachfähigkeit verlieren. Wenn Postevangelikale ins evangelikale Spektrum integriert werden, obwohl sie sich offen von den zentralen Kernmerkmalen der evangelikalen Bewegung distanzieren, dann hat das zwangsläufig negative Folgen für die Einheit, die Sprachfähigkeit und die missionarische Dynamik der Evangelikalen.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie gehen wir als Evangelikale um mit Menschen, die ihre evangelikalen Überzeugungen hinter sich lassen? Wollen wir einerseits aus den Erfahrungen lernen, die bei diesen Menschen die evangelikalen Überzeugungen ins Wanken brachten? Wollen wir andererseits gerade auch ihnen gegenüber fröhlich und mutig zu dem stehen, was uns Evangelikalen unaufgebbar wichtig ist – und uns somit auch in Bezug auf die Differenzen ehrlich machen?

—————————————————————————-

Fußnoten:

[1] Dietz hebt dabei auf die Entwicklungsmodelle nach James Fowler oder Brian McLaren ab.

[2] So äußert Dr. Thomas Breuer in seinem Worthaus-Vortrag über die Bedeutung des Kreuzestodes: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

[3] „Subjektivierung“ steht für die Position: Das stellvertretende Sühneopfer ist eine von vielen möglichen Deutungen des Kreuzes, an die man glauben kann, wenn das persönlich als stimmig empfunden wird.

[4] „Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. Meint ihr, dass Jesus alle Details, alles klar war? Er ist schon ein normaler Mensch, bitte!“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Der Prozess vor Pilatus“ (53:20)

[5] „3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Jesus und die blutende Frau“ (37:00)

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 6: Ziehen sich die Evangelikalen zunehmend von der Gesellschaft zurück?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.