Dekonstruktion – Wie gehen wir damit um?

Der zweite Teil des Doppelvortrags zum Thema „Dekonstruktion“ geht den Fragen nach: Was genau geschieht eigentlich in einem Dekonstruktionsprozess? Gibt es auch gesunde und hilfreiche Formen von Dekonstruktion? Was kennzeichnet im Kern postevangelikale und progressive Theologie? Und was müssen wir tun, um ungesunden Dekonstruktionsprozessen zu begegnen? Der Vortrag wurde im YouTube-Kanal von offen.bar veröffentlicht:

Die Grafiken zum Vortrag können hier heruntergeladen werden.

Das Skript zum Vortrag kann hier heruntergeladen werden.

Weiterführende Links zu den 4 Bruchstellen in postevangelikaler Theologie:

Die letzte Bank – Auftreten ist das Mindeste

„Die letzte Bank – Fragen an das Leben“ heißt das neue, von den Kirchen verantwortete Gesprächsformat, das ab jetzt in der ZDFmediathek zu finden ist.“

So schreibt es die EKD in einer aktuellen Pressemeldung. In der Folge 4 („Von der Kirche zum Tantra“) wird die ehemalige Grundschullehrerin Regina Heckert interviewt. Sie beschreibt dort Tantra als

„ein spiritueller Weg, genauso wie jetzt der christliche Glaube ein spiritueller Weg ist, … der auch offen ist für alle Religionen oder gar keine Religion, der diese Dimension in der körperlichen Begegnung mit dabei hat und nicht abspaltet.“ (ab 11:17)

Die IDEA-Redakteurin Alexandra Weber schreibt über das Video:

„Die ehemalige Lehrerin erzählt, wie sie ihr früheres Leben hinter sich ließ, um durch Sex spirituelle Erfahrungen zu machen. Und was fällt dem Pastor dazu ein? Er lobt ihren Mut. Dann berichtet die Frau auch noch, wie sie einen Rosenkranz umfunktionierte, um ihre Liebesnächte mit Männern daran abzuzählen – 59 Perlen für 59 Liebesnächte mit 7 Männern in 9 Monaten. Und der Pastor antwortet sichtlich beeindruckt: „Das ist spannend, dass Sie ein urkatholisches Symbol (einen Rosenkranz) umgedeutet haben, um für sich auch etwas Heiliges daraus zu machen.“

Eine neue Dimension

Ich bin kein Tantra-Kenner. Bei Wikipedia lese ich: Tantra sei durchdrungen von okkulten und magischen Vorstellungen. Das heißt also für dieses Video: Unter dem Bild des Gekreuzigten, der qualvoll für unsere Sünden sein Leben gab, ermutigt die Kirche zum Sündigen durch Esoterik und durch das hemmungslose Ausleben von wahllosem Sex. Dabei wird der christliche Glaube als einer von vielen „spirituellen Wegen“ auf eine Ebene mit sexualisierter Esoterik gestellt. Für Christen wie mich ein unerträglicher Vorgang.

Schräge und häretische Stimmen gibt es natürlich seit langem in der Kirche. Aber dieses Video ist für mich doch noch einmal eine neue Dimension. Denn hier haben wir ja nicht nur eine Einzelstimme vor uns. Die EKD hat in ihrer Presseerklärung ausdrücklich die Verantwortung für dieses Video übernommen. Sie hat als Institution diesen Inhalt aktiv gefördert und beworben. Nüchtern betrachtet hat die EKD damit den Boden des Christentums verlassen.

Es wundert mich vor dem Hintergrund dieses Videos nicht mehr, dass die EKD sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 engagiert. Freier Sex, der von jeglicher Verantwortung völlig entkoppelt ist, geht eben irgendwann immer einher mit der Tötung von ungewollten, ungeborenen Kindern. Die Gebote Gottes („Du sollst nicht ehebrechen.“ „Du sollst nicht töten.“) spielen demnach in der EKD keine Rolle mehr.

Was wollt ihr eigentlich damit erreichen?

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die bei solchen Vorfällen einen hochroten Kopf und Schnappatmung bekommen. Mir ist klar, dass hier wohlmeinende Menschen unterwegs sind, die eben nur ihre theologischen Weichen vollkommen anders gestellt haben als ich und die sich deshalb auch für meine Meinung in keinster Weise interessieren. Es bringt nichts, sich aufzuregen.

Das einzige, was ich die EKD gerne fragen würde, wäre: Was wollt ihr mit so einem Video eigentlich erreichen? Hofft denn ernsthaft irgendjemand in der EKD, dass man die leeren Kirchenbänke mit Leuten füllen kann, die sich für Tantra und freien Sex begeistern? Auch euch müsste doch klar sein, dass ihr mit so einem Video vor allem zwei Effekte erzielt: Fromme Christen werden vergrault. Und viele Andere empfinden die Kirche als noch beliebiger und belangloser, weil sie von der Kirche letztlich nur die Botschaft vernehmen: Anything goes, solange es sich für Dich gut anfühlt. Für diese Botschaft braucht man keine Kirche.

Aber das sind Fragen, die die EKD-Leitung mit sich selbst klären muss. Diesen Artikel schreibe ich, weil ich mich vor allem frage: Was können wir Evangelikale und Pietisten aus diesem Vorfall lernen?

Wenn der Anker gelöst ist, gibt es kein Halten mehr

Immer wieder höre ich im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld Stimmen, die sagen: Lasst uns doch nicht streiten um sexualethische Themen! Das sind doch Randfragen, die zudem seelsorgerlich komplex sind. Wir brauchen Öffnung und Toleranz. Nur dann finden wir die Einheit in Vielfalt, die wir als Kirche Jesu so dringend brauchen und die Gott viel mehr Ehre macht als Streit und Spaltung.

Das klingt gut. Aber erstens hält das Neue Testament sexualethische Verfehlungen in keinster Weise für nebensächlich. Und zweitens können wir an der EKD anschaulich lernen: Wenn erst einmal der biblische Anker gelöst wird, der Gottes Liebe und seine Gebote zusammenhält, dann gibt es kein Halten mehr.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man sexualethische Konfliktherde einfach totschweigen oder mit kleinen Kompromissen entschärfen könnte. Die Realität ist vielmehr: Die progressive Sexualethik entwickelt sich rasant. Sie stellt immer weitergehende Forderungen. Sie ist missionarisch und kompromisslos. Sie nimmt Spaltung in Kauf, wenn sie damit ihre Agenda durchsetzen kann. Je länger wir ihr durch unser Schweigen einfach das Feld überlassen, je größer wird der Schaden für unsere Gemeinden und Gemeinschaften.

Wir müssen Sprach-fähig werden

Deshalb empfehle ich uns Evangelikalen und Pietisten: Lasst uns doch lieber frühzeitig, öffentlich und profiliert darauf antworten, wenn in unserer Mitte versucht wird, Gottes Liebe von Gottes Geboten zu entkoppeln. Mehr noch: Lasst uns auch unabhängig von konkreten Vorfällen regelmäßig und öffentlich in einer biblisch fundierten, klugen, differenzierten und seelsorgerlich verantwortlichen Weise über die biblische Botschaft sprechen. Lasst uns gemeinsam die Schönheit der biblischen Sexualethik zum Leuchten bringen!

Dafür müssen wir in Bezug auf Gottes gute Gebote wieder Sprach-fähig werden. Wir müssen begründen können, warum wir an ihnen festhalten und warum sie für unser Leben so heilsam und segensreich sind. Und wir müssen begründen lernen, warum wir die Bibel auch heute noch für aktuell und vertrauenswürdig halten, obwohl große Teile der Gesellschaft und der kirchlichen Theologie in ihr nur noch ein völlig überholtes antikes Dokument sehen.

Wo sind die Stimmen aus dem landeskirchlichen Pietismus?

Ich selbst gehöre zur evangelischen Kirche. Ich schätze meine Wurzeln im landeskirchlichen Pietismus sehr. Lokal setze ich mich in meiner evangelischen Kirchengemeinde dafür ein, dass Menschen zu Jesus finden und sich in seinem rettenden Wort verwurzeln.

Deshalb möchte ich gerne ganz besonders die landeskirchlichen Vertreter aus Pietismus und kirchlicher Erneuerung fragen: Wie gehen wir mit der immer offeneren und Scham-loseren Häresie in unserer Kirche um? Ich bin der Meinung: Einfach Schweigen kann keine Option sein. Ulrich Parzany hat den Satz geprägt: „Wer schweigt, fördert, was im Gange ist.“ Es mag sein, dass wir die Kirchenleitungen und kirchlichen Medienvertreter nicht umstimmen können. Aber wir tragen doch Verantwortung für die Menschen, die uns anbefohlen sind! Wenn wir schweigen, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich auch in unseren erwecklichen Gruppen und Gemeinschaften immer öfter der Zeitgeist zum Heiligen Geist gesellt und zu Streit und Spaltung führt.

Leider habe ich bislang zu vergleichbaren Fällen von pietistischen und evangelikalen Verantwortlichen in der Landeskirche kaum eine Äußerung wahrgenommen (wenn ich etwas übersehen habe, dann freue ich mich sehr über Hinweise!). Das finde ich traurig. Wenn pietistische Leiter sich zwar öffentlich Sorgen machen um rechtspopulistische Tendenzen unter Evangelikalen, aber zugleich zu derart krasser Häresie kaum Worte finden, dann gewinne ich als Christ an der Basis den Eindruck: Wir landeskirchliche Evangelikale und Pietisten haben keine Stimme in der Kirche. Niemand steht an unserer Seite, wenn wir vor Ort von solchen Einflüssen bedrängt werden. Dabei bräuchten wir doch so dringend Ermutigung durch vernehmbare und profilierte Stimmen von Verantwortlichen.

Auftreten ist das Mindeste

Der Name der Sendung passt zur Situation der Kirche: In zahlreichen evangelischen Gemeinden ist sonntags nur noch „die letzte Bank“ besetzt. Viele Gemeinden stehen vor dem Abgrund. Immer mehr Gemeinden sind schon einen Schritt weiter. Kirchen und Gemeindehäuser werden verkauft. Gemeinden werden „zusammengelegt“. Aber je mehr die evangelische Kirche verschwindet, umso größer wird das Vakuum, das in unserem Land entsteht. Es sind keine guten Kräfte, die machtvoll in dieses Vakuum hineinstoßen.

Ich finde: Umso mehr dürfen wir Evangelikale und Pietisten in Landes- und Freikirchen nicht so tun, als gingen uns diese Entwicklungen nichts an. Was wir jetzt so dringend brauchen, sind erweckliche, lebendige Gemeinschaften und Gemeinden, die die Kirchen wieder füllen, die von liberalen Theologen leergepredigt wurden. Das kann nur gelingen, wenn wir lernen, uns profiliert, klug, differenziert und leidenschaftlich zu Gottes Wort und Gebot zu bekennen. Denn an Gottes Segen ist alles gelegen! Und Gottes Segen ist nun einmal untrennbar mit dem Festhalten an Gottes Wort und Gebot verknüpft.

Wir leben in Zeiten, in denen es schon jetzt immer öfter einen Preis kostet, sich zur Gültigkeit von Gottes Wort zu bekennen. Umso mehr sollten wir als Leiter Vorbilder sein und mutig damit anfangen. Dabei sollten wir uns bewusst machen: Gottes Segen ist so unendlich viel wichtiger als der Segen der Kirchenleitung oder der Beifall der Öffentlichkeit.

Wir Evangelikale werden oft als die Stillen im Lande bezeichnet. Darin sonnen wir uns auch ganz gerne. Das klingt so demütig und friedfertig. Aber sind wir uns wirklich sicher, dass hinter unserem Schweigen nicht auch ganz oft Menschenfurcht und Abhängigkeit von menschengemachten Strukturen, Meinungen und Finanzen steckt?

Ich meine nach wie vor: Es muss nicht jeder, der Jesus und sein Wort liebt, angesichts solch fürchterlicher Irrlehren aus der Landeskirche austreten. Aber Auftreten ist das Mindeste.

Wenn ein Theologe die Dekonstruktion dekonstruiert

und zudem das Kernproblem unserer Gesellschaft und der evangelischen Allianz aufdeckt

„Meines Erachtens ist es an der Zeit, aus der Defensiv-Theologie auszusteigen und in neue Räume des Denkens vorzustoßen.“
(Dr. Gerrit Hohage, Tief verwurzelt glauben, S. 339)

Kritik an liberaler Theologie gibt es in konservativen Kreisen zuhauf. Ich finde das gut. Wer allerdings immer nur meckert, wirkt mit der Zeit eng, verbittert und unattraktiv. Viele Evangelikale wollen sich deshalb lieber nur noch auf positive theologische Äußerungen beschränken. Aber auch das ist problematisch. Denn die Folge ist, dass es Christen an Orientierung fehlt im Umgang mit den vielen postevangelikalen und „progressiven“ Stimmen, die längst auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld lautstark zu hören sind.

In seinem Buch „Tief verwurzelt glauben“ zeigt Dr. Gerrit Hohage, wie es besser gehen kann. Als Leser spürt man von Beginn an: Hier schreibt kein nörgelnder Besserwisser, sondern ein brillanter und kenntnisreicher Denker, der zugleich praktizierender Seelsorger ist. Hohage geht es niemals nur um Abwehr und um „Rechtgläubigkeit“. Es geht ihm letztlich immer positiv um die schlüssige Darstellung unseres Glaubens sowie um das Wohl der Menschen und der Kirche. Seine seelsorgerliche Feinfühligkeit ändert aber nichts daran, dass Hohage messerscharf analysieren kann. Ein Beispiel gefällig?

Die fatalen Folgen der Wunderkritik

„Zu den erstaunlichsten und problematischsten Erscheinungen der Moderne gehört für mich, dass die wissenschaftliche Theologie … den Glauben, dass es keinen Gott gibt, der in die ausgedehnte Welt eingreift, in großem Stil übernommen hat. … Der Mainstream mindestens der deutschsprachigen Theologie betreibt diese allen kritischen Anfragen zum Trotz seit mehr als 200 Jahren methodisch so, »als ob es Gott nicht gäbe«. Das wird oft in Wortwatte verpackt und ungern offen eingeräumt. Aber wenn man genau hinsieht, dann findet man dies als selbstverständliche Voraussetzung in theologischer Literatur bis heute.“ (S. 97/98)

Hohage bestätigt hier, was ich auch in meinem Artikel „Das wunderkritische Paradigma“ beschrieben habe: Die Theoriebildung in der akademischen Theologie arbeitet (wie auch in den anderen Fakultäten) mit Prämissen, in denen „Wissenschaftlichkeit“ gleichgesetzt wird mit dem prinzipiellen Ausschluss übernatürlicher Ursachen (also Wunder und Offenbarungsereignisse).[1] Hohage kommentiert völlig zurecht: „Keine dieser Prämissen wurde jemals bewiesen oder ist logisch beweisbar. Es sind sämtlich Glaubenssätze und Vorannahmen.“ (S. 206) Wissenschaftlichkeit und intellektuelle Redlichkeit müsste also keinesfalls dazu führen, der Bibel ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit abzusprechen[2]. Zumal die Wunderkritik für die Kirche katastrophale Folgen hat:

„Die Kirche kann ihre Glaubensinhalte nicht mehr vermitteln, weil sie sich im Lauf von zwei Jahrhunderten daran gewöhnt hat, deren Grundlage als »unhistorisch« zu betrachten und es darum gerade für junge Menschen »nur Gerede« zu sein scheint, hinter dem keine Tatsachen stecken.“ (S. 195)

Wenn Gott durch „Gottesbilder“ ersetzt wird

Eine Theologie, die aus Prinzip nicht mit göttlicher Offenbarung rechnet, hat ein weiteres Problem. Sie spricht zunehmend nur noch von „Gottesbildern“ statt von Gott:

„Ich staune immer wieder über die völlige Unbefangenheit, mit der hier und da über »Gottesbilder« geredet wird, als gäbe es in der Bibel kein Gebot, das da lautet: »Du sollst dir kein Bildnis machen von dem Herrn, deinem Gott.«“ (S. 233)

Hohage begründet eindrücklich, warum diese Entwicklung so problematisch ist:

„Mein Gottesbild provoziert mich nicht und fordert mich nicht heraus. Es stört mich nicht in meinen Lebensabläufen, sondern es gibt mir ein gutes Gefühl. Mein Wellness-Gott für Mußestunden. Aber hilft mir mein Gottesbild, wenn ich in Not bin? Wenn ich krank bin? Wenn ich alt bin und nicht mehr sprechen kann? Hilft mir mein Gottesbild, wenn ich sterbe? Hilft es mir durch den Tod? Mein Gottesbild kann mir gar nicht durch den Tod helfen, weil es meines ist, es ist in mir, es hängt an mir und es stirbt mit mir. … So ein Mas-Gott-chen braucht niemand wirklich; … Nur ein Gott, der real ist, kann uns real durch den Tod tragen und uns real ewiges Leben geben. Diesen realen Gott müssen wir kennen und kein noch so nices »Gottesbild«.“ (S. 233/234)

Hohage schildert hier eine zentrale Ursache für die dramatische Selbstmarginalisierung der evangelischen Kirche, in der er selbst als Pfarrer tätig ist. Zurecht wirbt er deshalb für ein grundlegendes Prinzip des Christentums, das auch bei der Namensgebung der Mediathek „offen.bar“ leitend war:

„Ich baue meinen Gott nicht zusammen; ich erfinde meinen Jesus nicht. Sondern der wirkliche, der auferstandene Jesus enthüllt sich mir als der, der ist, und der war, und der kommt. Es geht um Offenbarung, nicht um Interpretation. Das Christentum ist und war nie eine spekulative Philosophie – es ist in seinem innersten Wesenskern eine Offenbarungsreligion.“ (S. 41/42)

Die Knackpunktfrage: Wie gehen wir mit der Bibel um?

Aber woher können wir wissen, wer und wie dieser wahre Jesus wirklich ist? Bei dieser Frage spielt die Bibel für Hohage eine entscheidende Rolle: „Jesus, die Wahrheit, ist ohne die Wahrheit der Bibel nicht zu haben. An Jesus zu glauben setzt voraus, dass wir der Bibel glauben.“ (S. 114) Denn nur in der Bibel finden wir Jesu Worte, auf die wir als Jünger Jesu hören sollen: „Wahrhaftige Jüngerschaft setzt das Vertrauen in die Verlässlichkeit, d. h. Wahrheit der Worte Jesu voraus.“ (S. 112)

Aber was bedeutet „der Bibel glauben“ konkret? Welches Bibelverständnis muss uns dabei leiten? Hohage kritisiert jeden Versuch, das Wort Gottes in der Bibel ganz oder teilweise vom menschlichen Wort zu trennen, sei es durch eine Überbetonung einer „Christusmitte“[3] oder durch die weit verbreitete Formel von der Bibel als „Gottes im Menschenwort“[4]. Stattdessen ist die Bibel für Hohage zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort:

„Einerseits hören wir in der Bibel das Wort des lebendigen Gottes, und andererseits sehen wir ihre Menschlichkeit und können nicht so tun, als wäre sie vom Himmel gefallen wie der Koran – zumindest behauptet das der Islam. Es ist wie bei Christus, dem Wort, das Fleisch wurde. … Wir haben in Jesus nicht halb-und halb, sondern ganz-und-ganz vor uns. … Wir haben in den Worten der Apostel, wie sie in der Gestalt der biblischen Schriften gefasst sind, nicht halb-und-halb, sondern ganz und-ganz vor uns: Gottes Wort in, mit und unter ihren menschlichen Worten, »unvermischt und ungetrennt«“ (S. 241/242)

Die Kernfrage unseres Glaubens: Warum starb Jesus am Kreuz?

Besonders wichtig wird dieses Bibelverständnis, wenn es um den Kreuzestod Jesu geht. Hohage kritisiert hier eine Theologie, die meint: Das Kreuz würde nur für uns Menschen eine Rolle spielen. Aber in Bezug auf Gott will man „das Opfer von jedem Gedanken an eine transzendente Wirkung freihalten; es darf bei Gott nichts bewirken, das ist das No-Go.“ (S. 273) Hohage macht deutlich, dass dies nicht nur Anselm und Luther sondern auch die biblischen Schriften ganz anders sehen: „Gott ist nach dem Neuen Testament sowohl der Geber als auch – gemeinsam mit dem Menschen – der Empfänger des Opfers Christi.“ (S. 274) Im AiGG-Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ habe ich dargelegt, warum diese Einsicht so zentral wichtig ist und warum sich gerade an diesem Punkt die Geister so sehr scheiden.

Zur Beschreibung des Heilsgeschehens am Kreuz lobt Hohage Luthers Formulierung vom „fröhlichen Tausch“. Das Kreuz bringt uns Heil, „weil Christus meine Sünde auf sich genommen und zu seiner eigenen gemacht hat. Er ist jetzt der Sünder, und ich bin jetzt durch ihn gerecht. Das ist konkret und auf einer tiefen Ebene verständlich. Denn was »tauschen« ist, weiß jedes Kind.“ (S. 276) Der Verlust dieser Wahrheit ist für Hohage nicht nur für die Kirche ein großer Schaden. Letztlich leidet die ganze Gesellschaft darunter: „Eine Gesellschaft, die die stellvertretende Sühne des Kreuzes nicht mehr kennt, wird gnadenlos und von Angst geprägt.“ (S. 279)

Folgerichtig verteidigt Hohage auch das Festhalten an der unpopulären, aber biblischen Realität des Zornes Gottes, auf dem zwar Paulus seine Evangeliumsbotschaft aufbaut (Römer 2,1-5), das aber in der heutigen Theologie (selbst im evangelikalen Umfeld) leider oft negiert wird – mit traurigen Konsequenzen:

„Wenn wir die Passagen über den Zorn Gottes den Menschen zuweisen und auf diese Weise biblische Sachkritik betreiben, nehmen wir die Anfechtung, die darin liegt, nicht an. Wir suchen unser Heil darin, sie zu umgehen, und zwar durch Subtraktion. Sachkritik ist eine Subtraktionsmethode, nichts anderes: »Menschenwort, kein Gotteswort«. Dabei sind es nach meiner Erfahrung gerade diese Passagen, in denen die tiefsten Wachstumsschritte stecken.“ (S. 254)

Und damit sind wir bei einer zentralen Fragestellung in Hohages Buch:

Was tun, wenn unser Glaube durch Zweifel erschüttert wird?

Hohage stellt zunächst klar: Er will aus guten Gründen lieber von „Anfechtung“ statt von „Zweifeln“ zu sprechen, denn:

„Am Glauben zweifeln können Glaubende und Glaubenwollende, Nichtglaubende und Nichtglaubenwollende, für die der Zweifel ein Selbstzweck ist, nämlich als Methode, um Gott auf Abstand zu halten. Solche Zweifler fühlen sich im Zweifeln wohl, vielleicht sogar überlegen. Bei glaubenden Christen ist das anders.“ (S. 125)

Für einen gesunden Umgang mit Anfechtung entwickelt Hohage ein differenziertes Diagnostikinstrument (eine „Typologie der Anfechtung“), um unterscheiden zu können, woher unsere Anfechtung kommt (von anderen Menschen, vom Teufel oder von Gott?), auf welcher Ebene sie stattfindet (im Denken, im Fühlen oder im Wollen?) und wohin sie zielt (auf die Gottesbeziehung oder auf unsere Beziehung zur Kirche?). Damit wird auch deutlicher, welchen Wert Apologetik (also die Verteidigung des Glaubens mit rationalen Argumenten) hat. Sie kann immer dann hilfreich sein, wenn unsere Anfechtung auf der Ebene des Denkens stattfindet. „Apologetik, so verstand es Sven Findeisen später, ist »Seelsorge auf dem Feld des Denkens«.“ (S. 124)

Apologetik kann uns zudem helfen, mit Anfechtung richtig umzugehen. Einen Umzug in ein ganz neues „Glaubenshaus“, wie er im postevangelikalen Umfeld oft beworben wird, hält er für die falsche Strategie:

„Wenn uns unser Glaube zu eng vorkommt, stehen wir vor einer Entscheidung: Erweitern wir unseren Wohnbereich in dem Glaubenshaus der weltweiten Kirche Jesu Christi oder wohnen wir uns aus diesem Haus heraus? Für letzteres gibt es drei Kennzeichen … : Distanzierung, Subtraktion und Substitution. … Dann erwartet man in der Bibel keine Anrede von Gott mehr, sondern nur noch antike Literatur oder ein Programm für christliche Kultur. Dann löst man Glaubensfragen dadurch, dass man Glaubensaussagen abschafft oder als praktisch irrelevant behandelt. … unser Problem ist, dass solche Vorgänge bereits zahlreichen Spielarten der klassischen liberalen Theologie zu Grunde liegen und ihre Ergebnisse für christlich gehalten werden, es aber im Grunde genommen nicht mehr sind – an genau diesem Phänomen gehen gerade unsere Landeskirchen zugrunde.“ (S. 185)

Glaube verflacht, wenn wir anstößige biblische Aussagen beschneiden. Deshalb gilt auch umgekehrt: „Begeisternder und begeisterter Glaube braucht Menschen, die den Mut haben, sich auf den Gott der Bibel ganz und gar einzulassen.“ (S. 175)

Eine treffende Gesellschaftsanalyse

Hohage spricht mir mit seinen theologischen Überlegungen an vielen Stellen sehr aus dem Herzen – auch wenn ich durchaus kritische Rückfragen zu einigen Formulierungen habe [5]. Mindestens genauso beeindruckt mich seine Beschreibung der aktuellen Dynamiken in unserer Gesellschaft. Seine zentrale Beobachtung ist:

„Der Horizont … ist weggewischt. Wahrheitsansprüche sind nur noch Machtansprüche, nichts weiter. … Den Beweis ersetzte der »Narrativ« (die »große Erzählung«); diskursive Macht (Empörung und Shitstorms) ersetzte die Debatte.“ (S. 19)

Die Welle der Dekonstruktion, die über unsere Gesellschaft hereingebrochen ist, schien sich lange Zeit nur gegen Machtstrukturen zu richten, die man als überkommen und repressiv empfunden hat. Aber Hohage beobachtet: Jetzt trifft uns der Sog der Rückseite dieser Welle. Eine Gesellschaft ohne objektive Wahrheiten und ohne feste Bezugspunkte hat Populisten, Verführern und manipulatorischen Machtmenschen nichts entgegenzusetzen. Stattdessen „kommt es zur Bildung von tribes (engl. Stämmen) aus Gleichgesinnten, die die Sprechweisen anderer tribes versuchen zu canceln. Was dabei heraus kommt ist eine Welt, in der so etwas wie ein Gemeinwohl aller immer weniger vorstellbar wird.“ (S. 72)

Die zentrale Herausforderung der evangelischen Allianz

Wir alle spüren aktuell, wie zutreffend diese Diagnose ist. Umso dringender bräuchte es gerade jetzt eine Kirche Jesu, die dieser Gesellschaft mit einer klaren, orientierunggebenden Evangeliumsbotschaft begegnet. Davon ist aber nicht nur die evangelische Kirche weit entfernt. Auch die evangelische Allianz tut sich schwer damit. Hohage legt dar, warum das so ist:

In der ursprüngliche Glaubensbasis der Evangelischen Allianz werden die Heiligen Schriften der Bibel noch „als göttlich inspiriert angesehen und als unbedingte Autorität anerkannt. Sie gelten für sich alleine als ausreichend, um dem echten Jesus Christus zu begegnen und das ewige Heil zu erlangen“. … Dieser Konsens beendet nicht die konfessionelle Verschiedenheit und soll es auch gar nicht. Aber er gewährleistet kraft verbindlicher Partnerschaft durch die Bindung unter (!) die Heilige Schrift die Apostolizität der im Detail sehr unterschiedlichen Gemeinden und Denominationen der Ev. Allianz. … Leider hat diese Lösung nur so lange funktioniert, wie die Sprache auf ein gemeinsames Gemeintes verweisen konnte.“

Genau das hat sich durch die Einflüsse der Postmoderne leider geändert – mit gravierenden Folgen:

„Wenn man die Bibel als »Gotteswort im Menschenwort« statt als Gotteswort »in, mit und unter« dem Menschenwort versteht und das erstere aus letzterem mittels selbstgebastelter Kriterien herausschälen möchte, … dann kann die Heilige Schrift die Apostolizität und Glaubenseinheit der Partner-Denominationen auch nicht mehr gewährleisten. Genau dasselbe ist ja seit langem in den Landeskirchen der Fall. Damit ist auch in der Evangelischen Allianz die Frage wieder offen: Auf welchem Wege wird die Apostolizität unserer Gemeinden und Denominationen gewährleistet? Das ist das Sachproblem, vor dem die protestantische Konfessionsfamilie heute angesichts der Postmoderne steht und das derzeit in der Evangelischen Allianz für jede Menge Konflikte sorgt.“

Genau so ist es. Mit den Konflikten, die sich aus der Erosion der verbindenden Glaubensfundamente ergeben, habe ich mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Und ich engagiere mich leidenschaftlich für eine Lösung, die auch Hohage aufgreift:

„Es gibt einen Lösungsversuch, der … dem Bekenntnis die Funktion einer verbindlichen hermeneutischen Richtschnur zuweist. … Das Problem daran ist schon lange die Verbindlichkeit, die nicht mehr gesehen wird – zumindest nicht so, dass sie einen Einfluss auf die Theologie hätte. … Der Vorschlag, in der Evangelischen Allianz eine solche Verbindlichkeitskultur zu etablieren, stößt, wie Thorsten Dietz gezeigt hat, auf ein strukturelles Problem: »Als breite Bewegung kann sie theologische Fragen nicht verbindlich klären. Dafür hat sie weder die Strukturen noch die Durchsetzungsmöglichkeit.« Ich glaube allerdings, dass Dietz es sich hier zu einfach macht – immerhin hat diese Bewegung die theologischen Fragen, um die es hier geht, schon einmal geklärt, nur dass diese Klärung über der Postmoderne inzwischen implodiert ist und also ersetzt oder zumindest ergänzt werden muss. Man kann dem Versuch einer solchen Ergänzung, um die sich z.B. das »Netzwerk Bibel und Bekenntnis« bemüht, natürlich kritisch gegenüberstehen. Aber dann müssen eben andere Antworten auf das dahinterstehende Sachproblem gefunden werden.“ (S. 301)

Hohage lässt das so offen stehen, schildert aber selbst keine Alternative zu diesem Lösungsvorschlag. Vielleicht, weil er keine andere Alternative sieht? Jedenfalls betont er selbst, wie unverzichtbar Bekenntnisse für unser gemeinsames „christliches Haus“ sind:

„Allen christlichen Kirchen gemeinsam ist das »Nicänische Glaubensbekenntnis« … Mit dem Bild des Fachwerkhauses gesprochen bildet es die Eckbalken des Fachwerks. Es markiert, bis wohin das Haus des Glaubens geht, also den Raum, in dem man diesem Gott begegnen kann. Innerhalb dieser Eckbalken erhebt sich das weitverzweigte Bauwerk der Erkenntnis Gottes.“ (S. 187)

Genau deshalb engagieren wir uns im Netzwerk Bibel und Bekenntnis dafür, dass diese zentralen Bekenntnisse wieder stark gemacht und zum Leuchten gebracht werden. Wir glauben: Als Kirche Jesu müssen wir neu begründen lernen, warum wir fest zu diesen ewigen Glaubenswahrheiten stehen und warum sie für die Kirche Jesu so heilsam und unaufgebbar wichtig sind. Darin liegt auch ein notwendiger Bildungsauftrag. Denn völlig zurecht schreibt Hohage:

„Die Gemeinde vor Anfechtung abzuschirmen ist weniger nachhaltig, als sie fit zu machen, um in ihr zu bestehen. Die hierfür notwendigen Kompetenzen gilt es mit der Gemeinde einzuüben.“ (S. 307)

Ich freue mich umso mehr, dass Gerrit Hohage bei der Konferenz JESUS25 das Forum Apologetik mit leiten wird, von dem ich mir für diesen Bildungsauftrag wichtige Impulse erhoffe.

Mein Fazit: Ich kann nur hoffen, dass das Buch von Gerrit Hohage dazu beiträgt, dass gerade auch im Umfeld der evangelischen Allianz über diese Themen wieder vertieft gesprochen wird. Angesichts der vielen wertvollen Inhalte (auch dieser längere Artikel konnte nur eine kleine Auswahl wiedergeben) möchte ich allen meinen Lesern dringend empfehlen, dieses Buch zu lesen und weiterzuempfehlen.

Das Buch „Tief verwurzelt glauben“ ist 2024 bei SCM R. Brockhaus erschienen und kann hier bestellt werden.


[1] Hohage macht deutlich, dass ein Verstoß gegen diese Gleichsetzung schwerwiegende Konsequenzen hat: „Man erkennt unschwer, dass es um die obigen Axiome … und deren unbedingte Anerkennung als soziale Voraussetzung für die Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs geht. Wer daran rüttelt, der ist in der Theologie wissenschaftlich erledigt, dem wird der Diskurs verweigert, wie gut seine Argumente auch sein mögen.“ (S. 332, Endnote 144) Diese Realität kann ich nur bestätigen. Man sollte sie kennen, wenn man sich fragt, warum sich selbst konservativere Theologen im akademischen Umfeld so schwertun, in ihrer Theoriebildung mit Wundern und Offenbarungsereignissen zu rechnen.

[2] Allerdings halte ich bei diesem Thema die Argumentationsstrategie von Hohage für fragwürdig und unnötig kompliziert. Hohage meint: Wir müssen akzeptieren, dass der Begriff „historisch“ untrennbar mit wunderkritischen Axiomen verknüpft sei, denn es sei doch „sehr unwahrscheinlich, dass man sich im Wissenschaftsbetrieb auf eine Dehnung der Prinzipien ernsthaft einlassen würde.“ (S. 215) Das stimmt zwar. Aber das wird auch für viele andere „evangelikale“ Überzeugungen gelten, die Hohage in seinem Buch selbstbewusst vertritt. Warum also gerade hier diese Kapitulation? Ich würde uns raten, lieber selbstbewusst davon zu sprechen, dass die historisch gemeinten Texte der Bibel (genau wie die historisch gemeinten Aussagen des apostolischen Glaubensbekenntnisses) auch realhistorisch ernst genommen werden dürfen und müssen. Denn Hohage stellt ja selbst zurecht fest, dass für den „common sense“ die folgende Kombination gilt: „historisch = wirklich/real = wahr  unhistorisch = nicht wirklich/nicht real = nicht wahr.“ Ich meine: Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, das Wort „historisch“ in der Bedeutung zu nutzen, wie es von den meisten Menschen intuitiv verstanden wird.

[3] „In zahlreichen kirchlichen Verlautbarungen … wird inzwischen betont, dass Christus die Mitte der Heiligen Schrift ist. … Das Problem hat sich durch diese Einsicht aber nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn welcher Christus darf’s denn sein als Mitte der Schrift? … Dies bleibt unklar, und deswegen ist dieses inflationär beliebte Kriterium nicht brauchbarer als frühere Kriterien, die heute als zeitbedingte Konstruktionen gelten. Luther hat seinen Satz »Kanonisch ist, was Christum treibet« nicht dazu gedacht, um innerhalb einzelner biblischer Schriften kanonische von nicht-kanonischen Anteilen zu unterscheiden. Er setzt die Ganzheit der Heiligen Schrift voraus. Denn ohne sie kann der echte Jesus Christus in seiner Identität gar nicht als ihre Mitte gewonnen werden. An diesem Punkt sind Christologie und Hermeneutik (=Lehre vom Verstehen) untrennbar miteinander verkoppelt.“ (S. 241)

[4] Denn die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ „klärt nämlich gar nichts, weil sie an der entscheidenden Stelle uneindeutig bleibt. … was bedeutet »im«? Der Kern in der Schale? Zwei Worte, die man voneinander trennen kann – hier Menschenwort, da Gotteswort? Nach welchen Kriterien?“ (S. 243)

[5] So greift Hohage die Rede von einer „zweiten Naivität“ auf und schreibt auf S. 250: „Andere haben gegenüber der ersten Naivität sehr viel weniger Berührungsängste und lassen die Möglichkeit eines »wortwörtliches« Verständnisses offen. … Denn welchen Weg wir nehmen, damit Gottes Wort uns erreichen kann, ist m.E. weniger wichtig als dass es uns faktisch erreicht, dass wir es hören und es in uns den Glauben wirken kann. Der auf Gottes Reden hörende Gebrauch der Schrift ist unser »erster Ausgangspunkt«, nicht die richtige Theorie über die Schrift. Nicht was wir über die Schrift denken, ist wichtig, sondern ob wir sie so lesen, dass wir Gottes Stimme in ihr hören.“ (S. 250) An anderen Stellen im Buch macht Hohage selbst deutlich: Natürlich ist das, was wir über die Schrift denken, auf Dauer äußerst wichtig für die Frage, ob wir Gottes Stimme darin hören können. Wenn ich mein Gegenüber wirklich hören und verstehen will, dann muss ich ihn sagen lassen, was er sagen will. Konservativen geht es ja nicht um ein „wortwörtliches Verständnis“, sondern um das reformatorische Prinzip, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, auch bei der Frage nach der richtigen Textgattung eines bestimmten Abschnitts. Der Bibel glauben und Gottes Stimme in ihr hören heißt auch: Wir versuchen, die Schrift selbst klären und entscheiden zu lassen, welche Passagen realhistorisch und welche metaphorisch gemeint sind. Ein solches Bibelverständnis hat nichts mit Naivität zu tun – weder mit einer ersten noch mit einer zweiten. Gestutzt habe ich übrigens auch beim überschwänglichen Lob für Heinzpeter Hempelmann (S. 11), der zu meinem großen Bedauern inzwischen postevangelikales Gedankengut verbreitet und nach meiner Wahrnehmung angesichts seines immer noch großen Einflusses zu einer wirklichen Belastung für die pietistische und evangelikale Welt geworden ist.

Erweckung Teil 3: Vorsicht Fake

Der dritte Teil dieser kleinen Serie über Erweckung fällt mir am schwersten. Aber es ist nun einmal eine Tatsache: Nicht alles, was vorgibt, eine Erweckung zu sein, ist auch tatsächlich eine. Das Problem dabei ist: Die Unterscheidung zwischen echt und falsch ist oft gar nicht so leicht. Fast jede Erweckungsbewegung ist von Teilen der Kirche abgelehnt oder sogar offen bekämpft worden. Das liegt auch daran, dass Erweckungsbewegungen zu Beginn oft wenig ausgewogen sind. Sie atmen oft eine gewisse Radikalität. Sie enthalten oft Irrtümer und Übertreibungen. Sie sind oft wenig sensibel und erzeugen deshalb fast immer auch Opfer.

Es ist daher immer leicht, neue geistliche Aufbrüche zu kritisieren. Die Gefahr dabei ist: So leicht kann man das Kind mit dem Bad ausschütten. So leicht kann man dazu beitragen, geistliche Aufbrüche zu ersticken und die Kirche zu spalten. Gerade in Deutschland haben wir immer wieder unter solchen Problemen gelitten.

Vorsicht vor vorschneller Kritik!

Ich verstehe deshalb, wenn einige Christen sagen: Ich werde neue christliche Bewegungen grundsätzlich nicht kritisieren. Man kann diese Zurückhaltung auch biblisch gut begründen. Jesus hat gesagt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ (Matth.7,16) Ein junger Baum trägt nicht gleich Früchte. Es braucht Zeit, bis man sich vom Charakter und von den Auswirkungen einer neuen Bewegung ein Bild machen kann. Frucht kann man nicht eben mal schnell aus der Distanz prüfen. Ein kurzer Artikel oder eine einzelne Meinungsäußerung reicht nicht, um sich ein wirkliches Bild zu machen.

Trotz aller Vorsicht gilt: Prüft alles!

Trotz aller gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung bleibt das Gebot bestehen: „Prüft aber alles“ (1.Thess.5,21). Paulus bezieht dieses Gebot auf prophetische Aussagen. Wir können es aber natürlich auch auf Bewegungen anwenden, die für sich selbst in Anspruch nehmen, prophetischen Charakter zu haben. Bei Bewegungen, die sich selbst als erwecklich betrachten, ist das häufig der Fall.

Das Neue Testament macht zudem klar, dass das Prüfungsgebot auch für Personen gilt. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Jesus die Gemeinde in Ephesus mit den folgenden Worten lobt: Du hast die, die sich als Apostel ausgeben, geprüft und sie als Lügner entlarvt. (Offb.2,2) Es ist also keine Heldentat, Leute einfach gewähren zu lassen, um ja niemand zu kritisieren. Im Gegenteil: Es gehört zur Verantwortung christlicher Leiter, „Influencer“ im christlichen Umfeld zu prüfen und gegebenenfalls zurückzuweisen. Es geht dabei nicht ums Rechthaben oder um Macht. Es geht um den Schutz von Menschen und Gemeinden. Denn falsche Lehrer richten immer Schaden an. Sie verletzen Menschen. Sie zerstören Gemeinschaften. Sie spalten die Kirche.

Die Wort + Geist Katastrophe

Ein trauriges Beispiel hat in den 2000er-Jahren die charismatisch geprägte Christenheit im deutschsprachigen Raum in Aufruhr versetzt. Die sogenannte „Wort + Geist-Bewegung“ wurde im Jahr 1999 gegründet und erlangte rasch großen Einfluss. Viele Gemeinden luden den Gründer Helmut Bauer zu Heilungsgottesdiensten ein. Ich habe selbst einen solchen Heilungsgottesdienst erlebt. Es lag eine Euphorie in der Luft. Viele Christen haben gehofft, dass von dieser Bewegung ein kraftvoller Ermutigungs- und Erneuerungsimpuls ausgeht.

Nur wenig später haben Leiter wie Peter Wenz, Wolfram Kopfermann, Bernhard Olpen oder die evangelische Allianz Nürnberg intensiv vor Wort + Geist gewarnt. Sie wiesen auf eine Reihe von grundlegend falschen Lehren und Praktiken hin. Es gab in der Folge eine Reihe von Spaltungen. Die Zahl an verletzten Menschen und zerstörten Gemeinschaften ist wohl schwer abzuschätzen. Es ist tragisch. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn der Mann, der sich später selbst als „Völkerapostel“ bezeichnen ließ, schon früher als falscher Apostel entlarvt worden wäre?

Die fragwürdigen Praktiken von Benny Hinn

Auch mit dem US-amerikanischen „Fernsehprediger“ Benny Hinn hatte ich Berührungspunkte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mir ein Bekannter begeistert Szenen aus seinen großen Heilungsgottesdiensten zeigte. Ich kaufte mir Hinns Buch „Guten Morgen, Heiliger Geist!“. Manches erschien mir eigenartig. Und doch empfand ich eine Faszination. Wer sehnt sich nicht nach einem Mehr an Wundern, Heilungen und Gottes Kraft?

Im Jahr 2024 veröffentlichte der US-amerikanische Pastor und YouTuber Mike Winger ein 4-stündiges Video über Benny Hinn. Winger ist genau wie ich ein charismatisch geprägter Christ. Er glaubt an die Realität von Wundern und Heilungen. In den 10 Kapiteln seines Videos dokumentiert er jedoch zahlreiche Fälle von Lügen, falscher Lehre, falschen Prophetien, Pseudoheilungen, höchst fragwürdige Spendenpraktiken und Fälle von angeblicher Buße, die aber zu keiner Verhaltensänderung führten. Unter seinem Video, das inzwischen schon rund 800.000 mal angeklickt wurde, schreibt Winger: „Benny Hinn is a very bad man.“ Ich kann nur empfehlen, sich die Zeit zu nehmen und das komplette Video von Winger anzuschauen (youtu.be/X2Ip_3A32W0), bevor man Winger für dieses scharfe Urteil kritisiert.

Falsche Prophetien und falsche Versprechen

Eine „Prophetie“ Benny Hinns aus den 90er Jahren zeigt beispielhaft, warum Winger derart kritisch ist (ab 1:24:18):

„Ich prophezeie: Wir stehen vor der größten Erntezeit seit Pfingsten. … Ich beobachte Israel. Ich beobachte Bill Clinton, unseren Präsidenten, der versucht, den Frieden zwischen den Syrern und den Israelis wiederherzustellen. Wenn die Syrer und die Israelis endlich diesen Friedensvertrag unterzeichnen … – und das müssen sie, weil Gott sagt, dass sie es tun werden – in der Sekunde … werden sie die gesamte arabische Welt in das Friedenslager holen, einschließlich dem Irak … . Drei Dinge werden geschehen. Ich prophezeie erstens die größte Evangelisationsbewegung in der Weltgeschichte! In dieser kurzen Zeitspanne werden mehr Menschen gerettet werden als in der gesamten Zeit seit Pfingsten. Und ich prophezeie durch die Salbung Gottes, die ich auf mir spüre: Jeder geliebte Mensch, für den Du gebetet hast, jeder Ehemann, jedes Kind, jeder Bruder und jede Schwester wird von Neuem geboren werden, wenn diese Bewegung eintritt. Ich sage euch, es wird geschehen. Daran gibt es keinen Zweifel. Die zweite Sache, die passieren wird, ist eine Bewegung mit Wundern, die es in der Weltgeschichte noch nie gegeben hat. Meine Damen und Herren, wir werden sehen, wie … kreative Wunder geschehen. Wir werden sehen, wie massenhaft Menschen geheilt werden. … Drittens: Die größte Wohlstandsbewegung der Weltgeschichte. Ich weiß, Sie haben Gott angefleht: … Oh Gott, ich kann diese Rechnungen nicht bezahlen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass der Herr Ihnen ein Wunder schenken wird, wie er es vor so langer Zeit in Ägypten getan hat. Der Reichtum der Sünder ist im Begriff, jedem Gläubigen gegeben zu werden. Aber mein Bruder: Erwarte diesen Reichtum nicht, wenn du nicht dafür gesät hast. Du musst erst säen, bevor du ernten kannst. Ich bin hier, um zu prophezeien. Ich predige heute Abend nicht. Ich prophezeie heute Abend. Aber schau, jetzt warten wir alle auf diese mächtige Bewegung, die unmittelbar bevorsteht, Wochen entfernt, nicht mehr als ein paar Monate entfernt. Aber wir müssen jetzt dafür säen. Ich möchte, dass du zum Telefon greifst. Mache eine Spendenzusage.“

Drei Anmerkungen dazu:

  • Hinn richtet seinen Spendenaufruf primär an verschuldete Menschen. Er verspricht: Gib mir jetzt dein letztes Geld, dann wird Gott dich finanziell segnen. Winger dokumentiert in seinem Video: Für diese Praxis hat Hinn später öffentlich Buße getan. Er hat eingeräumt, dass man damit Menschen vollends in den Ruin treiben kann. Aber Winger dokumentiert: Kurz darauf hat Hinn wieder genau das Gleiche getan.
  • Hinn erzeugt Emotionen mit unrealistischen Versprechungen: Eine gewaltige Erweckung mit spektakulären Wundern steht bevor! Alle Deine Angehörigen werden sich bekehren! Deine Rechnungen werden bezahlt! Die Ungläubigen werden den Gläubigen ihren Reichtum geben! Das kann Euphorie auslösen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ habe ich von Menschen berichtet, die unter einem „postcharismatischen Syndrom“ leiden. Der Grund: Euphorisierung durch Luftnummern schlägt am Ende eben oft ins Gegenteil um. Nach meiner Beobachtung stellt diese Dynamik eine wichtige Wurzel der heutigen postevangelikalen Bewegung dar.
  • Was wirklich unfassbar ist: Obwohl kein Satz dieser „Prophetie“ wahr wurde, hat Hinn im September 2023 die exakt gleiche Prophetie erneut verkündet (im Video zu sehen ab 1:09:30). Wieder behauptet er: Eine neue Ära („Season“) hat begonnen! Israelis und Araber versöhnen sich – spätestens im Jahr 2024! Das löst eine gewaltige weltweite Erweckung mit zahlreichen Wundern aus! Alle Deine Lieben, für die Du betest, werden sich bekehren! Die Welt wird ihren Reichtum den Gläubigen geben („wealth transfer“)! Du wirst finanzielle Wunder erleben – sofern Du mir jetzt Dein Geld spendest…

Es kam wieder ganz anders: Statt Versöhnung folgte nur wenige Tage später am 7. Oktober 2023 der grauenvollste Terroranschlag auf Juden seit dem Holocaust. Seither erleben wir eine beispiellose weltweite Welle des Antisemitismus. Während ich das schreibe, sehe ich mit Schrecken die antisemitischen Proteste an US-amerikanischen Eliteuniversitäten, bei der sich islamistische und woke linke Strömungen miteinander verbinden. Wie vor 100 Jahren in Deutschland wird wieder Juden der Zugang zu Universitäten versperrt. Trotzdem habe ich nichts davon gehört, dass Benny Hinn seine „Prophetie“ zurückgenommen hätte. Sie ist nach wie vor online auf seinem Kanal (hier und hier).

Mich macht das zornig. Wer eine grundfalsche „Prophetie“ Jahre später wiederholt, sie wieder mit genau den gleichen illusionären Versprechungen verknüpft, um erneut verschuldeten Menschen ihr letztes Geld aus der Tasche zu ziehen, dem sollten wir nicht vertrauen. Ich kann beim besten Willen keine Option erkennen, wie wir ein solches Verhalten rechtfertigen, entschuldigen oder auch nur verharmlosen könnten.

Falsche Lehre richtet Schaden an

In all dem tun mir vor allem all die Menschen und Familien leid, die auf diese Weise in noch tiefere finanzielle Probleme geraten sind, während Hinn in Privatjets und Luxushotels um die Welt reist. Mir tun die Menschen leid, die ihr Heil vergeblich in fragwürdigen Proklamationstechniken („name it and claim it“) und in einem unbiblischen Gesundheits- und Wohlstandsevangelium („health and wealth gospel“, „prosperity gospel“) suchten. Mir tun die Kranken leid, die zusätzlich zu ihrem Leiden auch noch von dem Gedanken geplagt werden, dass sie nicht genügend Glauben für ihre Heilung haben. Mir tun die Menschen leid, die trotz ihrer offenkundigen Krankheitssymptome bis zuletzt ihre angeblich bereits erfolgte Heilung proklamiert haben. Mir tun die Familien leid, die sich deshalb nicht von Ihren Angehörigen verabschieden konnten – und nebenbei durch diesen Unsinn vom christlichen Glauben abgeschreckt wurden.

Sehnsucht nach echter Erweckung

Winger berichtet: Benny Hinn besitzt bis heute großen Einfluss. Weltweit zieht er zahllose Menschen in seinen Bann. Bekannte christliche Leiter stellen sich öffentlich zu ihm. Bill Johnson, der Leiter der international einflussreichen Bethel-Gemeinde in Redding (Kalifornien), hat ihn sogar als persönlichen Freund bezeichnet. Und ich frage mich: Ist das mangelndes Unterscheidungsvermögen? Haben wir denn nichts aus vergangenen Katastrophen durch falsche Lehrer und Apostel gelernt?

Umso mehr sehne ich mich nach echter Erweckung. Ich halte Ausschau nach einem neuen geistlichen Aufbruch mit all den Kennzeichen, die wir auch in biblischen Erweckungen finden (siehe Teil 2 dieser Serie): Eine neue Liebe und Ehrfurcht vor Gottes Wort. Eine große Zahl von Menschen, die Buße tun und umkehren zu Gott. Eine wachsende, geeinte Kirche Jesu mit Ausstrahlung, die Licht und Salz ist für die Gesellschaft. Lasst uns nicht aufhören, für eine solche Erweckung gemeinsam zu beten und zu arbeiten.

Hier findest Du die ersten beiden Teile dieser Artikelserie:

Grenzen der Einheit? Einheit ohne Grenzen?

Gedanken zu einem AUFATMEN-Gespräch zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl

Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das ist zweifellos eine Schlüsselfrage für die evangelikale Bewegung in Deutschland. In einer Serie von Artikeln haben Thorsten Dietz und Stephanus Schäl über diese Frage gesprochen.[1] Beide sind einflussreich im allianzevangelikalen Umfeld.[2] In welche Richtung denken sie? Kann man manches auch anders sehen? Gibt es fehlende Aspekte? Ein Beitrag zu einer Diskussion, die dringender denn je geführt werden muss.

Warum tun wir uns so schwer mit der Einheit, für die Jesus doch so intensiv gebetet hat? Zurecht weisen Schäl und Dietz darauf hin: Es sind allzuoft ganz menschliche Abgründe, die unsere Einheit untergraben. Wenn Machtstreben sich verbindet mit der Unfähigkeit, zwischen biblischer Aussage und eigener Bibelauslegung zu unterscheiden, dann kann Einheit nicht gelingen. Zudem betonen beide: Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus sei Einheit ja schon Realität. Wir gehören zur gleichen Familie, egal ob wir uns lieben oder streiten. Deshalb sollten wir doch miteinander statt übereinander reden, Vorurteile und „Lagerdenken“ vermeiden, vom Kampf- in den Dialogmodus wechseln und stets die Begrenztheit der eigenen Perspektive im Blick behalten. Wenig hilfreich sei es, zwischen „innen“ und „außen“ bzw. zwischen „uns“ und „ihnen“ zu unterscheiden. Wir sollten Einheit nicht zerreden, sondern sie lieber erfahrbar werden lassen im Einsatz für gemeinsame Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche.

Ein fehlender Aspekt: Zurückweisung von falscher Lehre

All das lässt sich biblisch gut begründen. Allerdings findet man im Neuen Testament einen weiteren Aspekt zum Thema Einheit, der in der Artikelserie fehlt: Die notwendige Zurückweisung falscher Lehre. In den 7 Sendschreiben der Offenbarung nimmt dieses Thema sogar den größten Raum ein. Einige Briefe im NT (insbesondere der Judasbrief) sind regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehre. Das „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15, 7) steht im Neuen Testament durchgängig auf dem Fundament der apostolischen Lehre als einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage:

„Ich bitte euch aber, Brüder, nehmt euch vor denen in Acht, die von der Lehre abweichen, wie ihr sie gelernt habt! Sie rufen nur Spaltungen hervor und bringen den Glauben der Geschwister in Gefahr. Geht ihnen aus dem Weg!“ (Römer 16, 17)

Falsche Lehre wird von Paulus also ausdrücklich als Spaltungsursache benannt. Auch deshalb findet er so harte Worte, wenn am Evangelium etwas verändert wird (Galater 1, 8+9). Und er scheut sich nicht, für die Verteidigung des Evangeliums auch übereinander zu reden (zum Beispiel über die Verfehlungen von Petrus in Galater 2, 11-14).

Biblische Offenbarung als Basis für starke Mitte?

Schäl schreibt deshalb zurecht:

„Christliche Einheit braucht … das Festhalten an der biblischen Offenbarung als zuverlässige Richtlinie für Lehre und Leben. Wo die Bibel nicht mehr norma normans, also normierende Norm für Glauben, Theologie und Ethik ist, verkommt die Einheit zur Beliebigkeit.“

Und Thorsten Dietz ergänzt: „Eine starke Mitte kann sehr, sehr viel Buntes und Verschiedenes aushalten.“ Die Frage ist nur: Wie soll die verbindende starke Mitte definiert und der Inhalt der „normierenden Norm“ festgestellt werden, wenn wir zwar „Festhalten an der Wahrheit der Bibel“, aber zugleich wissen, „dass unsere eigene Perspektive auf diese Wahrheit begrenzt, stückhaft und unvollständig ist“ (Stephanus Schäl)?

Schäl schlägt einen Minimalkonsens vor: „Wir gruppieren uns um Christus, so wie er uns in der Bibel beschrieben wird. Und: Ich glaube, Einheit ist wirklich nicht möglich, wenn wir in Zweifel ziehen, dass die Offenbarung Gottes Grundlage für unser ganzes Denken ist.“ Reicht der so formulierte Bezug auf Christus, Bibel und Offenbarung, um zu gemeinsamen, verbindenden Kernüberzeugungen zu gelangen?

Vertrauen in die Haltung statt in prüfbare theologische Aussagen

Leider zeigt das Gespräch von Dietz und Schäl, wie auch solche konservativ klingenden Formulierungen unterlaufen werden können. Dietz greift die Aussagen von Schäl zwar zustimmend auf. Er kommentiert jedoch zugleich:

„Gemeinsamkeit kann nur dort entstehen, wo man einander den Glauben glaubt. … Einheit ist möglich, wo wir einander zugestehen, dass die Bibel für uns die Grundlage des Glaubens ist, … Ja, es gibt erhebliche Unterschiede, wie wir die Bibel auslegen und verstehen. Welche Worte wir heute für die Dreieinigkeit Gottes finden, ob und wie wir von Gottes Offenbarung reden und wie wir sie ins Verhältnis setzen zur Vielfalt der Religionen heute“.

Zunächst fällt auf: Die oberste Priorität hat hier nicht die biblische Norm, sondern das Vertrauen in die Haltung des Anderen. Wir sollen einfach glauben, dass für unser Gegenüber die Bibel die Grundlage ist – unabhängig davon, wie er die Bibel versteht und auslegt. Und unabhängig davon, wie bzw. ob überhaupt (!) er von Gottes Offenbarung redet.

Offenbarung und Sexualethik: Spezialfragen ohne Bekenntnisrang?

Zugleich warnt Dietz davor, „alle möglichen Spezialfragen, wie ich die Offenbarung verstehe oder wie ich Sexualethik deute, zu Bekenntnisrang hochzupushen.“ Hier ist wohlgemerkt nicht vom Buch der Offenbarung die Rede, sondern allgemein vom Offenbarungshandeln Gottes. Dazu bekennt schon das Nicäno-Konstantinopolitanum: Wir glauben an den Heiligen Geist, der … gesprochen hat durch die Propheten“. Und die deutsche evangelische Allianz formuliert in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben.“ Zur Sexualethik stellt sie klar: Der Mensch … ist als Mann und Frau geschaffen.“ Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Hier muss man nichts mehr pushen. Aussagen zu diesen Themen haben schon längst Bekenntnisrang.[3]

In seinem Buch „Menschen mit Mission“ hatte Dietz formuliert: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Aber auch dieses maximal verknappte Bekenntnis kann in seinen Augen offenkundig keine Grundlage für eine gemeinsame starke Mitte sein. Im Gegenteil: Er warnt ausdrücklich davor, einige der dort formulierten Aussagen festzuschreiben.

Die Zusammenfassung der gemeinsamen Botschaft aller Christen, die Dietz in AUFATMEN dann selbst zu formulieren versucht[4], kommt tatsächlich ohne die Themen Sünde und Schuld, die Trennung des Menschen von Gott, Jesu Opfertod als alleinige Grundlage für Vergebung und den Freispruch in Gottes Gericht und auch ohne die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist aus – alles Themen, die die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis für unaufgebbar wichtig hält. Die Allianz bekennt sich zudem in aller Klarheit zur Zentralität des stellvertretenden Sühneopfers – Dietz hingegen hat es schon 2019 in einem Worthausvortrag weitgehend relativiert.[5]

Die evangelische Kirche ist nicht beliebig

Trotzdem wendet sich Dietz gegen den Verdacht der Beliebigkeit in kirchlichen Kreisen:

„Viele Dinge werden dort sehr ernst genommen. Es wird z.B. sehr intensiv darüber diskutiert, ob man überhaupt noch Fleisch anbietet in kirchlichen Tagungshäusern. Es wird über Tempolimit und Tierschutz und Frauenrechte und die Rechte von Transmenschen geredet. Ich kenne in den Landeskirchen keine Menschen, die sagen würden: „Ich finde Beliebigkeit super, soll doch jeder, wie er will.“

Diese Aussage kann ich nur bestätigen. Schon 2020 habe ich ganz ähnlich geschrieben: „Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen.“[6] Beliebigkeit gibt es zwar nicht in der Kirche. Aber die Themen, bei denen in der Kirche Entschiedenheit gefordert wird, haben nur wenig mit den zentralen Bekenntnissen der Christenheit zu tun. Und bei diesen Themen ist definitiv noch weniger Einheit unter Christen zu gewinnen als bei den zentralen Glaubensfragen.

Besonders deutlich wurde das in der Abschlusspredigt zum letzten evangelischen Kirchentag von Pastor Quinton Ceasar. Darin hatte er geäußert:

„Wir können nicht mehr warten. … Die Zeit ist jetzt, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff. … es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.“

Was für eine proklamative Botschaft! Von Dialogbereitschaft und Wissen um die Begrenztheit der eigenen Perspektive keine Spur. Trotzdem kommentiert Dietz in einer Kirchenzeitung hocherfreut: „Schön, dass der Kirchentag den Mut hatte, mit einer so herausfordernden Botschaft zu schließen!“[7] In einem Facebookpost schreibt er zudem: „Gott steht jenseits der Geschlechterdifferenz. Gott ist weder Mann noch Frau. Und zugleich sind Mann und Frau zu seinem Bilde geschaffen (Gen 1, 27). Genau das ist doch der Sinn von Queer, jenseits der binären Geschlechterlogik. Und genau darum ist es für queere Menschen so tröstlich, sich das vor Augen zu führen. Wenn sie zum Bilde Gottes geschaffen sind und Gott queer ist, dann ist Gott wirklich ein safe place, das Gegenteil von dem, was sie in vielen Kirchen erfahren haben. Das ist für viele reinstes Evangelium.“

Polarisierung statt Annäherung

Diese Begeisterung für die Abschlusspredigt des Kirchentags bringe ich nur schwer zusammen mit den Aussagen von Dietz in AUFATMEN, in denen er sich Annäherung wünscht:

„Lasst uns wenigstens nicht mehr kaputt machen. Wir sehen, wie schlimm es werden kann und können daraus lernen: In die Richtung wollen wir auf keinen Fall weiter. Es müsste wieder zurück an runde Tische.“

Ich möchte Dietz diesen Wunsch gerne glauben. Aber Tatsache ist aus meiner Sicht: Es gab in letzter Zeit wohl kaum eine Predigt wie die von Quinton Ceasar, die so viel Zusammenhalt kaputt gemacht und Polarisierung unter Christen vorangetrieben hat. Denn während Ceasar seine Positionen als moralisch alternativlos darstellt, ist für zahlreiche Christen klar: Die Gesetzesbrüche und die angstmachenden Botschaften der sogenannten „Letzten Generation“ sind inakzeptabel. Das von der EKD finanzierte Rettungsschiff „Sea watch 4“, das unter einer linksradikalen Flagge fährt, ist kein passender Ausdruck von christlicher Diakonie und Nächstenliebe. Und zum Thema „Gott ist queer“ schreibt der Vorsitzende der deutschen evangelischen Allianz Reinhardt Schink:

„Gott lässt sich von uns nicht in ein bestimmtes „Raster“ pressen, um menschliche, zumeist ideologische, Interessen theologisch zu legitimieren. Es gibt in der Geschichte leider viel zu viele Beispiele davon: Gott als Judenfeind, Gott als Antikatholik, Gott als Nationalist („Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern), Gott als Kommunist oder Antikommunist, Gott als Kolonialist, Gott als weißer Mann, Gott als männlich, weiblich oder „queer“. Den heiligen Gott in so ein Raster pressen zu wollen, ist eine völlig unangemessene und häufig blasphemische Vorstellung. All dies ist Gott nicht. Vielmehr zieht sich durch die gesamte Bibel wie ein roter Faden das Bekenntnis: Gott ist heilig.“

Deutlicher könnten die Gegensätze kaum sein.

Einheit ohne Grenzen? Jedenfalls nicht beim Thema Sexualethik!

Führt die Offenheit von Dietz nicht zu einer grenzenlosen Ökumene? Dietz antwortet:

„Die Grenze ist da, wo Menschen unfähig sind, ihre Bibelauslegung von der Bibel selbst zu unterscheiden … und wo unterschiedliche ethische Erkenntnisse das Christusbekenntnis an Gewicht überbieten.“

Demnach scheint grenzenlose Einheit tatsächlich möglich zu sein. Denn natürlich wird kein einigermaßen reflektierter Christ behaupten, dass seine Bibelauslegung 1:1 mit der tatsächlichen Aussageabsicht der Bibel übereinstimmt. Und kein Christ wird ethische Fragen über das Christusbekenntnis stellen.

Bemerkenswerterweise ist es aber Thorsten Dietz selbst, der an anderer Stelle der These von der grenzenlosen Einheit widerspricht. In der live auf dem Kirchentag aufgenommenen Podcastfolge 24 von „Karte und Gebiet“ sagt Dietz: Innergemeindliche „Einheit in Vielfalt“ oder „versöhnte Verschiedenheit“ kann beim Thema „Ehe für alle“ unmöglich funktionieren. Denn das wäre ja „versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen“.[8] Dietz bestätigt damit, worauf viele Konservative seit langem hinweisen: Wo progressive Sexualethik in einer bislang konservativen Gemeinde Raum gewinnt, da gibt es auf Dauer nur 2 Möglichkeiten: Entweder setzt sich eine der beiden Positionen durch. Oder es muss irgendeine Form von Trennung geben. Grenzenlose Einheit ist gerade auch bei Progressiven unmöglich, wenn es um die Sexualethik geht.

Das wurde zuletzt auch deutlich in einem Gottesdienst der Gemeinde „UND Marburg“, die unter anderem geleitet wird von Tobias Faix, dem Podcastpartner von Thorsten Dietz. In der Predigt wurde die These vertreten: Die „Aufregung“ um die Predigt von Quinton Ceasar und seinen Satz „Gott ist queer“ zeige, wie viel „Queerfeindlichkeit“ es immer noch unter Christen gebe. Von Offenheit für andere Positionen auch hier keine Spur, stattdessen die Unterstellung niedriger Motive. Das hört sich für mich nicht so an, als ob man hier wieder runde Tische mit Konservativen sucht.

Tiefe theologische Gräben

Zugleich wurden die Gottesdienstbesucher von UND-Marburg aufgefordert, beim „Vater-Unser“ den Begriff „Vater“ durch eine beliebige andere Anrede zu ersetzen. Es ist schon bemerkenswert: Während es in progressiven Kreisen fast als Verbrechen gilt, die selbstgewählten Pronomen einer Person zu ignorieren, setzt man sich bei der Anrede Gottes großzügig darüber hinweg, wie Gott selbst angesprochen werden möchte: „Ihr sollt vielmehr so beten: Unser Vater…“ (Matth. 6, 9)

Hinzu kommt: Gott kann natürlich unmöglich „queer“ sein in dem Sinne, wie der Begriff im Allgemeinen verwendet wird. Denn anders als wir Menschen hat Gott kein biologisches Geschlecht, mit dem er sich in Spannung befinden könnte. Er hat auch kein wie auch immer geartetes sexuelles Begehren. Zugleich macht Jesus deutlich, dass Gott mit der „binären Geschlechterlogik“ offenbar keinerlei Probleme hat:

„Habt ihr nie gelesen“, erwiderte Jesus, „dass Gott die Menschen von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hat? Und dass er dann sagte: ‚Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden völlig eins sein.‘? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Und was Gott so zusammengefügt hat, sollen Menschen nicht scheiden!““ (Matthäus 19, 4-6)

Die Ehe von Mann und Frau ist für Jesus offenkundig eine Idee des Schöpfers – weshalb Scheidung für ihn normalerweise nicht in Frage kommen kann. Thorsten Dietz hingegen schreibt im Medienmagazin PRO: „Die Ehe ist keine christliche Idee. … Für Christen gilt: Der Wunsch nach Ordnung ist eng verknüpft mit Konservatismus. Zu dieser Ordnung gehört auch die Familie. Kurz gesagt: Je unruhiger die Welt, desto größer der Wunsch nach Erhalt und Ordnung. Die Ehe ist ein Ordnungsmittel. So erkläre ich mir den Hype darum.“[9] Der Ehe-„Hype“ des „Konservatismus“ ist also eine Folge von Ordnungssehnsucht? Auch diese Unterstellung niedriger Motive empfinde ich nicht gerade als Beitrag zum respektvollen Dialog. Und die Beispiele mögen zeigen: Hier werden theologische Wege eingeschlagen, die Evangelikale unmöglich mitgehen können – denn sie wären dann nicht mehr evangelikal.

Wie geht es weiter?

Wie werden wir wohl in 20 Jahren auf diese konfliktreiche Zeit zurückblicken? Schäl äußert dazu: „Ich glaube, wir schauen entspannter zurück, so wie wir jetzt auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, als die charismatische Bewegung aufkam. Heute schmunzelt man und ärgert sich ein bisschen.“ Sind also die Auseinandersetzungen unserer Zeit nur ein Sturm im Wasserglas, der sich mit der Zeit von selbst wieder legen wird?

Ich halte Schäl‘s Vergleich für fragwürdig. Denn genau wie Volker Gäckle (Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell) nehme auch ich wahr, dass die heutigen Konflikte viel zentralere Themen betreffen als der Streit um Charismen:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ [10]

Die Konflikte, die jetzt auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld aufbrechen, sind also im Kern die gleichen Konflikte, die im letzten Jahrhundert schon einmal im kirchlichen Umfeld aufbrachen. Im Zentrum standen damals wie heute die zentralen Fragen nach dem Schrift- und Offenbarungsverständnis, nach der Christologie und nach der Kreuzestheologie. Diese Konflikte haben sich nicht wieder beruhigt, im Gegenteil: Jahrzehnte später nutzt die EKD ihre noch verbliebene Macht mehr denn je, um Evangelikale von den Ausbildungsstätten und Leitungsgremien fernzuhalten.

Aus gutem Grund haben die evangelikalen Leiter im kirchlichen Umfeld damals gespürt: Wir müssen Parallelstrukturen bauen! So entstanden wunderbare evangelikale Verlage, Medien, Werke, Gemeinschaften und Großveranstaltungen, von denen auch ich sehr stark profitiert habe. Ich glaube nicht, dass diese evangelikalen Pioniere vom Lagerdenken getriebene Spalter waren. Denn sie hatten für ihre Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, handfeste Gründe:

Eine Theologie, die den Missionsauftrag entkernt

Mission und Evangelisation ist und bleibt das Herzensanliegen der Evangelikalen. Doch die Kirche fremdelt seit langem damit. Im Buch „Mission Zukunft“ fiel auch Michael Diener auf: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“Und Alexander Garth bemerkt: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ Die Gründe für diese Missionsphobie der EKD werden in diesem Buch überaus deutlich. So schreibt zum Beispiel der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ Gleich mehrfach wird ein Satz des Theologen Fulbert Steffensky zitiert:

„Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes. Mission heißt zeigen, was man liebt.“

War Paulus auf seinen Missionsreisen also „absichtslos“ unterwegs gewesen? Wollte er in erster Linie die Welt bereisen und anderen Menschen nur bei Gelegenheit von seinem schönen Lebenskonzept erzählen? Bernhard Meuser hält zurecht dagegen: „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ Diese auf dem Missionsbefehl basierende Perspektive ist in der EKD komplett verloren gegangen. Kein Wunder, dass evangelikale Pioniere auf Parallelstrukturen setzen mussten angesichts einer um sich greifenden Theologie, die mit Mission im biblischen Sinn vollständig inkompatibel ist.

Im Gespräch zwischen Schäl und Dietz könnte man hingegen den Eindruck bekommen: Die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche wäre so klar, dass man darüber die theologischen Differenzen zurückstellen könnte.[11] Das erlebe ich tatsächlich vollkommen anders. Ich kenne keine Definition des Evangeliums und des Sendungsauftrags der Kirche, die in meiner evangelischen Kirche konsensfähig wäre und zugleich von Evangelikalen mitgetragen werden könnte. Mir zeigt das: Wenn unsere Theologie nicht in der Lage ist, den Bekenntniskern des Christentums zu schützen, dann gehen auch die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung verloren. Dann hat die Kirche keine Zukunft. Oder bildlich gesprochen: Wer auf die Praxis fokussieren will, während zugleich die zentralen theologischen Grundlagen verschwimmen, der ist wie ein Kapitän, der sich auf dem sinkenden Boot aufs Fischen konzentriert, statt das Leck zu verschließen.

Bibel und Bekenntnis sind unverzichtbar für Einheit in Vielfalt

Für gelingende Einheit in Vielfalt und für eine starke missionarische Dynamik ist deshalb eine verbindende Bekenntnisgrundlage (wie das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum oder die Glaubensbasis der evangelischen Allianz) unverzichtbar. Dabei muss klar sein: Bekenntnisse bilden natürlich immer auch eine Grenze! Sie sorgen für ein „innen“ und „außen“ und für die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“.

Selbstverständlich sind Christen allen Menschen in Liebe zugewandt. Aber die Zugehörigkeit zur Einheit der Familie Gottes gilt nun einmal nur den Jüngern Jesu, die alles halten wollen, was Jesus uns geboten hat (Matthäus 28, 19). Die Lehre und Gebote Jesu finden wir ausschließlich in der Bibel. Es stimmt zwar, dass unser Verständnis der biblischen Aussagen manchmal undeutlich ist und Stückwerk bleibt. Aber in allen zentralen und heilsrelevanten Fragen sind die biblischen Aussagen doch so klar, dass Christen sie immer wieder in eindeutigen Bekenntnissen fassen und festschreiben konnten. Wenn aber selbst diese wenigen, allerzentralsten Bekenntnissätze in Frage gestellt werden, dann lässt das ganz offenkundig auf ein Bibelverständnis schließen, in dem die Bibel faktisch keine „normierende Norm“ mehr ist.

Die Geschichte der Christenheit zeigt: Die Bibel kann der Christenheit eine gemeinsame, verbindende Basis und eine starke Mitte geben, die uns hilft, viele randständige Differenzen fröhlich auszuhalten. Das gilt aber nur, wenn wir an dem Bibelverständnis festhalten, das die Bibel selbst bezeugt und das schon für die ersten Kirchenleiter galt: Die Bibel IST Offenbarung. Sie enthält oder bezeugt sie nicht nur. Hinter allen ihren Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Deshalb ist dieses Buch kein widersprüchliches und fehlerhaftes Durcheinander, sondern eine verlässliche und weithin verständliche Einheit. Wenn unser Schriftverständnis aber dazu führt, dass der Bekenntniskern verschwimmt, dann versandet auch die Einheit. Deshalb finden wir die orientierunggebende Zurückweisung falscher Lehre und das bekenntnishafte Benennen von Grenzen der Einheit nicht umsonst immer wieder im Neuen Testament. Beides ist unverzichtbar für ein gelingendes Miteinander und für eine starke, missionarische Kirche Jesu.

Mein Votum ist deshalb: Lasst uns beides wieder ganz neu schätzen lernen und praktizieren. Nicht aus Rechthaberei, Lagerdenken oder Machtstreben. Sondern aus Liebe zu den Menschen, zur Kirche Jesu und zu unserem Herrn, dem wir gemeinsam folgen.


Fußnoten:

[1] „Einheit oder Einheitlichkeit?“ In Aufatmen 2023, Ausgabe 2 (S. 52-58) und 3 (S. 44-47)

[2] Stephanus Schäl ist Dozent für Altes Testament an der Bibelschule Brake. Er ist stellvertretender Sprecher des Konvents der Evangelischen Allianz in Deutschland und Teil der EAD-Mitgliederversammlung. Prof. Dr. Thorsten Dietz lehrte bis 2022 als Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er unter anderem zuständig für die Erwachsenenbildung der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz. Medial präsent ist er vor allem durch seine Arbeit bei RefLab, als einer der Hauptreferenten der Mediathek Worthaus, beim Podcast „Karte und Gebiet“ (gemeinsam mit Tobias Faix) sowie durch diverse Bücher (zuletzt Menschen mit Mission, SCM R. Brockhaus 2022). Seit 2020 ist er Mitglied des Trägervereins des ERF.

[3] Zur Sexualethik wird zudem z.B. im Helvetischen Bekenntnis und im Westminster Bekenntnis einiges ausgesagt, siehe dazu der Artikel „Das reformierte Glaubensbekenntnis zur Ehe für alle“ im Blog Daniel Option.

[4] Wörtlich schreibt Dietz: „Alle Kirchen verbindet der Glaube: Wir haben etwas wirklich Gutes zu erzählen und zu feiern. Die Jesus-Geschichte des Neuen Testaments wurde für die ersten Nachfolgenden ein Brennpunkt, in dem die Befreiungsgeschichten Israels zusammenliefen. Und zugleich öffneten sie sich zu einer umfassenden Einladung an alle Menschen, in diesem Jesus das unbedingte Ja Gottes des Schöpfers zu finden. Diese Botschaft von der großen Bejahung ist bis heute die Gründungsgeschichte der Christenheit, die es in immer neuen kreativen Formen weiterzuerzählen gilt.“

[5] Der Worthausvortrag „Der Prozess – Warum ist Jesus gestroben?“ von Thorsten Dietz (10.6.2019, worthaus.org/mediathek/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/) wurde ausführlich zusammengefasst und kommentiert in: Markus Till: „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“, in „Glauben &Denken heute“, Ausgabe 1/2020, S. 25-31, PDF-Download unter: blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf  

[6] Im AiGG-Blogartikel „Wie gelingt Einheit in Vielfalt“, 12.12.2020, blog.aigg.de/?p=5332 

[7] In: „Ist Gott queer?“, 16.6.2023, www.meine-kirchenzeitung.de/c-aktuell/ist-gott-queer_a41301

[8] So sagt er im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Er schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“ , so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] In: „Theologe Thorsten Dietz: Die Ehe ist keine christliche Idee“, Christliches Medienmagazin PRO, 18.6.2023, www.pro-medienmagazin.de/theologe-thorsten-dietz-die-ehe-ist-keine-christliche-idee/

[10] Volker Gäckle: „Windstille, Wandel und Gottes Wirken“, in „Lebendige Gemeinde“ 4/2021, S. 14, online unter https://lebendige-gemeinde.de/wp-content/uploads/2021/12/LG_2021_04_ChristusBewegung.pdf

[11] So sagt Schäl u.a. zu Dietz: „Ich finde, du setzt da einen ganz wichtigen Akzent: „Für alle Kirchen und Verbände dürfte das die entscheidende Herausforderung sein: Einheit nicht zu zerreden, sondern im Einsatz für gemeinsame Ziele erfahrbar werden zu lassen. Zentrale Bedeutung hat die Besinnung auf die gemeinsame Sendung der Kirche.“ Ich schreibe ja, dass wir vom Kampf zum Dialogmodus gehen müssen. Und du setzt noch einen drauf: Wir müssen zum Sendungsmodus kommen. Ich finde das Ringen, das eher theoretische Ringen wichtig, aber der Punkt ist ja nicht, dass wir uns in einem Diskurs auf Einheit einigen, sondern dass wir als Kirche Jesu das umsetzen, was wir leben sollen.“

Wie umgehen mit postevangelikaler Theologie im evangelikalen Umfeld?

Dieser Artikel ist der Abschluss einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.
Der vollständige Artikel mit allen 3 Teilen kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Im zweiten Artikel habe ich begründet, warum diese Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aktuell so erfolgreich ist. In beiden Artikeln habe ich die These aufgestellt: Postevangelikale und progressive Theologie hat sich im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld in vielen Verlagen, Medien, Gemeinden, Gemeinschaften, Verbünden, Missionswerken und Ausbildungsstätten bereits etabliert. Nicht selten ist sie schon jetzt vorherrschend und dominant.

Heimatverlust für Evangelikale

Für viele Evangelikale ist diese Entwicklung schon jetzt mit einem Gefühl von Heimatverlust verbunden. Das geht auch mir so. Im Nachbarort meiner Heimatgemeinde ist der Hänssler-Verlag angesiedelt. Dem inzwischen verstorbenen Verlagsgründer Friedrich Hänssler durfte ich noch persönlich begegnen. Was für ein Glaubensvorbild! Jahrzehntelang galt für mich: Bei Büchern aus diesem Verlag muss ich nicht prüfen, ob sie theologisch auf einer soliden Basis stehen. Ich kann nach Herzenslust stöbern. Heute gehört Hänssler zur SCM-Verlagsgruppe. Bei SCM musste ich mich daran gewöhnen, dass neben evangelikalen Produkten auch Bücher mit progressiver und postevangelikaler Theologie und Sexualethik verbreitet werden. Eine neue Dimension war für mich jedoch die Nachricht, dass die SCM-Stiftung eine auf mehrere Jahre angelegte „Sexualitätsstudie“ in Auftrag gegeben hat, die in „Veröffentlichungen, Vorträge, Veranstaltungen und Workshops“ münden soll[1]. Durchgeführt werden soll diese Studie ausgerechnet vom Institut empirica der CVJM Hochschule Kassel, deren Leiter Tobias Faix und Tobias Künkler zu den bekanntesten Verfechtern für die Durchsetzung progressiver Sexualethik im freikirchlich-evangelikalen Umfeld zählen.

Seit Jahren habe ich die immer wiederkehrende Aufforderung evangelikaler Leiter im Ohr: Wir sollten uns um der Einheit willen doch auf Gemeindebau und Mission konzentrieren, statt über das Thema Homosexualität zu streiten![2] Aber jetzt muss ich zur Kenntnis nehmen: SCM schiebt selbst dieses weltweit spaltende Thema ins Rampenlicht und macht sich durch die Auswahl der Akteure zum aktiven Motor für die Durchsetzung der progressiven Sexualethikagenda im allianzevangelikalen Umfeld. Das hat mich wirklich erschüttert.

Wachsende Konflikte

Im Jahr 2021 schrieb Ulrich Eggers in der Zeitschrift AUFATMEN:

 „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“[3]

Eggers bestätigt also: Die Wahrnehmung wachsender Spannungen und Konflikte ist keine Einzelbeobachtung. Es gibt einen echten Trend, der vielen Leitern auffällt. Und dieser Trend ist bedrückend! Gemäß Jesu Gebet in Johannes 17 ist Einheit nicht nur ein Herzensanliegen Gottes, sie ist auch eine entscheidende Grundlage für die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und somit für unsere missionarische Dynamik!

Die Gretchenfrage der evangelikalen Bewegung

Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen kann m.E. die Dringlichkeit der folgenden Frage kaum überschätzt werden: Wie soll die evangelikale Welt umgehen mit der Ausbreitung von postevangelikaler und progressiver Theologie in evangelikalen Gemeinden, Gemeinschaften, Werken und Bünden?

Zu dieser Frage nehme ich im allianzevangelikalen Umfeld aktuell drei verschiedene Positionen wahr:

Position 1: Offene Evangelikale waren schon immer „progressiv“. Sie haben immer schon den Glauben weiterentwickelt, um das Evangelium den Menschen ihrer jeweiligen Zeit bezeugen zu können. Wichtig sei deshalb, die notwendige theologische „Modernisierung“ rasch voranzutreiben, damit auf dieser progressiven Basis Einheit gelebt werden kann und die evangelikale Welt endlich aus der Sackgasse von weltfremdem und menschenfeindlichem Fundamentalismus herausfindet.

Position 2: Postevangelikalismus ist eine Spielart evangelikalen Glaubens. Die Differenzen betreffen nicht den Kern des Christentums. Wichtig sei deshalb, Christus als personifiziertes (nicht dogmatisches!) Zentrum zu betonen („Wir glauben an Christus und nicht an die Bibel“ bzw. „Wir glauben einander den Glauben“), damit trotz theologischer Differenzen Einheit zwischen Evangelikalen, Postevangelikalen und Progressiven gelebt werden kann.

Position 3: Postevangelikalismus weicht in zentralen Glaubensfragen fundamental von evangelikalen Überzeugungen ab. Wichtig sei deshalb, an den unaufgebbaren Glaubensgrundlagen des evangelikalen bzw. historisch-orthodoxen Christentums festzuhalten und sie auch gegen Widerspruch zu verteidigen, damit auf dieser Basis Einheit gelebt, evangelisiert und Gemeinde gebaut werden kann.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Auffällig ist: Alle drei Positionen wollen Einheit! Aber sie haben vollkommen unterschiedliche, ja gegensätzliche Konzepte, um diese Einheit zu erreichen! Position 1 und 3 streben eine gewisse Homogenität bei zentralen theologischen Weichenstellungen an – entweder in Richtung progressiver oder in Richtung evangelikaler Theologie. Position 2 hingegen möchte ganz bewusst untheologisch bleiben, weil man meint: Zu viel Theologie erzeugt nur Streit. Man setzt deshalb stärker darauf, dass die gemeinsam erlebte Christusfrömmigkeit verbindend wirken soll.

Für jede dieser drei Positionen gibt es aktuell gewichtige Befürworter im evangelikalen Umfeld. Die Frage, welche Position sich durchsetzen wird, ist nach meiner Wahrnehmung im Moment völlig offen. Dabei kann man die Bedeutung dieser Weichenstellung kaum überschätzen. Sämtliche Vertreter dieser drei Positionen sind ja überzeugt, dass die jeweils anderen Positionen zum Verlust der Einheit führen werden. Niemand glaubt, dass es egal wäre, welchen Weg die evangelikale Bewegung einschlägt.

Deshalb ist die Frage so ungeheuer dringend: Evangelikale Bewegung, wohin? Dabei muss klar sein: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung! Denn der zweite Artikel dieser Serie hat ja deutlich gemacht: Es gibt gute Gründe dafür, warum progressive Theologie sich in den vergangenen Jahren auch im allianzevangelikalen Umfeld so rasch ausgebreitet hat. Diese Theologie hat eine enorme Anziehungskraft! Sie wird nach menschlichem Ermessen nicht einfach wieder von selbst verschwinden, sondern sich vermutlich – so wie in meiner evangelischen Kirche – weiter ausbreiten und Machtpositionen besetzen, sofern evangelikale Leiter und Theologen dieser Entwicklung einfach nur passiv zusehen.

Deshalb möchte diese Artikelserie beenden mit

3 Thesen für eine gesunde Weiterentwicklung der evangelikalen Bewegung

1. Wir brauchen eine Belebung der ersten Liebe zu Christus!

Für echte Einheit nach biblischem Vorbild genügt eine dogmatische Übereinstimmung nicht. Das Zentrum unseres Glaubens ist tatsächlich nicht ein Dogma, sondern der lebendige Christus! Jesus hat gesagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wo die Liebe zu Christus schwindet, da schwindet bald auch alles Andere (Offb. 2, 4+5). Dann wird auch gesunde Lehre zur kalten Rechthaberei. Deshalb brauchen wir mehr als alles andere die im Alltag gelebte Liebesbeziehung zu unserem Herrn Jesus Christus. Und da sind wir alle persönlich gefragt: Wieviel Raum hat Bibel und Gebet in unserem Alltag? Haben wir noch diese Leidenschaft, dieses Feuer, diese brennende Liebe für Jesus? Wie sieht das in unseren Gemeinden und Gemeinschaften aus? Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam um eine Erweckung beten- für uns persönlich, für unsere Gemeinden, für die Kirche Jesu und für unser Land.

2. Wir brauchen Gemeinden und Gemeinschaften mit gesunden Beziehungen und einer lebendigen, von Liebe und Annahme geprägten Frömmigkeit!

Wir müssen uns nicht wundern, dass Christen unser evangelikales Umfeld verlassen, wenn wir sie mit ihren Fragen und Nöten alleine lassen, wenn unser Glaube gesetzlich ist, wenn wir christliche Ethik mit Druck durchsetzen, ohne dass etwas von der Kraft und der Gnade Gottes in unserer Mitte spürbar ist. Unsere Gemeinschaft muss geprägt sein von echter Liebe Gottes und von der Kraft des Heiligen Geistes.

3. Wir brauchen eine verbindende Bekenntnisgrundlage in den zentralen Fragen des christlichen Glaubens!

Zu allen Zeiten haben Christen gespürt: Einheit in Vielfalt ist nicht möglich ohne gemeinsames Bekenntnis. Der lebendige Christus kann und darf niemals ausgespielt werden gegen sein lebendiges und kraftvolles Wort, das uns verlässlich in der Bibel begegnet und das uns eine verbindliche, verbindende Lehr- und Bekenntnisgrundlage gibt.

Um diese Grundlage zu stärken, müssen wir…

wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens! Es reicht nicht, dass unsere Glaubensgrundlagen irgendwo auf unserer Homepage stehen. Wir müssen sie verstehen. Wir müssen darüber sprechen. Wir müssen leidenschaftlich und öffentlich davon schwärmen.

… neu lernen, zu begründen, warum diese Glaubensbasis für uns unaufgebbar wichtig ist. In der Theologie nennt man das „Apologetik“, also die Begründung und Verteidigung des christlichen Glaubens mit rationalen Argumenten. Leider haben wir im evangelikalen Umfeld zu lange diese Denkarbeit vernachlässigt. So wichtig Gefühle in einem ganzheitlichen Christsein sind, so sehr braucht die Christenheit auch kluge, rationale Denker, die uns helfen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und nachvollziehbare Antworten zu geben auf die herausfordenden Fragen unserer Zeit.

wieder lernen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft nicht schick. Aber die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen falsche Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Schon Paulus hat sich nicht gescheut, selbst Petrus namentlich öffentlich zu kritisieren, wenn es ums Evangelium ging (Gal. 2, 11-14). Glauben wir wirklich, dass wir diesen orientierunggebenden Dienst der Unterscheidung ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten?

Mein Plädoyer ist deshalb: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und zu verteidigen! Liebevoll. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Und vor allem: Wir tun es aus Gehorsam gegenüber unserem Herrn, der uns geboten hat: „Lehrt sie, alles zu halten, was ich euch befohlen habe.“ (Matthäus 28, 19) Kirche Jesu kann nur gebaut werden auf dem Grund der Propheten und der Apostel, mit Jesus Christus als dem Grundstein (Epheser 2, 20). Das feste Vertrauen auf das grund-legende, unfehlbare Wort, das wir in der Bibel finden, war für die Apostel, für die Kirchenväter, für die Reformatoren und für Evangelikale immer von entscheidender Bedeutung. Auch heute noch gilt: Nur auf dieser ein für allemal überlieferten Grundlage hat die Kirche Jesu Zukunft.

Fußnoten:

[1] Zitat aus der SCM-Presseinformation, die inzwischen nicht mehr online ist.

[2] So schreibt z.B. Ulrich Eggers: Das Thema Homosexualität „ist derzeit wohl der Kern der Entfremdung und die wichtigste Nahrung für die laufende Polarisierung unter uns. Gibt es Lösungs-Wege? Finden die Jesus-Bewegten aller Art ein neues „Agree to disagree“ – unter der starken Ziel-Gebung des gemeinsamen Auftrags zu Mission und Gebet? … Wenn Streit und Homogenität in den Mittelpunkt rücken, sehe ich keine Chance auf Einheit – erst recht nicht unter den andrängenden gesellschaftlichen Fragen rund um die Gender- und LGBTI-Problematik. Wenn unser missionarischer Auftrag im Mittelpunkt steht, Gebet, Begegnung und die gemeinsame Orientierung an Jesus – dann könnte es gelingen.“ In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 57

[3] In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 52

Warum ist postevangelikale und progressive Theologie so erfolgreich?

Dieser Artikel gehört zu einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags „Quo Vadis evangelikale Bewegung?“ des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Am Ende habe ich die These aufgestellt: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr! Vor allem in den Leitungsebenen ist sie längst auf breiter Front angekommen. Das gilt für viele größere als evangelikal geltenden Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für einige Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn z.B. der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) Prof. Volker Gäckle berichtet:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“

Anders ausgedrückt: Während die Abgrenzung gegenüber „liberaler Theologie“ früher ein gemeinsames Merkmal der evangelikalen Bewegung war, ist die Frage nach dem Umgang mit liberaler Theologie heute ein innerer Spaltpilz im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld. Das führt zu der Frage: Wie konnte es soweit kommen? Warum ist postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld offenkundig derart anschlussfähig? Warum gewinnt diese Theologie so viele evangelikal geprägte Köpfe und Herzen, obwohl sie doch bislang nirgends bewiesen hat, dass man mit ihr fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen kann[1]?

Die Biografie vieler Postevangelikaler ist auch eine Verletzungsgeschichte

Eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei dieser Entwicklung spielen zweifellos persönliche Verletzungen. Wenn man sich mit der Biografie von Postevangelikalen beschäftigt, begegnet man immer wieder auch traurigen Geschichten. Viele beklagen nachvollziehbar, dass sie ihr evangelikales Umfeld als überaus eng erlebt haben:

Oft hat es zum Beispiel am Raum zum Denken gefehlt. Tatsächlich müssen wir Evangelikale uns fragen: Sind wir nicht vielfach in oberflächliche, gefühlige theologische Banalitäten abgerutscht? Wo finden wir in unserem Umfeld durchdachte Begründungen für den christlichen Glauben und kluge Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit („Apologetik“)? Wo werden bei uns heiße Eisen offen angesprochen? Wo reden wir in unseren Gemeinschaften und Gemeinden über Homosexualität, über Sex vor der Ehe, über scheinbare Widersprüche in der Bibel, über Gewalttexte im Alten Testament, über die Hölle, über den Exklusivanspruch Jesu, über Schöpfung und Evolution, über das stellvertretende Sühneopfer und viele weitere Fragen, die jedem gläubigen Menschen fast zwangsläufig kommen müssen, wenn er klassische christliche Überzeugungen mit den dominanten Denkweisen unserer Kultur vergleicht?

Enge entsteht aber auch, wenn der Glaube gesetzlich wird, wenn die Liebe Gottes zum theoretischen Konzept wird und wenn ethische Ansprüche ohne die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes vermittelt werden. Dann wird unser Glaube zur Leistungsreligion, die uns irgendwann dazu bringt, erschöpft auszubrechen. Wo der Heilige Geist schwindet, kann das Christentum immer nur entweder liberal oder gesetzlich werden. Beides hat gleichermaßen katastrophale Folgen.

Enge entsteht schließlich auch immer dann, wenn Menschen mit einer schwachen Identität Ämter und Positionen missbrauchen, um Menschen an sich statt an Christus zu binden. Geistlicher (Macht-)Missbrauch kommt leider auch unter Christen vor, und zwar sowohl im liberal/progressiven wie im konservativ-evangelikalen Umfeld. Die Frage ist: Haben wir für dieses Übel eine Antenne? Haben wir reife Leiter, die solche Machtmenschen in die Schranken weisen und die Gemeindeglieder vor Missbrauch und Manipulation schützen?

Tatsache ist: Nicht wenige Christen werden postevangelikal, weil sie im evangelikalen Umfeld keine vernünftigen Antworten auf ihre drängenden Fragen bekommen und deshalb denken, sie müssten sich für universitäre Theologie öffnen, um intellektuell redlich glauben zu können. Andere werden postevangelikal, weil sie ihren Glauben als belastend und bedrückend empfinden oder weil sie von Evangelikalen enttäuscht und verletzt worden sind. Es ist wichtig, dass wir Evangelikale uns solchen Problemen ehrlich und schonungslos stellen.

Vier Gründe für die Anziehungskraft postevangelikaler / progressiver Theologie

Zugleich müssen wir aber auch wissen: Es liegt nicht nur an Schwächen oder Fehlern von Evangelikalen, dass sich so viele Christen für postevangelikales und progressives Gedankengut öffnen. Wir müssen realistisch sehen: Postevangelikale und Progressive Theologie hat aus mehreren Gründen eine enorme Anziehungskraft:

1. Postevangelikale/Progressive Theologie umgibt sich mit einer Aura von Aufgeklärtheit, Wissenschaftlichkeit und intellektueller Überlegenheit

Das immer wieder zu hörende Narrativ lautet in etwa: Akademische Theologie basiere auf objektiver Wissenschaft statt auf naivem Glauben. Sie sei aufgeklärt und auf der Höhe der Zeit, während sich die Evangelikalen in voraufklärerischen, prämodernen Denkmustern einbunkern. Sie ordne die biblischen Aussagen in den historischen Kontext ein, statt die Bibel einfach so „wörtlich“ zu nehmen. Sie sei intellektuell redlich, befreie sich selbst von Brillen und Vorurteilen und sei deshalb auch zum wissenschaftlichen Diskurs fähig. Spätestens hier geht es dann auch um Geld und Posten, die man eben nur dann im kirchlichen und universitären Umfeld bekommt, wenn man ein „fundamentalistisches“ Bibelverständnis hinter sich lässt.

2. Postevangelikale/Progressive Frömmigkeit präsentiert sich als ein Glaube mit Reife, Weite, Menschenfreundlichkeit und Toleranz

Postevangelikale und Progressive werden in den Gesprächen oft als die „Offenen“ bezeichnet. Gerne stellt man sich so dar, dass man eher in der Lage sei, eigene Standpunkte zu hinterfragen, mit Meinungsverschiedenheiten zu leben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, gelassen mit unterschiedlichen Positionen umgehen zu können und darüber den Respekt und die Liebe zu Geschwistern nicht zu verlieren. Beliebte Aussagen sind zum Beispiel: Wir wollen einander den Glauben glauben. Wir wollen einander nicht richten oder verurteilen. Es sei doch ein Zeichen von Unreife und Angst, wenn man so fest an eigenen Dogmen klebt. Und die Menschenfreundlichkeit dieses Ansatzes zeige sich auch darin, dass er sich sehr viel mehr um die praktischen Nöte der Mitmenschen kümmere. Es gehe anders als bei Evangelikalen eben nicht nur darum, anderen die eigenen dogmatischen Überzeugungen überzustülpen. Es gehe auch nicht nur ums ewige Heil und die Vertröstung aufs Jenseits. Nein, hier gehe es darum, Menschen praktisch zu helfen durch Engagement für Gerechtigkeit, Umweltschutz und gesellschaftliche Transformation.

3. Postevangelikale/Progressive Theologie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und Werten unserer Kultur

Wer heute noch konservative sexualethische Positionen vertritt, steht nicht nur in der Gefahr, mit sozialer und gesellschaftlicher Ächtung konfrontiert zu werden. Darüber hinaus geht es hier zunehmend auch um ganz praktische Konsequenzen: Kirchliche oder staatliche Fördermittel. Zugang zu Posten und Gremien. Beteiligung an öffentlichen Diskursen. Schutz vor gesellschaftlicher und beruflicher Ausgrenzung. Ein Pfarrer, der heutzutage predigt, dass praktizierte Homosexualität Sünde ist, wird von landeskirchlichen Führungsgremien in keiner Weise geschützt oder verteidigt, wenn ein öffentlicher Sturm der Entrüstung losbricht.

Aber nicht nur der gesellschaftliche Druck sondern auch das eigene Gewissen kann in Bezug auf biblische Sexualethik zum Problem werden. Die Bibel beschränkt praktizierte Sexualität auf den Bereich der Ehe. Sie fordert uns auf zu lebenslanger Treue und Monogamie. Progressive Theologen weisen zurecht darauf hin, dass eine simple Buchstaben-Gebotsethik der Komplexität des Lebens manchmal nicht gerecht wird. Der individuelle seelsorgerliche Umgang mit biblischen Werten kann komplex sein, wenn zum Beispiel ein Partner psychisch oder gar physisch gewalttätig wird. Aber seien wir ehrlich: Jeder von uns steht in der Versuchung, biblische Gebote auch schlicht deshalb ignorieren zu wollen, weil uns etwas überaus attraktiv erscheint. Das gilt erst recht angesichts einer uns umgebenden Kultur, die die Übertretung einiger biblischer Gebote für völlig normal hält. Es ist deshalb kein Wunder, dass eine Theologie, die uns aus bestimmten Konflikten und Geboten entlässt, attraktiv erscheinen kann.

4. Postevangelikale/Progressive Theologie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung

Genau das postuliert ja zum Beispiel der Titel des aktuellen Buchs von Michael Diener: Mit der Anpassung bzw. „Modernisierung“ unserer Theologie finden wir endlich heraus aus der Sackgasse, heraus aus dem Abseits, in die sich eine konservativ / fundamentalistische Christenheit selbst hineinmanövriert habe. Solche Versprechen sind im Umfeld der liberalen Theologie nicht neu. Seit jeher haben liberale Theologen versprochen: Wir wollen die christliche Kirche retten! Wir wollen ihr helfen, damit sie nicht gesellschaftlich ausgeschlossen und geächtet wird. Wir wollen dazu beitragen, dass sie weiter am akademischen Diskurs teilnehmen kann, in intellektuellen Eliten Ansehen findet und damit auch gesellschaftlich anschlussfähig bleibt.

Strohmänner und falsche Versprechen

Natürlich wird bei diesen Narrativen immer wieder auch mit Strohmännern gearbeitet. Es werden verzerrte Karikaturen von evangelikaler Theologie aufgebaut. Dazu werden durchaus fragwürdige Versprechen gemacht:

Es ist ja keineswegs belegt, dass im Umfeld liberaler Theologie mehr Diakonie und praktische Hilfeleistung gedeihen konnte als unter Evangelikalen, die heute in aller Welt Krankenstationen, Waisenhäuser und Brunnen bauen und sich zudem sehr viel vernehmbarer für verfolgte Christen in aller Welt einsetzen. Dass evangelikale Theologie keineswegs unwissenschaftlich sein muss, sondern einfach nur auf anderen, rational gut begründbaren außerwissenschaftlichen Voraussetzungen („Paradigmen“) beruht, habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt.[2]

Vollkommen haltlos sind zudem die Versprechen, die Kirche könne aufblühen, wenn sie ihre theologischen Überzeugungen an gesellschaftliche Denkweisen anpasst. So ist zum Beispiel die Bultmann’sche Theologie vollständig gescheitert in ihrem Anspruch, die Kirche durch die Anpassung an den damals sehr dominanten Rationalismus gesellschaftsrelevanter zu machen. Es handelte sich vielmehr immer nur um eine „Pfarrertheologie“, die für Pfarrer gerade auch deshalb so interessant war, weil viele von ihnen während des Studiums durch die massive Bibelkritik an den theologischen Fakultäten zutiefst verunsichert waren. Diese Theologie hat also ein Problem „gelöst“, das sie selbst mit erschaffen hat. Aber die breite Bevölkerung und auch die kirchliche Basis konnte mit dieser Theologie nie etwas anfangen. Im Gegenteil: Die landeskirchliche Theologie leidet heute mehr denn je an einer massiven Entfremdung von der gemeindlichen Praxis. Die Kirche hat ihr Profil und ihre Kernbotschaft weitgehend verloren.

Bei genauerem Hinsehen sind postevangelikal/progressive Theologen auch keineswegs so offen und tolerant, wie sie zunächst glauben machen wollen. Prof. Christoph Raedel hat berichtet, dass im Umfeld der theologischen Fakultäten geradezu eine „Ekelschranke“ in Bezug auf evangelikale Theologie („Fundamentalismus“) existiert. Auch viele Worthausvorträge dokumentieren diese polemisch herablassende Sichtweise auf Evangelikale.

Noch sehr viel stärker ausgeprägt ist die Intoleranz im Bereich der Sexualethik. Die evangelikale bzw. historisch/orthodoxe Position zur Sexualethik wird im postevangelikal/progressiven Umfeld häufig mit Diskriminierung, Lieblosigkeit, Ausgrenzung und Schädigung „queerer“ Menschen gleichgesetzt, was letztlich zwangsläufig zu Spaltungen führen muss, wie der FeG-Pastor Johannes Traichel in seinem aktuellen Buch „Evangelikale und Homosexualität“ zutreffend dargelegt hat.[3]

Die genannten Narrative, Strohmänner und Versprechen halten also einer genaueren Prüfung nicht stand. Trotzdem sollten wir keinesfalls glauben, dass sie von allen durchschaut werden. Ich kann nur staunen über die immer wieder geäußerte Idee, man solle doch gerade auch jungen Christen vertrauen, dass sie sich selbst im Dschungel der verschiedenen theologischen Ideen orientieren könnten. Das Gegenteil ist nach meiner Beobachtung der Fall: Christen brauchen heute mehr denn je kluge, differenzierte und leidenschaftlich vorgetragene biblische Lehre, um sich im theologischen Stimmengewirr orientieren zu können.

Evangelikale Bewegung, wohin? Wie gehen wir um mit dieser Situation?

Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum progressive Theologie sich auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld rasch ausbereitet. Es ist nicht zu erwarten, dass sie einfach so von selbst wieder verschwindet, im Gegenteil: In meiner evangelischen Kirche erlebe ich, dass diese Theologie sämtliche Macht- und Ausbildungszentren komplett erobert hat. Und sie achtet streng darauf, dass evangelikales Gedankengut keinen relevanten Einfluss mehr bekommt. Der Versuch, diesen theologischen Trend einfach „totzuschweigen“ wird also ebensowenig funktionieren wie der Versuch, den Konflikt durch Bagatellisierung der Differenzen kleinzureden oder sich irgendwie neutral zu verhalten.

Das führt zu der drängenden Frage: Wie sollten evangelikale Leiter umgehen mit dieser neuen Situation, die das Zitat von Volker Gäckle zu Beginn dieses Artikels beschreibt? Wie gehen wir damit um, dass postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld immer dominanter wird und evangelikale Positionen immer offener und lautstärker diskreditiert?

Zu dieser höchst brisanten Frage beobachte ich aktuell drei sehr verschiedene, geradezu gegensätzliche Ansätze. Jeder dieser Ansätze wird von gewichtigen Vertretern im allianzevangelikalen Umfeld vertreten. Aber welcher dieser Ansätze deutet in die richtige Richtung? Damit wird sich der dritte und letzte Teil dieser Artikelserie befassen.

Fußnoten

[1] In seinem überaus empfehlenswerten Buch „Untergehen oder Umkehren“ beschreibt Pfarrer Alexander Garth auf Basis seiner weltweiten Einblicke und Erfahrungen genau das Gegenteil: „Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 62) „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174)

[2] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Das wunderkritische Paradigma“ (blog.aigg.de/?p=5240) sowie den Vortrag: „Brauchen wir wissenschaftliche Theologie?“ in der offen.bar-Mediathek (https://youtu.be/zjV4WQ-B9iA)

[3] Der FeG-Pastor Johannes Traichel beschreibt in seinem aktuellen Buch „Evangelikale und Homosexualität“, wie postevangelikal/progressive Sexualethik sich im konservativen Umfeld stufenweise etabliert, letztlich aber zu Spaltung führt: „Das Thema Homosexualität polarisiert und spaltet bekanntlich. Dies muss allen Beteiligten mehr als deutlich sein. Gleichzeitig bauen viele Beteiligte eine emotionale Spannung auf, die einen sachgerechten Dialog kaum möglich macht. Hier werden unsachgemäße Vorwürfe geäußert, homosexuell empfindende Menschen seien in evangelikalen Gemeinden nicht willkommen. … Oder Vorwürfe, dass die traditionelle christliche Ethik grundsätzlich eine Diskriminierung darstelle, für Suizide verantwortlich ist und der Art Jesu widerspricht. Ob dies ein guter Stil ist, das dürfte eine andere Frage sein, die nicht allzu schwer zu beantworten sein sollte. … Während es, vermutlich ohne besondere Verwerfungen, möglich sein dürfte, sich in bestehenden liberal geprägten Gemeindestrukturen, wie den evangelischen Landeskirchen, zu organisieren und LGBTQ-Gemeinden (die auch bereits vorhanden sind) zu gründen, erscheint es mir nun, dass hier der Weg des maximalen Konfliktes gewählt wird. So ist zu beobachten, dass auch in Denominationen, die traditionell eine konservative Ethik vertreten, eine gut vernetzte und teilweise auch recht offensiv auftretende Minderheit versucht, diesen Konsens zu kippen. Die Methodik ist hier zwar teilweise leicht zu durchschauen und simpel in der Art, aber dennoch erfolgreich. Hier wird meiner Beobachtung nach zuerst mit einem großen Selbstbewusstsein Toleranz und Akzeptanz für die liberale Position eingefordert, in dem Wissen, dass diese nicht mit dem Konsens der Denomination in Einklang zu bringen ist. Sie werben um Verständnis und beginnen die Gewissensfreiheit ins Feld zu führen. Die zweite Stufe ist dann, dass sie die neue Position auch offiziell zu Gehör bringen wollen. Wenn ein offizielles Papier der Denomination verabschiedet wird, das ganz selbstverständlich die bisherige Sicht darlegt, legen sie zuerst leichten und dann immer deutlicheren Protest ein und erheben die Forderung, dass auch die neue liberale/progressive Position zumindest positiv als Alternative und anschlussfähige Sichtweise genannt wird. Eine Phase, die immer danach mehr zu beobachten ist, ist die scharfe Verurteilung der traditionellen Position, indem sie diese mit emotional aufgeladenen Vorurteilen verleumden. So wird regelmäßig in sozialen Medien oder in Veranstaltungsforen die traditionelle Form als unerträglich, als diskriminierend, als schädlich und als menschenverachtend beschrieben. Eine Sichtweise, die heute nicht mehr vertretbar sei, wenn man gesellschaftsrelevante Gemeinde bauen, missional aktiv sein möchte und den Menschen keine Hindernisse zum Glauben aufbauen will. Auf diese Art und Weise wird ein Weg eingeschlagen, der meines Erachtens die Spaltung von Gemeinden und Denominationen billigend in Kauf nimmt, wenn nicht gar aktiv befeuert.“ (S. 241 – 243)

Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie die beiden noch folgenden Teile enthalten Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags „Quo Vadis evangelikale Bewegung?“ des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet „Postevangelikal“?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist „Progressive Theologie“?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift „Was ist eigentlich postevangelikal?“:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und inhaltlich kritisierbar (in der Theologie spricht man von „Sachkritik“), wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge [3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründ- und erkennbar. Orthodoxe Lehrüberzeugungen werden zunehmend subjektiviert (d.h. sie werden als mögliche Denkvarianten anderen progressiven Überzeugungen gegenübergestellt [5]), oder es wird ihnen offen widersprochen. Dieser Verlust des gemeinsamen dogmatischen Kerns wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für problematisch gehalten, weil die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert wird, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignissen aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [6]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift „Was ist progressive Theologie?“:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Woran liegt das? Warum breitet sich postevangelikal/progressive Theologie so rasant im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aus?

Damit befasst sich Teil 2 dieser dreiteiligen Artikelserie.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] So schreibt zum Beispiel Karsten Hüttmann, der 2022 1. Vorsitzender des Christival war, im Buch „THEOLAB – Jesus, Himmel, Mission“ in seinem Artikel über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu: „Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Die verschiedenen Motive sind jeweils eher als Ergänzung statt als Widerspruch zu verstehen, denn es sind und bleiben letztlich unsere menschlichen Versuche, zu beschreiben, warum Jesus am Kreuz (für uns) starb. … Für Luther war z. B. die Frage nach einem gnädigen Gott noch der Dreh und Angelpunkt seiner Lehren, und für viele Menschen ist auch heute noch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld existenziell. Für andere ist es aber vor allem die selbsterlittene Ungerechtigkeit (hier kann das Sterben Jesu u. a. als Solidarität Gottes mit den Leidenden erlebt werden) oder der Kampf mit der Selbstannahme und der Unsicherheit angesichts der eigenen Existenz (und das Kreuz demzufolge ein Zeichen der absoluten Liebe und bedingungslosen Annahme).“

[6] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

Anmerkungen zum Artikel „Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind“

Der letzte AiGG-Blog-Artikel zum Thema Verschwörungstheorien hat viele Reaktionen hervorgerufen. Leider konnte ich nicht alle Rückmeldungen beantworten. Daher möchte ich hier noch einmal zu einigen der gestellten Fragen und aufgeworfenen Themen gesammelt Stellung nehmen:

„Werden christliche Positionen in den Medien nicht wirklich an den Rand gedrängt?“

Ja, das werden sie leider. Und auch ich leide darunter, besonders wenn es um das Thema Abtreibung geht oder um den oft abfälligen Umgang mit der sogenannten „traditionellen Familie“, die ich für ein unverzichtbares Rückgrat unserer Gesellschaft halte. Das sollte uns aber nicht blind machen dafür, dass es auch Medien gibt, die zwar einerseits christliche Positionen hochhalten, zugleich aber Inhalte vertreten, die für Christen absolut indiskutabel sein sollten.

„Beteiligst Du Dich jetzt auch am „Kampf gegen rechts“?“

In dem Artikel ging es überhaupt nicht um „links“ und „rechts“. Düstere Verschwörungstheorien gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums. So ist zum Beispiel der im Artikel erwähnte scharfe Antiamerikanismus auch im äußerst linken Spektrum weit verbreitet. Und der Auftritt der „letzten Generation“ vor der EKD-Synode zeigt: Auch hier ist man anfällig für düstere Weltuntergangsszenarien, die zu Polarisierung, Pessimismus und Politisierung führen. Zudem habe ich ja deutlich gemacht: Es gibt eine aggressive Form des „Kampfs gegen rechts“, die Menschen vorschnell verurteilt, die nicht differenziert zwischen „rechts der Mitte“ und rechtsradikal, die die als „rechts“ eingestuften Menschen gnadenlos ausgrenzt und damit beiträgt zur Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft, wie z.B. der Fall des Bischofs Carsten Rentzing in trauriger Weise zeigt.

„Ist der Begriff „Verschwörungstheorie“ nicht ein Kampfbegriff zur Unterdrückung von berechtigter Kritik?“

Ja, es gibt eine unselige Tendenz in unserem Land, berechtigte Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums zu diffamieren, statt ihnen argumentativ zu begegnen. Leider wird nicht selten viel zu schnell von „Leugnern“, „Phobikern“, „Skeptikern“, von „Hass und Hetze“, „Fake News“, „Verschwörungstheorien“ und ähnlichem gesprochen. Menschen, die schon früh vor Lockdowns, vor der Impfpflicht oder vor Nebenwirkungen gewarnt haben, wurden leider nicht selten mit solchen Vokabeln diffamiert. Und es wurden leider auch keine Entschuldigungen laut, als sich herausstellte, dass diese Befürchtungen absolut berechtigt waren. Deshalb verstehe ich, warum einige Leser empfindlich auf diesen Begriff reagieren. Das ändert m.E. aber nichts daran, dass es echte Verschwörungstheoretiker gibt, die ein regelrechtes Geschäft machen mit der Angst und mit dem sensationellen Anspruch, Menschen in angeblich geheimes Wissen einzuweihen. Und natürlich gibt es Kräfte (wie z.B. RT-Deutsch), die aktiv Misstrauen streuen, um unser Land zu destabilisieren. Auch vor diesen Problemen dürfen wir die Augen nicht verschließen.

Werden nicht auch in den gängigen Medien „Fake News“ verbreitet?

Doch, natürlich gibt es auch hier teils schlimme Fehlleistungen. Für besonders problematisch halte ich zudem die offenkundige Linkslastigkeit und Regierungsnähe vieler Medien, vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich. Nicht nur die jüngsten Skandale beim RBB zeigen, dass hier Vieles im Argen liegt. Deshalb halte ich es für wichtig, Medien kritisch zu begleiten, so wie es z.B. der „ÖRR-Blog“ auf Twitter tut. Das ändert aber nichts an der Frage, die ich im Artikel gestellt habe: Ist es nicht seltsam, einerseits den „Mainstreammedien“ nur noch undifferenziert ablehnend gegenüber zu stehen und andererseits „alternativen Medien“ so viel Vertrauen entgegen zu bringen? Ich werde jedenfalls immer skeptisch, wenn bestimmte Medien permanent „Klartext“ reden, womöglich noch im andauernden Empörungsmodus, garniert mit Zynismus und Sarkasmus. Die Welt und die Wahrheit ist oft komplex und wenig sensationell. Gute Analysen müssen die Dinge oft differenziert betrachten. Manches eignet sich nicht für eine schnelle Einordnung, weil es einfach noch unklar ist. Guter Journalismus beachtet das, auch wenn man damit weniger Klicks generiert. Mir begegnet solch guter Journalismus immer wieder an unterschiedlichen Stellen – aber praktisch nie bei Quellen, die sich z.B. bei RT-Deutsch bedienen.

Noch eine letzte Anmerkung: Ich werde mit diesen Anmerkungen dieses Thema erst einmal abschließen. Mein Schwerpunkt und meine Leidenschaft ist und bleibt, das Evangelium zu verbreiten und Gemeinde zu bauen, damit Jesus groß gemacht wird in unserem Land. Gerade deshalb ist meine Bitte: Lassen wir uns doch trotz aller Probleme nicht anstecken von düsterer Weltuntergangsstimmung, in welcher Form sie auch immer daherkommen mag. Lassen wir uns auch nicht ablenken vom großen Auftrag, den unser Herr uns auf den Weg gegeben hat. Menschen zu Jüngern machen muss immer unser Fokus und unsere Leidenschaft sein – ganz egal wie sich die Gesellschaft um uns herum entwickelt. Ich glaube: Wo dieser Auftrag durch allzu lautstarke politische Botschaften verdrängt wird, da läuft immer etwas schief – egal aus welcher Richtung die Botschaften kommen. Hören wir doch auf die Ermahnung von Paulus aus einer Zeit, in der Christen nicht nur an den Rand gedrängt sondern grausam verfolgt wurden:

„Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört. Ich sage es noch einmal: Freut euch! Alle Menschen sollen merken, wie gütig ihr seid. Der Herr ist nahe! Macht euch keine Sorgen. Im Gegenteil: Wendet euch in jeder Lage an Gott. Tragt ihm eure Anliegen vor in Gebeten und Fürbitten und voller Dankbarkeit. Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, soll eure Herzen und Gedanken behüten. Er soll sie bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.“ (Philipper 4, 4-7)

Ich wünsche mir, zu einer Gemeinschaft von Christen zu gehören, denen man zuallererst diese Freude, diesen Frieden und diese Nähe zu Christus abspürt.

Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind

Ich bin nur selten in Portalen wie der „Achse des Guten“ (achgut.com) unterwegs. So manches, was dort vertreten wird, scheint mir reißerisch und einseitig zu sein. Aber letzte Woche wurde ich auf einen Artikel hingewiesen, der mich nachdenklich gemacht hat. Unter der Überschrift „Das Dilemma der Ukraine-Debatte“ berichtet Annette Heinisch, dass sie die Kriegs- und Expansionspolitik von Wladimir Putin seit Jahren kritisch beobachtet. Und jetzt fragt sie sich: Warum stehen in ihrem Umfeld plötzlich so viele Menschen auf der Seite Putins? Ihre Erklärung lautet:

„Nach Corona ist nichts mehr, wie es war. War das Vertrauen in die Politik schon vorher erschüttert, so ist es nun bei vielen vollends verschwunden. Sagt die Regierung hü, muss hott richtig sein, so die landläufige Meinung. Sind führende Vertreter des harten Corona-Kurses nun für Waffenlieferungen an die Ukraine, dann muss das falsch sein. Schließlich haben diese Herrschaften ihr mangelndes Urteilsvermögen hinreichend unter Beweis gestellt.“ 

Auch mir fällt auf: Die teils hochaggressive Ausgrenzung von Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollten, hat tiefe Wunden hinterlassen. Ich kann das nach einigen Gesprächen, die ich mit solchen Personen geführt habe, sehr gut nachvollziehen. Der Umgang mit der Corona-Pandemie muss unbedingt kritisch aufgearbeitet werden. Befassen müssen wir uns m.E. auch mit der Frage, warum „sich ein Teil der Bevölkerung vom Weltbild vieler öffentlich-rechtlichen Journalisten nicht repräsentiert fühlt“ und warum „es heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine einzige profilierte konservative Stimme mehr“ gibt, wie der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo aus meiner Sicht treffend schreibt. Es ist kein Wunder, dass Menschen das Vertrauen verlieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Position übergangen oder an den Rand gedrängt wird.

Aber unabhängig davon, wie man im Einzelnen zu den Coronamaßnahmen, dem Verhalten der Medien und zum Ukrainekrieg steht: Richtig scheint mir zu sein, dass unsere Gesellschaft unter einem zunehmenden Vertrauensverlust leidet. Und das ist ein echtes Problem. Natürlich ist es wichtig, dass mündige Bürger die Institutionen und Medien des Landes kritisch begleiten. Aber ein Grundmisstrauen, das allen Vertretern von Staat, Institutionen und Medien prinzipiell nur noch argwöhnisch oder ablehnend gegenübertritt, ist destruktiv. Bürgermeister, Schulleiter und Polizisten können ein Lied davon singen, wie schwer ihre Arbeit wird, wenn ihnen immer mehr Ablehnung oder gar Wut entgegenschlägt. Eine funktionierende Gesellschaft lebt davon, dass es ordnende Kräfte gibt, denen die Bevölkerung ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringt. Der Verfall dieses Vertrauens schadet letztlich uns allen.

Bei einigen Menschen werden diese Schäden besonders sichtbar. Ich muss da zum Beispiel an einen gläubigen jungen Mann denken, den wir vor ein paar Monaten auf eine Geburtstagsfeier eingeladen hatten. Er war überzeugt davon, dass man in den gängigen Medien grundsätzlich völlig falsch informiert wird. Zugleich vertrat er lautstark derart abenteuerliche Weltverschwörungs­theorien, dass wir ihn aus Rücksicht auf andere Gäste wohl zukünftig nicht mehr einladen können. Bei uns blieb der Eindruck zurück: Verschwörungstheorien können einzelne Menschen ebenso vergiften wie das Miteinander.

Deshalb sollte es uns nicht gleichgültig sein, wenn in unserer Gesellschaft Kräfte am Werk sind, die solche Theorien aktiv verbreiten und damit das ohnehin schon beschädigte Vertrauen weiter aushöhlen. Die Thesen klingen ja immer wieder ähnlich: Wir werden vergiftet durch Gase, die Flugzeuge am Himmel versprühen („Chemtrails“). Im Rahmen eines „Great Reset“ wollen internationale Eliten die Macht übernehmen und jeden Privatbesitz enteignen. Die Corona-Pandemie samt der Impfkampagne ist nur Mittel zum Zweck, um Menschen kontrollieren zu können. Amerikaner haben die Zwillingstürme selbst gesprengt. Und im Ukraine-Krieg verteidigt sich Putin nur gegen die viel aggressiveren Amerikaner…

Botschaften dieser Art finden sich vielfach im Internet. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es tatsächlich echte Verschwörungen geben kann. Jedoch würde ich allen, die solche Theorien regelmäßig für realistisch halten, gerne eine Frage stellen: Wenn man wirklich nichts glauben kann, was die sogenannten „Mainstreammedien“ berichten, warum sollten dann „alternative Medien“ vertrauenswürdiger sein?

Auf einem der einschlägigen YouTube-Kanäle fiel mir auf: Es wird immer wieder auch Werbung für „RT Deutsch“ gemacht, dem deutschsprachigen Ableger des russischen staatlichen Nachrichtensenders RT (ehemals Russia Today). Der Sender vermittelt nicht nur die sehr speziellen Sichtweisen Putins über den grausamen Ukraine-Krieg und die Rolle Amerikas. Er verbreitet zudem auch weitere Verschwörungstheorien. Dazu muss man wissen: Diktatoren wie Putin haben ein Interesse daran, andere Länder durch Polarisierung und wachsendes Misstrauen in die Institutionen zu destabilisieren. Letztlich ist das nichts anderes als eine perfide Form von Kriegsführung. Es ist wichtig, dass wir nicht darauf hereinfallen.

Aber leider ist meine Beobachtung: Auch Christen sind gegen problematische Einflüsse dieser Art nicht immun. Das könnte auch daran liegen, dass viele Christen sich mit bestimmten Positionen an den Rand gedrängt fühlen: Ablehnung von Abtreibung, ein traditionelles Familienbild, das Festhalten an der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau und die daraus folgende Ablehnung der „Gender-Ideologie“ – solche Positionen werden in vielen Medien und in der Parteienlandschaft leider immer weniger vertreten und nicht selten diffamiert. Umso mehr freut man sich natürlich, wenn man Sprachrohre findet, die diese Positionen noch hochhalten. Endlich wird man mal wieder in seiner Ansicht bestätigt. Und es tut ja scheinbar gut, wenn endlich einmal diejenigen vorgeführt werden, die ansonsten uns Christen immer wieder vorführen.

Leider können uns solche Gefühle den Blick dafür verstellen, dass einige dieser „Sprachrohre“ aus Quellen schöpfen, die absolut nicht vertrauenswürdig sind. Und leider verlieren nicht wenige Christen auch die Sensibilität für den oft unsachlichen, verletzenden und damit destruktiven Stil und Tonfall solcher Leute.

Die Folgen sind immer wieder ähnlich: Zunehmende Polarisierung. Wachsendes Misstrauen. Eine Verrohung der Debatten. Eine immer pessimistischere Grundhaltung. Politische Themen bekommen eine immer höhere Priorität und rauben die Kraft und Leidenschaft für Mission, Gemeindebau und Evangelisation. Und spätestens, wenn Christen sich gedrängt fühlen, ihre Mitchristen mit ihren sehr speziellen Sichtweisen „missionieren“ zu müssen, dann wird die Gemeinschaft im Hauskreis oder in der Gemeinde zunehmend schwieriger. Nicht wenige christliche Leiter und Gemeinden wurden in den letzten Jahren durch solche Dynamiken schwer belastet.

Die Frage ist deshalb: Wie reagieren wir darauf, wenn wir in unserem Umfeld solche Tendenzen beobachten?

Ich glaube: Wir brauchen zum einen ganz schlicht mehr Information und mehr Medienkompetenz. Wir müssen unsere Mitchristen dafür sensibilisieren, dass es im Internet Quellen gibt, die uns zwar auf den ersten Blick gefallen mögen, bei genauerem Hinsehen aber toxisch und gefährlich sind. Hier haben auch christliche Leiter eine wichtige Aufgabe. Es braucht Menschen, die sich die Zeit nehmen, sich mit solchen Quellen zu beschäftigen und sachlich und differenziert über die Gefahren zu informieren. Wir brauchen einen nüchternen Dienst der Unterscheidung, der uns hilft, problematische Inhalte aufzudecken.

Zweitens sollten wir uns alle gemeinsam vornehmen, uns nicht nur einseitig in bestimmten Meinungsnischen und Filterblasen zu informieren. Denn wer das tut, wird nicht nur einseitig informiert und immer festgefahrener in seinen Positionen. Mindestens ebenso schlimm ist, dass man die Fähigkeit verliert, sinnvoll mit Menschen aus anderen Milieus und Meinungsspektren zu kommunizieren. Das ist ja eines der großen Probleme unserer Gesellschaft: Debatten funktionieren nicht mehr, weil man in völlig verschiedenen Welten lebt. Wir Christen sollten es besser machen und beim Medienkonsum immer wieder über den eigenen Tellerrand blicken, um zu verstehen, wie Andere ticken und was sie bewegt.

Weiterhin gilt auch hier, was in Bezug auf so viele Gefahren gilt: Die lebendige Beziehung mit Jesus und miteinander ist ein wichtiger Schutz. Verschwörungstheorien sind immer auch Identitätsangebote. Sie haben unterschwellig das zweifelhafte Versprechen im Gepäck: Wer darauf hört, gehört zu den Wissenden, die miteinander eine verschworene Gemeinschaft bilden und die der manipulierten Masse überlegen sind. Wer eine feste Identität in Christus und zudem eine gesunde Gemeinschaft mit anderen Christen hat, ist auf solche zweifelhafte Identitätsangebote nicht angewiesen.

Zudem meine ich: Wir sollten alle gemeinsam beitragen zur Deeskalation und zu einer Kultur der Gnade. Mir fällt die tieftraurige Geschichte des ehemaligen sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing ein, der wegen früherer Verbindungen und Publikationen als „rechts“ eingestuft und gnadenlos öffentlich angegangen wurde. Das hat ihn nicht nur sein Amt (und womöglich auch seine Gesundheit) gekostet, sondern in der ganzen Kirche in unübersehbarem Ausmaß Vertrauen und Miteinander zerstört. Deshalb rate ich: Unser Blick auf Andere sollte von Hoffnung geprägt sein statt von Verdächtigung und Misstrauen. Konzentrieren wir uns auf Sachargumente, statt Menschen vorschnell zu verurteilen und auszugrenzen.

Und schließlich: Lasst uns füreinander beten und eng an Jesus Christus bleiben. ER ist unsere Hoffnung. Er ist mächtiger als die mächtigsten Verschwörer und die schlimmsten Verführer. Wer auf ihn schaut, versinkt nicht in Angst vor unheimlichen Machenschaften oder bedrohlichen Extremisten. Meine Erfahrung ist: Wer unsere Gesellschaft und die Kirche Jesu zum Guten verändern möchte, muss es aus dem Frieden heraus tun, den wir nur in der Nähe unseres souveränen Herrn finden, der alles unter Kontrolle hat. Aufgeregter oder gar aggressiver Aktivismus hingegen bewirkt oft das Gegenteil dessen, was man bekämpfen will.