Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie der noch folgende zweite Teil enthält Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet “Postevangelikal”?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist “Progressive Theologie”?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift “Was ist eigentlich postevangelikal?”:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und inhaltlich kritisierbar (in der Theologie spricht man von “Sachkritik”), wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge [3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründ- und erkennbar. Orthodoxe Lehrüberzeugungen werden zunehmend subjektiviert (d.h. sie werden als mögliche Denkvarianten anderen progressiven Überzeugungen gegenübergestellt [5]), oder es wird ihnen offen widersprochen. Dieser Verlust des gemeinsamen dogmatischen Kerns wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für problematisch gehalten, weil die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert wird, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignisse aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [6]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift “Was ist progressive Theologie?”:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Was bedeutet diese Tatsache für die allianzevangelikale Welt? Wie gehen evangelikale Leiter mit dieser Situation um?

Damit befasst sich Teil 2 dieses Artikels, der in Kürze folgt.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] So schreibt zum Beispiel Karsten Hüttmann, der 2022 1. Vorsitzender des Christival war, im Buch „THEOLAB – Jesus, Himmel, Mission“ in seinem Artikel über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu: „Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Die verschiedenen Motive sind jeweils eher als Ergänzung statt als Widerspruch zu verstehen, denn es sind und bleiben letztlich unsere menschlichen Versuche, zu beschreiben, warum Jesus am Kreuz (für uns) starb. … Für Luther war z. B. die Frage nach einem gnädigen Gott noch der Dreh und Angelpunkt seiner Lehren, und für viele Menschen ist auch heute noch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld existenziell. Für andere ist es aber vor allem die selbsterlittene Ungerechtigkeit (hier kann das Sterben Jesu u. a. als Solidarität Gottes mit den Leidenden erlebt werden) oder der Kampf mit der Selbstannahme und der Unsicherheit angesichts der eigenen Existenz (und das Kreuz demzufolge ein Zeichen der absoluten Liebe und bedingungslosen Annahme).“

[6] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift “Glauben & Denken heute” erschienen in der Ausgabe 2/2021. Er kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Welcher Prozess hat dazu geführt, dass Christen heute eine Sammlung von genau 27 Büchern als Neues Testament bezeichnen und als Wort Gottes bzw. Heilige Schrift betrachten? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser Bibelverständnis? Inwieweit können die biblischen Texte heute noch als inspiriert gelten und autoritativer Maßstab für den christlichen Glauben sein? Über diese grundlegenden Fragen spricht Thorsten Dietz in seinem Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“[1]. Seine Antworten machen theologische Entwicklungen sichtbar, die zweifelsohne im Hintergrund vieler aktueller innerchristlicher Konflikte stehen.

Leitend ist für Thorsten Dietz zunächst die Frage: Welcher Faktor hat denn eigentlich den Prozess der Kanonbildung maßgeblich geprägt und beeinflusst? Dietz stellt dazu drei häufig vertretene Antwortmöglichkeiten vor:

  1. Die neutestamentlichen Schriften selbst waren entscheidend. Der Kanon hat sich selbst durchgesetzt bzw. „imponiert“.
  2. Die Kirche und ihr Lehramt war die entscheidende Autorität, die über den Umfang des neutestamentlichen Kanons entschieden hat.
  3. Der Kanon ist das Ergebnis menschlicher Überlegungen und gegebenenfalls auch Machtkämpfe.

Früh stellt Thorsten Dietz klar: „Ich halte diese Deutungen der Kanonwerdung alle drei für irreführend.“ (16:30) Stattdessen ist er überzeugt: „Diese Dinge hängen ineinander und alle Versuche von einer Seite her, die Bibel dem Evangelium oder Jesus oder der Kirche radikal überzuordnen oder die Kirche dem Evangelium oder der Bibel überzuordnen, sind immer Versuche, es in irgendeiner Weise in den Griff zu kriegen, es irgendwie verfügbar zu machen, handhabbar zu machen und das Ganze in irgendeiner Weise so richtig eindeutig auch festzustellen.“ (ab 1:08:50)

Wie kommt Thorsten Dietz zu dieser Sichtweise?

Lang andauernde Unklarheiten beim Kanonumfang

Ausführlich spricht Thorsten Dietz darüber, dass es neben den heute als kanonisch geltenden Büchern noch viele weitere Anwärter auf diesen exklusiven Status gab. Konkret nennt er eine Reihe weiterer Evangelien und sonstiger Schriften, die angeblich von Aposteln oder von frühen Kirchenvätern stammten. Umgekehrt wurden einige der heute als kanonisch anerkannten Bücher bis in die Reformationszeit hinein immer wieder angezweifelt oder sogar offen abgelehnt. Zwar gab es schon früh Kriterien, um die Kanonizität eines Texts zu beurteilen. Dietz nennt konkret die „Ursprungsnähe zu Jesus, die „apostolische Autorität des Anfangs“, die Übereinstimmung mit den Lehren Jesu, der Apostel und den zentralen Bekenntnissen der Christen (die sogenannte Glaubensregel oder „regula fidei“) und schließlich die Anerkennung in den Gemeinden. Jedoch hätten auch diese Kriterien nicht zu einer schnellen, abschließenden Definition des Kanons geführt.

Dietz weist zudem darauf hin: Auch bei der Frage, welche Schriften denn zum Alten Testament gehören, gab es Unklarheiten. Autorität hatte für die Apostel damals die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die für viele Juden und Christen als „inspiriert“ galt, die aber einige Bücher und Zusätze enthält, die unter evangelischen Christen heute weithin nicht mehr als kanonisch gelten.

Damit hat Thorsten Dietz ohne Zweifel recht. Aber sprechen diese historisch belegten Unsicherheiten beim Kanonumfang denn wirklich gegen die Auffassung, dass die Autorität der kanonischen Texte selbst der entscheidende Faktor für die Kanonbildung waren?

Frühe Klarheit bei den Kernbeständen

Thorsten Dietz betont selbst, dass man bereits „Mitte des zweiten Jahrhunderts sagen kann: Die vier Evangelien … waren früh am Start und früh anerkannt und früh unumstritten. Soweit das Auge reicht, sind diese vier Evangelien eine wesentliche Quelle für alle Christen.“ (33:40) Und er ergänzt: 20 neutestamentliche Schriften (4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 Paulusbriefe, 1. Petrus- und 1. Johannesbrief) „waren im Grunde nie umstritten. … Ein Großteil des Neuen Testaments wächst rein in diese Rolle, kanonische Schriften zu sein.“ (56:05)

Tatsächlich machen die genannten 20 Schriften bereits mehr als 85% des heutigen neutestamentlichen Textbestands aus. Wie früh ein großer Teil der neutestamentlichen Texte bereits als autoritativ galten, zeigt zudem ein Blick in die Schriften von Kirchenleitern der ersten nachapostolischen Generation. Bischof Polykarp von Smyrna zitiert in seinem Brief an die Philipper, der grob auf das Jahr 120 datiert wird, bereits aus 19 der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter auch aus dem Jakobusbrief und dem 2. Johannesbrief. Deutlich wird dabei: Schon Polykarp misst diesen Schriften genau die gleiche Schriftautorität bei wie den alttestamentlichen Schriften.[2] Und sie haben für ihn genau wie für Bischof Ignatius von Antiochien[3] eine unfehlbare Autorität, die kein Text späterer Kirchenleiter mehr für sich in Anspruch nehmen konnte.[4] Zurecht schrieb deshalb der Neutestamentler Theodor Zahn: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[5] Lange bevor begrifflich von einem „Neuen Testament“ die Rede war und lange bevor über den endgültigen Kanonumfang entschieden wurde, stand somit der größte Teil des Neuen Testaments den frühen Christen bereits als Urkunde und Maßstab des Glaubens zur Verfügung, ohne dass dazu eine Synode tagen oder auf andere Weise um Entscheidungen gerungen werden musste.

Man kann Thorsten Dietz deshalb nicht zustimmen, wenn er äußert: Wir finden keinen Beleg dafür, dass sie [d.h. die Kirchenväter] die [Jesusworte oder Paulusworte] genau so als Fortsetzung des Alten Testaments empfinden“ (27:10) „In den ersten 80 bis 100 Jahren gibt’s diese ganze Kategorie Kanon, Heilige Schrift, Neues Testament nicht“ (56:25). Es stimmt zwar, dass der Begriff „Neues Testament“ erst später aufkam. Aber die Einordnung der Evangelien und der Apostelbriefe in die Kategorie „Heilige Schrift“ und die Unterscheidung dieser Schriften von allen anderen Texten (was ja die Basis des Kanongedankens darstellt) ist bereits ab dem ersten Jahrhundert zu beobachten[6] und letztlich schon im Neuen Testament selbst angelegt.[7] Das räumt auch Thorsten Dietz ein: „Man kann doch im Neuen Testament selbst schon eigentlich sehen, dass diese Schriften kanonischen Anspruch erheben.“ (18:25) Dietz belegt das durch die Ähnlichkeit des Beginns des Johannesevangeliums mit dem Beginn der Genesis, durch den autoritativen Selbstanspruch von Paulus sowie durch den Umstand, dass schon Paulus einem Jesuswort die gleiche Autorität gab wie der Tora.[8]

Umso mehr stellt sich die Frage: Warum hält Dietz denn dann die Sichtweise von der Selbstdurchsetzung der kanonischen Schriften für „irreführend“? Was wäre denn die Alternative? Das von Dietz vorgeschlagene „Ineinander“ von Textautorität, kirchlichem Lehramt und menschlichen Interessen kann in dieser frühen Phase noch nicht in Frage kommen. Es gab ja noch gar keine institutionalisierten kirchlichen Gremien, in denen etwas beschlossen oder mit menschlichen Machtmitteln durchgesetzt werden konnte. Andere Erklärungen für diesen historisch extrem ungewöhnlichen (und somit erklärungsbedürftigen) Vorgang der Herausbildung einer Sammlung autoritativer heiliger Schriften liefert Thorsten Dietz in seinem Vortrag nicht.

Das Ringen drehte sich eigentlich um die Ränder des Kanons

Auch das spätere Ringen zur endgültigen Definition des neutestamentlichen Kanons drehte sich nie um das Grundprinzip, dass es sich bei den authentischen apostolischen Texten um einzigartig autoritative Schriften handelt. Stattdessen ging es schon früh nur um zweifelhafte Wackelkandidaten, also um die Frage nach den Rändern des Kanons.

Diese Frage nach den Kanonrändern hat die Christenheit zu allen Zeiten beschäftigt. Sie war und ist in einigen Kirchen bis heute akut in Bezug auf die Apokryphen des Alten Testaments, die von manchen Kirchen anerkannt, von anderen abgelehnt werden. Und alle Kirchen leben zum Beispiel mit dem Problem, dass die Kanonizität des langen Endes des Markusevangeliums unklar ist.

Solche Unschärfen beim Kanonrand ändern aber nichts daran, dass die Kirche in Bezug auf den weitaus größten Teil der Heiligen Schrift von Beginn an einen großen Konsens hatte, der nicht aus Machtkämpfen, Vernünfteleien oder Synodenentscheidungen resultierte, sondern letztlich nur auf die Autorität der Texte und ihrer Autoren zurückgeführt werden kann. Unschärfen an den Kanonrändern ändern zudem überhaupt nichts am Konsens über das Grundprinzip, dass diesen Schriften eine unfehlbare Autorität zukommt. Auch Martin Luther hatte zwar Zweifel an der Kanonizität mancher Schriften. Aber er hat die volle Autorität der unzweifelhaft kanonischen Schriften nicht in Frage gestellt[9] sondern ausdrücklich dem Kirchenvater Augustinus zugestimmt, der von der Irrtumslosigkeit der kanonischen Schriften ausging.[10]

Aber was folgt für Thorsten Dietz nun aus seiner Darstellung der Geschichte der Kanonentstehung? Welche Konsequenzen zieht er für sein Bibelverständnis? Sein Vortrag wirft bei vier Themen grundlegende Fragen auf:

1. Ist die Bibel ein Maßstab des Glaubens?

Ein zentrales Thema der Reformation war das Ringen um den Status der Bibel. Für Martin Luther war allein die sich selbst auslegende Schrift die letzte Instanz, der sich alle anderen Instanzen unterordnen müssen („Sola Scriptura“). Die Kammer für Theologie der EKD schreibt dazu in ihrer Publikation „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49, Hervorhebung nachträglich).

Diese Formulierungen knüpfen an das Bibelverständnis der frühen Kirche an. Schon im zweiten Jahrhundert wurden die allgemein anerkannten apostolischen Schriften als Maßstab zur Prüfung anderer Lehren und Schriften verwendet. Irenäus hatte um 180 die „regula fidei“ (Regel oder Norm des Glaubens), die sich bei ihm schon weitestgehend mit dem später formulierten Apostolikum deckte, aus den apostolischen Schriften abgeleitet. In seinen Schriften gegen die Häresien (Irrlehren) zitierte er aus fast allen neutestamentlichen Büchern abgesehen von Philemon, 2. Petrus, 3. Johannes und Judas.[11]

Thorsten Dietz äußert hingegen: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ (1:09.30) Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (1:12.00)

Richtig ist natürlich: Auch mit einer völlig vertrauenswürdigen Bibel haben wir die „Wahrheit nicht in der Tasche“. Und tatsächlich gab und gibt es unter Christen immer wieder das Phänomen eines toxischen „Autoritarismus“, der Bibelstellen als Machtinstrument missbraucht. Die Kirchengeschichte kennt leider zahllose Beispiele, in denen viel zu schnell aufgrund einer speziellen Bibelauslegung eine andere Position als Irrlehre ausgegrenzt und die Christenheit damit unnötig gespalten wurde.

Trotzdem stellt sich bei diesem Zitat die Frage: Macht man denn die Bibel immer zum „Knüppel“, wenn man in ihr einen Maßstab sieht, den man so wie Irenäus auch zur Entlarvung falscher Lehren verwendet? Ist die Identifikation von falscher Lehre durch den Vergleich mit dem Maßstab der Lehre Jesu und der Apostel schon per se ein Ausdruck von „Autoritarismus“? Wurde denn die Warnung vor falscher Lehre nicht sowohl in der frühen Kirche als auch im Neuen Testament als wichtige Aufgabe kirchlicher Leiter angesehen?

Ja, es ist wichtig, vor vorschnellen und selbstherrlichen Irrlehrenjägern zu warnen. Aber angesichts der traurigen Tatsache, dass heute in der evangelischen Kirche[12] und bis tief in evangelikale Kreise hinein der öffentliche Hinweis auf falsche Lehre weitgehend zum Tabu geworden ist, wäre es ebenso wichtig gewesen, den dringend notwendigen und Orientierung gebenden Unterscheidungsdienst auf Basis des biblischen Maßstabs zu würdigen. Diese Würdigung fehlt leider im Vortrag von Thorsten Dietz.

2. Dürfen biblische Aussagen bezweifelt werden?

Thorsten Dietz unterstützt die Auffassung, dass Christen der Bibel „Autorität“ beimessen sollten. Aber was versteht er unter diesem Begriff? Dazu sagt er ab 1:15:20: „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“

Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30) Sollen wir die Briefe von Paulus also prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Und was machen wir dann mit Bibeltexten, die wir erst einmal überhaupt nicht als einleuchtend und ansprechend, geschweige denn als faszinierend empfinden?

Zur Verteidigung seiner Sichtweise einer guten Autorität, die sich primär aus einem spürbaren Informationsvorsprung nährt und sich selbst zur Diskussion stellt, verwendet Dietz ein Beispiel aus dem Bauwesen: „Man ist gut beraten, bei allerlei Baumaßnahmen und handwerklichen Dingen schon auch mehr auf die zu hören, die sich mit diesem Sachverhalt auskennen. Mehr als auf das eigene Bauchgefühl.“ (ab 1:16:35) Das ist wahr. Jeder Planer weiß, dass im Bau sämtliche sicherheitsrelevante Fragen zur Statik, zum Brandschutz, zum Arbeitsschutz usw. anhand von feststehenden Normen entschieden werden müssen, die gelten – auch dann, wenn Planer und Bauherren so manche Norm für wenig sinnvoll halten mögen. Das Beispiel, das Dietz verwendet, zeigt also eher das Gegenteil dessen, was Dietz sagen will: Auch in Alltagsfragen funktioniert unsere Gesellschaft eben gerade nicht so, dass Autorität immer diskutierbar ist und vom zustimmenden Empfinden der Menschen abhängt.

Entsprechend sind auch die Aussagen in den Paulusbriefen keinesfalls so gemeint, dass ihre Autorität von unserem Empfinden abhängt und diskutiert werden können. Das räumt Thorsten Dietz in seinem Vortrag zuvor auch selbst ein: „Paulus schreibt ja nicht so seine Briefe, dass er sagt: Hier, ich möchte mal ein Gesprächsgang anstoßen, ich habe ein paar Ideen. Können wir uns vielleicht drüber austauschen. Ich lerne auch gern dazu, bin auch gern bereit, mich auf völlig neue Ideen bringen zu lassen, wie alles gewesen sein könnte. Also nehmt das jetzt nicht zu ernst, was ich schreibe. Es sind Vorschläge oder so. Macht er ja nicht.“ (ab 0:19:05) In der Tat. Wenn es um das Evangelium geht, kannte Paulus keine Kompromisse. Da zögerte er auch nicht, Petrus öffentlich anzugreifen (Gal.2,11ff.). Drastisch formulierte er im Brief an die Galater: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ (Gal.1,9). Von Diskussionsbereitschaft keine Spur. Dazu bestätigt Petrus in 2. Petr. 3,16: Auch wenn in den Paulusbriefen manche Dinge schwer zu verstehen sind (und dem Leser somit zunächst einmal gar nicht einleuchten wollen), ist es keinesfalls erlaubt, an diesen Aussagen herumzuschrauben. Eine Wertschätzung von Zweifeln an Aussagen der Schrift und der Apostel findet sich weder in der Bibel noch in der frühen Kirche.

Trotzdem assoziiert Thorsten Dietz eine Infragestellung von Zweifeln eher mit einem autoritären Leitungsstil: „Also wenn du Zweifel hast, darfst Du die äußern, kannst du zu deinem Seelsorger gehen ist okay. Wir wollen da menschenfreundlich mit umgehen. Aber eigentlich ist das Ziel immer den Zweifel wieder loszuwerden. Der Zweifel ist eigentlich schlecht. Der Zweifel ist eigentlich gefährlich. Versuch es loszuwerden. Sprich mit Seelsorgern. Der hört dir liebevoll zu. Aber eigentlich, weil die Texte inspiriert sind, sind sie wahr. Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss. Alles andere braucht kein Mensch.“ (ab 1:18:20) Ist bleibender Zweifel an biblischen Aussagen in den Augen von Thorsten Dietz also etwas Normales und Gutes, das nicht in Frage gestellt werden sollte?

Richtig ist natürlich, dass wir immer bedenken müssen, dass die Bibel ausgelegt werden muss. Da unsere Auslegung niemals fehlerfrei ist, kann unser Verständnis und unsere Auslegung biblischer Aussagen natürlich auch bezweifelt werden. Kein sorgfältiger Theologe oder Seelsorger dürfte deshalb einem zweifelnden Bibelleser einfach so entgegenschleudern: „Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss.“ Gerade der Zweifel an einer Interpretation biblischer Aussagen kann ja oft auch dazu führen, dass man mehr darüber lernt, wie diese Bibelstelle im gesamtbiblischen Kontext richtig auszulegen ist. Zudem hat Thorsten Dietz natürlich vollkommen recht, dass biblische Autorität nicht klein, unmündig und hörig machen darf, sondern zu Mündigkeit, Eigenständigkeit und Reife führen muss. Paulus will, dass der Glaube der Epheser zur vollen Reife gelangt“, damit sie nicht länger wie Kinder sind (Eph. 4, 13+14). Das steht aber für Paulus ganz offenkundig gerade nicht im Widerspruch zu einem apostolischen und biblischen Offenbarungs- und Wahrheitsanspruch, der von den Hörern letztlich Glauben und Vertrauen statt Zweifel und Widerspruch erwartet. Sowohl die innerbiblische wie auch die urkirchliche Sichtweise steht somit in einem deutlichen Gegensatz zu einer Sichtweise, nach der die Autorität gründlich untersuchter und sorgfältig ausgelegter biblischer Texte eher vom Empfinden des Lesers abhängt und bleibend bezweifelt werden könnte.

3. Bezieht sich die Inspiration der Bibel primär auf die Rezeption statt auf die Entstehung ihrer Texte?

Die Autorität der biblischen Texte hängt eng mit der Frage nach ihrer Inspiriertheit zusammen. Wer könnte den biblischen Texten mit Vorbehalten oder Zweifeln entgegentreten, wenn die Inspiration der Bibel bedeutet, dass hier letztlich Gott selbst spricht?

Thorsten Dietz stellt dazu einerseits klar: Für die frühe Kirche waren die kanonischen Texte auch inspirierte Texte: „Bibel unterscheidet sich von nicht in Bibel wie Inspiration von nicht Inspiration.“ (59:10) Jedoch meint er zugleich, dass der Begriff „Inspiration“ damals nur als „ein weiterer Terminus“ (59:55) für die Gültigkeit eines Textes verwendet worden sei (er habe damals z.B. auch für die Übersetzung der Septuaginta gegolten). Die Inspiriertheit eines Textes habe man ja auch nicht „messen“ können. Zugleich wendet er sich mit scharfen Worten gegen ein aus seiner Sicht völlig falsches Inspirationsverständnis (ab 1:18.05): Ein falsches Verständnis von Inspiration ist die Inspiriertheit als feststehende Tatsache einer bestimmten Gruppe von Schriften, wo man sagt: Die sind von Gott inspiriert. Das heißt, die sind absolut wahr. Das heißt, du musst das alles glauben. Das heißt, du darfst nicht nachdenken dabei großartig. Du darfst das nicht verstehen wollen, Du lieber Himmel! Darfst auch eigentlich nicht Zweifel haben.Ein solches Verständnis von Inspiriertheit ist durchtränkt von einem autoritären Geist, der menschenfeindlich und freiheitszerstörend sein kann und ist so dem Geist Gottes, wie ihn die Bibel uns vor Augen malt, schlicht nicht gemäß.“

Aber hätten nicht auch Jesus und Paulus einem Inspirationsverständnis zugestimmt, das beinhaltet, dass die Schriften „absolut wahr“ sind und dass wir das „alles glauben“ sollen? Schließlich sagt Thorsten Dietz selbst: „Paulus ist klar: Die Texte des Alten Testaments, die Heilige Schrift, klar, das ist von Gott, das sind Gottes Worte. Das ist Gottes Reden. Das ist aus dem Geist Gottes.“ (ab 01:20:29) So ist es. Und ganz eindeutig galt für die Autoren des Neuen Testaments: Wenn Gott spricht, dann ist es wahr. Und auf Gottes Worte kann nur Glaube und Gehorsam die angemessene Reaktion sein.

Zudem stellt sich die Frage: Warum sollte ein solches Grundvertrauen denn bedeuten, dass man über den Text nicht richtig nachdenken, ihn nicht verstehen wollen und keine Zweifel haben darf? Ist nicht vielmehr genau das Gegenteil wahr? Gerade, wenn man die Bibel für absolut wahr hält, muss doch der Wunsch besonders groß sein, intensiv über den Text nachzudenken und immer wieder daran zu zweifeln, ob man ihn bisher auch richtig verstanden hat. Warum also verknüpft Dietz hier das in weiten Teilen der Kirchengeschichte ganz selbstverständliche Vertrauen auf die völlige Wahrheit und Glaub-Würdigkeit der inspirierten Schrift mit einer plumpen Denkfeindlichkeit?

Thorsten Dietz fährt fort mit den Worten: „Ein solches Verständnis von Inspiriertheit beschreiben die biblischen Texte schlicht auch gar nicht. Es gibt ja letztlich nur diesen einen Vers, wo es von der Schrift heißt, sie sei theopneustos, gottdurchgeistet, gottbegeistet [gemeint ist 2. Tim. 3,16]. Gemeint ist hier völlig eindeutig die Septuaginta, ist das Alte Testament, von der wird es gesagt, wie es im hellenistischen Judentum üblich war. Das ist an dieser einen Stelle so, ansonsten heißt es von den Propheten: Sie haben getrieben vom Heiligen Geist geredet, was auch von David…, also da gibt’s mehr Stellen, das ist völlig klar. Inspiriertheit der Texte, aber letztlich dieser eine einzige Vers, aus dem in manchen Teilen des Christentums ein völlig maßloser Bibelglaube konzipiert worden ist, der als solcher gar nicht biblisch ist.“ (ab 1:19:15)

Hier stellt sich die Frage, auf welches Inspirationsverständnis Dietz mit dieser Kritik denn eigentlich zielt? Ist es denn wirklich ein „völlig maßloser“ und nur auf einem einzigen Vers basierender Bibelglaube, wenn man von der völligen Wahrheit und Glaubwürdigkeit der biblischen Texte ausgeht? Thorsten Dietz macht hier selbst klar, dass es ja noch zahllose weitere Bibelstellen gibt, die deutlich machen, dass Jesus und die Autoren des NT (genau wie die Kirchenväter) ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass in den biblischen Texten Gott bzw. der Heilige Geist selbst redet. Schließlich haben sie die Wendung „die Schrift sagt“ und „Gott sagt“ letztlich als austauschbare Autoritätsformel benutzt. Es gibt zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus, die Apostel oder die Kirchenväter von einem Kanon im Kanon ausgegangen wären oder dass sie auf eine sonstige Weise zwischen Gottes- und Menschenwort in den biblischen Texten unterschieden hätten. Insofern steht 2. Timotheus 3,16 im Neuen Testament keineswegs alleine da, sondern fügt sich vielmehr nahtlos ein in ein biblisch breit bezeugtes Bibel- und Inspirationsverständnis. Was wäre also „maßlos“ daran, als Nachfolger Jesu und als Schüler der Apostel von der völligen Wahrheit und Glaub-Würdigkeit dieser Texte auszugehen? Und was wäre „maßlos“ daran, Menschen dabei helfen zu wollen, diesen Worten wirklich zu vertrauen, statt beim Zweifel stehen zu bleiben?

Nach seiner Zurückweisung einer aus seiner Sicht falschen Inspirationslehre spricht Thorsten Dietz über sein eigenes Verständnis von Inspiration. Dabei bezieht er die Inspiration der biblischen Texte weniger auf ihre Entstehung, sondern vielmehr auf ihre Rezeption (ab 1:22:15): „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird. Dieses Verständnis von Inspiration ist sehr wesentlich, sehr wertvoll, wird oft erstickt durch ein Inspiriertheitsdogma, was in dieser Form gar nicht biblisch ist.“

Richtig ist: Natürlich ist Inspiration keine „mechanische Theorie“. Christen glauben nicht, dass die biblischen Autoren beim Schreiben zu roboterhaften Marionetten wurden. Sie haben ganz offenkundig ihren persönlichen Stil und ihre Perspektive eingebracht. Die Bibel ist somit auch ganz Menschenwort. Die Art und Weise, wie der Heilige Geist dafür gesorgt hat, dass die Worte der Apostel und Propheten trotzdem zugleich auch zu Gottesworten wurden, bleibt wohl ein Geheimnis. Das ändert nichts daran, dass gemäß dem biblischen Selbstzeugnis der Heilige Geist gleichermaßen für das Verständnis UND für die Entstehung der biblischen Texte eine entscheidende Rolle spielt. Eine Verengung des Geisteswirkens auf die Rezeption der biblischen Texte[13] würde sowohl dem innerbiblischen wie auch dem historischen und dem reformatorischen Bibelverständnis vollständig entgegenstehen.

4. Ist die Bibel fehlerhaft?

Wenn die ganze Bibel in ihrer Entstehung von Gottes Geist inspiriert ist, dann müsste sie natürlich auch eine Einheit bilden und als unfehlbar angesehen werden. Gott macht schließlich keine Fehler. Und er widerspricht sich nicht selbst. An dieser Sichtweise der Unfehlbarkeit der Schrift arbeitet sich Thorsten Dietz jedoch immer wieder ab. Von einer unfehlbaren Bibel auszugehen, hält er für „irreführend (15:15 / 16:40). Wer die Unfehlbarkeit der Schrift für wichtig hält, der spiele die Bibel gegen Christus aus (1:05:30)[14]. Die Annahme, dass man eine unfehlbare Bibel brauche, um von ihr zu Jesus geführt zu werden, sei auch „nicht das, was die frühen Christen gemacht haben.“ (1:05:50) Diese hätten ja vielmehr Christus als „Maßstab und Prinzip der Bibel“ gesehen. Auch Paulus habe die Schriften immer von Jesus her und auf ihn hin ausgelegt. Die Annahme der Unfehlbarkeit der Schrift sei hingegen der Versuch, „Jesus in den Griff zu kriegen.“ (1:06:28)

Damit baut Thorsten Dietz aber einen Scheinwiderspruch auf. Jesus als Mitte und Auslegungs­richtschnur der Bibel steht ja in keinem Widerspruch zu der Annahme, dass die Bibel über eine unfehlbare Autorität verfügt. Im Gegenteil: Ohne die verlässlichen kanonischen Aufzeichnungen über Jesus hätten wir ja gar keine Möglichkeit, die Schrift von Jesus her auszulegen.

Der Vorwurf, man wolle mit der Unfehlbarkeit der Schrift Jesus „in den Griff bekommen“, ist dementsprechend ein Strohmann. Auch die meisten konservativen Theologen sind sich natürlich bewusst, dass man in Bezug auf Jesus, seine Lehre, das Ausmaß seiner Liebe und die Größe seines Erlösungswerks niemals auslernt. Auch mit einer unfehlbaren Bibel bekommen wir Jesus natürlich nicht „in den Griff“. Jesus ist Wahrheit in Person. Als Christen hoffen wir darauf, dass diese Wahrheit uns immer mehr in den Griff bekommt, nicht umgekehrt. Aber gerade dafür ist es doch von entscheidender Bedeutung, dass sein in der Bibel dokumentiertes Handeln und Reden unsere Fehler kritisieren und korrigieren darf, statt dass wir umgekehrt der Bibel Fehler unterstellen.

Nun ist die Frage nach der Unfehlbarkeit der Bibel natürlich komplex. Sie erfordert eine differenzierte Antwort, weil genau definiert werden muss, in welcher Hinsicht die biblischen Texte denn fehlerlos sein können.[15] Fakt ist jedoch: Auch wenn die Bibel Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ selbst nicht gebraucht, so spricht sie doch in Bezug auf ihre heiligen Schriften erst recht nie von Fehlern oder dergleichen. Auf Basis einer sauberen Definition lässt sich sehr wohl ein biblischer Selbstanspruch auf Unfehlbarkeit nachweisen. So wird den Schriften des Alten Testaments im Neuen Testament durchgängig eine uneingeschränkte Autorität beigemessen. Für die Autoren des Neuen Testaments galt das Prinzip: Wenn die Schrift etwas sagt, spricht Gott! In den Schriften reden Menschen getrieben vom Heiligen Geist (2.Petr.1,20+21, Mark.12,36). Paulus sah aber auch seine eigene Botschaft als von Gott offenbart und als Gottes Wort an (Galater 1,11-12; 1. Thessalonischer 2, 13). An zwei Stellen werden biblische Texte sogar unter ein gerichtsbelegtes Veränderungsverbot gestellt, dabei stellt Petrus die Briefe des Paulus den „Schriften“ gleich (2. Petrus 3, 15-16, Offenbarung 22, 18-19).[16] Es ist also durchaus gerechtfertigt, die Irrtumslosigkeit des Neuen Testaments auch als ein Konzept des Neuen Testaments zu bezeichnen.[17]

Fazit: Eine fehlerhafte Bibel verliert ihre Orientierung gebende Kraft

Der Vortrag hinterlässt ein gemischtes Bild. Es gibt gute Passagen, die neben interessanten Informationen auch zurecht missbräuchliche Fehlhaltungen ansprechen, die es unter Christen leider tatsächlich gibt. Problematisch ist dabei jedoch oft die unsaubere Definition, welches Spektrum an Positionen von der Kritik denn eigentlich ins Visier genommen werden. So kann leider der Eindruck entstehen, dass der Glaube an eine Fehlerlosigkeit und völlige Vertrauenswürdigkeit der Bibel per se autoritär, denk- und vernunftfeindlich sein könne.

Welches Bibel- und Inspirationsverständnis Thorsten Dietz selbst im Einzelnen vertritt, wird oft nicht abschließend klar. Hält Thorsten Dietz daran fest, dass die Bibel eine Offenbarung des dreieinen Gottes ist (und nicht nur bezeugt) und damit auch als verbindlicher Maßstab („Norma normans“) des Glaubens angesehen werden muss, wie es z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt?[18] Einige Passagen in diesem Vortrag können den Eindruck erwecken, dass Dietz ein solches Bekenntnis nicht nur in seinen extremen Ausformungen verwirft, sondern grundsätzlich in Frage stellt.

Ganz eindeutig ist hingegen: Thorsten Dietz wendet sich gegen den Gedanken an eine Unfehlbarkeit im Sinne einer Fehlerlosigkeit der Bibel.[19] Und in der Praxis zeigt sich oft: Wo entgegen dem biblischen Vorbild die Rede von Fehlern in der Bibel ermöglicht wird, da öffnet sich die Tür zu einem sachkritischen Umgang mit der Bibel, in dem irgendwann auch durchgängige, klare und zentrale Aussagen des christlichen Glaubens bezweifelt und kritisiert werden können. So fällt bei Thorsten Dietz auf: Er kann sich trotz der durchgängigen biblischen Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualpraxis rückhaltlos hinter die Position Martin Grabes stellen, dass gleichgeschlechtliche Paare getraut werden sollen.[20] In Folge 10 seines viel beachteten Podcasts „Das Wort und das Fleisch“ über „Die neuen Evangelikalen“ stellt er einzig die Postevangelikale Rachel Held Evans als uneingeschränkt vorbildlich dar.[21] In einem Worthaus-Vortrag distanziert er sich deutlich erkennbar vom stellvertretenden Sühneopfer.[22] Und er kann zu einem Buch mit einem äußerst liberalen Bibelverständnis[23] ein uneingeschränkt begeistertes Vorwort schreiben.[24] Diese Beispiele verdeutlichen: Auch ein konservativ klingendes Bibelverständnis, das von der Autorität und Inspiration der Bibel redet, kann in der Praxis zu fundamental anderen exegetischen Ergebnissen führen, wenn es die Kritisierbarkeit der als fehlerhaft angesehenen biblischen Texte ermöglicht.[25]

Die Bibelfrage stand nicht umsonst im Zentrum der Reformation. Sie steht erkennbar auch heute im Zentrum der wachsenden Spannungen unter Christen. Gerade um der Einheit willen ist es deshalb so wichtig, dass verantwortliche christliche Leiter das Thema Bibelverständnis nicht zur Randfrage erklären, sondern sich im Gegenteil intensiv damit auseinandersetzen, welches Bibelverständnis in ihrem Umfeld vertreten wird und welche praktischen exegetischen Konsequenzen es hat.


[1] Thorsten Dietz: Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons | 9.11.2, Worthaus Pop-Up 2019 – Heidelberg: 30.12.2019, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/entstehung-und-autoritaet-des-neutestamentlichen-kanons-9-11-2/

[2] So schreibt Polykarp: „Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (Polykarp 12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26.

[3] In seinem Brief an die Trallianer schreibt Ignatius: Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

[4] „Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (Polykarp 3,2)

[5] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[6] Bemerkenswert ist dazu z.B. ein gemischtes Bibelzitat im 1. Clemensbrief (ca. 98 n.Chr.), das eingeleitet wird mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens (etwa in den Jahren 91-101 Bischof in Rom) die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

[7] Thorsten Dietz erwähnt in diesem Zusammenhang die Bemerkung in 2. Petrus 3, 16, dass in den Paulusbriefen einiges schwer zu verstehen ist, „was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“ Dietz kommentiert: „Der eigentliche Punkt ist ja hier: Die werden verdreht, genauso wie andere Schriften. Das ist schon eine sehr auf Wohlwollen setzende Exegese zu sagen: Da sieht man ja, dass hier die Paulusbriefe längst auf der Ebene der Tora gehandhabt werden.“ (23:30) M.E. entkräftet Dietz damit jedoch die von Petrus intendierte Gleichsetzung der Paulusbriefe mit der Tora nicht. Insbesondere durch die Bemerkung „zu ihrem eigenen Verderben“ stellt Petrus ja klar, dass das Verdrehen der Paulusbriefe genauso Gottes Gericht zur Folge hat wie das Verdrehen der Tora.

[8] In 1. Timotheus 5, 18 zitiert Paulus nach der Autoritätsformel „Die Schrift sagt“ zunächst aus 5. Mose 25,4 und dann ein Jesuswort aus Lukas 10,7. Thorsten Dietz sagt also zurecht: „Offensichtlich ist das für Paulus so: Tora und Jesus, das sind autoritative Setzungen Gottes, Jesu, die einfach gelten.“ (20:10)

[9] Siehe dazu Clemens Hägele: „Mit Christus gegen die Apostel? Beobachtungen zur Deutung zweier Lutherworte“. Erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 10 /2016

[10] So schrieb Luther in seiner „Assertio“: „Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Aus: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung (wie Anm. 83), S. 26 f.

[11] Siehe dazu Christian Haslebacher 2021 in: https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/

[12] Was leider noch lange nicht heißt, dass die evangelische Kirche heute keine „Knüppel“ gegen ihr nicht genehme Lehre mehr auspacken würde. Wenn es zum Beispiel um die Lehre geht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht gesegnet oder getraut werden können oder dass die Bibel nur zwei biologische Geschlechter kennt, dann zeigt sich leider immer wieder, dass die zur Schau getragene Toleranz rasch enden kann. So schreibt Martin Grabe: „In vielen evangelischen Landeskirchen ist die vollständige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit heterosexuellen inzwischen vollzogen. Pfarrer, die aufgrund ihres Gewissens immer noch nicht mitziehen, werden sanktioniert.“ (In: „Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama“, Francke 2020, S. 17)

[13] Ein solches Inspirationsverständnis würde sich jedoch gut decken mit einem Bibelverständnis, wie es beispielsweise der Theologe Udo Schnelle formuliert: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[14] „Das sagen manchmal auch sehr konservative Christen. Die sagen: Man darf nicht Jesus gegen die Bibel ausspielen. Es gibt konservative Christen, die das so sagen, es aber machen. Weil sie sagen: … Jesus ist natürlich der wichtigste Inhalt der Bibel. Ist ja klar. Aber man muss die Bibel anerkennen. Und nur wer die Bibel als unfehlbar anerkennt, der hat überhaupt eine Basis, auch zum biblischen Christus zu kommen. Naja, für mich ist das leider auch eine Weise, Jesus gegen die Bibel auszuspielen, nur umgekehrt. Denn so wird die Bibel ja letztlich Jesus übergeordnet in einer Weise, dass man sagt: Du musst zunächst einmal ein bestimmtes Bibelverständnis anerkennen, du musst die Bibel als unfehlbar und irrtumslos und absolut anerkennen, dann wirst du von ihr auch zu Jesus geführt.“ (ab 1:04:40)

[15] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ AiGG-Blog 2018 blog.aigg.de/?p=4212

[16] Siehe dazu Markus Till: „Das biblische Bibelverständnis“, AiGG-Blog 2021 blog.aigg.de/?p=5853

[17] Empfohlen sei dazu z.B. Armin D. Baum: „Is new testament inerrancy a new testament concept? A traditional and therefore open minded answer“ In: JETS 57/2 (2014) 265-80; online unter: www.etsjets.org/files/JETS-PDFs/57/57-2/JETS_57-2_265-80_Baum.pdf

[18] „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

[19] Das erinnert an die jüngst veröffentlichte Erklärung zum Schriftverständnis der evangelischen Hochschule Tabor, in der Adolf Schlatter zitiert wird mit den Worten: „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, dass er vor uns den Beweis führt, dass er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, dass er Menschen so mit sich verbindet, dass sie als Menschen sein Wort sagen […] Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, dass sie uns zu Gott beruft.“ In: „Die Bibel verstehen – der Schrift vertrauen – mit Christus leben“, Erklärung zum Schriftverständnis der ev. Hochschule Tabor vom 09.08.2021, https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/die_bibel_verstehen_-_der_schrift_vertrauen_-_mit_christus_leben.pdf

[20] Am 16.07.20 würdigte Thorsten Dietz auf Facebook gemeinsam mit Michael Diener das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube – ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe mit den Worten: „Das Buch von Martin Grabe, dem Vorsitzenden der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, ist eine sehr persönliche und erfahrungsgesättigte Darstellung dessen, was schwule und lesbische Gläubige in evangelikalen Kreisen erlebt und erlitten haben. Und er beschreibt den langen Weg, den es gebraucht hat, dass er am Ende selbst sagen kann. “Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen. (S. 76)”

[21] Das Bild der (leider inzwischen verstorbenen) US-Amerikanerin Rachel Held Evans ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge (wort-und-fleisch.de/die-neuen-evangelikalen/). Eine ausführliche Darstellung ihrer theologischen Positionen und ihres Bibelverständnisses liefern die Artikel „Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5447) sowie „Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?“ (blog.aigg.de/?p=5460) von Markus bzw. Martin Till im AiGG-Blog.

[22] Siehe dazu der Artikel „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“ in GuDh 1/2020, in dem auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ besprochen wird.

[23] Sein Bibelverständnis erläutert der FeG-Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“ (Neukirchener, 2021) wie folgt: „Warum entstehen überhaupt Bibeltexte? Ich stelle mir das so vor: Menschen machen Erfahrungen. … Irgendwann beginnen sie, über all das nachzudenken. … Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. … Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[24] Das Vorwort von Thorsten Dietz zum Buch „Wenn Gott reklamiert“ kann nachgelesen werden in der online verfügbaren Leseprobe unter www.scm-shop.de/media/import/mediafiles/PDF/156757000_Leseprobe.pdf

[25] Siehe dazu Markus Till: „Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen“, AiGG Blog 2021, blog.aigg.de/?p=5749

Keine „Schöpfung“ im Buch „glauben lieben hoffen“

Ein Gastkommentar von Dr. Reinhard Junker

Das im Juli 2021 erschienene Werk „glauben lieben hoffen“ – eine Sammlung von Antworten auf 103 Grundfragen zum christlichen Glauben – enthält einige Abschnitte mit Bezug zum Thema „Schöpfung“, hauptsächlich in den Kapiteln 9 und 10. Dabei geht es um folgende Fragen:

  • „Wie verträgt sich der Glaube an den Schöpfer mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen?“
  • „Wie kann aus Adam und Eva die ganze Menschheit entstanden sein?“

Dieser Beitrag bringt eine Analyse der Ausführungen dieser beiden Kapitel und soll Hilfestellungen geben, wie man sachgemäß zu den angesprochenen Punkten argumentieren kann.

Zu Kapitel 9 „Wie verträgt sich der Glaube an den Schöpfer mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen?“

Überraschenderweise geht es in diesem Kapitel nur am Rande um die in der Überschrift aufgeworfene Frage, sondern um das Alter der Schöpfung, der Erde, des Lebens und des Menschen. Diese Frage ist sicherlich wichtig und anspruchsvoll, wenn man gemäß den biblischen Texten und biblischen Zusammenhängen von einer jungen Schöpfung ausgeht.[1] Volkmar Hamp, der Autor dieses Kapitels, geht auf diese Frage aber nicht wirklich ein. Stattdessen setzt er die naturalistische Deutung der Naturgeschichte als wahr voraus[2] und definiert davon ausgehend neu, was der Glaube an einen Schöpfer in unserer Zeit zu bedeuten hat.

Volkmar Hamp weist zunächst darauf hin, dass man in einen Konflikt mit heutigen Vorstellungen von der Entstehung der Welt gerät, wenn man die Genesistexte als historische Tatsachenberichte versteht. Dazu gibt er zu bedenken, dass der Kreationismus im 19. Jahrhundert als Widerstandsbewegung gegen die Evolutionstheorie entstanden sei (was zeitlich allerdings nicht stimmt) und behauptet, der Kreationismus „definiere“ sich heute vor allem über den „Kampf gegen die moderne Naturwissenschaft“.

Ich beschäftige mich seit meiner Bekehrung zu Jesus Christus vor 43 Jahren (damals war ich im 4. Semester des Biologiestudiums) mit dem Thema „Schöpfung und Evolution“ und habe ungezählte Bücher und Beiträge dazu gelesen, aber es ist mir bisher nie untergekommen, dass Christen, die eine direkte Schöpfung unmittelbar durch Gottes Wort vertreten oder eine allgemeine Evolution der Lebewesen nicht für eine Tatsache halten, irgendwie gegen die Naturwissenschaft kämpfen würden oder sich gar darüber definieren würden. Es dürfte schwer fallen, für diese Behauptung eine Quelle zu finden. Es ist nichts anderes als üble Nachrede, wie sie vor allem Hansjörg Hemminger wiederholt sinngemäß in seinen Anti-Kreationismus-Schriften unters Volk gebracht hat.

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall – das wurde oft gesagt, begründet und publiziert: Naturwissenschaft ist eines der Mittel, um überhaupt Indizien für einen Schöpfer zu finden. Zweifellos findet man solche Indizien auch ohne Naturwissenschaft (vgl. Röm 1,20ff.), aber durch naturwissenschaftliche Forschung findet man viel mehr und detailliertere davon. Die Kreationisten, die sich angeblich dem Kampf gegen die moderne Naturwissenschaft verschrieben haben, sind mit  Freude Naturwissenschaftler, ganz im Sinne von Psalm 111,2: „Groß sind die Werke des HERRN; wer sie erforscht, der hat Freude daran.“ Einer der Mitarbeiter der Studiengemeinschaft Wort und Wissen, beendet seine Vorträge oft mit diesem Vers und mit dem Satz: „Danke Gott für die Wissenschaft.“ Ohne Naturwissenschaft wüssten wir viel weniger über die großartige und weisheitsvolle Schöpfung. Naturwissenschaftler decken laufend auf, was der Prophet Jeremia bezeugt: „Er ist es, der die Erde gemacht hat durch seine Kraft, der den Erdkreis gegründet durch seine Weisheit und den Himmel ausgespannt durch seine Einsicht“ (Jer 10,12). Das neue Buch „Schöpfung und Evolution. Ein klarer Fall!?[3] bringt dazu anschauliche und gut verständliche Beispiele.[4]

Beeindruckende Schöpfungsindizien gibt es auch in der unbelebten Welt. Ein Autorenteam hat dazu kürzlich ein allgemeinverständliches Buch verfasst: „Das geplante Universum. Wie die Wissenschaft auf Gott hindeutet“.[5]

Er darf niemals fehlen: Der „Lückenbüßergott“.

Im Weiteren spricht der Autor den sogenannten „Lückenbüßergott“ an. Wenn sich die Theologie auf Weltbilddiskussionen einlasse, könne sie am Ende nur verlieren. Denn mit jeder historischen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die ohne Gott auskommt, werde der Raum kleiner, für den Gott noch zuständig ist. Gott werde auf diese Weise zu einem „Lückenbüßergott“, der nur noch die Leerstellen in einem ansonsten in sich geschlossenen, rein mechanistischen Weltbild füllt (S. 32).

Das Lückenbüßer-Argument wird unablässig vorgebracht und es sitzt fest in vielen Köpfen. Was kann man dazu sagen?

Denken wir zunächst einmal im Sinne des Arguments weiter. Gott soll kein Lückenbüßer in einem „in sich geschlossenen, rein mechanistischen Weltbild“ sein, denn der Fortschritt der Forschung würde Gott aus diesen Lücken vertreiben. Offensichtlich besteht hier die Erwartung, dass die Wissenschaft es schaffen wird oder schaffen könnte, Gott aus allen Lücken zu vertreiben. Dann wäre Gott überflüssig. Gott wäre logischerweise auch dann überflüssig, wenn man ihn nicht für noch bestehende Lücken braucht. Ist es das, was der Autor sagen will? Anscheinend ja, denn der Autor schreibt in Kapitel 11: „Jedes Schöpfungswerk lässt sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen“ (S. 37). Und in Kapitel 13: Das Leben auf der Erde sei ein „vermutlich einzigartiger kosmischer Glücksfall“ (S. 42). Damit stellt sich aber die Frage, warum man überhaupt an einen Schöpfergott glauben sollte. Er ist doch „radikal ausgebootet“ worden, wie es der Verhaltensforscher Wolfgang Wickler einmal auf den Punkt gebracht hat.[6] Wenn der Autor meint, man könnte die biblischen Schöpfungsaussagen in das heutige naturalistische Weltbild einbauen, versucht er, Feuer und Wasser zu mischen. Und der Naturalismus ist das Wasser – Löschwasser! Die Behauptung, beides könne „unabhängig voneinander gelesen werden“, ist eine bloße Worthülse. Denn man muss doch fragen: Was tut eigentlich Gott als Schöpfer, wenn er überflüssig ist?

Aber das Lückenbüßer-Argument ist ohnehin fehlerhaft. Natürlich befindet sich Gott nicht in den Lücken eines wie auch immer gearteten Weltbilds oder gar in den Lücken unseres Wissens. Das sagt auch kein Kreationist und es folgt auch nicht aus ihrer Position. Das Lückenbüßer-Argument ist irreführend und arbeitet mit unzutreffenden Unterstellungen. An anderer Stelle bin ich sowohl in Bezug auf biologische als auch auf theologische Fragen ausführlich auf das Lückenbüßer-Argument eingegangen.[7] Das im Einzelnen hier auszuführen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; daher an dieser Stelle nur wenige Stichworte: Das Lückenbüßer-Argument setzt eine naturwissenschaftliche Erklärbarkeit bzw. eine natürliche Entstehung und Entwicklung der Lebewesen von vornherein und ohne stichhaltige Begründung voraus; d. h. die naturalistische Weltsicht wird ohne Beweis als wahr zugrunde gelegt. Unter dieser Prämisse wird jegliches Fehlen von Erklärungen als bloße „Lücken“ klein geredet, auch wenn es sich möglicherweise um grundsätzliche Defizite handelt, die durch weitere Forschung bestätigt werden. Das Fehlen einer Erklärung ist aber gar keine Lücke in irgendetwas, sondern ein Anlass dafür, es mit einer anders gearteten Erklärung als einer natürlichen Entstehungsweise zu versuchen. Vor allem aber sucht kein schöpfungsgläubiger Mensch Gottes Wirken in den „Lücken“ eines naturalistischen Weltbildes! Das ist ein bilderbuchmäßiger Strohmann. Vielmehr stehen sich zwei grundlegend verschiedene Erklärungsansätze gegenüber: Entstehung alleine durch natürliche Ursachen (naturalistischer Ansatz) oder Entstehung im Wesentlichen durch kreative Tätigkeit (Schöpfungs-Ansatz). Und in Bezug auf die Entstehung der Lebewesen (oder auch der physikalischen Welt) geht es darum, welcher Ansatz besser durch Indizien aus der Naturwissenschaft gestützt wird. Es ist eine Karikatur, den Schöpfungsansatz irgendwie in einen naturalistischen Ansatz einbauen zu wollen.

Dabei muss auch klar sein: Es geht hier nicht um Wissenslücken, sondern um zutreffende Erklärungen: Diese beiden Dinge werden beim Einsatz des Lückenbüßerarguments oft durcheinandergebracht. Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: Wissenslücken im Bereich der Natur werden durch Naturwissenschaft gefüllt und dadurch werden ggf. Indizien für einen Schöpfer gefunden.

Zu Kapitel 10 „Wie kann aus Adam und Eva die ganze Menschheit entstanden sein?“

Auch in diesem Kapitel passt die Überschrift kaum zum Inhalt. Denn die aufgeworfene Frage nach dem „Wie“ wird gar nicht behandelt. Dabei bietet das heutige genetische Wissen in Grundzügen durchaus Antworten auf diese Frage. Die Vielfalt innerhalb von Grundtypen[8] und entsprechend auch innerhalb der Menschheit kann auf der Basis bereits vorhandener Anlagen durchaus in wenigen Generationen ausgeprägt werden.[9] Diese Vielfalt muss nicht erst – wie im evolutionstheoretischen Rahmen – langwierig durch Darwin’sche Evolution (Mutation und deren zeitraubende Fixierung in der Population durch Selektion oder Gendrift) aufgebaut worden sein. In einem Schöpfungsrahmen gibt es hier kein grundsätzliches Problem bezüglich der Entstehung der Menschheit aus einem Paar bzw. der Noahfamilie.

Aber dies scheint den Autor von „Glauben lieben hoffen“ gar nicht zu interessieren, sondern er kommt stattdessen auf die biblische Sintflut zu sprechen. Geologische Befunde sprächen dagegen, dass die Menschheit von der Noahfamilie abstammt. Denn diese sprächen gegen eine weltweite Flut, ebenso wie physikalische Überlegungen. Hier gibt es – geowissenschaftliche Aspekte betreffend – tatsächlich schwerwiegende offene Fragen (zur Biologie s. o.). Der Autor kommt zu dem Schluss: „Wie auch immer: Weder Adam und Eva noch Noah und seine Familie sind historisch fassbare einzelne Menschen, auf die man die ganze Menschheit zurückführen könnte.“ Dieser Satz steht im Text hervorgehoben ohne jede Begründung. Irgendwann habe der Mensch festgestellt, dass er aus der „weitgehend unbewussten Einheit mit der Natur (und mit Gott) herausgefallen war und sich nun ‚jenseits von Eden‘ wiederfand“ (S. 35). Was soll hier „jenseits von Eden“ bedeuten, wenn es kein Eden und keinen Sündenfall gab? Dass der Mensch einerseits Geschöpf ist, andererseits Sünder geworden ist, der den Retter Jesus Christus braucht, geht völlig verloren. Die Aussage des Autors, dass die alten Geschichten, die nicht davon berichten, was wirklich geschehen ist, Hoffnung und Trost vermitteln sollen, ist hohl und hat keinerlei Fundierung. Der Autor meint, die Menschen hätten damals ihr „durch (Natur-)Katastrophen gefährdetes Dasein“ „reflektiert“. „Zugleich vergewisserten sie sich der Hoffnung, dass Gott sie durch alle Katastrophen hindurch bewahren und retten wird“ (S. 35). Reflexion und Selbstvergewisserung als Glaubensbasis? Wer soll hier was warum glauben? Was ist mit dem Anspruch der Heiligen Schrift, eine Offenbarung Gottes zu sein?

Wir können Jugendlichen, für die das Buch „glauben lieben hoffen“ gedacht ist, hier Besseres anbieten. Es gibt so viele Phänomene in der Natur, die förmlich nach einem Schöpfer schreien. Halten wir das den Jugendlichen vor Augen, damit sie das Schöpfersein Gottes ernst nehmen können und in ihrem Leben auch ganz real mit dem Wirken dieses Schöpfers rechnen.


[1] Hinweis auf https://www.wort-und-wissen.org/produkt/genesis-schoepfung-und-evolution/

[2] Er schreibt auf S. 37, dass jedes Schöpfungswerk sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen lasse (s. u. im Text).

[3] https://www.wort-und-wissen.org/produkt/soe_klarer-fall/

[4] Das Buch ist laienfreundlich geschrieben. Die darin gemachten Aussagen sind durch aktuelle Fachliteratur belegt, was in einem ausführlichen Quellenteil am Schluss dokumentiert wird.

[5] https://www.wort-und-wissen.org/produkt/das-geplante-universum/

[6] Wolfgang Wickler: Der Schöpfer radikal ausgebootet. Bild der Wissenschaft 10/1987; Rezension des Buches „Der blinde Uhrmacher“ von Richard Dawkins.

[7] Aus biologischer Sicht: Das Design-Argument in der Biologie – ein Lückenbüßer? https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/a19.pdf; in überarbeiteter Form auch im Sammelband „Schöpfung ohne Schöpfer?“ (https://www.wort-und-wissen.org/produkt/schoepfung-ohne-schoepfer/)

Aus theologischer Sicht:  Das Design-Argument und der Bastler-Lückenbüßer-Gott:

https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/a07.pdf; in geringfügig überarbeiteter Form veröffentlicht auch im Sammelband „Genesis, Schöpfung und Evolution“ (https://www.wort-und-wissen.org/produkt/genesis-schoepfung-und-evolution/)

[8] Grundtypen sind Gruppen von biologischen Arten, die direkt oder indirekt miteinander kreuzbar sind. Dabei müssen die entstehenden Mischlinge nicht fortpflanzungsfähig sein, jedoch das Erbgut beider Elternarten ausprägen. Im Rahmen der biblischen Schöpfungslehre kann man Grundtypen als Abkömmlinge ursprünglich erschaffener Arten mit großem Variationspotential interpretieren.

[9] Wir wissen heute viel besser als noch vor ein paar Jahrzehnten, dass die Lebewesen ein enormes Potential an Variationsprogrammen besitzen. Zudem geht aus vielen Studien hervor, dass mit einem anfänglich großen Ausmaß an Mischerbigkeit und  anderen Formen präexistenter genetischer Vielfalt gerechnet werden kann. Näheres z. B. in: Crompton N (2019) Mendel’sche Artbildung und die Entstehung der Arten, Internetartikel, https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/b-19-3_mendel.pdf

Der große Graben

In Matthäus 28, 20 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe.“ In diesem kurzen Satz stecken einige Aussagen, die zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehören:

  • Gott hat zu uns Menschen gesprochen und uns Gebote gegeben.
  • Gottes Worte sind so klar und verständlich, dass sie durch Lehre und Predigt weitergegeben werden können.
  • Dadurch werden wir Menschen vor die Entscheidung gestellt, ob wir tun wollen, was Gott sagt.

Soweit, so selbstverständlich – hätte ich bis vor einigen Jahren gedacht. Das ist es aber nicht. Eher im Gegenteil. Es erschüttert mich immer wieder, in welchem Umfang heutige Theologie diese zentrale christlich / jüdische Grundlage eines sich offenbarenden, redenden und sich verständlich machenden Gottes in den Wind schlägt. Das ging mir zuletzt so beim Studium des Buchs „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“, das der Theologieprofessor Jörg Lauster im Jahr 2008 verfasst hat. Ich habe dabei nicht den Eindruck, dass Prof. Lauster eine Randposition in der heutigen universitären Theologie einnimmt. Jedenfalls betont er selbst immer wieder, dass viele seiner Annahmen allgemeiner Konsens in der heutigen Theologie seien. Und er spricht selbst davon, dass es zwischen diesem Konsens und dem traditionellen reformatorischen Bibelverständnis einen großen, “garstigen Graben” gibt.

Dieser Diagnose kann ich mich nach der Lektüre des Buchs nur anschließen. Ich musste mich teilweise wirklich fragen: Kann man eine Theologie, die die oben genannten jüdisch/christlichen Grundlagen derart grundlegend verwirft, eigentlich noch als „christlich“ bezeichnen? Jedenfalls ärgert es mich zunehmend, wenn auch Evangelikale immer wieder äußern, konservative Christen würden durch ihre Debatten über theologische Fragen die Einheit zerstören. Tatsache ist: Die Einheit ist längst zerstört. Das liegt aber nicht daran, dass irgendwelche Konservative so dickköpfig und streitsüchtig sind. Das liegt vielmehr an einer Theologie, die nach eigener Selbstbekundung unüberbrückbare Gräben aufgerissen hat und die zugleich gegenüber Konservativen teils äußerst intolerant und herablassend auftritt – wie dieses Buch mir wieder gezeigt hat.

Ich bin mehr denn je überzeugt: Dieser große Graben verschwindet nicht, indem man ihn verharmlost, vernebelt oder totschweigt. Im Gegenteil: Wir Evangelikalen holen uns diesen großen Graben mitten in unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Werke, wenn wir ihn nicht offen ansprechen.

Ich empfehle deshalb, das Buch von Jörg Lauster zu lesen, um einen Einblick in die Denkwelt vieler heutiger Theologen zu bekommen. Es hat nur 112 Seiten und ist auch für Laien weitgehend gut lesbar. Für alle, die nicht an das Buch herankommen (es ist aktuell leider nicht erhältlich) oder die sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, habe ich nachfolgend einige Zitate herausgeschrieben. Die farbig dargestellten kommentierenden Zwischenüberschriften stammen von mir.

Zitate aus Jörg Lauster: „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“

Es gibt ein durchgängiges biblisches Zeugnis darüber, dass Gott zu den Menschen spricht und dass die biblischen Texte gemäß dem reformatorischen Verständnis das Reden Gottes wiedergeben:

S. 10: „Die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen ist nach alttestamentlicher Vorstellung maßgeblich davon bestimmt, dass Gott zu den Menschen und zu seinem Volk spricht. … Auf der Grundlage dieses biblischen Fundamentes ist in der christlichen Theologie die Vorstellung ausgebildet worden, dass Gott durch die Worte der Bibel zu Menschen spricht. Bei den Reformatoren tritt der Zusammenhang zwischen Wort Gottes und Bibel in besonderer Weise hervor.“

S. 31: „Die Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes und als heilige Schrift ist für das Christentum eine essentielle Aussage.“

S. 70: „Die eingangs erörterte Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes und die Bezeichnung ihrer Bücher als heilige Schriften sind Bestandteil dieses protestantischen Bibeldogmas.“

S. 72: „Festzuhalten ist jedenfalls, dass das protestantische Bibeldogma fort lebt und dazu gehört entscheidend die Auffassung, dass die inhaltliche Ausrichtung der christlichen Religion und die begriffliche Ausgestaltung der Lehre in den biblischen Schriften ihren originären Ursprung und ihren gegenwärtigen Maßstab habe. … Die Bibel ist als göttliches Wort die letzte Lehrautorität.“

Nach der “Entzauberung” der Bibel ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Bibel nicht mehr als Gotteswort sondern als Menschenwort anzusehen:

S. 9: „»Wie bitte?« – So lautet die vermeintlich überrascht indignierte Antwort eines Journalisten auf die theologische Feststellung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist. Zugetragen hat sich dies bei einem Interview des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, mit der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘. … Die Bestreitung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, vermag noch immer für Aufsehen zu sorgen’. Das ist theologisch erstaunlich, denn Steinacker kann sich in seinen Bemerkungen zum Schriftverständnis auf einen großen Konsens innerhalb der akademischen Theologie berufen. Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes gleichzusetzen.“
(Vgl. dazu das zitierte Interview in: Zeitzeichen 11/2005, 39-42. Das Interview ist überschrieben mit »Die Bibel ist nicht Gottes Wort«.)

S. 13: „Die Bibelkritik macht auf Fehler und innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam, welche die Vorstellung, Gott habe den Verfassern die biblischen Texte diktiert, zusammenbrechen lassen. … Es ist aber keineswegs allein das Aufkommen einer historischen Bibelkritik, die über die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Bibel die Identität von Bibel und Gotteswort auflöst. Schwerer wiegt, dass in wesentlichen Teilen biblische Auffassungen mit dem modernen Weltbild in Konflikt geraten. … Die Entzauberung der Bibel als Wort Gottes ist ein Faktum der europäischen Religionsgeschichte in der Moderne. … Der Neuprotestantismus bricht mit der altprotestantischen Vorstellung, die Bibel mit dem Wort Gottes gleichzusetzen und versucht, die Bedeutung der Bibel auf dem Boden historischer Einsichten zu begründen. Das Wort Gottes wird so zum Wort von Menschen.“

Auch die Barth’sche Wort-Gottes-Theologie trennt zwischen Bibeltext und Wort Gottes, traut der Bibel aber zu, dass Gott durch sie zum Menschen spricht:

S. 16/17: „Die Bibel ist ein ganz und gar „menschliches Dokument“ und es sei, so hält Barth ausdrücklich fest, nicht nötig, „diese offene Türe […] immer wieder einzurennen“. … Die Schrift ist daher nicht Gottes Wort im Sinne eines Zustands, sie kann jedoch zum Wort Gottes werden. Diese Wortwerdung fasst Barth als das Ereignis einer Inspiration. … Darum ist das Wort Gottes ein Ereignis und nicht eine den biblischen Texten an sich schon zukommende Eigenschaft. … Barths Wort-Gottes-Theologie gründet darum in einem Gottesbegriff, der eine fulminante Remythisierung der Vorstellung vom redenden Gott darstellt. Gott spricht – und die Bibel ist die ‚Fortsetzung‘ dieses göttlichen Sprechens. … Die Wort-Gottes-Theologie bewahrt in diesem Sinne ein wichtiges Moment des biblischen Gottesbildes.“

Aber auch die Wort-Gottes-Theologie wird hart kritisiert als eitler, autoritärer Biblizismus und „infantile“, „abschreckende“, „mythologisch-magische Vorstellung eines redenden Gottes“, die mit modernem Denken nicht kompatibel ist und große Flurschäden hinterlassen hat:

S. 19: „Seit den 6oer Jahren schwindet der Einfluss der Wort-Gottes-Theologie. … Paul Tillich witterte … in Barths Theologie einen „neuorthodoxen Biblizismus“ … Diese argumentative Selbstabschließung trage, so Tillich, fundamentalistische Züge in sich.“

S. 20: „Wort-Gottes-Theologie kann so ein religiöses Herrschaftsinstrument werden, und die im Umgang mit der Bibel bisweilen unerträglich gekünstelten Eingeständnisse, man wolle allein dem Wort des Herrn dienen, gleichen Unterwerfungsgesten, hinter denen sich ein ungeheures Maß an Eitelkeit verbirgt.“

S. 21: „Identifiziert man so das göttliche Offenbarungshandeln mit dem Begriff des Wortes Gottes, so steht dahinter letztlich eine »mythologisch-magische« Vorstellung eines redenden Gottes.“

S. 22: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Die methodische Haltung, im wissenschaftlichen Argumentationsgang mit Gründen zu operieren, über deren Plausibilität dann selbst keine Rechenschaft mehr abgelegt werden darf und kann, ist jedoch wissenschaftlichem Denken ganz und gar fremd. … Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält und darüber hinaus theologisch weit hinter das zurückfällt, was die christliche Tradition über Gott lehrt und bekennt.“

Die Bibel ist gemäß dem heutigen „Grundkonsens“ „durch und durch Menschenwerk“ und „Propaganda“ ohne Interesse für die tatsächliche Geschichte:

S. 23: „Überblickt man diese Folgeschäden der Wort-Gottes-Theologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. Besonders deutlich wird dies in der Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes. Sie im wörtlichen Sinne als Wort Gottes zu bezeichnen, hat von ihren nachweislichen Entstehungsbedingungen und ihrer religionsgeschichtlichen Verankerung her keinen Anhaltspunkt.“

S. 24: „Unabweisbar stellt sich heraus, dass die biblischen Schriften nicht die aufgezeichneten Worte eines redenden Gottes sind, sondern von Menschen erdachte, verfasste, überarbeitete Texte. … Doch von diesen Einzelfragen zu unterscheiden ist das, was sich in den alttestamentlichen und neutestamentlichen Einleitungswissenschaften als Grundkonsens etabliert hat. Demnach sind die biblischen Texte durch und durch Menschenwerk. Sie sind ganz eingebunden in ihre Zeit und werden in einem komplexen Überlieferungsprozess bei ihrer Weitergabe umgestaltet und fortgeschrieben. Die historisch-kritische Exegese … hat … damit unbestreitbar religiöse Gewissheiten und das Vertrauen in die Bibel erschüttert. … Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments sind über Jahrhunderte fortgeschrieben worden, hinter den Prophetenbüchern lassen sich kaum noch konkrete Persönlichkeiten ausmachen, die Evangelien sind nicht von Augenzeugen des Lebens Jesu geschrieben, sondern mindestens eine Generation später und obendrein im Dienste einer Missionspropaganda, die an einer ‚historischen‘ Biographie Jesu gar kein Interesse hatte.“

S. 26: „Doch eines lässt die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel ganz außer Zweifel: Sie ist nicht übernatürlich auf geheimnisvolle Weise entstanden. … Heilig kann kein Attribut sein, dass ihr als inhärente Eigenschaft anhaftet.“

An die Stelle der biblischen Heilsgeschichte tritt „Mythos“ und „Fiktion“:

S. 41: „Die biblischen Texte – das ist die unaufgebbare Einsicht der modernen Exegese – sind nicht in einem modernen Sinne als historische Quelle zu gebrauchen.“

S. 44: „Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen biblischen Texten nicht um historische Erzählungen, sondern um Mythen. … Der Mythos ‚antwortet‘ durch eine narrative und fiktive Verarbeitungsleistung darauf, wie Menschen die Wirklichkeit erfahren.“

S. 47: „Die Texte bilden daher nicht einfach historische Ereignisse der Vergangenheit fotografisch ab, sie malen vielmehr ein eigenes Bild der Person Jesu, aus dem seine Bedeutung für die Tradenten hervorgeht. … Es sind nicht die Ereignisse selbst, sondern die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse, die aus den Texten spricht. Dabei kommen wie schon im Alten Testament der Mythos und die Semiotisierung von Ereignissen zur Anwendung.“

S. 51: „Selbst der Mythos ist keine ‚Erfindung‘ ohne Anhaltspunkt, sondern eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen mit den Mitteln der Fiktion.“

Die biblischen Texte sind vielfältige „Deutungen religiöser Erfahrung“, „Dichtung“, „religiöse Literatur“, „existentiale Selbstauslegungen“, die das Lebensgefühl von Menschen widerspiegeln:

S. 38: „Die biblischen Texte sind ihrem Wesen nach Deutungen religiöser Erfahrung. In produktiver Anknüpfung an die kulturell vorgegebenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Zeit interpretieren sie den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt der Menschen konkret als Gottesbegegnungen.“

S. 54: „Der als Gottesbegegnung gedeutete Einbruch von Transzendenz setzt eine Vielzahl von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten frei. … Daraus ergibt sich notwendigerweise ihre Vielfalt. Es ist zudem damit zu rechnen, dass sich in der menschlichen Ausdrucksbildung Verzerrungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen einstellen.“

S. 40/41: „Die biblischen Texte räsonieren nicht über die Gottesbegegnung, sie erzählen sie. … Die Art der Erlebnisdeutung ist in den biblischen Texten eher mit der Dichtung als etwa mit einem philosophischen Zugang zu vergleichen. Mit gutem Recht lässt sich daher die deutende Wirklichkeitsverarbeitung der Bibel in ihrem ganzen Facettenreichtum als religiöse Literatur beschreiben.“

S. 41: „Die biblischen Schriften sind – um es fundamentaltheologisch zu formulieren – nicht Offenbarung an sich, sondern Deutungen von Ereignissen als Offenbarung.“

S. 87: „Die biblischen Sprachbilder symbolisieren Transzendenzerfahrungen, genauer, sie symbolisieren Gottesbegegnungen.“

S. 89: „Die biblischen Schriften artikulieren … sprachliche Deutungsmuster der Erfahrung von Transzendenz. Dabei interpretieren sie Transzendenz präziser als Gottesbegegnung. … In den biblischen Schriften spiegelt sich das Lebensgefühl von Menschen wider, die ihr Leben im Lichte der Begegnung mit Gott deuten und interpretieren. In diesem Sinne ist die Bibel als literarisches Aus- drucksuniversum religiöser Erfahrung zu verstehen, das religiöse Deutungsmuster für den Umgang mit Transzendenz bereitstellt.“

S. 105/106: „In diesem Sinne sind die biblischen Deutungen immer auch – darin Iiegt die bleibende Bedeutung Rudolf Bultmanns – existentiale Selbstauslegungen. In ihnen artikuliert sich, wie sich Menschen vor dem Einbruch und der Wirksamkeit göttlicher Präsenz verstehen.“

Die Gestalt des Kanons ist bis heute fraglich:

S. 56: „In diesem Prozess nehmen allerdings zeit- und kontextabhängige Erinnerungsinteressen Einfluss, deren Plausibilität schon damals fraglich war und vor allem dann späteren Generationen nicht immer als zwingend erscheinen muss. Die Grenzen zwischen den kanonischen und den apokryphen Schriften, die nicht in den Kanon gelangten, sind daher fließend.“

Die biblischen Texte sind als widersprüchliche „literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten“ gar nicht geeignet, um aus ihnen theologische Lehren zu begründen:

S. 76/77: „Die biblischen Schriften erfüllen … von ihrem Wesen her nicht die Funktion, theologische Lehrbildungen zu begründen. … Als literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten sind die neutestamentlichen Texte im Grunde nicht geeignet, aus ihnen Lehrgehalte zu erheben. … Die biblischen Texte geben das spezifische ‚Lebensgefühl‘ der ersten Christen in seinem ganzen Facettenreichtum wieder, sie fangen religiöse Stimmungen ein und bringen diese literarisch zum Ausdruck.“

S. 79/80/81: „Die Bibel ist in der Breite ihrer Aussagen und Ausdrucksformen nicht auf Lehren zu reduzieren, und schon gar nicht auf eine Lehraussage, sie thematisiert und artikuliert vielmehr ein Universum religiöser Gestimmtheiten. … Der Versuch, eine der Bibel gemäße Theologie zu konstruieren, wirft ein gravierendes Problem auf. Welche Theologie soll dies sein? Es ist ein theologisch sattsam bekanntes Faktum, dass der neutestamentliche Kanon eine Vielfalt von Theologien enthält. … Dieser plurale Charakter der biblischen Schriften ist in der Exegese weitgehend unstrittig: »Die Vorstellung einer Einheit im Sinn einer sich durchhaltenden einheitlichen Dogmatik im Neuen Testament ist eine Fiktion«.“*

*: Seltsam nur, dass auch Lauster selbst von einem durchgängigen “biblischen Gottesbild” eines redenden Gottes spricht (siehe oben), während er hier meint, so etwas wie ein biblisches Gottesbild gäbe es gar nicht.

S. 104: „Von der Exegese führt kein unmittelbarer Weg zum Dogma und auch nicht zur Predigt. Sie zielt vielmehr auf die historische Rekonstruktion vergangener religiöser Sinnbildungs- und Deutungsprozesse im Kontext der Erfahrungszusammenhänge, aus denen sie entstehen.“

Strohmänner und Diffamierung: “Fundamentalismus” ist Bibelvergötzung und vernunftfeindliche „Propaganda“:

S. 15: „Der gesamte vormoderne Vorstellungskomplex vom redenden Gott, der die Bibel diktiert und so zu den Menschen spricht … ist gegenwärtig ein erfolgreiches Modell protestantischer Missionspropaganda.“

S. 30: „Entscheidend daran ist, dass es nach christlichem Verständnis um die Vergegenwärtigung einer Person, Jesus Christus, geht und nicht um die Anbetung eines Buches. … Der Fundamentalismus ignoriert die Unterscheidung zwischen Buch und Person ganz und vergöttert so die Schrift an sich.“*

*: Zum verbreiteten Strohmannargument der Bibelvergötzung siehe der Artikel “Die 5 häufigsten Strohmannargumente gegen ein konservatives Bibelverständnis”

S. 31: „Die Verleugnung oder Ignorierung einer historischen Betrachtung* der Bibel erhöht deren Glaubwürdigkeit keineswegs, sondern untergräbt sie in tragischen Ausmaßen. … Man muss an dieser Stelle Kant bemühen dürfen: »Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“. … Eine tragende Bedeutung der Bibel ist in der Gegenwart nicht an der modernen Entzauberung vorbei oder gar gegen sie, sondern nur durch sie hindurch zu entfalten.“

*: Zum verbreiteten Strohmannargument, konservative Theologie würde das historische Umfeld und den historischen Abstand der biblischen Texte “verleugnen oder ignorieren” siehe der Artikel: “Streit um das biblische Geschichtsverständnis”

Zwischen der „neuprotestantischen“ Theologie und dem “Fundamentalismus” bzw. der Wort-Gottes-Theologie „klafft ein garstiger Graben“:

S. 72/73: „Für das ‚Dogma‘ der Bibel, oder anders formuliert, für eine systematisch-theologische Schriftlehre ergibt sich daraus gegenwärtig eine eigenwillige, ja eine fast skurrile Ausgangssituation. Einerseits finden sich vornehmlich im Fundamentalismus und in der Wort-Gottes-Theologie moderne Restaurierungs- und Reparaturversuche des altprotestantischen Schriftverständnisses. … Dagegen richtet sich andererseits das Verständnis der Bibel in dem weiten Feld des liberalen Neuprotestantismus. … Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“

S. 96: „Historische und dogmatische Methode sind vielmehr zwei grundverschiedene Stile, Theologie zu treiben, die sich durch alle theologischen Disziplinen ziehen. Die dogmatische Methode erhebt die eigene religiöse Überzeugung zur unhintergehbaren Voraussetzung, während die historische Methode die eigene Religion einer methodisch ausweisbaren, Wissenschaftlichen Überprüfung unterzieht.* … unaufgebbar entscheidend bleibt folgender Grundgedanke: Eine auf Plausibilität zielende Beschreibung des Christentums kann im Kontext der Neuzeit nur eine Beschreibung in rationaler, wissenschaftlicher Durchführung sein. Die historisch-kritische Methode der Exegese ist daher eine konkrete Erscheinungsform dessen, was Troeltsch historische Methode nennt. Sie ist der den neuzeitlichen Rationalitätsstandards sich verdankende Umgang mit den biblischen Texten.“

* Zum verbreiteten Strohmannargument der Vernunftfeindlichkeit konservativer Theologie und der angeblichen Unvoreingenommenheit der universitären Theologie siehe der Artikel „Das wunderkritische Paradigma“: Die traditionelle protestantische Theologie erhebt ja gerade nicht die „eigene religiöse Überzeugung“ zum Dogma, sondern sie nimmt im Gegensatz zur modernen universitären Theologie den Forschungsgegenstand Bibel samt dem bibeleigenen Selbstanspruch zum Wesen der Texte und zu ihrem Offenbarungscharakter ernst gemäß dem Prinzip: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Gerade dadurch wird die Bibel vor menschlichen Übergriffen und „Eisegese“ (also das Hineininterpretieren bibelfremder Annahmen in die Texte) geschützt. Die neue Theologie ist hingegen keineswegs methodisch neutral, sondern sie basiert mit ihrem Wissenschaftsbegriff auf einem philosophischen Unterbau, der vom Rationalismus (hier als „neuzeitliche Rationalitätsstandards“ bezeichnet), Naturalismus und Wunderkritik geprägt ist.

Bibelkritik ist heute institutionalisierter Mainstream:

S. 103: „Historische Kritik, die einstmals Rebellion war, ist zur Institution geworden.“

Zwei abschließende Bemerkungen:

  • Es wirkt auf mich angesichts der Dominanz dieser theologischen Sichtweisen seltsam, wenn manche Postevangelikale sich immer noch als Rebellen inszenieren. Sie sind einfach nur auf den Weg des großen Mainstreams volkskirchlicher Theologie abgebogen.
  • Ganz wichtig: Auch in diesem Artikel geht es natürlich in keiner Weise um persönliche Kritik an Prof. Lauster. Es geht schlicht darum, nüchtern die grundlegenden Differenzen im Bibelverständnis transparent zu machen, die Prof. Lauster ja selbst offen anspricht.

Alle Zitate stammen aus Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung, Forum theologische Literaturzeitung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2008

Mehr Toleranz oder mehr Konsens? Was dient der Einheit?

Wie gehen wir mit den wachsenden Spannungen unter Christen um? Welche Rolle spielt die Internetmediathek Worthaus dabei? Brauchen wir mehr Konsens oder mehr Toleranz, um den Riss zu überbrücken? Wie können wir zu tragfähiger Einheit in Vielfalt finden? Mit diesen Fragen habe ich mich in meinem Vortrag bei der Leiterkonsultation des Netzwerks Bibel und Bekenntnis am 14. November 2020 befasst. Er ist jetzt auf YouTube verfügbar. Das Vortragsskript mit allen Quellenangaben dokumentiert dieser Artikel.

In vielen Äußerungen von christlichen Leitern nehme ich immer stärker eine zentrale Grundfrage wahr: Wie können wir beieinander bleiben? Ganz offenkundig wird quer durch alle Werke und Gemeinschaften eines immer spürbarer: Wir werden unterschiedlicher. Wir driften auseinander. In einer kleinen Umfrage vor dieser Leiterkonsultation hat uns Andreas Späth von der KSBB Bayern geschrieben: „Leider geht der Riss quer durch Gemeinden.“ Und spürbar ist dabei: Die Differenzen betreffen nicht nur Fragen der Prägung oder des Musikgeschmacks. Sie betreffen gerade auch theologische Themen. Dr. Jens-Peter Horst von der landeskirchlichen Gemeinschaft Eschwege hat uns geschrieben: „Ich sehe hier eher keinen grundsätzlichen Unterschied zu der bestehenden Kontroverse mit der liberalen Theologie in der Kirche bzw. insgesamt. Die Kontroverse hat nun nur … auch innerhalb der evangelikalen Bewegung Fuß gefasst.“ Das heißt also: Die theologischen Konflikte, die wir beobachten, sind inhaltlich gar nichts Neues. Aber sie treten jetzt eben auch mitten in unserem evangelikalen Umfeld auf. Kein Wunder, dass sich dann immer dringender die Frage stellt: Wie kann heute noch Einheit in Vielfalt gelingen, wie es z.B. so lange Zeit in der evangelischen Allianz oder bei Evangelisationen wie Pro Christ gelungen ist?

Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Meine Wahrnehmung ist: Immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden neigen dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums sei keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Aber die Frage ist: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen haben gerade die letzten Wochen wieder gezeigt: Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue politische und moralistische Trennmauern aufgerichtet.

Und meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir schlicht keine gemeinsame Botschaft mehr.

An dieser Stelle höre ich oft: Aber so schlimm ist es doch gar nicht! Natürlich haben wir gerade in unseren evangelikal geprägten Kreisen noch sehr viel Gemeinsames über Jesus Christus und über das Evangelium zu sagen. Auch ich habe lange Zeit so gedacht. Aber ich muss sagen: Diese Sichtweise hat sich bei mir in den letzten drei Jahren sehr geändert. Und diese Veränderung begann, als ich angefangen habe, mich intensiv mit Worthaus auseinanderzusetzen.

Die Worthaus-Mediathek

Die Worthaus-Mediathek umfasst aktuell mehr als 150 Vorträge von 27 ganz verschiedenen Referenten. Bei der letzten kleineren Worthaustagung war zum Beispiel Dr. Eugen Drewermann der Hauptredner. Bei einer solchen Vielfalt ist natürlich auch die Theologie, die dort vermittelt wird, ziemlich bunt. Allerdings gibt es bei Worthaus 2 prägende Personen, die schon rein zahlenmäßig die allermeisten Worthaus-Vorträge halten und deswegen natürlich auch die Theologie von Worthaus prägen: Das ist zum einen der emeritierte Theologieprofessor Siegfried Zimmer und zum anderen der Dozent der evangelischen Hochschule Tabor Prof. Thorsten Dietz. Gerade auch bei der letzten großen Worthaus-Tagung („Worthaus 9“) haben sich Prof. Zimmer und Prof. Dietz mit den allerzentralsten Fragen des Christentums beschäftigt: Wer war und wer ist Jesus Christus? Was bedeutet sein Tod am Kreuz? Ist Jesus wirklich leiblich auferstanden? Ich habe dieses Jahr eine ausführliche Analyse aller Vorträge dieser Worthaus-Tagung vorgelegt[1]. Lassen Sie mich aus dieser Analyse kurz einige Schlaglichter herausgreifen, zunächst zu einer absoluten Knackpunktfrage der Theologie:

War Jesus von Nazareth nicht nur wahrer Mensch sondern auch wahrer Gott?

Bei Worthaus 9 sagte Siegfried Zimmer zu diesem Thema folgendes:[2]

„Gehört bitte nicht zu den Christen, die gleich den Flatterich kriegen, wenn ich sage: Jesus war vielleicht selber der Überzeugung, dass er selber gar nicht der Menschensohn ist, dass das ein späterer christlicher Eintrag war … Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. … Er ist schon ein normaler Mensch, bitte! … In einem Mitarbeiterheft für tausende von Sonntagsschulmitarbeitern hat eine Frau einen Artikel über Jesus geschrieben … : „Jesus war der Gottessohn und der Retter der Welt. Er kam, um zu sterben und er hat viele Wunder getan und konnte übers Wasser laufen.“ Das schreibt eine Frau für tausende von Mitarbeitern in der Sonntagsschule. Da muss ich fast kotzen. Ich kann’s nicht anders sagen. … Ich habe dann dem Vorstand von diesem Verlag geschrieben: Sie könnten doch mit gleicher Buchstabenzahl … sagen: „Jesus war aufmerksam für die Armen, er schätzte die Frauen höher als es damals üblich war und er liebte die Kinder. Das ist doch Millionen mal mehr als dieses Titelgeklapper.“

Ich bekomme keinen „Flatterich“ bei diesen Aussagen. Aber ich stelle einfach nüchtern und sachlich fest, dass sich meine Theologie hier an zentralster Stelle fundamental von der Theologie Siegfried Zimmers unterscheidet. Denn bei der Aussage, dass Jesus der Gottessohn und Retter der Welt war, der gekommen ist, um für uns zu sterben, da steigt in mir nun einmal kein Würgreiz auf sondern ein lautes „Ja, so ist es!“. Was mich aber wirklich verstört ist der Umstand, dass Zimmer diesen Text tatsächlich ersetzen möchte durch eine Beschreibung, die genauso auf Mutter Theresa oder Mahatma Gandhi zutreffen könnte

Was bedeutet nun der Tod Jesu am Kreuz?

Dazu sagt Siegfried Zimmer[3]:

„Im Englischen unterscheidet man zwischen „victim“ … und „sacrifice“. „Victim“ ist ein Opfer VON etwas: Verkehrsopfer, Kriminalitätsopfer. Und „sacrifice“ ist ein Opfer FÜR etwas. Wir müssen Jesu Tod erst mal als „victim“ würdigen. Jesus ist erst mal ein Opfer der römischen Militärbehörde geworden und er ist gefoltert worden. Wenn wir sofort mit „sacrifice“ arbeiten, dann haben wir ein Modell, da muss Jesus halt ans Kreuz. … So hat man in den Jahrhunderten des Abendlands das Christusverständnis und das Gottesverständnis hineingezwängt in eine Straflogik, als ob Gott die Strafe nötig hätte. … Aus diesem Modell, ihr Lieben, müssen wir, dürfen wir – jubilate – ganz aussteigen. Dieses Modell verdirbt das Evangelium und den liebenden Gott im Kern.“

Zimmer lehnt die biblische Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer also in einer grundlegenden Weise ab. Auch Thorsten Dietz äußert sich bei Worthaus 9 zu diesem Thema. Und zu der Frage, was denn die Botschaft des Kreuzes ist, sagt er[4]:

„Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! … Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein großes „Für Dich“! Ein großes „Ja“!“

Natürlich geht es beim Kreuzestod um eine Liebesbotschaft. Aber ich bin überzeugt: Es geht im Kern eben auch um Sündenvergebung und um die Tatsache, dass Jesus stellvertretend sein Blut vergossen hat, damit meine Schuld bezahlt und mein Schuldsein getilgt wird.

Wie wird die Frage nach der leiblichen Auferstehung bei Worthaus gesehen?

Sowohl Siegfried Zimmer wie auch Thorsten Dietz betonen immer wieder, dass sie an die leibliche Auferstehung Jesu glauben. Allerdings betont Thorsten Dietz in seinem Vortrag über dieses Thema auch[5]:

„Hier ist nichts, kein Paragraph, keine These, kein Abschnitt, nichts, wo Du sagen kannst: Hier rechts unten bitte unterschreiben. Dann hältst Du das feste für wahr und das ist dann Deine Lebensversicherung für die Unendlichkeit.“

Also gibt es für ihn auch in der Osterbotschaft nichts, was letztlich für alle Christen eine selbstverständliche gemeinsame Glaubensgrundlage darstellt. Auch die Frage nach dem Charakter der Auferstehung darf man also gerne unterschiedlich sehen.

Dazu passt, was Thorsten Dietz in Worthaus 9 ganz grundsätzlich über sein Bibelverständnis sagt[6]:

Es ist doch unendlich viel besser zu akzeptieren, dass solche Verstehensweisen biblischer Texte immer wieder neu und immer wieder anders und immer wieder frisch sich ereignen müssen. Es kann da keinen ewigen und absoluten Schlüssel geben.“

Kann man also gar keine bleibenden, objektiv für alle richtigen theologischen Erkenntnisse aus der Bibel gewinnen? Dazu muss man wissen, dass es quer durch Worthaus hindurch als selbstverständlich gilt, dass der Bibeltext selbst keine Offenbarung darstellt, sondern nur von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ZEUGT. Der Bibeltext selbst ist aber fehlerhaft, menschlich und kritisierbar. Wenn in Worthaus von „Bibelkritik“ die Rede ist, dann ist damit nie nur eine unterscheidende Bibelkritik gemeint im Sinne einer genauen Ermittlung der Textgattung und der Textaussage im Rahmen seines geschichtlichen Umfelds. Es geht immer auch um Sachkritik, also an echter inhaltlicher Kritik an der Aussageabsicht der biblischen Texte. Siegfried Zimmer geht davon aus, dass Jesus das Alte Testament kritisiert hat und dass wir deshalb auch heute noch mit Jesus die Bibel kritisieren könnten. Zu den Gesetzestexten in den Mosebüchern äußert er[7]:

„In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Siegfried Zimmer bekundet immer wieder, dass für ihn die Bibel natürlich Wort Gottes sei. Diese Äußerung macht für mich jedoch deutlich, dass er damit etwas völlig anderes meint als ich. Denn ich gehe davon aus, dass tatsächlich die ganze Bibel von Gottes Geist inspiriert und „durchhaucht“ ist.

Lassen Sie mich aber auch dazu sagen: Es geht hier überhaupt nicht darum, Prof. Dietz oder Prof. Zimmer persönlich zu kritisieren. Es geht um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Und natürlich sind auch diese wenigen Zitate viel zu kurz, um sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Ich möchte Sie deshalb ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, einmal die ganze Analyse der Worthausvorträge durchzulesen und sich auch die wichtigsten Vorträge einmal selbst anzuschauen. Machen Sie sich selbst ein Bild! Ich finde es wichtig, dass wir uns als Leiter damit auseinandersetzen, welche Botschaften in unserer Mitte wirken und Einfluss ausüben.

Denn so viel ist sicher: Diese Botschaften haben tatsächlich großen und wachsenden Einfluss in unserer Mitte. Schon 2018 hatte Siegfried Zimmer berichtet: Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Mir fällt auf, dass Siegfried Zimmer und Thorsten Dietz immer wieder auch evangelikale Leiter schulen dürfen, so zum Beispiel Gemeinschaftsverband Württemberg, den Apis. Thorsten Dietz gehört zum Gnadauer Arbeitskreis Theologie. Er spricht bei evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. beim Gnadauer Upgrade-Kongress oder jüngst bei der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft für missionarische Dienste. Er ist beim ERF zu hören und zu sehen. Und Thorsten Dietz macht natürlich auch Werbung für andere theologisch progressive Formate wie zum Beispiel Hossa Talk mit Gottfried Müller und Jakob Friedrichs. Im neuesten Buch von Jakob Friedrichs ist mir unter anderem dieser Satz aufgefallen [8]:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Auch hier sehen wir wieder die gleiche Botschaft: Einheit geht nicht mehr über Konsens in den zentralen Glaubensfragen sondern über Toleranz. Alles soll gleichermaßen akzeptabel sein.

Aber gewinnen wir so wirklich Einheit in Vielfalt? Peter Hahne einmal gesagt hat: „Wenn alles gleich gültig ist, ist auch schnell alles gleichgültig.“[9] Und genau das ist doch das Drama meiner evangelischen Kirche: Sie ist weder anziehend. Sie ist aber auch nicht abstoßend. Sie ist für die allermeisten Leute schlicht egal geworden. Deshalb glaube ich: Eines unserer großen Probleme ist die falsche Vorstellung, dass wir Einheit in Vielfalt gewinnen können, indem wir uns vom biblisch begründeten Konsens verabschieden. Die Wahrheit ist: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht nicht nur der Konsens verloren, sondern auch unsere gemeinsame Basis, unsere gemeinsame Botschaft und unsere missionarische Dynamik. Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich. Aber sie steht und fällt mit der hohen Wertschätzung von Bibel und Bekenntnis.

Ich bin ein großer Anhänger von Einheit in Vielfalt. Ich liebe es, wenn zum Beispiel bei ProChrist ganz unterschiedlich geprägte Christen zusammen kommen, um gemeinsam das Evangelium weiter zu geben. Ich bin sehr dafür, dass wir in Randfragen ganz viel Weite haben. Aber wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum starke, fest gegründete Pfeiler. Da brauchen wir im Kern den Jesus Christus, den die Heilige Schrift uns bezeugt und den die Christen zu allen Zeiten in ihren Bekenntnissen festgehalten haben. Deshalb ist das Engagement für Bibel und Bekenntnis heute mehr denn je aktiver Einsatz für die Einheit und für die missionarische Dynamik der Kirche Jesu.

Lassen Sie mich am Ende noch einmal zwei Impulse aus unserer Umfrage aufgreifen: Pfarrer Bernhard Elser hat uns geschrieben: „Mir scheint die Ermutigung zum öffentlichen Bekenntnis, auch angesichts von Widerstand und Anfechtung, für absolut zentral.“ Und Dr. Joachim Cochlovius hat geschrieben: „Dieser Verführungskraft ist letztlich nur geistlich mit Gebet beizukommen.“ In der Tat: Öffentliches Bekenntnis und Gebet: Beides wird unbedingt notwendig sein, um die zentralen Glaubensschätze, die uns verbinden und auf denen die Kirche Jesu gebaut ist, zu bewahren und ganz neu zu stärken.


[1] Markus Till: „Quo vadis, Worthaus? Quo vadis, evangelikale Bewegung?“ In: “Glauben & Denken heute” Ausgabe 1 /2020, S. 18, online unter https://blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf

[2] Siegfried Zimmer: „Der Prozess vor Pilatus (Mk 15, 1-15)“, Worthaus 9, Tübingen 10.06.2019, ab Min. 53.12, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-vor-pilatus-mk-15-1-15-9-4-2/

[3] Siegfried Zimmer: „Gibt es einen strafenden Gott?“ Worthaus Pop-Up Wipperfürth, 3.08.2018, ab Min. 1:03:58, online unter: https://worthaus.org/worthausmedien/gibt-es-einen-strafenden-gott-8-6-1/

[4] Thorsten Dietz: „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ Worthaus 9, Tübingen, 10.6.2019, ab Min. 47:15, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/

[5] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 1:06:24, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[6] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 51:50, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[7] Siegfried Zimmer: „Jesus und die blutende Frau (MK 5, 21-43)“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 36.57, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/jesus-und-die-blutende-frau-mk-5-25-34-9-5-2/

[8] Jakob Friedrichs: „Ist das Gott oder kann das weg?“ Asslar, 2020, S. 18.

[9] Peter Hahne in: „Schluss mit lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft“ Lahr, 2004

Theologische Ausbildungsstätten im Spannungsfeld

Über die Zukunft der evangelikalen Bewegung wird vor allem auch an ihren theologischen Ausbildungsstätten entschieden. Wie geht man dort mit den Widersprüchen zwischen traditionellen evangelikalen Grundbekenntnissen und dem Wissenschaftsverständnis staatlicher Einrichtungen um? Bei meinen Recherchen zum Artikel über das wunderkritische Paradigma kam ich darüber mit einigen Vertretern und Abgängern von freien Ausbildungsstätten ins Gespräch – und stieß auf teils überraschende Antworten.

Traditionell hatten sich die freien theologischen Ausbildungsstätten überwiegend klar gegen die Wunderkritik positioniert, die an den universitären theologischen Fakultäten bis heute vorherrschend ist. Weit verbreitet war stattdessen ein klares Bekenntnis zum Offenbarungscharakter der Bibel. So nennt die Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten (KBA), zu der sich aktuell 36 Einrichtungen zählen, auf ihrer Internetpräsenz nach wie vor die „göttliche Inspiration und die Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift​“ gleich als erste Glaubensgrundlage. So klar, wie dieses Bekenntnis es vorgibt, ist die reale Situation aber offenbar nicht an allen Ausbildungsstätten, die sich zur KBA zählen. Erst vor kurzem schrieb mir ein Student einer KBA-Ausbildungsstätte, dass dort Siegfried Zimmers Buch „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ Pflichtlektüre für alle Studenten sei – obwohl Siegfried Zimmer sich klar gegen den Offenbarungscharakter der biblischen Texte wendet.[1] Zudem sind mir immer wieder Äußerungen und Veröffentlichungen von Lehrkräften aufgefallen, die kaum noch zu solchen evangelikalen Grundbekenntnissen zu passen scheinen. 2018 hat die evangelische Hochschule Tabor die KBA verlassen. Könnte es sein, dass Denkvoraussetzungen und Paradigmen der universitären Theologie auch an einigen freien theologischen Ausbildungsstätten Fuß fassen? Wenn ja: Woran liegt das?

Ein Grund könnte sein, dass Studenten es schätzen, wenn ein Abschluss auch Türen in staatliche und kirchliche Strukturen (Pfarrer, Religionslehrer…) öff­net. Um das zu ermöglichen, brauchen die Ausbildungsstätten eine Akkreditierung durch Instanzen aus dem staatlichen Wissenschaftssystem. Zwar gilt auch für diese Instanzen ausdrücklich das Prinzip der Freiheit der Forschung. Niemand darf gezwungen werden, einseitige Forschungsergebnisse oder Verfahren als unumstößlich anerkennen zu müssen. Trotzdem wurde mir zugetragen: Im Rahmen dieser Akkreditierungsverfahren könne durchaus Druck entstehen bzw. es könne als opportun erscheinen, das klare Bekenntnis zum Offenba­rungscharakter der Bibel zumindest ein Stück weit aufzuweichen.

Das wäre aber sicher nur eine der Ursachen, warum einige freie Ausbildungsstätten scheinbar zunehmend in ein schwieriges Spannungsfeld geraten zwischen den traditionellen evangelikalen Überzeugungen (die ja vor allem an der Gemeindebasis noch häufig erwartet werden) und den gänzlich anderen Erwartungen der staatlichen bibelwissenschaftlichen Welt. In meinen Gesprächen sind mir vor allem fünf unterschiedliche Strategien begegnet, mit denen Ausbildungsstätten versuchen, mit dieser Spannung umzugehen:

1. Strategie: Die Suche nach dem „goldenen Mittelweg“

Ich kenne das selbst: Wenn man über Konflikte und Debatten schreibt, dann ist es rhetorisch immer äußerst praktisch, sich gegen extreme Ränder auf beiden Seiten abgrenzen und sich selbst in einer scheinbar ausgewogenen Mitte verorten zu können. Das wirkt garantiert seriös und differenziert. Entsprechend ist mir immer wieder die Aussage begegnet, man wolle sich in einer gesunden Mitte zwischen „Fundamentalismus“ und „übertriebener Bibelkritik“ positionieren. Das Problem dabei ist: Zwischen der universitären Wunderkritik und dem biblischen Selbstanspruch tut sich ein gewaltiger Graben auf. Die Auslegungsergebnisse sind extrem unterschiedlich.[2] Deshalb ist auch die „Mitte“ zwischen diesen beiden Positionen unter Umständen schon weit entfernt von der traditionellen evangelikalen Position und vom protestantischen Schriftprinzip.[3] Dieses Problem wird noch deutlicher bei den Strategien 2 und 3, die nach meiner Beobachtung oft mit der Strategie vom angeblichen goldenen Mittelweg einhergehen:

2. Strategie: Den dogmatischen Unterbau exegetischer Methoden ignorieren

Immer wieder wird gesagt: Bei der „Bibelkritik“ ginge es doch zunächst einmal nur um ein Set an neutralen, objektiven, nüchtern-wissenschaftlichen Methoden, vor denen kein Evangelikaler Angst haben müsse. Auch Evangelikale müssten doch ein Interesse haben, den großen Graben zwischen der Jetztzeit und der völlig anderen Sprache, Kultur und Denkweise der Antike durch solche Methoden zu überbrücken, um jenseits von unseren „Brillen“ und Voreingenommenheiten einen objektiveren, „unverstellteren Blick“ auf die Bibel zu bekommen.

Leider fehlt bei solchen Aussagen meist die Beleuchtung des dogmatischen und wunderkritischen Unterbaus vieler bibelkritischer Methoden. Denn diese bauen zum Teil grundsätzlich auf einer vorausgesetzten inneren Widersprüchlichkeit der biblischen Texte auf und rechnen prinzipiell nicht mit übernatürlichen Vorgängen. Deshalb sind natürlich auch schon die Methoden oft eben nicht neutral sondern vom jeweils verwendeten Paradigma geprägt – mit entsprechend weitreichenden Auswirkungen auf die exegetischen Ergebnisse.

3. Strategie: Die historische Frage für unrelevant erklären

Immer wieder höre ich die These, dass die historische Frage (also die Frage, ob sich die biblischen Geschichten tatsächlich ereignet haben) für die theologischen Aussagen der Bibel und für den persönlichen Glauben doch gar nicht wirklich wichtig sei. Auch als Evangelikaler könne man deshalb ganz entspannt aufgeschlossen sein für wissenschaftliche Kritik an biblischen Angaben zu Ereignissen, Orten, Personen, Autoren und Zeitangaben. Das Problem daran ist: Der christliche Glaube gründet eben gerade nicht auf abstrakten Gedanken sondern auf historischen Heilsereignissen. Die Apostel haben nicht in erster Linie eine neue Theologie verkündigt sondern berichtet, „was sie gesehen und gehört haben.“ (1. Joh. 1,3) Damit machen die biblischen Autoren deutlich, dass für sie gerade auch die historische Frage von grundlegender Bedeutung ist.[4] Wer diese Frage entgegen den biblischen Selbstaussagen für unwichtig hält, verlässt somit bereits das Grundprinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss und hat damit auch schon die traditionelle Position des Vertrauens in die Gültigkeit der Schrift aufgegeben.

4. Strategie: Etablierung einer „Hybrid-Theologie“

Man kann auch versuchen, die theologische Arbeit teilweise an die Anforderungen der wunderkritischen akademischen Welt anzupassen, indem man die biblische Exegese in mehrere Phasen aufteilt. Die Idee ist: Zunächst, in den frühen Methodenschritten, wird nur der pure Sinn des Textes unter Umgehung der Wunder- und Offenbarungsfrage möglichst „neutral“ (also unabhängig von weltanschaulichen Positionen) erarbeitet, so dass ein gemeinsames wissenschaftliches Arbeiten mit andersgläubigen Wissenschaftlern (und somit die geforderte „intersubjektive Überprüfbarkeit) möglich ist. Erst in einem zweiten Schritt werden dann auf Basis der Glaubensannahme eines Offenbarungscharakters der Schrift und eines wunderwirkenden Gottes spezifisch evangelikale Auslegungen erarbeitet.

In der Praxis scheint das aber kaum möglich zu sein. Denn die Fragen nach Autor, Datierung, Adressat und kulturellem Umfeld sind nun einmal schon für die Erfassung des Text­sinns grundlegend wichtig. Die Beantwortung der sogenannten „Einleitungsfragen“ als Basis für die Erforschung des Textsinns kann unmöglich „neutral“ erfolgen, wie die Beispiele der Datierung des Danielbuchs oder der Evangelien im Artikel über das wunderkritische Paradigma zeigen. Die Bibel stellt jeden Leser von Beginn an vor die Glaubensfrage und lässt somit nicht wirklich Raum für Ansätze, die sowohl mit evangelikalen Überzeugungen als auch mit dem wunderkritischen Wissenschaftsbegriff kompatibel sind.

5. Strategie: Gleichwertige Koexistenz der verschiedenen Paradigmen

Man kann schließlich auch noch versuchen, den Offenbarungscharakter der Schrift nicht mehr strikt zu verteidigen, sondern nur noch als Denkoption darzustellen. Den Studenten würde somit in Alternativen gezeigt, wie ein Text im Rahmen eines geschlossenen wunderkritischen, eines offenen oder eines bibeleigenen Paradigmas erforscht und ausgelegt werden kann. Tatsächlich ist es ohne Zweifel sinnvoll, wenn auch evangelikale Studenten die verschiedenen Denkwelten samt ihren dogmatischen Voraussetzungen kennen lernen. Und natürlich sollten auch freie theologische Ausbildungsstätten mit bibel- und wunderkritischen Theologen gesprächsfähig sein und bleiben. Die Frage ist aber: Positioniert man sich als Ausbildungsstätte trotzdem eindeutig und klar zum Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift? Wenn nein: Müssten dann nicht zwangsläufig auch Professoren eingestellt werden, die dem wunderkritischen Ansatz fol­gen? Welche Auswirkungen werden sich daraus auf Dauer für die Ausrichtung der Ausbildungs­stätte ergeben, wenn das Ernstnehmen des biblischen Offenbarungscharakters nur noch eine Option und keine festgeschriebene Grundlage der eigenen Arbeit mehr ist?

Gibt es eine Alternative?

An den theologischen Ausbildungsstätten wird das zukünftige Leitungspersonal der Gemeinden und Werke ausgebildet. Die Entwicklungen an den Ausbildungsstätten haben deshalb kaum zu überschätzende Konsequenzen für die evangelikale Bewegung insgesamt. Die theologischen Veränderungen, die sich dort vollziehen, können uns also keinesfalls einfach gleichgültig sein, zumal wir dringend gute theologische Ausbildungsstätten brauchen! Die Kirche Jesu benötigt gerade heute dringend kluge und „denkbereite“ Theologen, die sich bekenntnistreu Gott unterstellen, die seiner Führung und Leitung vertrauen, die zur Offenbarung der Bibel als Wort Gottes stehen und zugleich Argu­mente abwägen, gebildet und kenntnisreich diskutieren und Falsches vernünftig-plausibel widerle­gen und entlarven können.

Deshalb würde ich mir wünschen, dass Theologen und Ausbildungsstätten sich statt der genannten fünf Strategien eher für die „Daniel-Option“ entscheiden: Daniel machte in Bezug auf seinen Glauben und seine Überzeugungen keine Kompromisse. Er bekannte sich offen dazu. Das katapultierte ihn mehrfach fast aus dem System. Aber Gott bewahrte ihn übernatürlich und gab ihm zudem eine Weisheit, die ihm erstaunlichen Einfluss verlieh. Ich glaube: Gott kann das auch heute noch tun.

Aber letztlich steht mir zu der Frage, wie freie theologische Ausbildungsstätten mit dem beschriebenen Spannungsfeld umgehen sollten, keine abschließende Antwort zu. Gleich gar nicht möchte ich mit diesem Artikel den Stab brechen über evangelikale Theologen und Verantwortliche an den freien Ausbildungsstätten. Ich trage dort nicht die Verantwortung und stehe nicht unter dem Druck der ganz praktischen, teils existenziellen Herausforderungen, die sich dort ergeben und die gegebenenfalls zu sehr herausfordernden Abwägungen führen können.

Aber zwei Wünsche möchte ich gerne trotzdem aus meiner Außenperspektive heraus formulieren:

1. Bitte seid ehrlich und transparent!

Die fünf hier genannten Strategien habe ich mir wie erwähnt nicht ausgedacht. Es gibt heute ohne Zweifel auch in den Reihen der KBA Ausbildungsstätten, die mehr oder weniger stark eine oder mehrere dieser Strategien zu praktizieren versuchen. Das hat mich persönlich doch sehr erstaunt und die Frage geweckt: Ist es dann noch ehrlich und transparent, wenn offiziell an den veröffent­lichten Bekenntnissen der bibeltreuen Ausbildungsstätten festgehalten wird, in denen ja behauptet wird, klar am Offenbarungscharakter und der Unfehlbarkeit der Bibel festzuhalten? Oder wäre es dann nicht wesentlich ehrlicher, die veröffentlichten Bekenntnisse an die gelebte Realität anzupassen, so dass…

  • Spender transparent wissen können, wie die Arbeit geprägt ist, für die sie spenden?
  • Studenten transparent wissen können, womit sie sich in ihrer Ausbildung befassen werden?
  • Gemeinschaften und Gemeinden transparent wissen können, welche Ausbildung ihre potenziellen zukünftigen Leiter durchlaufen haben?

Mein Wunsch ist: Bitte seid in Bezug auf eure Ausrichtung transparent gegenüber Spendern, Studenten und Gemeinden! Ich habe inzwischen zu viele Geschichten gehört von Studenten, die in Bezug auf die Lehrinhalte an ihrer Bibelschule völlig andere Erwartungen hatten. Noch tragischer sind Geschichten von Gemeinden, die einen „bibeltreuen“ Prediger erwartet hatten und von der progressiv/liberalen Prägung ihres Studienabgängers negativ überrascht wurden, so dass es zu schmerzhaften Konflikten kam. Mehr Transparenz und Ehrlichkeit hätte helfen können, solche Situationen, die für alle Beteiligten hochproblematisch sind, zu vermeiden.

2. Lasst uns mutige und kompetente Gemeindeverantwortliche sein!

Mein zweiter Wunsch richtet sich an Leiter in Gemeinden und Werken, die nicht Theologie studiert haben. In Zeiten, in denen die Theologie auch an vielen freien Ausbildungsstätten immer pluraler wird, erscheint es mir wichtiger denn je, dass auch die nicht studierten Verantwortlichen theologische Kompetenzen entwickeln, um zwischen theologischen Strömungen, Weichenstellungen und Ausrichtungen unterscheiden und ihre Konsequenzen und Auswirkungen beurteilen zu können. Die Reformatoren haben der ganzen Gemeinde das Recht (und die Pflicht!) mitgegeben, Theologen und Amtsträger auf der Basis von Gottes Wort prüfen, kritisieren und gegebenenfalls auch zurückweisen zu dürfen. »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift«, ist ein von Martin Luther formuliertes, urprotestantisches Kernanliegen. Dieser Pflicht dürfen und müssen wir uns heute ganz neu stellen. Und wir dürfen für unsere Theologen und Ausbildungsstätten beten, dass die Liebe zur Schrift und die Ehrfurcht vor Gottes Heiligem Wort dort trotz großer Herausforderungen weiter hochgehalten oder ganz neu wiedergewonnen wird. Denn gerade in einer Zeit, in der das Bibelwissen immer mehr abnimmt, brauchen starke Gemeinden starke Theologen, die tief in Gottes Wort verwurzelt sind.

[1] Siehe dazu die ausführlichen Darlegungen in Markus Till: „Zeit des Umbruchs“, S. 135-148

[2] Das zeigt sich z.B. eindrücklich bei der Frage nach der Datierung des Buchs Daniel bzw. der Evangelien und den daraus resultierenden weitreichenden Konsequenzen, wie sie erläutert werden in Markus Till: „Das wunderkritische Paradigma“, AiGG-Blog 2020

[3] Das reformatorische Schriftprinzip wird gut erläutert von Dr. Jörg Breitschwerdt im Vortrag: „Theologisch konservativ – Warum bibeltreue Christen immer wieder protestierten“

[4] Siehe dazu Markus Till: Streit um das biblische Geschichtsverständnis“, AiGG-Blog 2018

Postevangelikale: Was sie glauben und was wir daraus lernen können

Postevangelikale sorgen für Diskussionen. Über Internet-Portale wie Worthaus oder Hossa-Talk erreichen sie auch viele evangelikale Christen. Welche Überzeugungen haben sie? Was können Evangelikale von ihnen lernen? Und worin unterscheidet sich ihre Theologie von Überzeugungen, die aus evangelikaler Sicht unaufgebbar wichtig sind? Eine genauere Analyse zeigt: Im Zentrum der Debatten steht letztlich die Bibelfrage. An ihr entscheidet sich die Ausrichtung und die Zukunft der Kirche Jesu.

Die Inhalte dieses Artikels sind auf YouTube als Vortrag verfügbar, der am 1.11.2019 bei einer Tagung des deutschen christlichen Techniker-Bunds (DCTB) gehalten wurde.
Der Artikel steht auch als PDF zum Download bereit.

Was sind eigentlich „Postevangelikale“?

„Postevangelikale“ sind Menschen, die einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen diese Vergangenheit auch gar nicht leugnen sondern ganz bewusst sagen: Die evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte, meines Werdegangs und insofern immer noch Teil meiner Identität. Die Vorsilbe „Post“ („nach“) bedeutet aber auch: Postevangelikale sind jetzt in einer Lebensphase, in der sie diese evangelikale Frömmigkeit hinter sich gelassen haben – aus welchen Gründen auch immer. Die Konsequenz ist mindestens eine theologische Neuorientierung. Viele Postevangelikale haben zudem ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke gesucht. Oder aber sie wollen ihre neue Art des Glaubens für sich persönlich leben und pflegen.

Bekannte Christen outen sich als postevangelikal

In den letzten Jahren haben einige bekannte Christen von sich reden gemacht, auf die diese Beschreibung zutrifft. Torsten Hebel ist vielen Christen noch als Redner von „Jesus-House“ bekannt, der Jugendausgabe von ProChrist. Im Jahr 2015 erschien sein Buch „Freischwimmer“, das für viele Evangelikale ein kleiner Schock bedeutete. Denn darin schrieb er unter anderem: „Mein ganzes Konstrukt ‚Glaube‘, das ich mir lange schöngeredet habe, ergibt für mich einfach keinen Sinn mehr.“ Und ich glaube: Für viele Evangelikale hat es sich schon eigenartig angefühlt, wenn da ein Mann, der ihnen früher den Glauben nahe gebracht hat, jetzt plötzlich selber sagt: Ich kann nichts mehr damit anfangen.“ [1]

Immerhin: Das Ende des Buchs klingt zunächst versöhnlich. Torsten Hebel schildert, dass er den Glauben an Gott durch ein persönliches Erlebnis wieder neu gefunden habe. Der Inhalt dieses neuen Glaubens liest sich allerdings ziemlich unevangelikal: Gott ist für Torsten Hebel keine Person mehr. Er ist uneingeschränkt bei jedem Menschen gleichermaßen vom ersten bis zum letzten Atemzug. Eine durch Sünde bewirkte Gottesferne, die durch eine Entscheidung für Jesus und Vergebung der Schuld überwunden werden kann, scheint es in dieser Sichtweise nicht mehr zu geben.

Umso bemerkenswerter war es, dass das Buch im evangelikalen Umfeld weitgehend unkritisch beworben wurde. Und es hatte dort gewaltigen Erfolg! In idea Spektrum war zu lesen, dass im schwächelnden christlichen Buchmarkt gerade dieser Titel einer der ganz großen Verkaufserfolge war.

Auch Gottfried Müller, der sich selbst mit Vornamen Gofi nennt, war vielen Christen als Jugendevangelist bekannt. Im Jahr 2018 erschien sein Buch mit dem provokanten Titel „Flucht aus Evangelikalien“. Zusammen mit Jakob Friedrichs, der auch durch das christliche Comedy-Duo Superzwei bekannt wurde, produziert Gottfried Müller den Pod­cast Hossa Talk – der aktuell wohl bekannteste christliche Podcast im deutschsprachigen Raum. Mindestens jede zweite Woche erscheint eine neue, etwa 90 minütige Folge, zu der oft auch Gäste eingeladen werden.

Was glauben Postevangelikale?

Der postevangelikale Blogautor Christoph Schmieding fasst wie folgt zusammen, welche Themen Postevangelikale umtreiben: „Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung  mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“ [2]

Die Themen, die unter Postevangelikalen diskutiert werden, sind somit eigentlich nicht neu. Schon seit der Aufklärung wurden im Rahmen der liberaleren Theologie bestimmte Glaubensinhalte konservativer Frömmigkeit in Frage gestellt:

  • Kann es sein, dass Menschen, die sich nicht auf Jesus einlassen wollen, am Ende auf ewig in einer Gottesferne landen, die Jesus als „Hölle“ bezeichnet hat?
  • Ist das Christentum wirklich der einzige Weg zu Gott? Wollen wir wirklich so hochmütig sein, allen anderen religiösen Menschen auf der Welt abzusprechen, dass auch sie einen Weg zu Gott finden können?
  • Wollen wir Menschen wirklich sagen, dass es Sünde ist, vor der Hochzeit miteinander ins Bett zu gehen, sich scheiden zu lassen oder gleichgeschlechtlich zu heiraten? Ist das heutzutage nicht überholt?

Letztlich laufen alle diese Fragen auf die folgende Frage zu: Kann die Bibel wirklich ein Maßstab sein, unter den man sich beugen muss? Ist sie wirklich „Wort Gottes?“ Oder ist sie nicht viel mehr ein historisches Dokument von Menschen, die Erfahrungen mit Gott hatten und subjektiv davon berichten?

Was können wir von Postevangelikalen lernen?

In seinem Buch „Flucht aus Evangelikalien“ sowie im Hossa Talk spricht Gottfried Müller immer wieder über einige problematische Erfahrungen, die er im evangelikalen Umfeld gemacht hat. Sein großes Oberthema ist dabei die These: Es geht oft ziemlich eng zu unter Evangelikalen. Zum Beispiel gebe es oft zu wenig Raum zum Denken. Über den Podcast Hossa Talk sagt Müller: „Wir haben uns vorgenommen, unsere Zweifel, Fragen und Überzeugungen offen auszusprechen. Warum? Weil wir die Erfahrung machen, dass man das in vielen christlichen Gemeinschaften nicht darf.“[3] Müller hat zweifelsohne recht: Es gibt Fragen, über die man nicht gerne spricht unter Evangelikalen, die aber trotzdem viele Evangelikale umtreiben, weil sie sich aufdrängen in einer Welt, die das Christentum in vielen Bereichen in Frage stellt.

Enge stellt Gottfried Müller auch beim Thema der Vaterliebe Gottes fest, wenn er auf schreibt: „Wer von uns betet in der Gewissheit, dass ein liebender ‚Abba‘ es kaum erwarten kann, dem Gestotter seines Kindes zu lauschen? Ist es nicht so, dass wir ihn eher als unseren leiblichen zeitungslesenden Vater vor Augen haben, der, von einem langen Arbeitstag rechtschaffen müde, eigentlich nur noch eines will, nämlich in Ruhe gelassen zu werden?“ (S. 41) Tatsächlich scheint für gar nicht so wenige Evangelikale die Vaterliebe Gottes kaum mehr als ein theologisches Konstrukt zu sein, das zwar für wahr gehalten wird, das aber nicht das eigene Herz berührt und das deshalb trotzdem auf einer tiefen emotionalen Ebene bezweifelt wird, vielleicht sogar ganz unbewusst.

Was Gottfried Müller ebenfalls vermisst ist Raum für ein freies Gewissen. Er schreibt dazu: „Wir Evangelikalen haben schreckliche Angst davor, ungenügend zu sein. Wir glauben zwar, dass der Christus […] dafür gestorben ist, damit wir frei sein können von der Schuld und der Anklage Satans. […] Aber Hand aufs Herz, wer von uns glaubt das denn wirklich?“ (S. 41) In der Tat ist auch Vergebung etwas, das Evangelikale natürlich theologisch für wahr halten. Das bedeutet aber noch längst nicht, dass Vergebung auch praktisch und existenziell erlebt wird. Zugleich halten Evangelikale die Gebote Gottes und seine Heiligkeit hoch. Das kann leicht das Gefühl auslösen, dass Gott doch nicht wirklich mit uns zufrieden sein kann.

Und schließlich vermisst Gottfried Müller Raum für Gnade statt Leistung. Er schreibt dazu: „Ich habe die Bibel so verstanden: Gott hat dich aus Gnade errettet, und jetzt beweise gefälligst, dass du es wert gewesen bist! Ich arbeite mir also den Arsch ab, bis es nicht mehr ging.“ (S. 91) Natürlich war das nie seine offizielle Theologie. Aber jeder Nachfolger Jesu weiß, wie leicht man tatsächlich in ein Leistungsdenken und in eine Werkgerechtigkeit abrutschen kann.

Deshalb ist es gerade auch aus evangelikaler Sicht wichtig, sich den Anfragen von Postevangelikalen zu stellen, sich einen Spiegel vorhalten zu lassen und sich zu fragen:

  • Wo werden in den evangelikalen Gemeinschaften die heißen Eisen des Glaubens wie z.B. Homosexualität, Sex vor der Ehe, Widersprüche in der Bibel, Gewalttexte im Alten Testament oder Schöpfung und Evolution angesprochen?
  • Wie wird die Vaterliebe Gottes erlebbar, so dass sie nicht nur unseren Kopf erreicht sondern auch das Herz berührt?
  • Wie finden wir zu einem reinen Gewissen? Und wie entsteht eine offene Atmosphäre, in der man auch schwach und ehrlich sein darf, in der man einander trägt, füreinander betet und sich gegenseitig die Vergebung Gottes zuspricht?
  • Wie werden Christen frei von frommem Leistungsdruck?

Die Existenz der postevangelikalen Bewegung macht deutlich: Ohne Antworten auf diese anspruchsvollen Fragen werden sich wohl weiterhin Menschen sich aus den evangelikalen Gemeinschaften verabschieden, weil sie die dortige Frömmigkeit als etwas einengendes und verletzendes erleben statt als etwas heilbringendes und aufbauendes.

Worin unterscheidet sich evangelikale und postevangelikale Theologie?

Manche Christen neigen dazu, die Differenzen zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen ganz auf diese Themen zu reduzieren. Das wäre aber eine sehr unzureichende Beschreibung dessen, was viele Evangelikale und Postevangelikale voneinander trennt. Denn neben allen Fragen um Enge und Verletzungen geht es ganz klar auch um theologische Differenzen zu wichtigen und zentralen Fragen des christlichen Glaubens. Das macht die Internetmediathek Worthaus besonders deutlich:

Die Worthaus-Mediathek

Worthaus ist eine sich ständig erweiternde Online Mediathek mit aktuell ca. 150 theologischen Vorträgen, die kostenfrei als Video oder mp3 im Internet angesehen oder herunter geladen werden können. Alle zwei Wochen kommt ein neuer Vortrag dazu. Die Referenten kommen weit überwiegend aus der universitären Theologie und decken tatsächlich auch das ganze Spektrum universitärer Theologie ab. Während einige Referenten eine sehr liberale Theologie vertreten, gibt es auch einige Theologen, die man im universitären Spektrum eher als gemäßigt oder gar konservativ einstufen würde. Wirklich evangelikale Theologen findet man aber kaum.

Gut zwei Drittel der Worthaus-Vorträge stammen vom emeritierten Theologieprofessor Siegfried Zimmer. Er bezeichnet sich selbst als einen reformatorischen Theologen, der ein Brückenbauer sein möchte zwischen universitärer Theologie und erwecklicher Frömmigkeit. Tatsächlich zählte sich Siegfried Zimmer nach seiner Bekehrung mit 19 Jahren etwa 10 Jahre lang zur Pfingstbewegung und besuchte eine pfingstlich geprägte Bibelschule. Bis heute trifft man Siegfried Zimmer immer wieder auf evangelikalen Veranstaltungen. Seine Vorträge auf dem evangelikalen Spring Ferien-Festival waren sogar der Anlass für die Gründung von Worthaus. Im Zuge seines universitären Theologiestudiums hat sich seine Theologie allerdings so verändert, dass Zimmer heute immer wieder ausdrücklich klar stellt, dass er kein evangelikaler Theologe ist. Da Siegfried Zimmer Worthaus bis heute wesentlich prägt, hat auch Worthaus eine postevangelikale Prägung.

Die Themen, die bei Worthaus behandelt werden, sind bunt und vielfältig. Aber es gibt einen Anspruch, der diese Vorträge verbindet: Worthaus möchte einen „unverstellteren Blick“ auf die Bibel vermitteln. Die Grundthese dabei ist: Es ist nicht einfach, einen antiken Text zu verstehen, der in einem vollkommen andersartigen kulturellen und zeitgeschichtlichen Umfeld verfasst wurde. Diese Texte müssen im Rahmen des damaligen Denkens und des damaligen Kontextes verstanden werden. Worthaus möchte helfen, die Texte in ihren historischen Kontext einzuordnen, damit die tatsächliche Aussageabsicht heute besser verstanden werden kann.

Damit hat Worthaus großen Erfolg. Siegfried Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele Zehntausende“ Hörer weltweit, darunter nicht nur Theologen, sondern auch zahlreiche Laien. Besonders beeindruckt habe ihn, dass bei einer freikirchlichen Pastorenkonferenz alle anwesenden dreißig bis fünfunddreißig Pastoren bekundet hätten, regelmäßig Worthaus zu hören. Siegfried Zimmer zieht daraus den Schluss, dass die Pastorenfortbildung heute eigentlich über Worthaus laufe.

Zur Ausstrahlung von Worthaus in das evangelikale Spektrum hinein trägt auch bei, dass der zweite Hauptredner von Worthaus eigentlich aus der evangelikalen Welt kommt: Thorsten Dietz ist Professor für systematische Theologie an der freien evangelischen Hochschule Tabor. Tabor zählte bis vor kurzem noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, ist dort inzwischen aber ausgetreten. Thorsten Dietz gehört auch zum theologischen Arbeitskreis des Gnadauer Verbands. Er ist deshalb ein häufiger und gern gesehener Redner auf evangelikalen Veranstaltungen. Gleichzeitig macht er leidenschaftlich Werbung für universitäre Bibelwissenschaft und für Worthaus.

Worthaus: Auch wertvoll für Evangelikale?

Es lohnt sich, Worthaus-Vorträge anzuhören! Denn tatsächlich kann man viel dabei lernen. Christen sollten nicht antiintellektuell sein und ihre Augen nicht verschließen vor den Ergebnissen von wissenschaftlicher Arbeit. Nur wer sich mit anderen Positionen auseinandersetzt kann verstehen, wie andere Menschen und andere Christen denken und überprüfen, wie solide das Fundament des eigenen Standpunkts ist.

4 „Knackpunkt-Fragen“

Um herausarbeiten zu können, in welchen wichtigen Punkten sich theologische Aussagen in Worthaus-Vorträgen von evangelikalen Positionen unterscheiden, wurden im Buch „Zeit des Umbruchs“ vier verschiedene Fragestellungen untersucht, die für den christlichen Glauben absolut zentral sind:

  1. Greift Gott übernatürlich in die Weltgeschichte ein?
  2. Ist Jesus leiblich auferstanden?
  3. Wurde Gott versöhnt durch den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz?
  4. Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung?

Alle diese „Knackpunkt-Fragen“ wurden von Evangelikalen traditionell immer mit einem klaren „ja“ beantwortet. Bei Worthaus ist das anders: Ein eindeutiges „Ja“ wird dort in allen diesen Fragen verlassen – und oft in ein „nein“ verkehrt. Das hat gravierende Konsequenzen. Schließlich steht der Kreuzestod Jesu im Kern der christlichen Erlösungsbotschaft. Wer die Deutung des Kreuzestodes Jesu verändert, verpasst dem christlichen Glauben keinen neuen Haarschnitt sondern der nimmt eine Herztransplantation vor! Das gilt noch mehr für die Auferstehung. Wenn Jesus nicht leiblich auferstanden ist, wenn das Grab nicht leer war, dann ist die Kernbotschaft der ersten Zeugen, für die sie fast alle ihr Leben gegeben haben, entkernt.

Die Bibelfrage als die zentralste aller Fragen

Die grundlegendsten Konsequenzen hat jedoch die Beantwortung der Frage: Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung? Letztlich steht diese Frage hinter all den Debatten zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen, zwischen Konservativen und Progressiven. Diese Einschätzung bestätigt auch Siegfried Zimmer. In einem seiner Worthausvorträge sagt er: „Es ist nämlich ein ganz bestimmter Punkt, an dem in der Christenheit die Wege auseinandergehen. … Die entscheidende Frage, die ein Teil der Christenheit mit Ja beantwortet und der andere Teil der Christenheit mit Nein, diese Frage lautet: … Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit? … Da gehen die Wege auseinander.“ [4]

Hat die Bibel Anteil an Gottes Vollkommenheit? Ist sie also fehlerlos oder irrtumslos? Das ist nach der Einschätzung von Siegfried Zimmer DER Knackpunkt schlechthin. Und Zimmers These dazu ist: Nein, das ist eindeutig nicht der Fall, im Gegenteil: Die Bibel enthalte hunderte von Fehlern und Widersprüchen. Das sei auch gar nicht schlimm. Ein Liebesbrief werde ja auch nicht dadurch entwertet, dass er ein paar Schreibfehler oder ein paar Ungenauigkeiten enthält.

Wer die Bibel für ein fehlerloses Buch hält, hat laut Siegfried Zimmer und in den Augen der universitären Theologie ein „fundamentalistisches Bibelverständnis“. Und Zimmer ergänzt: Dieses habe zu unendlichen Spaltungen und Streitigkeiten geführt. Es sei deshalb „eine schwere Belastung für die Christenheit.“ Aber ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel denn tatsächlich eine fundamentalistische Außenseiterposition?

Ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel eine fundamentalistische
Außenseiterposition?

In seiner Verteidigungsschrift assertio omnium articulorum schreibt Martin Luther:

„[Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“[5]

Luther beruft sich hier den Kirchenvater Augustinus aus dem 4. Jahrhundert. Schon er hatte somit die Überzeugung vertreten: Alle Theologen irren. Alle theologischen Texte enthalten Fehler. Mit einer Ausnahme: Die Autoren der Schriften, die zum Kanon der Bibel gehören, haben sich in diesen Schriften nicht geirrt. Diese Überzeugung hatte also der Kirchenvater Augustinus – und Martin Luther hat sie übernommen und sich darin auf ihn berufen. Zwar hatte Martin Luther durchaus Probleme mit bestimmten biblischen Texten. So tat er sich zum Beispiel schwer mit dem Jakobusbrief, weil er dort Verse gefunden hat, die für ihn nach Werkgerechtigkeit ausgesehen haben. Aber was war die Konsequenz? Luther bekam Zweifel, ob der Jakobusbrief tatsächlich zum Kanon der Bibel gehört. Denn klar war für ihn: Was zum Kanon der Bibel gehört, das kann nicht irren. Und wenn ein Buch einen Irrtum enthält, dann dürfte es eigentlich nicht zum Kanon gehören. Dann wäre das eine apokryphe Schrift.

Die Auffassung, dass der Bibeltext eine fehlerlose Schrift ist, ist somit keine moderne fundamentalistische Erfindung, sondern war lange Zeit kirchliches Allgemeingut bis in die Moderne hinein. So haben zum Beispiel im Jahr 1974 zahlreiche Kirchenleiter aus der ganzen Welt in der Lausanner Verpflichtung über die Bibel als das Wort Gottes bekräftigt: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und des Lebens.“ [6] Im Jahr 2016 haben Vertreter der evangelischen Allianz und der katholischen Kirche gemeinsam bekannt: „Daraus folgt, dass die Schrift solide, treu und ohne Fehler lehrt und uns wirksam in alle Wahrheit führt.“ [7]

Die Ansicht, dass die Bibel fehlerfrei ist, ist also keinesfalls eine fundamentalistische Randposition, sondern historisch und weltweit gesehen eher eine Selbstverständlichkeit in weiten Teilen der Kirche Jesu. Wichtig ist dabei aber die Klärung, was Fehlerfreiheit bzw. Irrtumslosigkeit bedeutet.

Was bedeutet „Irrtumslosigkeit“?

Irrtumslosigkeit bedeutet zum Beispiel nicht: Fehlerfreiheit über die jeweilige Aussageabsicht hinaus. Wenn eine Zahlenangabe nur als gerundete Zahl gemeint war, dann würde man den biblischen Text überfordern, wenn man von ihm eine mathematisch exakte Angabe erwartet.[8] Prof. Gerhard Maier sagt deshalb zurecht: „Ähnlich hat die Lausanner Verpflichtung in ihrem Artikel 2 formuliert, das Wort Gottes ‚sei ohne Irrtum in allem, was es verkündigt‘ – präzisieren wir: was es verkünden will. Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ [9]

Die Bibel ist also ohne Fehler in dem, was sie sagen will! Auf die Aussageabsicht kommt es an sowie auf das Wahrheitsverständnis, das dieser Aussageabsicht zugrunde liegt. Die Bibel spricht oft bildhaft. Sie erzählt Dinge oft nicht in Form eines exakten wissenschaftlichen Berichts sondern subjektiv aus einer Beobachterposition heraus. Die Bibel muss deshalb so gelesen und verstanden werden, wie sie selbst verstanden werden möchte. Nur bei den Aussagen, die sie machen möchte, darf auch eine Fehlerfreiheit erwartet werden.

Eine weitere Einschränkung der Fehlerfreiheit ist der zugrundeliegende Urtext. Zwar können wir von einer phantastisch guten Überlieferung der Bibel ausgehen. Aber selbst wenn es stimmt, dass 99,9 % der Bibel absolut zuverlässig überliefert sind[10], heißt das auch: Es gibt eine Restunsicherheit von 0,1 %. Hinzu kommen Unsicherheiten bei der Übersetzung, die ja immer schon bestimmte Interpretationen enthalten. Und auch bei Kanonfragen gibt es keine vollkommene Fehlerfreiheit. Gehört zum Beispiel der lange Schluss des Markusevangeliums zum Kanon oder nicht? Da gibt es bleibende Unsicherheiten. Diese sind zwar sehr, sehr überschaubar. Aber es gibt sie.

Gerade auch aufgrund dieser Unsicherheiten ist es auch gut und wertvoll, dass es eine unterscheidende Bibelwissenschaft gibt, die versucht, die ursprüngliche Aussageabsicht zu erforschen durch genaue Erkundung des Urtextes, durch Sprachwissenschaft sowie durch Erforschung des kulturellen und geschichtlichen Hintergrundes, in den dieser Text hineingesprochen hat. Man kann dazu auch Bibelkritik sagen, denn die Bedeutung des Begriffs „Kritik“ hatte ursprünglich nichts mit kritisieren im Sinne von schlechtmachen zu tun, sondern stand einfach für eine unterscheidende Analyse. Und Unterscheidung ist definitiv notwendig beim Bibellesen: Ist ein bestimmter Text historisch und geschichtlich gemeint oder stellt er eine gleichnishafte Bildsprache dar? Ist ein bestimmter Bericht normativ gemeint (im Sinne von: Gott will das so!) oder wird da einfach nur berichtet, was geschehen ist? Das sind Fragen, bei der eine richtig verstandene unterscheidende Bibelforschung wirklich helfen kann.

Der tatsächliche Knackpunkt: Die Frage nach der „Sachkritik“

Der Streitpunkt ist also nicht, ob eine unterscheidende Bibelforschung sinnvoll ist. Der Streitpunkt dreht sich um eine andere Frage, die Siegfried Zimmer so definiert: „Darf ein christlicher Bibelwissenschaftler, nachdem er einen Bibeltext so unvoreingenommen und sorgfältig wie möglich erforscht und den ursprünglichen Sinn des Textes umrissen hat, an der Aussage dieses Textes inhaltlich Kritik üben? („Sachkritik“) … Dabei ist das Wort ‚Kritik‘ tatsächlich im Sinne des heutigen Alltagssprachgebrauchs gemeint.“ [11]

Das ist also DIE Knackpunktfrage: Darf die Bibel im echten Sinne kritisiert werden, nachdem bibelwissenschaftlich unterschieden wurde, wie ein bestimmter Text einzuordnen ist und was er aussagen möchte? Diese Frage nach der Sachkritik wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wer oder was könnte die Bibel denn kritisieren? Denn klar ist: Wer jemand anderes kritisiert, sieht sich selbst in der Lage, etwas besser beurteilen zu können als diese Person. Wer jemand anderes kritisiert, stellt sich in gewisser Weise über diese Person. Und wer die Bibel kritisiert, stellt sich zwangsläufig über die Bibel. Und die Frage ist: Ist das denkbar aus evangelikaler und aus reformatorischer Sicht?

Was bedeutet „Sola Scriptura“?

Um diese Frage beantworten zu können müssen wir einen kleinen Exkurs machen und uns fragen: Was prägt eigentlich unseren christlichen Glauben? Protestanten und Evangelikalen fällt da natürlich als erstes die Bibel ein. Das ist auch gut so, aber es ist natürlich nicht die ganze Geschichte. Der christliche Glaube wird natürlich noch von sehr viel mehr Dingen geprägt: Vom Weltwissen zum Beispiel, also von den Ergebnissen der Wissenschaft. Auch die menschliche Vernunft entscheidet natürlich kräftig mit, was aus christlicher Sicht geglaubt werden kann und was nicht. Und natürlich spielen Autoritäten eine große Rolle. Früher war das der Papst und das katholische Lehramt, heute sind das andere Persönlichkeiten, die prägend wirken. Und natürlich spielt die praktische Alltags-Erfahrung eine Rolle. Es ist kaum möglich, etwas zu glauben, das unseren alltäglichen Erfahrung komplett entgegensteht. Und nicht zuletzt: Auch die Tradition spielt eine Rolle. Der christliche Glaube fällt ja nicht in jeder Generation neu vom Himmel. Jeder Nachfolger Jesu wird geprägt von Vätern und Müttern im Glauben, von Frömmigkeitsstilen und Vorstellungen, die Christen oft schon von klein auf mitgegeben worden sind.

Alle diese Einflüsse sind real. Und das ist gut so! Es wäre ein dramatischer Fehler, die Vernunft oder das Weltwissen einfach vom Tisch zu wischen. Es wäre fatal, die Erfahrung auszuschalten oder die Tradition. Es wäre arrogant zu glauben, dass die früheren Generationen allesamt falsch lagen und dass wir nicht von ihnen profitieren könnten. Alle diese Einflüsse sind somit wichtig und wertvoll. Aber in seiner Assertio schrieb Martin Luther: „Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche!“

Das war ihm wichtig: Am Ende soll die Schrift entscheiden! Die Bibel soll allen anderen Einflüssen übergeordnet sein! Wenn die anderen Einflüsse im Widerspruch zur Schrift stehen, hat die Schrift das letzte Wort. Keine Autorität, kein Papst, kein Lehramt, keine Tradition und keine menschliche Erkenntnis darf am Ende so hoch stehen, dass es über der Schrift steht.

Und um diese oberste Stellung der Schrift abzusichern hat Luther das Prinzip ergänzt: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wenn wir uns unsicher sind, wie eine Bibelstelle zu verstehen ist, dann brauchen wir vor allem andere Bibelstellen, um diese Bibelstelle verstehen zu können. Nicht Menschen entscheiden über das Bibelverständnis, sondern das biblische Bibelverständnis ist entscheidend. Das hat für Martin Luther „Sola Scriptura“ bedeutet – allein die Schrift. Und diese Lehre stand letztlich im Zentrum der Reformation. Und wenn die Kirche dieses Verständnis verliert, verliert sie den Kern dessen, was Luther der Kirche gebracht hat.

Das „Sola Scriptura“ schließt Sachkritik aus

Kommen wir zurück zu der Frage: Wer oder was könnte die Bibel kritisieren? Mit dem Grundsatz „Allein die Schrift“ ist klar: Niemand! Es mag sein, dass manchmal das Weltwissen der Bibel widerspricht. Es mag sein, dass manchmal die Vernunft oder die Erfahrung der Bibel widerspricht. Dann müssen wir dem nachgehen. Vielleicht haben wir die Bibel falsch verstanden? Das kommt ja ganz sicher immer wieder vor. Dann sollten wir nach anderen Bibelstellen suchen, die uns diese Bibelstelle genauer erklären können oder vielleicht in einem anderen Licht erscheinen lassen. Aber am Ende hat die Bibel das letzte Wort und nichts und niemand anderes.

Einwand 1: Ist die Bibel nur ein „Zeugnis der Offenbarung?

Gegen diese ablehnende Haltung gegenüber Sachkritik an der Bibel bringt Siegfried Zimmer zwei Einwände vor. Der erste Einwand lautet: Sachkritik sei möglich, weil der Bibeltext die Offenbarung Gottes nur bezeugt und nicht selbst ist! Konkret formuliert Siegfried Zimmer diesen Einwand so: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Das ist theologisch unbestritten. Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [12]

Zimmer sagt also: Niemand darf die Offenbarung Gottes kritisieren. Niemand kann Gott widersprechen. Aber die schriftliche Darstellung der Offenbarung kann man sehr wohl kritisieren. Zimmer führt hier eine Unterscheidung ein zwischen dem biblischen Text und der göttlichen Offenbarung. Er sagt: Gott hat etwas offenbart. Aber der biblische Text selbst ist nicht die Offenbarung. Er bezeugt nur die Offenbarung, die uns vornehmlich in der Person Jesus Christus begegnet. Niemand kann Jesus Christus kritisieren. Aber den schriftlichen Bericht über ihn, den kann man schon kritisieren.

Daran zeigt sich aber auch gleich, was das Problem an dieser Position ist: Wir wissen ja absolut nichts über Jesus Christus außer das, was die Bibel uns sagt. Wenn der biblische Text nicht verlässlich ist, dann ist auch unser Bild von Jesus Christus nicht verlässlich. Dann wissen wir am Ende nicht: Welche Aussage in der Bibel ist wirklich Lehre Jesu und welche Aussage hat man ihm nur in den Mund gelegt oder fehlerhaft wiedergegeben? Wir haben dann keinen festen Maßstab, mit dem wir sagen könnten, diese oder jene biblische Aussage entspricht Gottes Offenbarung in Jesus Christus oder nicht.

Zudem stellt sich die Frage: Wie sieht sich die Bibel denn selbst? Sieht sich die Bibel selbst als Offenbarung? Oder sieht sie sich nur als Zeugnis der Offenbarung? Der Grundsatz von Martin Luther lautete ja: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wir brauchen ein biblisches Bibelverständnis. Deshalb ist diese Frage ganz entscheidend: Wie sieht sich die Bibel denn selbst?

Exkurs: Wie sieht sich die Bibel selbst? Als Offenbarung oder nur als Zeugnis der Offenbarung?

In 2. Timotheus 3, 16 schreibt Paulus „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Genau übersetzt heißt das: Die Schrift ist geistgewirkt, geistdurchhaucht. Natürlich haben das Menschen geschrieben – Menschen, die bei vollem Bewusstsein waren, die ihre Eigenheiten, ihren Schreibstil, ihre Persönlichkeit eingebracht haben. Und trotzdem ist es letztlich von Gottes Geist bewegt und durch und durch von ihm geprägt. Petrus hat das in 2. Petrus 1, 21 so ausgedrückt: „Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“ Auch hier sehen wir also beides: Menschen haben geredet. Aber sie waren bewegt, getrieben, geprägt vom Heiligen Geist.

Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass genau das die Sichtweise der Juden der damaligen Zeit über ihre heiligen Texte war. Die Juden hatten allerhöchsten Respekt vor ihren Schriften. Ganz zweifellos hatten auch die Autoren des Neuen Testaments den Text des Alten Testaments insgesamt als Wort des lebendigen Gottes angesehen. Immer wieder zeigt sich, dass für sie die beiden Wendungen ›Die Schrift sagt‹ und ›Gott sagt‹ untereinander austauschbar waren. Sie haben also nicht unterschieden zwischen göttlicher Offenbarung und dem biblischen Text. Das war für sie identisch.

Aber wie ist das mit dem Neuen Testament? Das lag ja noch gar nicht vor, als die Schriften des Neuen Testaments verfasst wurden. Können wir dann überhaupt etwas darüber sagen, wie das Neue Testament das Neue Testament sieht? Ja, sogar sehr viel! Paulus schreibt zum Beispiel in Galater 1, 11-12 über seine eigene Botschaft: „Ich tue euch aber kund, Brüder, dass das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist. Ich habe es nämlich weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.“ Und in 1. Thessalonicher 2, 13 schreibt er: „Und darum danken auch wir Gott unablässig, dass, als ihr von uns das Wort der Kunde von Gott empfingt, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort.“

Das sind ja absolut steile Behauptungen, die Paulus hier macht! Er sagt: Bei der Botschaft, die ihr von mir hört, da spricht Gott selbst. Das ist Gottes Wort. Und da spüren wir schon: Paulus ist in einer völlig anderen Autorität aufgetreten, als das irgendein Theologe jemals dürfte. Aber offenbar durfte er das, weil Gott ihm tatsächlich die spezielle Autorität dazu gegeben hat. Petrus hat das ausdrücklich bestätigt. In 2. Petrus 3, 15-16 macht er folgende Bemerkung über die Schriften des Paulus: „…wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen werden, wie auch die andern Schriften.“

Welche „Schriften“ meint Petrus hier? Natürlich die Heiligen Schriften, die auf keinen Fall irgendjemand verdrehen und verändern darf. Petrus hat also die Briefe des Paulus auf den gleichen Rang gestellt wie die Schriften des Alten Testaments.

In Bezug auf die Evangelien ist eine Bemerkung von Paulus in 1. Timotheus 5, 18 besonders interessant: „Denn die Schrift sagt: »… »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert«“ Das bemerkenswerte daran ist: Paulus zitiert hier gar nicht aus dem Alten Testament sondern er zitiert ein Wort Jesu, genauer gesagt aus Lukas 10, 7. Für ihn hat also auch dieses im Lukasevangelium festgehaltene Jesus-Zitat Schriftrang gehabt.

Besonders eindrücklich zu diesem Thema ist einer der letzten Verse der Bibel: „Und ich versichere jedem, der die prophetischen Worte dieses Buchs hört: „Wenn jemand dem, was hier geschrieben steht, irgendetwas hinzufügt, wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch beschrieben werden.“  (Offenbarung 22,18) Im darauf folgenden Vers hält Johannes fest: Etwas wegzulassen ist genauso schlimm! Damit sagt Johannes: Dieses ganze Buch hat prophetischen Charakter. Da gibt es absolut nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen. Kein Theologe dürfte jemals so etwas über seine theologische Schrift sagen. Aber Johannes tat es am Ende seines Buchs der Offenbarung. Und für Christen ist klar: Das steht nicht zufällig am Ende des Kanons. Christen haben das immer schon letztlich auf die ganze Bibel bezogen.

Wer das Prinzip ernst nimmt, dass die Schrift sich selbst auslegt, kommt somit zu einem eindeutigen Befund: Die Schrift sieht sich selbst nicht nur als Zeugnis einer Offenbarung, die irgendwie mehr oder weniger nebulös hinter der Schrift erkennbar wird. Nein, die Bibel sieht sich selbst, also den biblischen Text, als Offenbarung. Und wenn das so ist, dann kann dieser Text auch nicht kritisiert werden. Denn welcher Mensch wollte sich erdreisten, Gott zu verbessern und zu kritisieren?

Einwand 2: Kann die Bibel in der Autorität Jesu kritisiert werden?

Der zweite Einwand von Siegfried Zimmer zur Verteidigung von Sachkritik lautet: Sachkritik sei in der Autorität Jesu möglich, weil auch Jesus die Bibel kritisiert. Natürlich könne kein Theologe in eigener Autorität die Bibel kritisieren. Aber Jesus Christus steht ja über der Schrift. Wenn Jesus die Bibel kritisiert, dann dürfen wir das in seiner Autorität auch tun. Wörtlich schreibt er dazu: „Biblische Texte, die etwas Anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. … Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“ [13]

Aber kann man den wirklich mit Jesus gegen die Bibel argumentieren? Oft kommt bei dieser Frage der Hinweis: Jesus habe doch tatsächlich oft der Bibel widersprochen. Immer wieder sagt er ja: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde… Ich aber sage euch… (z.B. Matthäus 5, 21-22). Allerdings hat Jesus ganz direkt über das Alte Testament auch folgendes gesagt: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Schriften der Propheten abzuschaffen. Im Gegenteil, ich bin gekommen, um sie zu erfüllen. Ich versichere euch: Solange der Himmel und die Erde bestehen, wird selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig bleiben.“ (Matthäus 5, 17+18)

Tatsächlich hat Jesus mit seinen „Ich-aber-sage-euch“-Sätzen die Forderungen des Alten Testaments gar nicht aufgehoben, im Gegenteil: Er hat sie verschärft! Zum Beispiel ist für Jesus nicht nur der praktisch vollzogene Ehebruch Sünde sondern schon das Begehren im Herzen (Matthäus 5, 27-28). Das ist also nicht etwa ein Widerspruch sondern eine Verstärkung dessen, was im Alten Testament steht.

Außerdem benutzt Jesus häufig diese Formel: „Habt ihr nicht gelesen?“ (z.B. Matthäus 19, 4) Wenn es einen Streit gab oder eine Frage zu entscheiden war, hat Jesus aus dem Alten Testament zitiert. Das war für ihn entscheidend. Für ihn galt also der Schriftbeweis, der natürlich nur dann funktioniert, wenn die Schrift absolute Autorität hat.

Gerhard Maier fasst deshalb den Befund aus dem Neuen Testament so zusammen: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm ‚Kritik‘ am Alten Testament finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der ‚Sachkritik‘ impliziert), gibt es nirgends.“ [14]

Anders ausgedrückt: Bibelkritik im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs kann man nicht mit der Bibel begründen. Echte Bibelkritik steht grundsätzlich im Widerspruch zum reformatorischen Prinzip des Sola Scriptura und zum Selbstanspruch der Bibel.

Auf dem Weg zu einem biblischen Bibelverständnis

Für ein biblisches Bibelverständnis müssen deshalb 2 Dinge unbedingt festgehalten werden:

  1. Der Bibeltext kann nicht von der Offenbarung Gottes getrennt werden. Der Text ist, so wie er da steht, offenbartes Wort Gottes und hat deshalb höchste Autorität.
  2. Die Bibel kann und darf niemals gegen Jesus ausgespielt werden.

Absolut kontraproduktiv ist vor diesem Hintergrund der auch unter Evangelikalen immer wieder verwendete Satz: „Wir glauben doch nicht an die Bibel sondern an Jesus Christus.“ Diese falsche Alternative führt ja sofort zu der Frage: An welchen Jesus sollen wir denn glauben, wenn wir nicht an die Verlässlichkeit und Autorität der Bibel glauben? Wenn wir der Bibel nicht vertrauen, dann können wir nur noch an einen selbstgebastelten Christus glauben. Denn wir wissen ja nichts über ihn außer das, was die Bibel uns sagt. Das kann man somit nicht gegeneinander ausspielen. Das feste Vertrauen in Jesus Christus ist untrennbar verknüpft mit dem Vertrauen in die Autorität und den Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift.

Zwingend notwendig ist zudem eine Haltung, die sich der Heiligen Schrift unterordnet und mit der Bibel sagt:

  • Die Bibel ist Gottes Wort.
  • Aber meine Erkenntnis ist Stückwerk.

Es ist wichtig, dass unser Pendel weder auf der liberalen Seite ausschlägt, auf der wir uns über die Bibel stellen und selbst entscheiden wollen, was darin von Gott ist und was menschlich, was darin richtig ist oder falsch. Unser Pendel darf aber auch nicht auf der anderen Seite ausschlagen. Denn auch der, der behauptet, er wisse haargenau und bis ins Letzte, wie die Bibel auszulegen ist, stellt sich letztlich über die Bibel. Dann wird es tatsächlich eng und gesetzlich. Dann kommt es immer zu Spaltungen, weil irgendeine Speziallehre zu Randthemen sich derart in den Mittelpunkt drängt, dass es die Kirche spaltet. Das ist leider oft passiert in der Kirchengeschichte.

Wir müssen deshalb beides festhalten: Die Schrift ist Gottes unfehlbares Wort. Aber in der Frage, wie die Bibel zu verstehen ist, bleiben wir unser Leben lang Lernende. Das bedeutet es im doppelten Sinne, sich der Schrift unterzuordnen: Die ganze Bibel hoch achten als Gottes unfehlbares Wort. Aber sich zugleich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst bleiben.

Das heißt nicht, dass ständig alles in Frage gestellt werden muss. Die Bibel ist nicht in allen Fragen ein großes Rätsel. In den wichtigen Lehren ist die Bibel so eindeutig und klar, dass auch jeder Laie sie in allen wichtigen Fragen verstehen kann, auch ohne Theologiestudium und ohne wissenschaftliche Kenntnisse.[15] Deshalb dürfen und sollen auch Laien die Bibel lesen und das, was wir daraus verstehen, fröhlich an andere weitergeben.

Was steht auf dem Spiel?

Es ist dringend notwendig, wieder vermehrt über diese Themen zu sprechen, denn mit der Frage nach dem Schriftverständnis steht ungeheuer viel auf dem Spiel:

  • Die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn schon Christen selbst an der Bibel zweifeln, wie soll dann ein Nichtchrist glauben, dass diese Botschaft irgendeine Relevanz für ihn hat?
  • Die Vernehmbarkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn die Kirche nichts mehr Eindeutiges zu sagen weiß, dann kommt diese Botschaft auch nirgends mehr an.
  • Die missionarische Kraft und Dynamik der Kirche steht auf dem Spiel. Denn mit welcher Botschaft soll denn missioniert werden, wenn nicht einmal mehr klar ist, was der Tod Jesu am Kreuz eigentlich zu bedeuten hat und ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist?
  • Die Einheit der Kirche steht auf dem Spiel. Wenn Christen sich nicht einmal mehr beim Glaubensbekenntnis und bei den zentralsten Lehren des Christentums einig sind, worin sollen sie sich denn dann einig sein? In politischen Fragen ganz bestimmt nicht. Das Ausweichen auf das Feld der Politik spaltet die Kirche erst recht.

Deshalb steht insgesamt die Zukunft der Kirche auf dem Spiel. Angesichts von einer Austrittswelle nach der anderen wird die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Kirche ja gerade immer wieder gestellt. Braucht die Kirche vielleicht mehr Digitalisierung? Muss sie sich wieder näher zu den Menschen orientieren? Brauch sie vielleicht mehr soziologische Untersuchungen, um besser zu verstehen, welche Fragen die Menschen bewegen? Oder braucht sie frische Formen von Gemeinde und Gottesdienst? Ja, alles das ist ohne Zweifel gut. Aber es muss uns bewusst sein: Entscheidend ist nicht die Verpackung, entscheidend ist der Inhalt! Wir brauchen uns mit der Verpackung überhaupt nicht zu beschäftigen, solange wir uns nicht im Klaren sind, was eigentlich der Inhalt unserer Botschaft ist.

Ich habe riesengroße Hoffnung für die Zukunft der Kirche Jesu. Ich sehe so viele positive Entwicklungen, die mir Mut machen. Aber ich glaube tatsächlich: Für eine starke Zukunft der Kirche brauchen wir eine neue Ehrfurcht und eine neue Liebe zu Gottes Wort.

In Epheser 2, 20 schreibt Paulus: „Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein.“ Es ist gut, dass wir in einem Land leben, in dem in der Mitte jedes Orts mindestens ein Haus zur Ehre Gottes steht. Aber ich habe Sehnsucht danach, dass diese Häuser aus Stein wieder gefüllt werden mit Häusern aus Menschen, die sich zusammenfügen lassen zu einem Leib Christi, der aus lebendigen Steinen besteht, wie Petrus es ausdrückt (1. Petrus 2, 5). Ich habe Sehnsucht danach, dass an allen Orten geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen nach Hause kommen und Heimat finden können bei diesem wundervollen himmlischen Vater, von dem die Bibel berichtet. Ein Ort, an dem Menschen Vergebung finden für ihre Schuld. Ein Ort an dem Menschen das Leben finden, Leben mit Sinn und Ewigkeitsperspektive.

Dafür genügt es nicht, schöne Programme zu gestalten, zu denen viele Menschen kommen. Für ein nachhaltiges Haus müssen wir aufs Fundament achten. Und das Fundament ist die Lehre der Apostel und der Propheten, wie wir sie in der Heiligen Schrift finden. Und der Eckstein, der entscheidende Grundstein ist Jesus Christus selbst, wie er uns in der Bibel geschildert wird. Die praktisch gelebte Liebesbeziehung zu diesem Jesus Christus kombiniert mit dem Gegründet-sein auf dem verlässlichen Wort der Apostel und Propheten: Das gibt diesem geistlichen Haus das Fundament, auf dem es stehen kann und auf dem es auch in Stürmen nicht zerbricht. Lassen Sie uns an allen Orten diese Fundamente wieder bauen, damit geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen die Liebe des Vaters, Vergebung, Heil und ewiges Leben finden können. Und lassen Sie uns beten, dass Gott einen Aufbruch schenkt, eine neue Bewegung von Menschen, die Jesus Christus von Herzen lieben, die ihre Bibel kennen und tief in ihr verwurzelt sind.

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Dr. Markus Till, veröffentlicht im Mai 2020

Die Inhalte dieses Artikels wurden zunächst für einen Vortrag erarbeitet, der am 2.11.2019 auf einer Tagung des deutschen christlichen Technikerbunds (DCTB) gehalten wurde. Der Vortrag ist im YouTube-Kanal des Netzwerks Bibel und Bekenntnis abrufbar. Hinweis: Im Vortrag wird mündlich ab 10:49 irrtümlich ein Zitat Gottfried Müller zugeschrieben, das jedoch vom Blogautor Christoph Schmieding stammt. Die Quellenangabe im Artikel gibt Auskunft über die tatsächliche Herkunft des Zitats.

Weiterführend sind im AiGG-Blog (blog.aigg.de) u.a. folgende Artikel erschienen:

Eine umfangreiche Darstellung zum Thema „Postevangelikale“ gibt das Buch „Zeit des Umbruchs“, das im September 2019 bei SCM R. Brockhaus erschie­nen ist. Informationen, Leseproben, Stimmen und Rezensionen zum Buch gibt es unter zeitdesumbruchs.aigg.de.


[1] Torsten Hebel: Freischwimmer. Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr, Holzgerlingen 2015, S. 113.

[2] Christoph Schmieding: Was ist eigentlich post-evangelikal?, 13.2.2018

[3] Gofi Müller: Flucht aus Evangelikalien. Über Gott, das Leiden und die heilende Kraft der Künste, 2017. S.91

[4] Siegfried Zimmer: „Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann“. Vortrag vom 22.6.2014, Heidelberg, ab 7:29

[5] Martin Luther: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung, S. d26 f.

[6] Aus der »Lausanner Verpflichtung zur Weltevangelisation« von 1974

[7] In: „Schrift und Tradition“ und „Die Rolle der Kirche für das Heil“: Katholiken und Evangelikale erkunden Herausforderungen und Möglichkeiten“, 2009-2016, S. 7

[8] Siehe dazu sehr viel ausführlicher der AiGG-Artikel: „Ist die Bibel unfehlbar?“ (blog.aigg.de/?p=4212)

[9] Gerhard Maier: Konkrete Alternativen zur historisch-kritischen Methode, in: Joachim Cochlovius/Peter Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung. Ein Quellen- und Arbeitsbuch für Studium und Gemeinde, Wuppertal

1987, S. 305 f.

[10] Siehe dazu den AiGG-Artikel: „Meister der Überlieferung“

[11] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S.148.

[12] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 88.

[13] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 93.

[14] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten
1998, S. 149

[15] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Bibel für alle: Die Klarheit der Schrift“ (blog.aigg.de/?p=2190)

Ist Angst das Grundproblem der Menschheit?

Beob­ach­tun­gen zum Wort­haus-Vor­trag von Eugen Dre­wer­mann

Mit Eugen Dre­wer­mann hat sich das Wort­haus-Pro­jekt jüngst einen ech­ten Pro­mi an Bord geholt. Flan­kiert von Sieg­fried Zim­mer und Thor­sten Dietz, den bei­den Haupt­prot­ago­ni­sten von Wort­haus, wur­de dafür eine „Popup-Tagung“ ange­setzt, die am 29.2.2020 in Tübin­gen statt­fand — also gera­de noch recht­zei­tig vor dem Coro­na-Shut­down. Ich war sehr gespannt auf die Bot­schaft die­ses bekann­ten und umstrit­te­nen Theo­lo­gen, der die­ses Jahr immer­hin schon 80 Jah­re alt wird. Mit­te April wur­de der Vor­trag unter dem Titel „Jesus aus Naza­reth – von Krieg zu Frie­den“ in der Wort­haus-Media­thek ver­öf­fent­licht.

Für den Blog “Daniel Option” habe ich den Vortrag inhaltlich zusammengefasst und kommentiert. Der Artikel ist hier zu finden:

https://danieloption.ch/featured/ist-angst-das-grundproblem-der-menschheit/

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nonbiblipedia

Aktualisierung des Worthaus-Artikels

Als am 3.10.2017 der AiGG-Artikel „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“ online ging, konnte ich nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Bis heute überwältigt mich die Resonanz durch Klickzahlen, Nachdrucke in verschiedenen Publikationen und teils bewegende persönliche Zuschriften. Natürlich waren auch kritische Rückmeldungen darunter. Da die Worthaus-Mediathek sich zudem ständig weiter entwickelt wurde es höchste Zeit, den Artikel zu überarbeiten und zu aktualisieren. Dabei wurden auch ein paar Fehler ausgemerzt. In der ursprünglichen Version hieß es zum Beispiel im Abschnitt „Worthaus geht ans Eingemachte“: „Der Tod sei keine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes Schöpfung.“ Das wurde den Aussagen in Siegfried Zimmers Vortrag „Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?“ nicht gerecht. Richtig muss es heißen: „Der Tod sei nicht nur eine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes guter Schöpfung.“

Oft wurde dem Artikel entgegengehalten, er würde eine einheitliche „Worthaus-Theologie“ unterstellen. Dabei war schon in der alten Version vermerkt worden: „Worthaus ist kein einheitlicher Block mit einheitlicher Theologie.“ Einzelne Worthaus-Vorträge sind nicht repräsentativ für die Meinung aller Worthaus-Sprecher. Die neue Version versucht noch stärker, Anlässe für Missverständnisse bei dieser Frage zu vermeiden.

Ich hoffe und wünsche mir, dass die Diskussion um Worthaus weitergeht. Wichtig ist mir dabei aber, dass um die Sache und Inhalte diskutiert wird, nicht um Menschen und ihre Haltung. Der Fokus auf die Sachthemen war schon immer die Absicht dieses Artikels. Er war auch bei der Überarbeitung ein wichtiger Leitgedanke. Es steht niemandem zu, anderen Christen dunkle Motive zu unterstellen. Aber eine inhaltliche Debatte um das richtige Verständnis der Bibel brauchen wir dringend. Ich hoffe, dass diese Debatte weiter zunimmt und dass dieser Artikel auch zukünftig ein wertvoller Beitrag dafür sein kann.

 

Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?

6 Gründe, warum gute Grenzen ein Segen sind

Das Wort „Grenze“ wird heute oft mit „Ausgrenzung“ verknüpft. Dabei sind Grenzen lebensnotwendig. Grenzen schützen. Sie schaffen Lebens-Raum. Jede einzelne unserer Körperzellen kann nur existieren, weil sie sich mit Hilfe einer raffiniert gebauten Membran von ihrer Umwelt abgrenzt, ohne völlig dicht zu machen. Selbst Gottes neues Jerusalem kommt nicht ohne Grenzen aus (Offb. 21, 27). Sind Grenzen also spaltend und negativ oder sind sie ein Segen für die Gemeinde?

Die SPD hat ein Problem. Nachdem der Chef der SPD-Nachwuchsorganisation Kevin Kühnert Thesen vertreten hatte, die eher zu sozialistischen oder gar kommunistischen Parteien zu passen scheinen, gab es teils heftigen Unmut. Parteiinterner Streit ist Gift für die Umfrageergebnisse. Umso mehr stellt sich die Frage: Wer ist schuld am Streit? Ist Kevin Kühnert schuld, weil er Thesen vertrat, die nicht zur Ausrichtung der Partei passen und die viele SPD-Mitglieder und -Wähler für indiskutabel halten? Oder sind die Kritiker von Kevin Kühnert schuld, weil sie nicht bereit sind, auch steil klingende Thesen als Diskussionsbeitrag stehen zu lassen und als mögliche Position innerhalb der SPD anzuerkennen?

Ein ähnliches Spannungsfeld wird in letzter Zeit verstärkt auch im evangelikalen Umfeld verhandelt: Wie geht man damit um, wenn dort theologische Positionen vertreten werden, die nicht zur gemeinsamen evangelikalen Glaubensbasis passen? Ist es im wahrsten Sinne des Wortes not-wendend, sich gegen solche Positionen bewusst abzugrenzen? Oder sollte man sie stehen lassen und als mögliche Deutungen innerhalb der evangelikalen Bewegung anerkennen, um niemand auszugrenzen? Anders gefragt: Gewinnt man mehr Einheit und Ausstrahlung durch klarer ausgesprochene Grenzen? Oder ist mehr Einheit und Ausstrahlung nur durch mehr Freude an Pluralität (neudeutsch „Ambiguitätstoleranz“) und durch weite bzw. überhaupt keine Grenzen und rote Linien möglich?

Abschottung und zu enge Grenzen schaden definitiv

Natürlich gilt: Totschweigen und Abschottung hilft niemandem, zumal es im digitalen Zeitalter ohnehin nicht funktioniert. Es gehört auch für evangelikale Christen zu einer guten Bildung, nichtevangelikale Theologie und Theologen zu kennen und sich mit ihren Inhalten (kritisch) auseinander zu setzen.

Und richtig ist natürlich auch: Zu enge Grenzen schaden der Gemeinde definitiv, vor allem wenn die eigene Identität primär von der Abgrenzung lebt und nicht aus der Liebe Gottes gespeist wird. Schon Paulus hat gefordert, dass man sich in Fragen der Einhaltung von Speisegeboten oder speziellen Feiertagen nicht streiten sondern sich – selbst gegen die eigene Überzeugung – lieber am Schwächeren orientieren soll (Röm.14). Wer bei solchen Randfragen strikt auf Dogmen pocht statt flexibel zu sein, wird der Einheit der Gemeinde zur Last. In den notwendigen Fragen Einheit, in den zweifelhaften Fragen Freiheit, über allem die Liebe. Diese oft zitierte Formel scheint tatsächlich auch zur Botschaft des Neuen Testaments zu passen. Zu klären ist dabei aber natürlich die Frage: Was sind denn die notwendigen Fragen, bei denen wir unbedingt Einheit brauchen, um in den Randfragen entspannt Freiraum geben zu können?

Ohne Zweifel sind die Fragen nach der Bedeutung des Kreuzestodes und nach der Auferstehung grundlegend für den christlichen Glauben. Karfreitag und Ostern bilden ja den innersten Kern des Evangeliums. Spätestens wenn das leere Grab und das stellvertretende Sühneopfer in Frage gestellt oder in ihrer Bedeutung relativiert werden, ist dieser innerste Kern betroffen. Aber auch die Frage nach der Autorität und Vertrauenswürdigkeit der biblischen Autoren ist gerade für den Protestantismus des „Sola Scriptura“ von entscheidender und grundlegender Bedeutung. Aus mindestens 6 Gründen bin ich überzeugt, dass bei solchen zentralen Themen weise gewählte Grenzen tatsächlich äußerst wichtig und segensreich für Gemeinden sind:

Warum biblisch begründete Grenzen für die Einheit und das Gedeihen von Gemeinden unbedingt notwendig sind

1. Aus biblischen Gründen

Grenzziehung gegen falsche Lehre ist in der ganzen Bibel ein wichtiges Thema. Einige Briefe des Neuen Testaments sind in Teilen regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehre. Das „Nehmt einander an“ (Röm.15,7) steht dort immer auf dem Fundament der apostolischen Lehre als einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage. Dazu nur ein Zitat von vielen: „Und nun möchte ich euch, liebe Brüder, noch einmal vor solchen Leuten warnen, die die Gemeinde spalten und den Glauben anderer erschüttern. Denn sie lehren euch etwas anderes als das, was ihr gelernt habt. Haltet euch von ihnen fern!“ (Römer 16, 17)

Lehre, die der apostolischen Botschaft widerspricht, wird hier also explizit als Grund der Spaltung benannt. Paulus fand äußerst harte Worte, wenn am apostolischen Evangelium etwas verändert wird (Galater 1, 8). Er hat sich nicht gescheut, auch Petrus öffentlich zu kritisieren, als er den Eindruck hatte, dass dessen Verhalten in Bezug auf wichtige Inhalte des Evangeliums falsche Signale sendete (Gal.2,11-14). Jesus hat falsche Aussagen häufig gekontert mit der Aussage: „Habt ihr nicht gelesen?“ Der Schriftbeweis war für ihn also entscheidend. Ringen um Wahrheit und christliche Einheit jenseits von Gottes Wort und Gebot kennt die Bibel nicht.

Natürlich gründet die Einheit der Kirche letztlich nicht auf einem dogmatischen System sondern auf der Person Jesus Christus. Aber auch „Jesus Christus“ bleibt ohne christliche Lehre, die objektiv gültige Schriftaussagen herausarbeitet, eine Nebelkerze. Denn es stellt sich ja die Frage: Welcher Jesus Christus ist gemeint? Der Jesus des Neuen Testaments? Oder ein „historischer Jesus“ aus der liberalen Theologie, der gerade dadurch sichtbar wird, dass er sich von der frühchristlichen Christologie unterscheidet? Wenn derart gegensätzliche Konzepte zum Begriff „Christus“ im Raum stehen, dann kann Christus nicht mehr das verbindende Fundament der Kirche sein. Die Bibel hat zwischen Gottes verschriftlichtem Wort und Christus nie einen Gegensatz konstruiert. Im Gegenteil: „Die Schriften … sind es, die von mir zeugen.“ (Johannes 5, 39) Die Grenzen der Schrift müssen deshalb gerade auch im Hinblick auf Christus die Grenzen der Gemeinde sein.

2. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft

Das leere Grab wird im Neuen Testament vielfältig beschrieben. Es ist DIE Kernbotschaft der Evangelisten. Man kann normalen Menschen kaum erklären, warum sie die biblischen Autoren für vertrauenswürdig und die Bibel für relevant halten sollen, wenn selbst diese allerzentralsten Berichte erfundene Geschichten sind, die die Kirche jahrtausendelang auf eine falsche Fährte geführt haben. Das stellvertretende Sühneopfer zieht sich wie ein roter Faden quer durch die ganze Bibel. Wenn selbst diese allerzentralste Botschaft nicht klar ist sondern höchstens eine von vielen möglichen Deutungen darstellt, dann ist eigentlich nichts mehr klar in der Bibel. Dann gibt es keine Botschaft mehr, die Christen ganz einfach fröhlich gemeinsam glauben, bekennen und besingen können.

Das größte Problem daran ist: Kein Mensch weiß aus sich heraus etwas darüber, wer und wie Gott ist und was nach dem Tod geschieht. Auch die Kirche Jesu hat bei den existenziellen Ewigkeitsfragen keine Autorität aus sich selbst heraus, sondern nur als Botschafter von Gottes zeitlosem Wort und Gebot. Sie kann nur deshalb Trost und Antworten für die grundlegenden Ewigkeitsfragen der Menschen geben, weil sie aus einer göttlichen Erkenntnisquelle schöpft, die außerhalb ihrer selbst liegt. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob Kirche aus der Autorität einer zeitlosen Wahrheit heraus handelt oder ob sie den Menschen nach dem Mund redet. Ohne biblischen Maßstab und ohne Klarheit über die biblische Botschaft gibt es auch zu den existenziellen Ewigkeitsfragen nur noch Meinungen – und zwar die, die sich am lautesten durchsetzen. Wen soll man damit trösten? Es ist kein Wunder, wenn die Botschaft der Kirche nicht mehr wahrgenommen oder zumindest als irrelevant für das eigene Leben empfunden wird, wenn die Kirche selbst ihre eigene und einzige Informationsquelle bezweifelt.

3. Aus historischen Gründen

Die Kirchengeschichte enthält viele Beispiele, die einen positiven Zusammenhang zwischen dem Festhalten an der biblischen Lehre und dem Gedeihen der Kirche nahelegen. In der Reformation stand die unbedingte und alleinige Gültigkeit von Gottes Wort sogar im Zentrum. Laut Wikipedia haben sich auch die unterschiedlichsten Erweckungsbewegungen in der Zeit nach der Reformation dadurch ausgezeichnet, dass sie „ein ursprüngliches Verständnis eines direkt aus der Bibel entnommenen Evangeliums“ teilten. Diese Erweckungsbewegungen waren also immer auch Bibelbewegungen, in denen die Autorität von Gottes Wort in besonderer Weise hochgehalten wurde. Christen haben zudem ganz offenkundig schon immer gespürt: Wir müssen klären und definieren, woran wir glauben und was unser gemeinsamer Grund ist. Deshalb gab es schon von Anbeginn der Kirchengeschichte Glaubensbekenntnisse und später auch Katechismen und Dogmatiken, die immer auch den Zweck hatten, gegenüber falschen Lehren Grenzen zu ziehen und damit die Kirche Jesu zu schützen.

4. Aus Gründen der Transparenz und Vertrauenswürdigkeit

Auch heute noch veröffentlichen die meisten Kirchen, Gemeinden und christliche Organisationen ihre Glaubensgrundlagen im Internet. Menschen wollen wissen, was in einer Organisation, für die sie sich interessieren, geglaubt und vertreten wird. Wenn sich herausstellt, dass man sich in Wahrheit über diese Grundlagen überhaupt nicht mehr einig ist, dann führt das zwangsläufig zu einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust. Wie sollen die Menschen der evangelischen Kirche vertrauen, wenn  einerseits bei jeder Konfirmation und jeder Taufe das Nachsprechen des apostolischen Glaubensbekenntnisses verlangt wird, während zugleich an ihren Ausbildungsstätten diskutiert wird, ob man die Jungfrauengeburt, die leibliche Auferstehung und das jüngste Gericht heute noch im Sinne der biblischen Autoren glauben kann?

5. Aus empirischen Gründen

Gemeindewachstum hängt von vielen Faktoren ab. Deshalb ist es schwierig, den Einfluss der theologischen Prägung auf das Gedeihen einer Gemeinde zu messen. Trotzdem gibt es Hinweise: Eine umfangreiche kanadische Studie mit dem Titel „Theologie zählt“ hat 2016 untermauert, dass konservative Theologie mit starken gemeinsamen Überzeugungen ein wichtiger Faktor für das überdurchschnittliche Wachstum theologisch konservativer Gemeinden darstellt. In seinem Buch „Natürliche Gemeindeentwicklung“ hat der Gemeindewachstumsexperte Christian Schwarz als ein Ergebnis seiner systematischen Untersuchung von 45.000 Gemeinden aus der ganzen Welt angemerkt: „Das Theologiestudium hat eine stark negative Beziehung sowohl zum Wachstum als auch zur Qualität der Gemeinde.“ Gemeinden, deren Leiter durch ein bibelkritisches Theologiestudium gegangen sind, leiden demnach statistisch gesehen häufiger unter Qualitätsproblemen und Mitgliederverlust. Auch der Religionssoziologe Prof. Detlef Pollack äußerte im Jahr 2017, dass es der evangelischen Kirche ausgerechnet dort am besten gehe, „wo sie evangelikal sei oder sogar fundamentalistisch.“

6. Aus Gründen der praktischen Gemeindearbeit

Ich erlebe es in meiner eigenen Gemeinde: Als Leitungsgremium müssen wir immer wieder entscheiden, wofür wir unsere begrenzten Kräfte, Ressourcen und Finanzen einsetzen wollen. Dafür brauchen wir ein gemeinsames Verständnis, was eigentlich der Auftrag einer christlichen Gemeinde ist. Geht es primär um Mission, Jüngerschaft und Anbetung? Oder stehen soziales Engagement, religiöse Bildung und kulturstiftende Tätigkeiten im Vordergrund? Selbst bei einem gemeinsamen Verständnis in dieser Grundfrage ist es herausfordernd genug, angesichts unterschiedlicher Charaktere, Prägungen, Erfahrungen und Ideen die Einheit zu wahren. Aber wenn schon die Frage nach dem Auftrag der Gemeinde grundsätzlich verschieden beantwortet wird, dann bleibt erfolgreiche Gemeindeleitung ein ähnlich aussichtsloses Unterfangen wie eine Fußballmannschaft, die sich nicht einigen kann, auf welches Tor sie schießen soll. Keine Firma der Welt kann wachsen, wenn die Chefetage sich auf kein gemeinsames Ziel einigen kann. Es ist kein Wunder, dass das auch in christlichen Gemeinden nicht funktioniert.

Wir brauchen Richtungsgemeinden mit Profil

Deshalb bin ich überzeugt: Die Öffnung für eine Theologie, die die Bibel auch nach bibelwissenschaftlicher Klärung der Aussageabsicht im echten Sinne kritisiert und dem “wissenschaftlichen Zweifel” unterwirft, wird christlichen Gemeinschaften auf Dauer ihre missionarische Kraft und ihre Wachstumspotenziale rauben. Und sie wird am Ende noch viel tiefer und nachhaltiger die Einheit untergraben, die man durch die Öffnung eigentlich bewahren wollte. Mir ist bewusst, dass der allgemeine Trend zur Pluralisierung auch in evangelikalen Gemeinschaften Druck erzeugt, zunehmend pluralere Standpunkte anzuerkennen, wenn man Streit und Spaltung vermeiden möchte. In der Praxis führt das immer wieder zu (auch seelsorgerlich) schwierigen Fragen, auf die es auch aus meiner Sicht keine einfachen, allgemeingültigen Antworten gibt. Trotzdem bin ich letztlich überzeugt: Ein gemeindeinterner Spagat zwischen geradezu gegensätzlichen Überzeugungen in Kernfragen des Glaubens kann zumindest auf der Leitungsebene nicht auf Dauer fruchtbar sein. Wir brauchen Richtungsgemeinden mit Profil. Dafür müssen Gemeindeleitungen es wagen, in theologischen Fragen Position zu beziehen und damit zwangsläufig auch begründete Grenzen zu setzen.

Die Ausformung dieser Grenzen werden unterschiedliche Gemeinden im Detail unterschiedlich gestalten. Es kann in solchen Fragen nicht darum gehen, sich gegenseitig das Daseinsrecht oder gar den Glauben abzusprechen. Umgekehrt ist es aber aus den genannten Gründen auch bei weitem nicht immer Ausdruck von Angst, Kleingeistigkeit, Scheuklappen, Richtgeist oder Abschottungsmentalität, wenn Christen zu dem Schluss kommen, dass Gemeinden an biblisch begründeten Grenzen in der christlichen Lehre unbedingt festhalten und auf Grenzüberschreitungen kritisch und mit biblischen Argumenten aufmerksam machen sollten, um Menschen Orientierung zu geben. Wichtig ist dabei unsere Motivation: Die Liebe zu Christus, zu seinem Wort, zu seiner Kirche und zu den Menschen muss uns leiten – nicht die eigene Rechtfertigung. Aus dieser Liebe heraus brauchen wir eine neue Debatte, wie die Kirche Jesu wieder Einheit und Ausstrahlung gewinnen kann und was uns die Apostel und Propheten dafür ins kirchliche Stammbuch geschrieben haben.

Die Frage nach guter Lehre ist kein Randthema. Die Verkündigung gehörte neben dem Gebet zu den zwei Hauptaufgaben der ersten Gemeindeleiter (Apg. 6,4). Das zeigt: Gute, auf der Schrift gegründete Lehre ist zwar nicht alles. Aber ohne sie ist alles nichts. Ohne sie bleiben auch die frischesten Gemeindeformen nur schöne Verpackung. Ohne sie verkommen auch die kraftvollsten Bewegungen des Heiligen Geistes zur Schwärmerei. In den notwendigen Fragen Einheit, in den zweifelhaften Fragen Freiheit, über allem die Liebe. Das heißt eben auch: Wenn wir aus Angst vor Streit die Debatte zu richtigen und falschen Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens meiden, dann tun sich die Gräben irgendwann umso mehr bei den Nebenfragen auf. Auch hinter den teils heftigen Debatten unter Christen um Ethik oder um politische Fragen verbergen sich bei genauem Hinsehen oft unterschiedliche Weichenstellungen bei den Kernfragen des Glaubens. Einheit ist ein hohes Gut im Neuen Testament. Biblisch begründete und klärende Grenzen in den wichtigen Glaubensfragen sind dafür ein wertvoller und letztlich unverzichtbarer Beitrag.