Grenzen der Einheit? Einheit ohne Grenzen?

Gedanken zu einem AUFATMEN-Gespräch zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl

Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das ist zweifellos eine Schlüsselfrage für die evangelikale Bewegung in Deutschland. In einer Serie von Artikeln haben Thorsten Dietz und Stephanus Schäl über diese Frage gesprochen.[1] Beide sind einflussreich im allianzevangelikalen Umfeld.[2] In welche Richtung denken sie? Kann man manches auch anders sehen? Gibt es fehlende Aspekte? Ein Beitrag zu einer Diskussion, die dringender denn je geführt werden muss.

Warum tun wir uns so schwer mit der Einheit, für die Jesus doch so intensiv gebetet hat? Zurecht weisen Schäl und Dietz darauf hin: Es sind allzuoft ganz menschliche Abgründe, die unsere Einheit untergraben. Wenn Machtstreben sich verbindet mit der Unfähigkeit, zwischen biblischer Aussage und eigener Bibelauslegung zu unterscheiden, dann kann Einheit nicht gelingen. Zudem betonen beide: Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus sei Einheit ja schon Realität. Wir gehören zur gleichen Familie, egal ob wir uns lieben oder streiten. Deshalb sollten wir doch miteinander statt übereinander reden, Vorurteile und „Lagerdenken“ vermeiden, vom Kampf- in den Dialogmodus wechseln und stets die Begrenztheit der eigenen Perspektive im Blick behalten. Wenig hilfreich sei es, zwischen „innen” und „außen” bzw. zwischen „uns” und „ihnen” zu unterscheiden. Wir sollten Einheit nicht zerreden, sondern sie lieber erfahrbar werden lassen im Einsatz für gemeinsame Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche.

Ein fehlender Aspekt: Zurückweisung von falscher Lehre

All das lässt sich biblisch gut begründen. Allerdings findet man im Neuen Testament einen weiteren Aspekt zum Thema Einheit, der in der Artikelserie fehlt: Die notwendige Zurückweisung falscher Lehre. In den 7 Sendschreiben der Offenbarung nimmt dieses Thema sogar den größten Raum ein. Einige Briefe im NT (insbesondere der Judasbrief) sind regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehre. Das „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15, 7) steht im Neuen Testament durchgängig auf dem Fundament der apostolischen Lehre als einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage:

„Ich bitte euch aber, Brüder, nehmt euch vor denen in Acht, die von der Lehre abweichen, wie ihr sie gelernt habt! Sie rufen nur Spaltungen hervor und bringen den Glauben der Geschwister in Gefahr. Geht ihnen aus dem Weg!“ (Römer 16, 17)

Falsche Lehre wird von Paulus also ausdrücklich als Spaltungsursache benannt. Auch deshalb findet er so harte Worte, wenn am Evangelium etwas verändert wird (Galater 1, 8+9). Und er scheut sich nicht, für die Verteidigung des Evangeliums auch übereinander zu reden (zum Beispiel über die Verfehlungen von Petrus in Galater 2, 11-14).

Biblische Offenbarung als Basis für starke Mitte?

Schäl schreibt deshalb zurecht:

„Christliche Einheit braucht … das Festhalten an der biblischen Offenbarung als zuverlässige Richtlinie für Lehre und Leben. Wo die Bibel nicht mehr norma normans, also normierende Norm für Glauben, Theologie und Ethik ist, verkommt die Einheit zur Beliebigkeit.“

Und Thorsten Dietz ergänzt: „Eine starke Mitte kann sehr, sehr viel Buntes und Verschiedenes aushalten.“ Die Frage ist nur: Wie soll die verbindende starke Mitte definiert und der Inhalt der „normierenden Norm“ festgestellt werden, wenn wir zwar „Festhalten an der Wahrheit der Bibel“, aber zugleich wissen, „dass unsere eigene Perspektive auf diese Wahrheit begrenzt, stückhaft und unvollständig ist“ (Stephanus Schäl)?

Schäl schlägt einen Minimalkonsens vor: „Wir gruppieren uns um Christus, so wie er uns in der Bibel beschrieben wird. Und: Ich glaube, Einheit ist wirklich nicht möglich, wenn wir in Zweifel ziehen, dass die Offenbarung Gottes Grundlage für unser ganzes Denken ist.“ Reicht der so formulierte Bezug auf Christus, Bibel und Offenbarung, um zu gemeinsamen, verbindenden Kernüberzeugungen zu gelangen?

Vertrauen in die Haltung statt in prüfbare theologische Aussagen

Leider zeigt das Gespräch von Dietz und Schäl, wie auch solche konservativ klingenden Formulierungen unterlaufen werden können. Dietz greift die Aussagen von Schäl zwar zustimmend auf. Er kommentiert jedoch zugleich:

„Gemeinsamkeit kann nur dort entstehen, wo man einander den Glauben glaubt. … Einheit ist möglich, wo wir einander zugestehen, dass die Bibel für uns die Grundlage des Glaubens ist, … Ja, es gibt erhebliche Unterschiede, wie wir die Bibel auslegen und verstehen. Welche Worte wir heute für die Dreieinigkeit Gottes finden, ob und wie wir von Gottes Offenbarung reden und wie wir sie ins Verhältnis setzen zur Vielfalt der Religionen heute“.

Zunächst fällt auf: Die oberste Priorität hat hier nicht die biblische Norm, sondern das Vertrauen in die Haltung des Anderen. Wir sollen einfach glauben, dass für unser Gegenüber die Bibel die Grundlage ist – unabhängig davon, wie er die Bibel versteht und auslegt. Und unabhängig davon, wie bzw. ob überhaupt (!) er von Gottes Offenbarung redet.

Offenbarung und Sexualethik: Spezialfragen ohne Bekenntnisrang?

Zugleich warnt Dietz davor, „alle möglichen Spezialfragen, wie ich die Offenbarung verstehe oder wie ich Sexualethik deute, zu Bekenntnisrang hochzupushen.“ Hier ist wohlgemerkt nicht vom Buch der Offenbarung die Rede, sondern allgemein vom Offenbarungshandeln Gottes. Dazu bekennt schon das Nicäno-Konstantinopolitanum: Wir glauben an den Heiligen Geist, der … gesprochen hat durch die Propheten“. Und die deutsche evangelische Allianz formuliert in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben.“ Zur Sexualethik stellt sie klar: Der Mensch … ist als Mann und Frau geschaffen.“ Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Hier muss man nichts mehr pushen. Aussagen zu diesen Themen haben schon längst Bekenntnisrang.[3]

In seinem Buch „Menschen mit Mission“ hatte Dietz formuliert: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Aber auch dieses maximal verknappte Bekenntnis kann in seinen Augen offenkundig keine Grundlage für eine gemeinsame starke Mitte sein. Im Gegenteil: Er warnt ausdrücklich davor, einige der dort formulierten Aussagen festzuschreiben.

Die Zusammenfassung der gemeinsamen Botschaft aller Christen, die Dietz in AUFATMEN dann selbst zu formulieren versucht[4], kommt tatsächlich ohne die Themen Sünde und Schuld, die Trennung des Menschen von Gott, Jesu Opfertod als alleinige Grundlage für Vergebung und den Freispruch in Gottes Gericht und auch ohne die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist aus – alles Themen, die die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis für unaufgebbar wichtig hält. Die Allianz bekennt sich zudem in aller Klarheit zur Zentralität des stellvertretenden Sühneopfers – Dietz hingegen hat es schon 2019 in einem Worthausvortrag weitgehend relativiert.[5]

Die evangelische Kirche ist nicht beliebig

Trotzdem wendet sich Dietz gegen den Verdacht der Beliebigkeit in kirchlichen Kreisen:

„Viele Dinge werden dort sehr ernst genommen. Es wird z.B. sehr intensiv darüber diskutiert, ob man überhaupt noch Fleisch anbietet in kirchlichen Tagungshäusern. Es wird über Tempolimit und Tierschutz und Frauenrechte und die Rechte von Transmenschen geredet. Ich kenne in den Landeskirchen keine Menschen, die sagen würden: „Ich finde Beliebigkeit super, soll doch jeder, wie er will.”

Diese Aussage kann ich nur bestätigen. Schon 2020 habe ich ganz ähnlich geschrieben: „Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen.“[6] Beliebigkeit gibt es zwar nicht in der Kirche. Aber die Themen, bei denen in der Kirche Entschiedenheit gefordert wird, haben nur wenig mit den zentralen Bekenntnissen der Christenheit zu tun. Und bei diesen Themen ist definitiv noch weniger Einheit unter Christen zu gewinnen als bei den zentralen Glaubensfragen.

Besonders deutlich wurde das in der Abschlusspredigt zum letzten evangelischen Kirchentag von Pastor Quinton Ceasar. Darin hatte er geäußert:

„Wir können nicht mehr warten. … Die Zeit ist jetzt, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff. … es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.“

Was für eine proklamative Botschaft! Von Dialogbereitschaft und Wissen um die Begrenztheit der eigenen Perspektive keine Spur. Trotzdem kommentiert Dietz in einer Kirchenzeitung hocherfreut: „Schön, dass der Kirchentag den Mut hatte, mit einer so herausfordernden Botschaft zu schließen!“[7] In einem Facebookpost schreibt er zudem: „Gott steht jenseits der Geschlechterdifferenz. Gott ist weder Mann noch Frau. Und zugleich sind Mann und Frau zu seinem Bilde geschaffen (Gen 1, 27). Genau das ist doch der Sinn von Queer, jenseits der binären Geschlechterlogik. Und genau darum ist es für queere Menschen so tröstlich, sich das vor Augen zu führen. Wenn sie zum Bilde Gottes geschaffen sind und Gott queer ist, dann ist Gott wirklich ein safe place, das Gegenteil von dem, was sie in vielen Kirchen erfahren haben. Das ist für viele reinstes Evangelium.“

Polarisierung statt Annäherung

Diese Begeisterung für die Abschlusspredigt des Kirchentags bringe ich nur schwer zusammen mit den Aussagen von Dietz in AUFATMEN, in denen er sich Annäherung wünscht:

„Lasst uns wenigstens nicht mehr kaputt machen. Wir sehen, wie schlimm es werden kann und können daraus lernen: In die Richtung wollen wir auf keinen Fall weiter. Es müsste wieder zurück an runde Tische.“

Ich möchte Dietz diesen Wunsch gerne glauben. Aber Tatsache ist aus meiner Sicht: Es gab in letzter Zeit wohl kaum eine Predigt wie die von Quinton Ceasar, die so viel Zusammenhalt kaputt gemacht und Polarisierung unter Christen vorangetrieben hat. Denn während Ceasar seine Positionen als moralisch alternativlos darstellt, ist für zahlreiche Christen klar: Die Gesetzesbrüche und die angstmachenden Botschaften der sogenannten „Letzten Generation“ sind inakzeptabel. Das von der EKD finanzierte Rettungsschiff „Sea watch 4“, das unter einer linksradikalen Flagge fährt, ist kein passender Ausdruck von christlicher Diakonie und Nächstenliebe. Und zum Thema „Gott ist queer“ schreibt der Vorsitzende der deutschen evangelischen Allianz Reinhardt Schink:

„Gott lässt sich von uns nicht in ein bestimmtes “Raster” pressen, um menschliche, zumeist ideologische, Interessen theologisch zu legitimieren. Es gibt in der Geschichte leider viel zu viele Beispiele davon: Gott als Judenfeind, Gott als Antikatholik, Gott als Nationalist („Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern), Gott als Kommunist oder Antikommunist, Gott als Kolonialist, Gott als weißer Mann, Gott als männlich, weiblich oder “queer”. Den heiligen Gott in so ein Raster pressen zu wollen, ist eine völlig unangemessene und häufig blasphemische Vorstellung. All dies ist Gott nicht. Vielmehr zieht sich durch die gesamte Bibel wie ein roter Faden das Bekenntnis: Gott ist heilig.“

Deutlicher könnten die Gegensätze kaum sein.

Einheit ohne Grenzen? Jedenfalls nicht beim Thema Sexualethik!

Führt die Offenheit von Dietz nicht zu einer grenzenlosen Ökumene? Dietz antwortet:

„Die Grenze ist da, wo Menschen unfähig sind, ihre Bibelauslegung von der Bibel selbst zu unterscheiden … und wo unterschiedliche ethische Erkenntnisse das Christusbekenntnis an Gewicht überbieten.“

Demnach scheint grenzenlose Einheit tatsächlich möglich zu sein. Denn natürlich wird kein einigermaßen reflektierter Christ behaupten, dass seine Bibelauslegung 1:1 mit der tatsächlichen Aussageabsicht der Bibel übereinstimmt. Und kein Christ wird ethische Fragen über das Christusbekenntnis stellen.

Bemerkenswerterweise ist es aber Thorsten Dietz selbst, der an anderer Stelle der These von der grenzenlosen Einheit widerspricht. In der live auf dem Kirchentag aufgenommenen Podcastfolge 24 von „Karte und Gebiet“ sagt Dietz: Innergemeindliche „Einheit in Vielfalt“ oder „versöhnte Verschiedenheit“ kann beim Thema „Ehe für alle“ unmöglich funktionieren. Denn das wäre ja „versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen“.[8] Dietz bestätigt damit, worauf viele Konservative seit langem hinweisen: Wo progressive Sexualethik in einer bislang konservativen Gemeinde Raum gewinnt, da gibt es auf Dauer nur 2 Möglichkeiten: Entweder setzt sich eine der beiden Positionen durch. Oder es muss irgendeine Form von Trennung geben. Grenzenlose Einheit ist gerade auch bei Progressiven unmöglich, wenn es um die Sexualethik geht.

Das wurde zuletzt auch deutlich in einem Gottesdienst der Gemeinde „UND Marburg“, die unter anderem geleitet wird von Tobias Faix, dem Podcastpartner von Thorsten Dietz. In der Predigt wurde die These vertreten: Die „Aufregung“ um die Predigt von Quinton Ceasar und seinen Satz „Gott ist queer“ zeige, wie viel „Queerfeindlichkeit“ es immer noch unter Christen gebe. Von Offenheit für andere Positionen auch hier keine Spur, stattdessen die Unterstellung niedriger Motive. Das hört sich für mich nicht so an, als ob man hier wieder runde Tische mit Konservativen sucht.

Tiefe theologische Gräben

Zugleich wurden die Gottesdienstbesucher von UND-Marburg aufgefordert, beim „Vater-Unser“ den Begriff „Vater“ durch eine beliebige andere Anrede zu ersetzen. Es ist schon bemerkenswert: Während es in progressiven Kreisen fast als Verbrechen gilt, die selbstgewählten Pronomen einer Person zu ignorieren, setzt man sich bei der Anrede Gottes großzügig darüber hinweg, wie Gott selbst angesprochen werden möchte: „Ihr sollt vielmehr so beten: Unser Vater…“ (Matth. 6, 9)

Hinzu kommt: Gott kann natürlich unmöglich „queer“ sein in dem Sinne, wie der Begriff im Allgemeinen verwendet wird. Denn anders als wir Menschen hat Gott kein biologisches Geschlecht, mit dem er sich in Spannung befinden könnte. Er hat auch kein wie auch immer geartetes sexuelles Begehren. Zugleich macht Jesus deutlich, dass Gott mit der „binären Geschlechterlogik“ offenbar keinerlei Probleme hat:

„Habt ihr nie gelesen”, erwiderte Jesus, “dass Gott die Menschen von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hat? Und dass er dann sagte: ‘Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden völlig eins sein.’? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Und was Gott so zusammengefügt hat, sollen Menschen nicht scheiden!”“ (Matthäus 19, 4-6)

Die Ehe von Mann und Frau ist für Jesus offenkundig eine Idee des Schöpfers – weshalb Scheidung für ihn normalerweise nicht in Frage kommen kann. Thorsten Dietz hingegen schreibt im Medienmagazin PRO: „Die Ehe ist keine christliche Idee. … Für Christen gilt: Der Wunsch nach Ordnung ist eng verknüpft mit Konservatismus. Zu dieser Ordnung gehört auch die Familie. Kurz gesagt: Je unruhiger die Welt, desto größer der Wunsch nach Erhalt und Ordnung. Die Ehe ist ein Ordnungsmittel. So erkläre ich mir den Hype darum.“[9] Der Ehe-„Hype“ des „Konservatismus“ ist also eine Folge von Ordnungssehnsucht? Auch diese Unterstellung niedriger Motive empfinde ich nicht gerade als Beitrag zum respektvollen Dialog. Und die Beispiele mögen zeigen: Hier werden theologische Wege eingeschlagen, die Evangelikale unmöglich mitgehen können – denn sie wären dann nicht mehr evangelikal.

Wie geht es weiter?

Wie werden wir wohl in 20 Jahren auf diese konfliktreiche Zeit zurückblicken? Schäl äußert dazu: „Ich glaube, wir schauen entspannter zurück, so wie wir jetzt auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, als die charismatische Bewegung aufkam. Heute schmunzelt man und ärgert sich ein bisschen.“ Sind also die Auseinandersetzungen unserer Zeit nur ein Sturm im Wasserglas, der sich mit der Zeit von selbst wieder legen wird?

Ich halte Schäl‘s Vergleich für fragwürdig. Denn genau wie Volker Gäckle (Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell) nehme auch ich wahr, dass die heutigen Konflikte viel zentralere Themen betreffen als der Streit um Charismen:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ [10]

Die Konflikte, die jetzt auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld aufbrechen, sind also im Kern die gleichen Konflikte, die im letzten Jahrhundert schon einmal im kirchlichen Umfeld aufbrachen. Im Zentrum standen damals wie heute die zentralen Fragen nach dem Schrift- und Offenbarungsverständnis, nach der Christologie und nach der Kreuzestheologie. Diese Konflikte haben sich nicht wieder beruhigt, im Gegenteil: Jahrzehnte später nutzt die EKD ihre noch verbliebene Macht mehr denn je, um Evangelikale von den Ausbildungsstätten und Leitungsgremien fernzuhalten.

Aus gutem Grund haben die evangelikalen Leiter im kirchlichen Umfeld damals gespürt: Wir müssen Parallelstrukturen bauen! So entstanden wunderbare evangelikale Verlage, Medien, Werke, Gemeinschaften und Großveranstaltungen, von denen auch ich sehr stark profitiert habe. Ich glaube nicht, dass diese evangelikalen Pioniere vom Lagerdenken getriebene Spalter waren. Denn sie hatten für ihre Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, handfeste Gründe:

Eine Theologie, die den Missionsauftrag entkernt

Mission und Evangelisation ist und bleibt das Herzensanliegen der Evangelikalen. Doch die Kirche fremdelt seit langem damit. Im Buch „Mission Zukunft“ fiel auch Michael Diener auf: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“Und Alexander Garth bemerkt: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ Die Gründe für diese Missionsphobie der EKD werden in diesem Buch überaus deutlich. So schreibt zum Beispiel der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ Gleich mehrfach wird ein Satz des Theologen Fulbert Steffensky zitiert:

„Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes. Mission heißt zeigen, was man liebt.“

War Paulus auf seinen Missionsreisen also „absichtslos“ unterwegs gewesen? Wollte er in erster Linie die Welt bereisen und anderen Menschen nur bei Gelegenheit von seinem schönen Lebenskonzept erzählen? Bernhard Meuser hält zurecht dagegen: „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ Diese auf dem Missionsbefehl basierende Perspektive ist in der EKD komplett verloren gegangen. Kein Wunder, dass evangelikale Pioniere auf Parallelstrukturen setzen mussten angesichts einer um sich greifenden Theologie, die mit Mission im biblischen Sinn vollständig inkompatibel ist.

Im Gespräch zwischen Schäl und Dietz könnte man hingegen den Eindruck bekommen: Die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche wäre so klar, dass man darüber die theologischen Differenzen zurückstellen könnte.[11] Das erlebe ich tatsächlich vollkommen anders. Ich kenne keine Definition des Evangeliums und des Sendungsauftrags der Kirche, die in meiner evangelischen Kirche konsensfähig wäre und zugleich von Evangelikalen mitgetragen werden könnte. Mir zeigt das: Wenn unsere Theologie nicht in der Lage ist, den Bekenntniskern des Christentums zu schützen, dann gehen auch die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung verloren. Dann hat die Kirche keine Zukunft. Oder bildlich gesprochen: Wer auf die Praxis fokussieren will, während zugleich die zentralen theologischen Grundlagen verschwimmen, der ist wie ein Kapitän, der sich auf dem sinkenden Boot aufs Fischen konzentriert, statt das Leck zu verschließen.

Bibel und Bekenntnis sind unverzichtbar für Einheit in Vielfalt

Für gelingende Einheit in Vielfalt und für eine starke missionarische Dynamik ist deshalb eine verbindende Bekenntnisgrundlage (wie das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum oder die Glaubensbasis der evangelischen Allianz) unverzichtbar. Dabei muss klar sein: Bekenntnisse bilden natürlich immer auch eine Grenze! Sie sorgen für ein „innen“ und „außen“ und für die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“.

Selbstverständlich sind Christen allen Menschen in Liebe zugewandt. Aber die Zugehörigkeit zur Einheit der Familie Gottes gilt nun einmal nur den Jüngern Jesu, die alles halten wollen, was Jesus uns geboten hat (Matthäus 28, 19). Die Lehre und Gebote Jesu finden wir ausschließlich in der Bibel. Es stimmt zwar, dass unser Verständnis der biblischen Aussagen manchmal undeutlich ist und Stückwerk bleibt. Aber in allen zentralen und heilsrelevanten Fragen sind die biblischen Aussagen doch so klar, dass Christen sie immer wieder in eindeutigen Bekenntnissen fassen und festschreiben konnten. Wenn aber selbst diese wenigen, allerzentralsten Bekenntnissätze in Frage gestellt werden, dann lässt das ganz offenkundig auf ein Bibelverständnis schließen, in dem die Bibel faktisch keine „normierende Norm“ mehr ist.

Die Geschichte der Christenheit zeigt: Die Bibel kann der Christenheit eine gemeinsame, verbindende Basis und eine starke Mitte geben, die uns hilft, viele randständige Differenzen fröhlich auszuhalten. Das gilt aber nur, wenn wir an dem Bibelverständnis festhalten, das die Bibel selbst bezeugt und das schon für die ersten Kirchenleiter galt: Die Bibel IST Offenbarung. Sie enthält oder bezeugt sie nicht nur. Hinter allen ihren Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Deshalb ist dieses Buch kein widersprüchliches und fehlerhaftes Durcheinander, sondern eine verlässliche und weithin verständliche Einheit. Wenn unser Schriftverständnis aber dazu führt, dass der Bekenntniskern verschwimmt, dann versandet auch die Einheit. Deshalb finden wir die orientierunggebende Zurückweisung falscher Lehre und das bekenntnishafte Benennen von Grenzen der Einheit nicht umsonst immer wieder im Neuen Testament. Beides ist unverzichtbar für ein gelingendes Miteinander und für eine starke, missionarische Kirche Jesu.

Mein Votum ist deshalb: Lasst uns beides wieder ganz neu schätzen lernen und praktizieren. Nicht aus Rechthaberei, Lagerdenken oder Machtstreben. Sondern aus Liebe zu den Menschen, zur Kirche Jesu und zu unserem Herrn, dem wir gemeinsam folgen.


Fußnoten:

[1] „Einheit oder Einheitlichkeit?“ In Aufatmen 2023, Ausgabe 2 (S. 52-58) und 3 (S. 44-47)

[2] Stephanus Schäl ist Dozent für Altes Testament an der Bibelschule Brake. Er ist stellvertretender Sprecher des Konvents der Evangelischen Allianz in Deutschland und Teil der EAD-Mitgliederversammlung. Prof. Dr. Thorsten Dietz lehrte bis 2022 als Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er unter anderem zuständig für die Erwachsenenbildung der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz. Medial präsent ist er vor allem durch seine Arbeit bei RefLab, als einer der Hauptreferenten der Mediathek Worthaus, beim Podcast „Karte und Gebiet“ (gemeinsam mit Tobias Faix) sowie durch diverse Bücher (zuletzt Menschen mit Mission, SCM R. Brockhaus 2022). Seit 2020 ist er Mitglied des Trägervereins des ERF.

[3] Zur Sexualethik wird zudem z.B. im Helvetischen Bekenntnis und im Westminster Bekenntnis einiges ausgesagt, siehe dazu der Artikel „Das reformierte Glaubensbekenntnis zur Ehe für alle“ im Blog Daniel Option.

[4] Wörtlich schreibt Dietz: „Alle Kirchen verbindet der Glaube: Wir haben etwas wirklich Gutes zu erzählen und zu feiern. Die Jesus-Geschichte des Neuen Testaments wurde für die ersten Nachfolgenden ein Brennpunkt, in dem die Befreiungsgeschichten Israels zusammenliefen. Und zugleich öffneten sie sich zu einer umfassenden Einladung an alle Menschen, in diesem Jesus das unbedingte Ja Gottes des Schöpfers zu finden. Diese Botschaft von der großen Bejahung ist bis heute die Gründungsgeschichte der Christenheit, die es in immer neuen kreativen Formen weiterzuerzählen gilt.“

[5] Der Worthausvortrag „Der Prozess – Warum ist Jesus gestroben?“ von Thorsten Dietz (10.6.2019, worthaus.org/mediathek/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/) wurde ausführlich zusammengefasst und kommentiert in: Markus Till: „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“, in „Glauben &Denken heute“, Ausgabe 1/2020, S. 25-31, PDF-Download unter: blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf  

[6] Im AiGG-Blogartikel „Wie gelingt Einheit in Vielfalt“, 12.12.2020, blog.aigg.de/?p=5332 

[7] In: „Ist Gott queer?“, 16.6.2023, www.meine-kirchenzeitung.de/c-aktuell/ist-gott-queer_a41301

[8] So sagt er im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Er schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“ , so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] In: „Theologe Thorsten Dietz: Die Ehe ist keine christliche Idee“, Christliches Medienmagazin PRO, 18.6.2023, www.pro-medienmagazin.de/theologe-thorsten-dietz-die-ehe-ist-keine-christliche-idee/

[10] Volker Gäckle: „Windstille, Wandel und Gottes Wirken“, in „Lebendige Gemeinde“ 4/2021, S. 14, online unter https://lebendige-gemeinde.de/wp-content/uploads/2021/12/LG_2021_04_ChristusBewegung.pdf

[11] So sagt Schäl u.a. zu Dietz: „Ich finde, du setzt da einen ganz wichtigen Akzent: „Für alle Kirchen und Verbände dürfte das die entscheidende Herausforderung sein: Einheit nicht zu zerreden, sondern im Einsatz für gemeinsame Ziele erfahrbar werden zu lassen. Zentrale Bedeutung hat die Besinnung auf die gemeinsame Sendung der Kirche.” Ich schreibe ja, dass wir vom Kampf zum Dialogmodus gehen müssen. Und du setzt noch einen drauf: Wir müssen zum Sendungsmodus kommen. Ich finde das Ringen, das eher theoretische Ringen wichtig, aber der Punkt ist ja nicht, dass wir uns in einem Diskurs auf Einheit einigen, sondern dass wir als Kirche Jesu das umsetzen, was wir leben sollen.“

Wie umgehen mit postevangelikaler Theologie im evangelikalen Umfeld?

Dieser Artikel ist der Abschluss einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.
Der vollständige Artikel mit allen 3 Teilen kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Im zweiten Artikel habe ich begründet, warum diese Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aktuell so erfolgreich ist. In beiden Artikeln habe ich die These aufgestellt: Postevangelikale und progressive Theologie hat sich im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld in vielen Verlagen, Medien, Gemeinden, Gemeinschaften, Verbünden, Missionswerken und Ausbildungsstätten bereits etabliert. Nicht selten ist sie schon jetzt vorherrschend und dominant.

Heimatverlust für Evangelikale

Für viele Evangelikale ist diese Entwicklung schon jetzt mit einem Gefühl von Heimatverlust verbunden. Das geht auch mir so. Im Nachbarort meiner Heimatgemeinde ist der Hänssler-Verlag angesiedelt. Dem inzwischen verstorbenen Verlagsgründer Friedrich Hänssler durfte ich noch persönlich begegnen. Was für ein Glaubensvorbild! Jahrzehntelang galt für mich: Bei Büchern aus diesem Verlag muss ich nicht prüfen, ob sie theologisch auf einer soliden Basis stehen. Ich kann nach Herzenslust stöbern. Heute gehört Hänssler zur SCM-Verlagsgruppe. Bei SCM musste ich mich daran gewöhnen, dass neben evangelikalen Produkten auch Bücher mit progressiver und postevangelikaler Theologie und Sexualethik verbreitet werden. Eine neue Dimension war für mich jedoch die Nachricht, dass die SCM-Stiftung eine auf mehrere Jahre angelegte „Sexualitätsstudie“ in Auftrag gegeben hat, die in “Veröffentlichungen, Vorträge, Veranstaltungen und Workshops” münden soll[1]. Durchgeführt werden soll diese Studie ausgerechnet vom Institut empirica der CVJM Hochschule Kassel, deren Leiter Tobias Faix und Tobias Künkler zu den bekanntesten Verfechtern für die Durchsetzung progressiver Sexualethik im freikirchlich-evangelikalen Umfeld zählen.

Seit Jahren habe ich die immer wiederkehrende Aufforderung evangelikaler Leiter im Ohr: Wir sollten uns um der Einheit willen doch auf Gemeindebau und Mission konzentrieren, statt über das Thema Homosexualität zu streiten![2] Aber jetzt muss ich zur Kenntnis nehmen: SCM schiebt selbst dieses weltweit spaltende Thema ins Rampenlicht und macht sich durch die Auswahl der Akteure zum aktiven Motor für die Durchsetzung der progressiven Sexualethikagenda im allianzevangelikalen Umfeld. Das hat mich wirklich erschüttert.

Wachsende Konflikte

Im Jahr 2021 schrieb Ulrich Eggers in der Zeitschrift AUFATMEN:

 „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“[3]

Eggers bestätigt also: Die Wahrnehmung wachsender Spannungen und Konflikte ist keine Einzelbeobachtung. Es gibt einen echten Trend, der vielen Leitern auffällt. Und dieser Trend ist bedrückend! Gemäß Jesu Gebet in Johannes 17 ist Einheit nicht nur ein Herzensanliegen Gottes, sie ist auch eine entscheidende Grundlage für die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und somit für unsere missionarische Dynamik!

Die Gretchenfrage der evangelikalen Bewegung

Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen kann m.E. die Dringlichkeit der folgenden Frage kaum überschätzt werden: Wie soll die evangelikale Welt umgehen mit der Ausbreitung von postevangelikaler und progressiver Theologie in evangelikalen Gemeinden, Gemeinschaften, Werken und Bünden?

Zu dieser Frage nehme ich im allianzevangelikalen Umfeld aktuell drei verschiedene Positionen wahr:

Position 1: Offene Evangelikale waren schon immer „progressiv“. Sie haben immer schon den Glauben weiterentwickelt, um das Evangelium den Menschen ihrer jeweiligen Zeit bezeugen zu können. Wichtig sei deshalb, die notwendige theologische „Modernisierung“ rasch voranzutreiben, damit auf dieser progressiven Basis Einheit gelebt werden kann und die evangelikale Welt endlich aus der Sackgasse von weltfremdem und menschenfeindlichem Fundamentalismus herausfindet.

Position 2: Postevangelikalismus ist eine Spielart evangelikalen Glaubens. Die Differenzen betreffen nicht den Kern des Christentums. Wichtig sei deshalb, Christus als personifiziertes (nicht dogmatisches!) Zentrum zu betonen („Wir glauben an Christus und nicht an die Bibel“ bzw. „Wir glauben einander den Glauben“), damit trotz theologischer Differenzen Einheit zwischen Evangelikalen, Postevangelikalen und Progressiven gelebt werden kann.

Position 3: Postevangelikalismus weicht in zentralen Glaubensfragen fundamental von evangelikalen Überzeugungen ab. Wichtig sei deshalb, an den unaufgebbaren Glaubensgrundlagen des evangelikalen bzw. historisch-orthodoxen Christentums festzuhalten und sie auch gegen Widerspruch zu verteidigen, damit auf dieser Basis Einheit gelebt, evangelisiert und Gemeinde gebaut werden kann.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Auffällig ist: Alle drei Positionen wollen Einheit! Aber sie haben vollkommen unterschiedliche, ja gegensätzliche Konzepte, um diese Einheit zu erreichen! Position 1 und 3 streben eine gewisse Homogenität bei zentralen theologischen Weichenstellungen an – entweder in Richtung progressiver oder in Richtung evangelikaler Theologie. Position 2 hingegen möchte ganz bewusst untheologisch bleiben, weil man meint: Zu viel Theologie erzeugt nur Streit. Man setzt deshalb stärker darauf, dass die gemeinsam erlebte Christusfrömmigkeit verbindend wirken soll.

Für jede dieser drei Positionen gibt es aktuell gewichtige Befürworter im evangelikalen Umfeld. Die Frage, welche Position sich durchsetzen wird, ist nach meiner Wahrnehmung im Moment völlig offen. Dabei kann man die Bedeutung dieser Weichenstellung kaum überschätzen. Sämtliche Vertreter dieser drei Positionen sind ja überzeugt, dass die jeweils anderen Positionen zum Verlust der Einheit führen werden. Niemand glaubt, dass es egal wäre, welchen Weg die evangelikale Bewegung einschlägt.

Deshalb ist die Frage so ungeheuer dringend: Evangelikale Bewegung, wohin? Dabei muss klar sein: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung! Denn der zweite Artikel dieser Serie hat ja deutlich gemacht: Es gibt gute Gründe dafür, warum progressive Theologie sich in den vergangenen Jahren auch im allianzevangelikalen Umfeld so rasch ausgebreitet hat. Diese Theologie hat eine enorme Anziehungskraft! Sie wird nach menschlichem Ermessen nicht einfach wieder von selbst verschwinden, sondern sich vermutlich – so wie in meiner evangelischen Kirche – weiter ausbreiten und Machtpositionen besetzen, sofern evangelikale Leiter und Theologen dieser Entwicklung einfach nur passiv zusehen.

Deshalb möchte diese Artikelserie beenden mit

3 Thesen für eine gesunde Weiterentwicklung der evangelikalen Bewegung

1. Wir brauchen eine Belebung der ersten Liebe zu Christus!

Für echte Einheit nach biblischem Vorbild genügt eine dogmatische Übereinstimmung nicht. Das Zentrum unseres Glaubens ist tatsächlich nicht ein Dogma, sondern der lebendige Christus! Jesus hat gesagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wo die Liebe zu Christus schwindet, da schwindet bald auch alles Andere (Offb. 2, 4+5). Dann wird auch gesunde Lehre zur kalten Rechthaberei. Deshalb brauchen wir mehr als alles andere die im Alltag gelebte Liebesbeziehung zu unserem Herrn Jesus Christus. Und da sind wir alle persönlich gefragt: Wieviel Raum hat Bibel und Gebet in unserem Alltag? Haben wir noch diese Leidenschaft, dieses Feuer, diese brennende Liebe für Jesus? Wie sieht das in unseren Gemeinden und Gemeinschaften aus? Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam um eine Erweckung beten- für uns persönlich, für unsere Gemeinden, für die Kirche Jesu und für unser Land.

2. Wir brauchen Gemeinden und Gemeinschaften mit gesunden Beziehungen und einer lebendigen, von Liebe und Annahme geprägten Frömmigkeit!

Wir müssen uns nicht wundern, dass Christen unser evangelikales Umfeld verlassen, wenn wir sie mit ihren Fragen und Nöten alleine lassen, wenn unser Glaube gesetzlich ist, wenn wir christliche Ethik mit Druck durchsetzen, ohne dass etwas von der Kraft und der Gnade Gottes in unserer Mitte spürbar ist. Unsere Gemeinschaft muss geprägt sein von echter Liebe Gottes und von der Kraft des Heiligen Geistes.

3. Wir brauchen eine verbindende Bekenntnisgrundlage in den zentralen Fragen des christlichen Glaubens!

Zu allen Zeiten haben Christen gespürt: Einheit in Vielfalt ist nicht möglich ohne gemeinsames Bekenntnis. Der lebendige Christus kann und darf niemals ausgespielt werden gegen sein lebendiges und kraftvolles Wort, das uns verlässlich in der Bibel begegnet und das uns eine verbindliche, verbindende Lehr- und Bekenntnisgrundlage gibt.

Um diese Grundlage zu stärken, müssen wir…

wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens! Es reicht nicht, dass unsere Glaubensgrundlagen irgendwo auf unserer Homepage stehen. Wir müssen sie verstehen. Wir müssen darüber sprechen. Wir müssen leidenschaftlich und öffentlich davon schwärmen.

… neu lernen, zu begründen, warum diese Glaubensbasis für uns unaufgebbar wichtig ist. In der Theologie nennt man das „Apologetik“, also die Begründung und Verteidigung des christlichen Glaubens mit rationalen Argumenten. Leider haben wir im evangelikalen Umfeld zu lange diese Denkarbeit vernachlässigt. So wichtig Gefühle in einem ganzheitlichen Christsein sind, so sehr braucht die Christenheit auch kluge, rationale Denker, die uns helfen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und nachvollziehbare Antworten zu geben auf die herausfordenden Fragen unserer Zeit.

wieder lernen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft nicht schick. Aber die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen falsche Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Schon Paulus hat sich nicht gescheut, selbst Petrus namentlich öffentlich zu kritisieren, wenn es ums Evangelium ging (Gal. 2, 11-14). Glauben wir wirklich, dass wir diesen orientierunggebenden Dienst der Unterscheidung ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten?

Mein Plädoyer ist deshalb: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu begründen und zu verteidigen! Liebevoll. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Und vor allem: Wir tun es aus Gehorsam gegenüber unserem Herrn, der uns geboten hat: „Lehrt sie, alles zu halten, was ich euch befohlen habe.“ (Matthäus 28, 19) Kirche Jesu kann nur gebaut werden auf dem Grund der Propheten und der Apostel, mit Jesus Christus als dem Grundstein (Epheser 2, 20). Das feste Vertrauen auf das grund-legende, unfehlbare Wort, das wir in der Bibel finden, war für die Apostel, für die Kirchenväter, für die Reformatoren und für Evangelikale immer von entscheidender Bedeutung. Auch heute noch gilt: Nur auf dieser ein für allemal überlieferten Grundlage hat die Kirche Jesu Zukunft.

Fußnoten:

[1] Zitat aus der SCM-Presseinformation, die inzwischen nicht mehr online ist.

[2] So schreibt z.B. Ulrich Eggers: Das Thema Homosexualität „ist derzeit wohl der Kern der Entfremdung und die wichtigste Nahrung für die laufende Polarisierung unter uns. Gibt es Lösungs-Wege? Finden die Jesus-Bewegten aller Art ein neues „Agree to disagree“ – unter der starken Ziel-Gebung des gemeinsamen Auftrags zu Mission und Gebet? … Wenn Streit und Homogenität in den Mittelpunkt rücken, sehe ich keine Chance auf Einheit – erst recht nicht unter den andrängenden gesellschaftlichen Fragen rund um die Gender- und LGBTI-Problematik. Wenn unser missionarischer Auftrag im Mittelpunkt steht, Gebet, Begegnung und die gemeinsame Orientierung an Jesus – dann könnte es gelingen.“ In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 57

[3] In: „Weiter streiten oder Einheit wagen?“ AUFATMEN Sommer 2021, S. 52

Warum ist postevangelikale und progressive Theologie so erfolgreich?

Dieser Artikel gehört zu einer 3-teiligen Artikelserie mit Auszügen aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Im ersten Teil dieser Artikelserie habe ich drei grundlegende Differenzen zwischen evangelikaler bzw. historisch/orthodoxer Theologie einerseits und progressiv/postevangelikaler Theologie andererseits beschrieben. Am Ende habe ich die These aufgestellt: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr! Vor allem in den Leitungsebenen ist sie längst auf breiter Front angekommen. Das gilt für viele größere als evangelikal geltenden Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für einige Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn z.B. der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) Prof. Volker Gäckle berichtet:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“

Anders ausgedrückt: Während die Abgrenzung gegenüber „liberaler Theologie“ früher ein gemeinsames Merkmal der evangelikalen Bewegung war, ist die Frage nach dem Umgang mit liberaler Theologie heute ein innerer Spaltpilz im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld. Das führt zu der Frage: Wie konnte es soweit kommen? Warum ist postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld offenkundig derart anschlussfähig? Warum gewinnt diese Theologie so viele evangelikal geprägte Köpfe und Herzen, obwohl sie doch bislang nirgends bewiesen hat, dass man mit ihr fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen kann[1]?

Die Biografie vieler Postevangelikaler ist auch eine Verletzungsgeschichte

Eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei dieser Entwicklung spielen zweifellos persönliche Verletzungen. Wenn man sich mit der Biografie von Postevangelikalen beschäftigt, begegnet man immer wieder auch traurigen Geschichten. Viele beklagen nachvollziehbar, dass sie ihr evangelikales Umfeld als überaus eng erlebt haben:

Oft hat es zum Beispiel am Raum zum Denken gefehlt. Tatsächlich müssen wir Evangelikale uns fragen: Sind wir nicht vielfach in oberflächliche, gefühlige theologische Banalitäten abgerutscht? Wo finden wir in unserem Umfeld durchdachte Begründungen für den christlichen Glauben und kluge Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit („Apologetik“)? Wo werden bei uns heiße Eisen offen angesprochen? Wo reden wir in unseren Gemeinschaften und Gemeinden über Homosexualität, über Sex vor der Ehe, über scheinbare Widersprüche in der Bibel, über Gewalttexte im Alten Testament, über die Hölle, über den Exklusivanspruch Jesu, über Schöpfung und Evolution, über das stellvertretende Sühneopfer und viele weitere Fragen, die jedem gläubigen Menschen fast zwangsläufig kommen müssen, wenn er klassische christliche Überzeugungen mit den dominanten Denkweisen unserer Kultur vergleicht?

Enge entsteht aber auch, wenn der Glaube gesetzlich wird, wenn die Liebe Gottes zum theoretischen Konzept wird und wenn ethische Ansprüche ohne die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes vermittelt werden. Dann wird unser Glaube zur Leistungsreligion, die uns irgendwann dazu bringt, erschöpft auszubrechen. Wo der Heilige Geist schwindet, kann das Christentum immer nur entweder liberal oder gesetzlich werden. Beides hat gleichermaßen katastrophale Folgen.

Enge entsteht schließlich auch immer dann, wenn Menschen mit einer schwachen Identität Ämter und Positionen missbrauchen, um Menschen an sich statt an Christus zu binden. Geistlicher (Macht-)Missbrauch kommt leider auch unter Christen vor, und zwar sowohl im liberal/progressiven wie im konservativ-evangelikalen Umfeld. Die Frage ist: Haben wir für dieses Übel eine Antenne? Haben wir reife Leiter, die solche Machtmenschen in die Schranken weisen und die Gemeindeglieder vor Missbrauch und Manipulation schützen?

Tatsache ist: Nicht wenige Christen werden postevangelikal, weil sie im evangelikalen Umfeld keine vernünftigen Antworten auf ihre drängenden Fragen bekommen und deshalb denken, sie müssten sich für universitäre Theologie öffnen, um intellektuell redlich glauben zu können. Andere werden postevangelikal, weil sie ihren Glauben als belastend und bedrückend empfinden oder weil sie von Evangelikalen enttäuscht und verletzt worden sind. Es ist wichtig, dass wir Evangelikale uns solchen Problemen ehrlich und schonungslos stellen.

Vier Gründe für die Anziehungskraft postevangelikaler / progressiver Theologie

Zugleich müssen wir aber auch wissen: Es liegt nicht nur an Schwächen oder Fehlern von Evangelikalen, dass sich so viele Christen für postevangelikales und progressives Gedankengut öffnen. Wir müssen realistisch sehen: Postevangelikale und Progressive Theologie hat aus mehreren Gründen eine enorme Anziehungskraft:

1. Postevangelikale/Progressive Theologie umgibt sich mit einer Aura von Aufgeklärtheit, Wissenschaftlichkeit und intellektueller Überlegenheit

Das immer wieder zu hörende Narrativ lautet in etwa: Akademische Theologie basiere auf objektiver Wissenschaft statt auf naivem Glauben. Sie sei aufgeklärt und auf der Höhe der Zeit, während sich die Evangelikalen in voraufklärerischen, prämodernen Denkmustern einbunkern. Sie ordne die biblischen Aussagen in den historischen Kontext ein, statt die Bibel einfach so „wörtlich“ zu nehmen. Sie sei intellektuell redlich, befreie sich selbst von Brillen und Vorurteilen und sei deshalb auch zum wissenschaftlichen Diskurs fähig. Spätestens hier geht es dann auch um Geld und Posten, die man eben nur dann im kirchlichen und universitären Umfeld bekommt, wenn man ein „fundamentalistisches“ Bibelverständnis hinter sich lässt.

2. Postevangelikale/Progressive Frömmigkeit präsentiert sich als ein Glaube mit Reife, Weite, Menschenfreundlichkeit und Toleranz

Postevangelikale und Progressive werden in den Gesprächen oft als die „Offenen“ bezeichnet. Gerne stellt man sich so dar, dass man eher in der Lage sei, eigene Standpunkte zu hinterfragen, mit Meinungsverschiedenheiten zu leben, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, gelassen mit unterschiedlichen Positionen umgehen zu können und darüber den Respekt und die Liebe zu Geschwistern nicht zu verlieren. Beliebte Aussagen sind zum Beispiel: Wir wollen einander den Glauben glauben. Wir wollen einander nicht richten oder verurteilen. Es sei doch ein Zeichen von Unreife und Angst, wenn man so fest an eigenen Dogmen klebt. Und die Menschenfreundlichkeit dieses Ansatzes zeige sich auch darin, dass er sich sehr viel mehr um die praktischen Nöte der Mitmenschen kümmere. Es gehe anders als bei Evangelikalen eben nicht nur darum, anderen die eigenen dogmatischen Überzeugungen überzustülpen. Es gehe auch nicht nur ums ewige Heil und die Vertröstung aufs Jenseits. Nein, hier gehe es darum, Menschen praktisch zu helfen durch Engagement für Gerechtigkeit, Umweltschutz und gesellschaftliche Transformation.

3. Postevangelikale/Progressive Theologie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und Werten unserer Kultur

Wer heute noch konservative sexualethische Positionen vertritt, steht nicht nur in der Gefahr, mit sozialer und gesellschaftlicher Ächtung konfrontiert zu werden. Darüber hinaus geht es hier zunehmend auch um ganz praktische Konsequenzen: Kirchliche oder staatliche Fördermittel. Zugang zu Posten und Gremien. Beteiligung an öffentlichen Diskursen. Schutz vor gesellschaftlicher und beruflicher Ausgrenzung. Ein Pfarrer, der heutzutage predigt, dass praktizierte Homosexualität Sünde ist, wird von landeskirchlichen Führungsgremien in keiner Weise geschützt oder verteidigt, wenn ein öffentlicher Sturm der Entrüstung losbricht.

Aber nicht nur der gesellschaftliche Druck sondern auch das eigene Gewissen kann in Bezug auf biblische Sexualethik zum Problem werden. Die Bibel beschränkt praktizierte Sexualität auf den Bereich der Ehe. Sie fordert uns auf zu lebenslanger Treue und Monogamie. Progressive Theologen weisen zurecht darauf hin, dass eine simple Buchstaben-Gebotsethik der Komplexität des Lebens manchmal nicht gerecht wird. Der individuelle seelsorgerliche Umgang mit biblischen Werten kann komplex sein, wenn zum Beispiel ein Partner psychisch oder gar physisch gewalttätig wird. Aber seien wir ehrlich: Jeder von uns steht in der Versuchung, biblische Gebote auch schlicht deshalb ignorieren zu wollen, weil uns etwas überaus attraktiv erscheint. Das gilt erst recht angesichts einer uns umgebenden Kultur, die die Übertretung einiger biblischer Gebote für völlig normal hält. Es ist deshalb kein Wunder, dass eine Theologie, die uns aus bestimmten Konflikten und Geboten entlässt, attraktiv erscheinen kann.

4. Postevangelikale/Progressive Theologie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung

Genau das postuliert ja zum Beispiel der Titel des aktuellen Buchs von Michael Diener: Mit der Anpassung bzw. „Modernisierung“ unserer Theologie finden wir endlich heraus aus der Sackgasse, heraus aus dem Abseits, in die sich eine konservativ / fundamentalistische Christenheit selbst hineinmanövriert habe. Solche Versprechen sind im Umfeld der liberalen Theologie nicht neu. Seit jeher haben liberale Theologen versprochen: Wir wollen die christliche Kirche retten! Wir wollen ihr helfen, damit sie nicht gesellschaftlich ausgeschlossen und geächtet wird. Wir wollen dazu beitragen, dass sie weiter am akademischen Diskurs teilnehmen kann, in intellektuellen Eliten Ansehen findet und damit auch gesellschaftlich anschlussfähig bleibt.

Strohmänner und falsche Versprechen

Natürlich wird bei diesen Narrativen immer wieder auch mit Strohmännern gearbeitet. Es werden verzerrte Karikaturen von evangelikaler Theologie aufgebaut. Dazu werden durchaus fragwürdige Versprechen gemacht:

Es ist ja keineswegs belegt, dass im Umfeld liberaler Theologie mehr Diakonie und praktische Hilfeleistung gedeihen konnte als unter Evangelikalen, die heute in aller Welt Krankenstationen, Waisenhäuser und Brunnen bauen und sich zudem sehr viel vernehmbarer für verfolgte Christen in aller Welt einsetzen. Dass evangelikale Theologie keineswegs unwissenschaftlich sein muss, sondern einfach nur auf anderen, rational gut begründbaren außerwissenschaftlichen Voraussetzungen („Paradigmen“) beruht, habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt.[2]

Vollkommen haltlos sind zudem die Versprechen, die Kirche könne aufblühen, wenn sie ihre theologischen Überzeugungen an gesellschaftliche Denkweisen anpasst. So ist zum Beispiel die Bultmann’sche Theologie vollständig gescheitert in ihrem Anspruch, die Kirche durch die Anpassung an den damals sehr dominanten Rationalismus gesellschaftsrelevanter zu machen. Es handelte sich vielmehr immer nur um eine „Pfarrertheologie“, die für Pfarrer gerade auch deshalb so interessant war, weil viele von ihnen während des Studiums durch die massive Bibelkritik an den theologischen Fakultäten zutiefst verunsichert waren. Diese Theologie hat also ein Problem „gelöst“, das sie selbst mit erschaffen hat. Aber die breite Bevölkerung und auch die kirchliche Basis konnte mit dieser Theologie nie etwas anfangen. Im Gegenteil: Die landeskirchliche Theologie leidet heute mehr denn je an einer massiven Entfremdung von der gemeindlichen Praxis. Die Kirche hat ihr Profil und ihre Kernbotschaft weitgehend verloren.

Bei genauerem Hinsehen sind postevangelikal/progressive Theologen auch keineswegs so offen und tolerant, wie sie zunächst glauben machen wollen. Prof. Christoph Raedel hat berichtet, dass im Umfeld der theologischen Fakultäten geradezu eine „Ekelschranke“ in Bezug auf evangelikale Theologie („Fundamentalismus“) existiert. Auch viele Worthausvorträge dokumentieren diese polemisch herablassende Sichtweise auf Evangelikale.

Noch sehr viel stärker ausgeprägt ist die Intoleranz im Bereich der Sexualethik. Die evangelikale bzw. historisch/orthodoxe Position zur Sexualethik wird im postevangelikal/progressiven Umfeld häufig mit Diskriminierung, Lieblosigkeit, Ausgrenzung und Schädigung „queerer“ Menschen gleichgesetzt, was letztlich zwangsläufig zu Spaltungen führen muss, wie der FeG-Pastor Johannes Traichel in seinem aktuellen Buch “Evangelikale und Homosexualität” zutreffend dargelegt hat.[3]

Die genannten Narrative, Strohmänner und Versprechen halten also einer genaueren Prüfung nicht stand. Trotzdem sollten wir keinesfalls glauben, dass sie von allen durchschaut werden. Ich kann nur staunen über die immer wieder geäußerte Idee, man solle doch gerade auch jungen Christen vertrauen, dass sie sich selbst im Dschungel der verschiedenen theologischen Ideen orientieren könnten. Das Gegenteil ist nach meiner Beobachtung der Fall: Christen brauchen heute mehr denn je kluge, differenzierte und leidenschaftlich vorgetragene biblische Lehre, um sich im theologischen Stimmengewirr orientieren zu können.

Evangelikale Bewegung, wohin? Wie gehen wir um mit dieser Situation?

Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum progressive Theologie sich auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld rasch ausbereitet. Es ist nicht zu erwarten, dass sie einfach so von selbst wieder verschwindet, im Gegenteil: In meiner evangelischen Kirche erlebe ich, dass diese Theologie sämtliche Macht- und Ausbildungszentren komplett erobert hat. Und sie achtet streng darauf, dass evangelikales Gedankengut keinen relevanten Einfluss mehr bekommt. Der Versuch, diesen theologischen Trend einfach “totzuschweigen” wird also ebensowenig funktionieren wie der Versuch, den Konflikt durch Bagatellisierung der Differenzen kleinzureden oder sich irgendwie neutral zu verhalten.

Das führt zu der drängenden Frage: Wie sollten evangelikale Leiter umgehen mit dieser neuen Situation, die das Zitat von Volker Gäckle zu Beginn dieses Artikels beschreibt? Wie gehen wir damit um, dass postevangelikal/progressive Theologie auch im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld immer dominanter wird und evangelikale Positionen immer offener und lautstärker diskreditiert?

Zu dieser höchst brisanten Frage beobachte ich aktuell drei sehr verschiedene, geradezu gegensätzliche Ansätze. Jeder dieser Ansätze wird von gewichtigen Vertretern im allianzevangelikalen Umfeld vertreten. Aber welcher dieser Ansätze deutet in die richtige Richtung? Damit wird sich der dritte und letzte Teil dieser Artikelserie befassen.

Fußnoten

[1] In seinem überaus empfehlenswerten Buch „Untergehen oder Umkehren“ beschreibt Pfarrer Alexander Garth auf Basis seiner weltweiten Einblicke und Erfahrungen genau das Gegenteil: „Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 62) „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174)

[2] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Das wunderkritische Paradigma“ (blog.aigg.de/?p=5240) sowie den Vortrag: „Brauchen wir wissenschaftliche Theologie?“ in der offen.bar-Mediathek (https://youtu.be/zjV4WQ-B9iA)

[3] Der FeG-Pastor Johannes Traichel beschreibt in seinem aktuellen Buch „Evangelikale und Homosexualität“, wie postevangelikal/progressive Sexualethik sich im konservativen Umfeld stufenweise etabliert, letztlich aber zu Spaltung führt: „Das Thema Homosexualität polarisiert und spaltet bekanntlich. Dies muss allen Beteiligten mehr als deutlich sein. Gleichzeitig bauen viele Beteiligte eine emotionale Spannung auf, die einen sachgerechten Dialog kaum möglich macht. Hier werden unsachgemäße Vorwürfe geäußert, homosexuell empfindende Menschen seien in evangelikalen Gemeinden nicht willkommen. … Oder Vorwürfe, dass die traditionelle christliche Ethik grundsätzlich eine Diskriminierung darstelle, für Suizide verantwortlich ist und der Art Jesu widerspricht. Ob dies ein guter Stil ist, das dürfte eine andere Frage sein, die nicht allzu schwer zu beantworten sein sollte. … Während es, vermutlich ohne besondere Verwerfungen, möglich sein dürfte, sich in bestehenden liberal geprägten Gemeindestrukturen, wie den evangelischen Landeskirchen, zu organisieren und LGBTQ-Gemeinden (die auch bereits vorhanden sind) zu gründen, erscheint es mir nun, dass hier der Weg des maximalen Konfliktes gewählt wird. So ist zu beobachten, dass auch in Denominationen, die traditionell eine konservative Ethik vertreten, eine gut vernetzte und teilweise auch recht offensiv auftretende Minderheit versucht, diesen Konsens zu kippen. Die Methodik ist hier zwar teilweise leicht zu durchschauen und simpel in der Art, aber dennoch erfolgreich. Hier wird meiner Beobachtung nach zuerst mit einem großen Selbstbewusstsein Toleranz und Akzeptanz für die liberale Position eingefordert, in dem Wissen, dass diese nicht mit dem Konsens der Denomination in Einklang zu bringen ist. Sie werben um Verständnis und beginnen die Gewissensfreiheit ins Feld zu führen. Die zweite Stufe ist dann, dass sie die neue Position auch offiziell zu Gehör bringen wollen. Wenn ein offizielles Papier der Denomination verabschiedet wird, das ganz selbstverständlich die bisherige Sicht darlegt, legen sie zuerst leichten und dann immer deutlicheren Protest ein und erheben die Forderung, dass auch die neue liberale/progressive Position zumindest positiv als Alternative und anschlussfähige Sichtweise genannt wird. Eine Phase, die immer danach mehr zu beobachten ist, ist die scharfe Verurteilung der traditionellen Position, indem sie diese mit emotional aufgeladenen Vorurteilen verleumden. So wird regelmäßig in sozialen Medien oder in Veranstaltungsforen die traditionelle Form als unerträglich, als diskriminierend, als schädlich und als menschenverachtend beschrieben. Eine Sichtweise, die heute nicht mehr vertretbar sei, wenn man gesellschaftsrelevante Gemeinde bauen, missional aktiv sein möchte und den Menschen keine Hindernisse zum Glauben aufbauen will. Auf diese Art und Weise wird ein Weg eingeschlagen, der meines Erachtens die Spaltung von Gemeinden und Denominationen billigend in Kauf nimmt, wenn nicht gar aktiv befeuert.“ (S. 241 – 243)

Was unterscheidet evangelikale Theologie von postevangelikaler und progressiver Theologie?

Dieser Artikel sowie die beiden noch folgenden Teile enthalten Auszüge aus zwei Vorträgen von Markus Till, die am 4.3.2023 im Rahmen des Studientags “Quo Vadis evangelikale Bewegung?” des Martin Bucer Seminars in München gehalten wurden.

Es ist gar nicht so einfach, die Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler bzw. progressiver Theologie zu beschreiben. Das Problem beginnt bereits mit der Schwierigkeit, den Begriff „evangelikal“ zu definieren. Schließlich sind die Evangelikalen eine in jeder Hinsicht außerordentlich bunte Bewegung. Trotzdem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Der britische Historiker David Bebbington hat vier Merkmale definiert, die trotz aller Vielfalt in allen evangelikalen Bewegungen zu finden sind:

  • Die Betonung der Vertrauenswürdigkeit der Bibel
  • Die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz
  • Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung
  • Der aktive Einsatz zur Ausbreitung des Evangeliums

Auch nach meiner Beobachtung beschreiben diese 4 Merkmale ziemlich gut, was Evangelikalen in aller Welt gemeinsam wichtig ist.

Was bedeutet “Postevangelikal”?

Auch Postevangelikale tragen das Wort „evangelikal“ noch in ihrer Selbstbezeichnung. Das liegt zumeist daran, dass sie einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen das auch ganz bewusst nicht leugnen, sondern ganz bewusst sagen: Diese evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte und insofern immer noch Teil meiner heutigen Identität. Sie wollen also keine Ex-Evangelikale sein, die diesen Teil ihrer persönlichen Geschichte komplett ablehnen und hinter sich lassen wollen.

Trotzdem bringt die Vorsilbe „Post“ natürlich etwas wichtiges zum Ausdruck. „Post“ bedeutet: „nach“. Damit sagen Postevangelikale: Ich bin jetzt in einer Lebensphase, in der ich zumindest Teile oder Elemente dieser evangelikalen Frömmigkeit hinter mir gelassen habe. Deshalb orientieren sich Postevangelikale zumindest theologisch neu, oft aber auch ganz praktisch, indem sie ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke suchen.

Der Pastor und postevangelikale Autor Martin Benz verwendet für diese Veränderung das Bild eines Umzugs. Er schreibt in seinem Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“:

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Frage stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt?“ (S. 46)

Benz nennt eine Reihe von Themen, die nach seiner Beobachtung immer wieder dafür sorgen, dass Christen anfangen, sich gegenüber ihrem bisherigen evangelikalen Glauben zu entfremden: Das können Probleme mit dem evangelikalen Gottesbild und Bibelverständnis sowie mit moralischen und sexualethischen Vorstellungen sein. Manche Christen wurden konfrontiert mit Heuchelei und Unehrlichkeit in christlichen Kreisen. Sie haben fehlende Barmherzigkeit und Lieblosigkeit erlebt. Oder sie tun sich schwer mit dem evangelikalen Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis. Sie fremdeln mit gewalttätigen Bibelstellen und mit einer Aufteilung der Welt in drinnen und draußen, Christen und Gottlose.

Was ist “Progressive Theologie”?

Das Bild von einem Umzug erklärt auch gut, wofür der oft verwendete Begriff der „Progressiven Theologie“ stehen kann. Progressive Theologie bedeutet letztlich: Eine Theologie, die sich ständig weiterentwickelt und nicht bei bestimmten Dogmen stehen bleibt. Überzeugungen werden immer wieder überprüft. Dabei ist man bereit, auch grundlegende theologische Weichen umzustellen.

Man beruft sich dabei auf biblische Beispiele für progressive Veränderungen und sagt: Auch Jesus hat den Glauben weiterentwickelt, indem er zum Beispiel mosaische Reinheitsgebote aufgehoben habe. Petrus musste vom Heiligen Geist überzeugt werden, seine Berührungsängste mit Heiden aufzugeben. Und später habe das Apostelkonzil grundlegend neue Weichen gestellt, indem es gesagt hat: Die Heiden müssen sich nicht beschneiden lassen und sich nicht an die jüdischen Gepflogenheiten halten. Diese in der Bibel sichtbare Entwicklung in theologischen Fragen habe nach der Entstehung der Kirche nicht aufgehört. Sie geht bis heute weiter.

Evangelikale gehen hingegen von einer Abgeschlossenheit der Schrift aus. Sie sind überzeugt: Es kann nach der Festlegung des Umfangs der kanonischen Schriften keine grundlegend neuen Offenbarungen mehr geben. Die Bibel bleibt vielmehr dauerhaft der gültige Maßstab für alle Fragen des Glaubens und der Lehre. Deshalb ist es kein Wunder, dass es zunehmende Differenzen zwischen evangelikaler und postevangelikaler/progressiver Theologie gibt. Diese Differenzen sind im Grunde auch gar nicht neu. So schreibt z.B. der postevangelikale Blogger Christoph Schmieding unter der Überschrift “Was ist eigentlich postevangelikal?”:

„Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“

Mit anderen Worten: Postevangelikale und Progressive Theologie vollzieht eine Entwicklung nach, die in der von der Aufklärung geprägten Theologie schon seit rund 2 Jahrhunderten ihre Kreise zieht. Die zentralsten Differenzen, die sich aus dieser Entwicklung heraus zwischen evangelikaler und postevangelikal/progressiver Theologie ergeben, kann man durch drei große Trennungen beschreiben. Das heißt: Es gibt drei Dinge, die in der evangelikalen sowie in der historisch-orthodoxen Theologie und nicht zuletzt in der Bibel selbst untrennbar zusammengehören, die aber in der postevangelikalen und progressiven Theologie zunehmend voneinander getrennt werden:

1. Trennung zwischen Schrift und Offenbarung

Evangelikale Theologie betont: Schrift und Offenbarung ist untrennbar miteinander verbunden. Die Texte der Bibel sind zwar Menschenwort. Aber es ist zugleich doch auch immer voll und ganz Gott, der in diesen Texten spricht. Die Texte haben einen Offenbarungscharakter, das heißt: Sie sind vollständig von Gottes Geist durchdrungen, inspiriert und geprägt. Die Bibel ist insgesamt Heilige Schrift. Entsprechend gilt für Prof. Gerhard Maier: „Die Schriftautorität ist im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.“ [1]

In der postevangelikal/progressiven Theologie hingegen wird Schrift und Offenbarung zunehmend voneinander getrennt. Der Text wird zunehmend nicht mehr als Offenbarung angesehen. Stattdessen wird eher betont: Die eigentliche Offenbarung ist die Person Jesus Christus. Der biblische Text bezeugt diese Offenbarung zwar. Aber der Text selbst hat einen menschlichen Charakter. Deshalb ist er – so wie jeder menschliche Text – auch fehlerhaft und inhaltlich kritisierbar (in der Theologie spricht man von “Sachkritik”), wie der postevangelikale Theologe Siegfried Zimmer betont:

„Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [2]

Diese Kritik kann Siegfried Zimmer manchmal überaus deutlich formulieren. So äußert er z.B. in einem seiner Worthausvorträge [3]: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Es ist daher nur folgerichtig, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie die Bibel auch als in sich widersprüchlich gilt. Denn sie ist ja eine Sammlung von fehlerhaften menschlichen Texten aus völlig verschiedenen Zeiten und Kulturen. Sie ist damit eher eine Sammlung von theologischen Meinungen und Erfahrungen mit Gott. [4] Da die Bibel in dieser Sichtweise keine innere Einheit hat, kann man auch nicht mehr davon sprechen, dass DIE Bibel irgendetwas sagt. Es gibt in der Bibel ja vielmehr eine Vielzahl von sich immer wieder gegenseitig widersprechenden Stimmen.

So ist erklärbar, dass in der postevangelikal/progressiven Theologie auch Positionen vertreten werden können, die dem durchgängigen und einstimmigen Zeugnis der Bibel widersprechen. So kann zum Beispiel praktizierte Homosexualität als mit dem Willen Gottes vereinbar angesehen werden, obwohl die Bibel sich durchgängig gegenteilig äußert.

Insgesamt ist ein gemeinsamer dogmatischer Konsens in der postevangelikal/progressiven Theologie kaum noch begründ- und erkennbar. Orthodoxe Lehrüberzeugungen werden zunehmend subjektiviert (d.h. sie werden als mögliche Denkvarianten anderen progressiven Überzeugungen gegenübergestellt [5]), oder es wird ihnen offen widersprochen. Dieser Verlust des gemeinsamen dogmatischen Kerns wird im postevangelikal/progressiven Umfeld zumeist aber auch gar nicht für problematisch gehalten, weil die Mitte des christlichen Glaubens stark auf den personalen Jesus Christus reduziert wird, dessen Wesen, Werk und Lehre aber unscharf bleibt.

2. Trennung zwischen Glaube und Geschichte

Wir vergessen heute manchmal, dass die Bibel und das historische Christentum den christlichen Glauben immer sehr stark verankert haben in realen geschichtlichen Ereignissen. Sehr deutlich wird das zum Beispiel in einigen Sätzen aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel…“

Hier werden also eine ganze Reihe von historischen Ereignissen aufgezählt, die für den christlichen Glauben als grundlegend angesehen werden. Auch die Bibel selbst ist in weiten Teilen ein Geschichtsbuch. Sie beschreibt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Da wird also Glaube und Geschichte untrennbar zusammengehalten und eng miteinander verwoben. Grundlegend ist dabei die Botschaft: Du kannst Gott vertrauen, weil er in der Geschichte gehandelt hat! Entsprechend schreibt Johannes am Ende seines Evangeliums: Was in diesem Buch über die Zeichen steht, die Jesus vor den Augen seiner Jünger tat, „wurde aufgeschrieben, damit ihr festbleibt in dem Glauben: Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes!“ (Johannes 21, 31)

Aber in der postevangelikal / progressiven Theologie wird zunehmend gesagt: Was historisch passiert ist, ist nicht von größerer Bedeutung. Es kommt nicht darauf an, ob Jesus wirklich den Sturm gestillt hat. Hauptsache, er stillt den Sturm in unserem Herzen! Ganz ähnlich schreibt der Postevangelikale Jakob Friedrichs in seinem Buch „Ist das Gott oder kann das weg?“:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Nun ist die Jungfrauengeburt im christlichen Glauben keine Nebensache. Sie wird in der Bibel eindeutig bezeugt samt allem Erstaunen und aller Aufregung, die dieses biologische Wunder verursacht hat. Und sie wird aufgenommen in die wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse (Apostolikum und Nicäno-Konstantinopolitanum). Sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Christologie, weil sie deutlich macht, dass Jesus nicht nur Mensch war, sondern von Beginn an auch menschgewordener Gott.

Entsprechend hat dieses Auseinanderreißen von Glaube und Geschichte gravierende Folgen für den christlichen Glauben. Wenn die Verankerung des Glaubens im realen geschichtlichen Handeln Gottes verloren geht, dann wird Theologie zum schönen Gedanken, der vielleicht kurz unser Herz erwärmt, der aber seine Kraft und seine Tiefe verliert. Nebenbei verliert die Bibel ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie baut ja durchgängig darauf auf, dass Gott in der Geschichte gehandelt hat und dass wir ihm gerade deshalb vertrauen können. Deshalb bleibt es für Evangelikale entscheidend wichtig, Glaube und Geschichte zusammenzuhalten, so wie die Bibel das durchgängig tut und wie auch das historische orthodoxe Christentum das getan hat.

3. Trennung zwischen Vorbild und Stellvertretung

Die Bibel berichtet uns einerseits ausführlich vom Leben Jesu. Sie erzählt davon, wie Jesus sich mit uns Menschen solidarisiert hat: Mit unserer Menschlichkeit, mit unserem Leid, mit unserer Angst. Und zugleich malt sie uns Jesus als großes Vorbild vor Augen, dem wir nacheifern sollen. Sein Umgang mit den Schwachen, mit den Sündern, sein dienender Leitungsstil, seine Nächstenliebe, sein vergebendes Gebet für seine Feinde – in all dem sollen wir Jesus nachfolgen. Zudem hat Jesus gesagt: Wir sollen einander lehren, alles zu halten, was er uns befohlen hat (Matth. 28, 20). Jesus ist für uns Christen also DAS Vorbild schlechthin.

Aber hinzu kommt in der Bibel etwas, das mindestens genauso wichtig ist: In seinem Tod am Kreuz hat Jesus stellvertretend für uns gelitten. Er hat stellvertretend die Strafe auf sich genommen, die wir eigentlich verdient hätten aufgrund unserer Schuld. Er hat den Zorn und das Gericht Gottes auf sich genommen, das gerechterweise eigentlich uns hätte treffen müssen. Er hat uns damit losgekauft aus der Sklaverei der Sünde. Er hat für unsere Schuld gesühnt. Er hat uns dadurch mit Gott versöhnt. Er hat uns gerechtfertigt und erlöst. In allen biblischen Bildern von Sühne, Versöhnung, Rechtfertigung und Erlösung steht diese Stellvertretung im Mittelpunkt. Der große Theologe John Stott hat dies so formuliert: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ [6]

In der Bibel und in der historisch-orthodoxen Theologie wird der Vorbildcharakter Jesu also immer untrennbar zusammengehalten mit dem stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz. In der postevangelikal / progressiven Theologie wird dies jedoch zunehmend getrennt und folglich auch gegeneinander ausgespielt. Der Schwerpunkt wird immer stärker auf das Vorbild gelegt. Aber zur Stellvertretung wird zunehmend gesagt: Damit tun wir uns schwer. Gottes Gericht, Gottes Zorn, ein strafender Gott, das passt für uns nicht zu einem Gott, der doch die Liebe in Person ist. Gott braucht doch kein Opfer, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Dann reduziert sich die Christologie immer stärker auf diesen Solidaritäts- und Vorbildgedanken. Aber dass wir Menschen Sünder sind, die Vergebung, Errettung und Erlösung brauchen und die nur leben können, weil Jesus stellvertretend am Kreuz für uns gestorben ist, das tritt immer mehr in den Hintergrund oder es wird ganz aufgegeben. So schreibt zum Beispiel der Postevangelikale Jason Liesendahl in seinem Blog unter der Überschrift “Was ist progressive Theologie?”:

„Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig. Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen. Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.“

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Meine Beobachtung ist: Postevangelikalismus und progressive Theologie ist im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld längst kein Randphänomen mehr, sondern sie ist insbesondere in den leitenden Ebenen auf breiter Front mehr oder weniger stark angekommen. Das gilt für fast alle größeren Verlage, Medien, Gemeindeverbünde, Missionswerke und selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten. Nicht selten ist postevangelikale und progressive Theologie bereits vorherrschend und dominant. Woran liegt das? Warum breitet sich postevangelikal/progressive Theologie so rasant im freikirchlichen und allianzevangelikalen Umfeld aus?

Damit befasst sich Teil 2 dieser dreiteiligen Artikelserie.

Fußnoten:

[1] In „Biblische Hermeneutik“, 13. Auflage, S. 151

[2] In: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“, Göttingen 2012, S. 88

[3] In: „Jesus und die blutende Frau“, ab 36:57

[4] So schreibt zum Beispiel der freikirchliche Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“, dass er sich die Entstehung der Bibeltexte so vorstellt: „Menschen machen Erfahrungen. … Dabei bemerken sie, dass im Leben immer mal wieder große Geheimnisse auftauchen, mitten in ihrer alltäglichen Erfahrung: … Wo genau ist eigentlich mein Platz in der großen, weiten Welt unter der Sonne und zwischen den Sternen? Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest. Nach und nach entwickeln sie Ideen und erspüren Antworten. Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. Sie dokumentieren, wie sie die Geheimnisse des Lebens und ihrer Gemeinschaft erleben. Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[5] So schreibt zum Beispiel Karsten Hüttmann, der 2022 1. Vorsitzender des Christival war, im Buch „THEOLAB – Jesus, Himmel, Mission“ in seinem Artikel über die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu: „Es gibt nicht die eine, richtige Erklärung. Die verschiedenen Motive sind jeweils eher als Ergänzung statt als Widerspruch zu verstehen, denn es sind und bleiben letztlich unsere menschlichen Versuche, zu beschreiben, warum Jesus am Kreuz (für uns) starb. … Für Luther war z. B. die Frage nach einem gnädigen Gott noch der Dreh und Angelpunkt seiner Lehren, und für viele Menschen ist auch heute noch die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld existenziell. Für andere ist es aber vor allem die selbsterlittene Ungerechtigkeit (hier kann das Sterben Jesu u. a. als Solidarität Gottes mit den Leidenden erlebt werden) oder der Kampf mit der Selbstannahme und der Unsicherheit angesichts der eigenen Existenz (und das Kreuz demzufolge ein Zeichen der absoluten Liebe und bedingungslosen Annahme).“

[6] In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

Anmerkungen zum Artikel „Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind“

Der letzte AiGG-Blog-Artikel zum Thema Verschwörungstheorien hat viele Reaktionen hervorgerufen. Leider konnte ich nicht alle Rückmeldungen beantworten. Daher möchte ich hier noch einmal zu einigen der gestellten Fragen und aufgeworfenen Themen gesammelt Stellung nehmen:

„Werden christliche Positionen in den Medien nicht wirklich an den Rand gedrängt?“

Ja, das werden sie leider. Und auch ich leide darunter, besonders wenn es um das Thema Abtreibung geht oder um den oft abfälligen Umgang mit der sogenannten „traditionellen Familie“, die ich für ein unverzichtbares Rückgrat unserer Gesellschaft halte. Das sollte uns aber nicht blind machen dafür, dass es auch Medien gibt, die zwar einerseits christliche Positionen hochhalten, zugleich aber Inhalte vertreten, die für Christen absolut indiskutabel sein sollten.

„Beteiligst Du Dich jetzt auch am “Kampf gegen rechts”?“

In dem Artikel ging es überhaupt nicht um „links“ und „rechts“. Düstere Verschwörungstheorien gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums. So ist zum Beispiel der im Artikel erwähnte scharfe Antiamerikanismus auch im äußerst linken Spektrum weit verbreitet. Und der Auftritt der „letzten Generation“ vor der EKD-Synode zeigt: Auch hier ist man anfällig für düstere Weltuntergangsszenarien, die zu Polarisierung, Pessimismus und Politisierung führen. Zudem habe ich ja deutlich gemacht: Es gibt eine aggressive Form des „Kampfs gegen rechts“, die Menschen vorschnell verurteilt, die nicht differenziert zwischen „rechts der Mitte“ und rechtsradikal, die die als „rechts“ eingestuften Menschen gnadenlos ausgrenzt und damit beiträgt zur Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft, wie z.B. der Fall des Bischofs Carsten Rentzing in trauriger Weise zeigt.

„Ist der Begriff „Verschwörungstheorie“ nicht ein Kampfbegriff zur Unterdrückung von berechtigter Kritik?“

Ja, es gibt eine unselige Tendenz in unserem Land, berechtigte Positionen innerhalb des demokratischen Spektrums zu diffamieren, statt ihnen argumentativ zu begegnen. Leider wird nicht selten viel zu schnell von „Leugnern“, „Phobikern“, „Skeptikern“, von „Hass und Hetze“, „Fake News“, „Verschwörungstheorien“ und ähnlichem gesprochen. Menschen, die schon früh vor Lockdowns, vor der Impfpflicht oder vor Nebenwirkungen gewarnt haben, wurden leider nicht selten mit solchen Vokabeln diffamiert. Und es wurden leider auch keine Entschuldigungen laut, als sich herausstellte, dass diese Befürchtungen absolut berechtigt waren. Deshalb verstehe ich, warum einige Leser empfindlich auf diesen Begriff reagieren. Das ändert m.E. aber nichts daran, dass es echte Verschwörungstheoretiker gibt, die ein regelrechtes Geschäft machen mit der Angst und mit dem sensationellen Anspruch, Menschen in angeblich geheimes Wissen einzuweihen. Und natürlich gibt es Kräfte (wie z.B. RT-Deutsch), die aktiv Misstrauen streuen, um unser Land zu destabilisieren. Auch vor diesen Problemen dürfen wir die Augen nicht verschließen.

Werden nicht auch in den gängigen Medien „Fake News“ verbreitet?

Doch, natürlich gibt es auch hier teils schlimme Fehlleistungen. Für besonders problematisch halte ich zudem die offenkundige Linkslastigkeit und Regierungsnähe vieler Medien, vor allem im öffentlich-rechtlichen Bereich. Nicht nur die jüngsten Skandale beim RBB zeigen, dass hier Vieles im Argen liegt. Deshalb halte ich es für wichtig, Medien kritisch zu begleiten, so wie es z.B. der „ÖRR-Blog“ auf Twitter tut. Das ändert aber nichts an der Frage, die ich im Artikel gestellt habe: Ist es nicht seltsam, einerseits den „Mainstreammedien“ nur noch undifferenziert ablehnend gegenüber zu stehen und andererseits „alternativen Medien“ so viel Vertrauen entgegen zu bringen? Ich werde jedenfalls immer skeptisch, wenn bestimmte Medien permanent „Klartext“ reden, womöglich noch im andauernden Empörungsmodus, garniert mit Zynismus und Sarkasmus. Die Welt und die Wahrheit ist oft komplex und wenig sensationell. Gute Analysen müssen die Dinge oft differenziert betrachten. Manches eignet sich nicht für eine schnelle Einordnung, weil es einfach noch unklar ist. Guter Journalismus beachtet das, auch wenn man damit weniger Klicks generiert. Mir begegnet solch guter Journalismus immer wieder an unterschiedlichen Stellen – aber praktisch nie bei Quellen, die sich z.B. bei RT-Deutsch bedienen.

Noch eine letzte Anmerkung: Ich werde mit diesen Anmerkungen dieses Thema erst einmal abschließen. Mein Schwerpunkt und meine Leidenschaft ist und bleibt, das Evangelium zu verbreiten und Gemeinde zu bauen, damit Jesus groß gemacht wird in unserem Land. Gerade deshalb ist meine Bitte: Lassen wir uns doch trotz aller Probleme nicht anstecken von düsterer Weltuntergangsstimmung, in welcher Form sie auch immer daherkommen mag. Lassen wir uns auch nicht ablenken vom großen Auftrag, den unser Herr uns auf den Weg gegeben hat. Menschen zu Jüngern machen muss immer unser Fokus und unsere Leidenschaft sein – ganz egal wie sich die Gesellschaft um uns herum entwickelt. Ich glaube: Wo dieser Auftrag durch allzu lautstarke politische Botschaften verdrängt wird, da läuft immer etwas schief – egal aus welcher Richtung die Botschaften kommen. Hören wir doch auf die Ermahnung von Paulus aus einer Zeit, in der Christen nicht nur an den Rand gedrängt sondern grausam verfolgt wurden:

„Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört. Ich sage es noch einmal: Freut euch! Alle Menschen sollen merken, wie gütig ihr seid. Der Herr ist nahe! Macht euch keine Sorgen. Im Gegenteil: Wendet euch in jeder Lage an Gott. Tragt ihm eure Anliegen vor in Gebeten und Fürbitten und voller Dankbarkeit. Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, soll eure Herzen und Gedanken behüten. Er soll sie bewahren in der Gemeinschaft mit Jesus Christus.“ (Philipper 4, 4-7)

Ich wünsche mir, zu einer Gemeinschaft von Christen zu gehören, denen man zuallererst diese Freude, diesen Frieden und diese Nähe zu Christus abspürt.

Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind

Ich bin nur selten in Portalen wie der „Achse des Guten“ (achgut.com) unterwegs. So manches, was dort vertreten wird, scheint mir reißerisch und einseitig zu sein. Aber letzte Woche wurde ich auf einen Artikel hingewiesen, der mich nachdenklich gemacht hat. Unter der Überschrift „Das Dilemma der Ukraine-Debatte“ berichtet Annette Heinisch, dass sie die Kriegs- und Expansionspolitik von Wladimir Putin seit Jahren kritisch beobachtet. Und jetzt fragt sie sich: Warum stehen in ihrem Umfeld plötzlich so viele Menschen auf der Seite Putins? Ihre Erklärung lautet:

„Nach Corona ist nichts mehr, wie es war. War das Vertrauen in die Politik schon vorher erschüttert, so ist es nun bei vielen vollends verschwunden. Sagt die Regierung hü, muss hott richtig sein, so die landläufige Meinung. Sind führende Vertreter des harten Corona-Kurses nun für Waffenlieferungen an die Ukraine, dann muss das falsch sein. Schließlich haben diese Herrschaften ihr mangelndes Urteilsvermögen hinreichend unter Beweis gestellt.“ 

Auch mir fällt auf: Die teils hochaggressive Ausgrenzung von Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht impfen lassen wollten, hat tiefe Wunden hinterlassen. Ich kann das nach einigen Gesprächen, die ich mit solchen Personen geführt habe, sehr gut nachvollziehen. Der Umgang mit der Corona-Pandemie muss unbedingt kritisch aufgearbeitet werden. Befassen müssen wir uns m.E. auch mit der Frage, warum “sich ein Teil der Bevölkerung vom Weltbild vieler öffentlich-rechtlichen Journalisten nicht repräsentiert fühlt” und warum „es heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine einzige profilierte konservative Stimme mehr“ gibt, wie der ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo aus meiner Sicht treffend schreibt. Es ist kein Wunder, dass Menschen das Vertrauen verlieren, wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Position übergangen oder an den Rand gedrängt wird.

Aber unabhängig davon, wie man im Einzelnen zu den Coronamaßnahmen, dem Verhalten der Medien und zum Ukrainekrieg steht: Richtig scheint mir zu sein, dass unsere Gesellschaft unter einem zunehmenden Vertrauensverlust leidet. Und das ist ein echtes Problem. Natürlich ist es wichtig, dass mündige Bürger die Institutionen und Medien des Landes kritisch begleiten. Aber ein Grundmisstrauen, das allen Vertretern von Staat, Institutionen und Medien prinzipiell nur noch argwöhnisch oder ablehnend gegenübertritt, ist destruktiv. Bürgermeister, Schulleiter und Polizisten können ein Lied davon singen, wie schwer ihre Arbeit wird, wenn ihnen immer mehr Ablehnung oder gar Wut entgegenschlägt. Eine funktionierende Gesellschaft lebt davon, dass es ordnende Kräfte gibt, denen die Bevölkerung ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringt. Der Verfall dieses Vertrauens schadet letztlich uns allen.

Bei einigen Menschen werden diese Schäden besonders sichtbar. Ich muss da zum Beispiel an einen gläubigen jungen Mann denken, den wir vor ein paar Monaten auf eine Geburtstagsfeier eingeladen hatten. Er war überzeugt davon, dass man in den gängigen Medien grundsätzlich völlig falsch informiert wird. Zugleich vertrat er lautstark derart abenteuerliche Weltverschwörungs­theorien, dass wir ihn aus Rücksicht auf andere Gäste wohl zukünftig nicht mehr einladen können. Bei uns blieb der Eindruck zurück: Verschwörungstheorien können einzelne Menschen ebenso vergiften wie das Miteinander.

Deshalb sollte es uns nicht gleichgültig sein, wenn in unserer Gesellschaft Kräfte am Werk sind, die solche Theorien aktiv verbreiten und damit das ohnehin schon beschädigte Vertrauen weiter aushöhlen. Die Thesen klingen ja immer wieder ähnlich: Wir werden vergiftet durch Gase, die Flugzeuge am Himmel versprühen („Chemtrails“). Im Rahmen eines „Great Reset“ wollen internationale Eliten die Macht übernehmen und jeden Privatbesitz enteignen. Die Corona-Pandemie samt der Impfkampagne ist nur Mittel zum Zweck, um Menschen kontrollieren zu können. Amerikaner haben die Zwillingstürme selbst gesprengt. Und im Ukraine-Krieg verteidigt sich Putin nur gegen die viel aggressiveren Amerikaner…

Botschaften dieser Art finden sich vielfach im Internet. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es tatsächlich echte Verschwörungen geben kann. Jedoch würde ich allen, die solche Theorien regelmäßig für realistisch halten, gerne eine Frage stellen: Wenn man wirklich nichts glauben kann, was die sogenannten „Mainstreammedien“ berichten, warum sollten dann „alternative Medien“ vertrauenswürdiger sein?

Auf einem der einschlägigen YouTube-Kanäle fiel mir auf: Es wird immer wieder auch Werbung für „RT Deutsch“ gemacht, dem deutschsprachigen Ableger des russischen staatlichen Nachrichtensenders RT (ehemals Russia Today). Der Sender vermittelt nicht nur die sehr speziellen Sichtweisen Putins über den grausamen Ukraine-Krieg und die Rolle Amerikas. Er verbreitet zudem auch weitere Verschwörungstheorien. Dazu muss man wissen: Diktatoren wie Putin haben ein Interesse daran, andere Länder durch Polarisierung und wachsendes Misstrauen in die Institutionen zu destabilisieren. Letztlich ist das nichts anderes als eine perfide Form von Kriegsführung. Es ist wichtig, dass wir nicht darauf hereinfallen.

Aber leider ist meine Beobachtung: Auch Christen sind gegen problematische Einflüsse dieser Art nicht immun. Das könnte auch daran liegen, dass viele Christen sich mit bestimmten Positionen an den Rand gedrängt fühlen: Ablehnung von Abtreibung, ein traditionelles Familienbild, das Festhalten an der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau und die daraus folgende Ablehnung der „Gender-Ideologie“ – solche Positionen werden in vielen Medien und in der Parteienlandschaft leider immer weniger vertreten und nicht selten diffamiert. Umso mehr freut man sich natürlich, wenn man Sprachrohre findet, die diese Positionen noch hochhalten. Endlich wird man mal wieder in seiner Ansicht bestätigt. Und es tut ja scheinbar gut, wenn endlich einmal diejenigen vorgeführt werden, die ansonsten uns Christen immer wieder vorführen.

Leider können uns solche Gefühle den Blick dafür verstellen, dass einige dieser „Sprachrohre“ aus Quellen schöpfen, die absolut nicht vertrauenswürdig sind. Und leider verlieren nicht wenige Christen auch die Sensibilität für den oft unsachlichen, verletzenden und damit destruktiven Stil und Tonfall solcher Leute.

Die Folgen sind immer wieder ähnlich: Zunehmende Polarisierung. Wachsendes Misstrauen. Eine Verrohung der Debatten. Eine immer pessimistischere Grundhaltung. Politische Themen bekommen eine immer höhere Priorität und rauben die Kraft und Leidenschaft für Mission, Gemeindebau und Evangelisation. Und spätestens, wenn Christen sich gedrängt fühlen, ihre Mitchristen mit ihren sehr speziellen Sichtweisen „missionieren“ zu müssen, dann wird die Gemeinschaft im Hauskreis oder in der Gemeinde zunehmend schwieriger. Nicht wenige christliche Leiter und Gemeinden wurden in den letzten Jahren durch solche Dynamiken schwer belastet.

Die Frage ist deshalb: Wie reagieren wir darauf, wenn wir in unserem Umfeld solche Tendenzen beobachten?

Ich glaube: Wir brauchen zum einen ganz schlicht mehr Information und mehr Medienkompetenz. Wir müssen unsere Mitchristen dafür sensibilisieren, dass es im Internet Quellen gibt, die uns zwar auf den ersten Blick gefallen mögen, bei genauerem Hinsehen aber toxisch und gefährlich sind. Hier haben auch christliche Leiter eine wichtige Aufgabe. Es braucht Menschen, die sich die Zeit nehmen, sich mit solchen Quellen zu beschäftigen und sachlich und differenziert über die Gefahren zu informieren. Wir brauchen einen nüchternen Dienst der Unterscheidung, der uns hilft, problematische Inhalte aufzudecken.

Zweitens sollten wir uns alle gemeinsam vornehmen, uns nicht nur einseitig in bestimmten Meinungsnischen und Filterblasen zu informieren. Denn wer das tut, wird nicht nur einseitig informiert und immer festgefahrener in seinen Positionen. Mindestens ebenso schlimm ist, dass man die Fähigkeit verliert, sinnvoll mit Menschen aus anderen Milieus und Meinungsspektren zu kommunizieren. Das ist ja eines der großen Probleme unserer Gesellschaft: Debatten funktionieren nicht mehr, weil man in völlig verschiedenen Welten lebt. Wir Christen sollten es besser machen und beim Medienkonsum immer wieder über den eigenen Tellerrand blicken, um zu verstehen, wie Andere ticken und was sie bewegt.

Weiterhin gilt auch hier, was in Bezug auf so viele Gefahren gilt: Die lebendige Beziehung mit Jesus und miteinander ist ein wichtiger Schutz. Verschwörungstheorien sind immer auch Identitätsangebote. Sie haben unterschwellig das zweifelhafte Versprechen im Gepäck: Wer darauf hört, gehört zu den Wissenden, die miteinander eine verschworene Gemeinschaft bilden und die der manipulierten Masse überlegen sind. Wer eine feste Identität in Christus und zudem eine gesunde Gemeinschaft mit anderen Christen hat, ist auf solche zweifelhafte Identitätsangebote nicht angewiesen.

Zudem meine ich: Wir sollten alle gemeinsam beitragen zur Deeskalation und zu einer Kultur der Gnade. Mir fällt die tieftraurige Geschichte des ehemaligen sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing ein, der wegen früherer Verbindungen und Publikationen als „rechts“ eingestuft und gnadenlos öffentlich angegangen wurde. Das hat ihn nicht nur sein Amt (und womöglich auch seine Gesundheit) gekostet, sondern in der ganzen Kirche in unübersehbarem Ausmaß Vertrauen und Miteinander zerstört. Deshalb rate ich: Unser Blick auf Andere sollte von Hoffnung geprägt sein statt von Verdächtigung und Misstrauen. Konzentrieren wir uns auf Sachargumente, statt Menschen vorschnell zu verurteilen und auszugrenzen.

Und schließlich: Lasst uns füreinander beten und eng an Jesus Christus bleiben. ER ist unsere Hoffnung. Er ist mächtiger als die mächtigsten Verschwörer und die schlimmsten Verführer. Wer auf ihn schaut, versinkt nicht in Angst vor unheimlichen Machenschaften oder bedrohlichen Extremisten. Meine Erfahrung ist: Wer unsere Gesellschaft und die Kirche Jesu zum Guten verändern möchte, muss es aus dem Frieden heraus tun, den wir nur in der Nähe unseres souveränen Herrn finden, der alles unter Kontrolle hat. Aufgeregter oder gar aggressiver Aktivismus hingegen bewirkt oft das Gegenteil dessen, was man bekämpfen will.

Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift “Glauben & Denken heute” erschienen in der Ausgabe 2/2021. Er kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Welcher Prozess hat dazu geführt, dass Christen heute eine Sammlung von genau 27 Büchern als Neues Testament bezeichnen und als Wort Gottes bzw. Heilige Schrift betrachten? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser Bibelverständnis? Inwieweit können die biblischen Texte heute noch als inspiriert gelten und autoritativer Maßstab für den christlichen Glauben sein? Über diese grundlegenden Fragen spricht Thorsten Dietz in seinem Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“[1]. Seine Antworten machen theologische Entwicklungen sichtbar, die zweifelsohne im Hintergrund vieler aktueller innerchristlicher Konflikte stehen.

Leitend ist für Thorsten Dietz zunächst die Frage: Welcher Faktor hat denn eigentlich den Prozess der Kanonbildung maßgeblich geprägt und beeinflusst? Dietz stellt dazu drei häufig vertretene Antwortmöglichkeiten vor:

  1. Die neutestamentlichen Schriften selbst waren entscheidend. Der Kanon hat sich selbst durchgesetzt bzw. „imponiert“.
  2. Die Kirche und ihr Lehramt war die entscheidende Autorität, die über den Umfang des neutestamentlichen Kanons entschieden hat.
  3. Der Kanon ist das Ergebnis menschlicher Überlegungen und gegebenenfalls auch Machtkämpfe.

Früh stellt Thorsten Dietz klar: „Ich halte diese Deutungen der Kanonwerdung alle drei für irreführend.“ (16:30) Stattdessen ist er überzeugt: „Diese Dinge hängen ineinander und alle Versuche von einer Seite her, die Bibel dem Evangelium oder Jesus oder der Kirche radikal überzuordnen oder die Kirche dem Evangelium oder der Bibel überzuordnen, sind immer Versuche, es in irgendeiner Weise in den Griff zu kriegen, es irgendwie verfügbar zu machen, handhabbar zu machen und das Ganze in irgendeiner Weise so richtig eindeutig auch festzustellen.“ (ab 1:08:50)

Wie kommt Thorsten Dietz zu dieser Sichtweise?

Lang andauernde Unklarheiten beim Kanonumfang

Ausführlich spricht Thorsten Dietz darüber, dass es neben den heute als kanonisch geltenden Büchern noch viele weitere Anwärter auf diesen exklusiven Status gab. Konkret nennt er eine Reihe weiterer Evangelien und sonstiger Schriften, die angeblich von Aposteln oder von frühen Kirchenvätern stammten. Umgekehrt wurden einige der heute als kanonisch anerkannten Bücher bis in die Reformationszeit hinein immer wieder angezweifelt oder sogar offen abgelehnt. Zwar gab es schon früh Kriterien, um die Kanonizität eines Texts zu beurteilen. Dietz nennt konkret die „Ursprungsnähe zu Jesus, die „apostolische Autorität des Anfangs“, die Übereinstimmung mit den Lehren Jesu, der Apostel und den zentralen Bekenntnissen der Christen (die sogenannte Glaubensregel oder „regula fidei“) und schließlich die Anerkennung in den Gemeinden. Jedoch hätten auch diese Kriterien nicht zu einer schnellen, abschließenden Definition des Kanons geführt.

Dietz weist zudem darauf hin: Auch bei der Frage, welche Schriften denn zum Alten Testament gehören, gab es Unklarheiten. Autorität hatte für die Apostel damals die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die für viele Juden und Christen als „inspiriert“ galt, die aber einige Bücher und Zusätze enthält, die unter evangelischen Christen heute weithin nicht mehr als kanonisch gelten.

Damit hat Thorsten Dietz ohne Zweifel recht. Aber sprechen diese historisch belegten Unsicherheiten beim Kanonumfang denn wirklich gegen die Auffassung, dass die Autorität der kanonischen Texte selbst der entscheidende Faktor für die Kanonbildung waren?

Frühe Klarheit bei den Kernbeständen

Thorsten Dietz betont selbst, dass man bereits „Mitte des zweiten Jahrhunderts sagen kann: Die vier Evangelien … waren früh am Start und früh anerkannt und früh unumstritten. Soweit das Auge reicht, sind diese vier Evangelien eine wesentliche Quelle für alle Christen.“ (33:40) Und er ergänzt: 20 neutestamentliche Schriften (4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 Paulusbriefe, 1. Petrus- und 1. Johannesbrief) „waren im Grunde nie umstritten. … Ein Großteil des Neuen Testaments wächst rein in diese Rolle, kanonische Schriften zu sein.“ (56:05)

Tatsächlich machen die genannten 20 Schriften bereits mehr als 85% des heutigen neutestamentlichen Textbestands aus. Wie früh ein großer Teil der neutestamentlichen Texte bereits als autoritativ galten, zeigt zudem ein Blick in die Schriften von Kirchenleitern der ersten nachapostolischen Generation. Bischof Polykarp von Smyrna zitiert in seinem Brief an die Philipper, der grob auf das Jahr 120 datiert wird, bereits aus 19 der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter auch aus dem Jakobusbrief und dem 2. Johannesbrief. Deutlich wird dabei: Schon Polykarp misst diesen Schriften genau die gleiche Schriftautorität bei wie den alttestamentlichen Schriften.[2] Und sie haben für ihn genau wie für Bischof Ignatius von Antiochien[3] eine unfehlbare Autorität, die kein Text späterer Kirchenleiter mehr für sich in Anspruch nehmen konnte.[4] Zurecht schrieb deshalb der Neutestamentler Theodor Zahn: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[5] Lange bevor begrifflich von einem „Neuen Testament“ die Rede war und lange bevor über den endgültigen Kanonumfang entschieden wurde, stand somit der größte Teil des Neuen Testaments den frühen Christen bereits als Urkunde und Maßstab des Glaubens zur Verfügung, ohne dass dazu eine Synode tagen oder auf andere Weise um Entscheidungen gerungen werden musste.

Man kann Thorsten Dietz deshalb nicht zustimmen, wenn er äußert: Wir finden keinen Beleg dafür, dass sie [d.h. die Kirchenväter] die [Jesusworte oder Paulusworte] genau so als Fortsetzung des Alten Testaments empfinden“ (27:10) „In den ersten 80 bis 100 Jahren gibt’s diese ganze Kategorie Kanon, Heilige Schrift, Neues Testament nicht“ (56:25). Es stimmt zwar, dass der Begriff „Neues Testament“ erst später aufkam. Aber die Einordnung der Evangelien und der Apostelbriefe in die Kategorie „Heilige Schrift“ und die Unterscheidung dieser Schriften von allen anderen Texten (was ja die Basis des Kanongedankens darstellt) ist bereits ab dem ersten Jahrhundert zu beobachten[6] und letztlich schon im Neuen Testament selbst angelegt.[7] Das räumt auch Thorsten Dietz ein: „Man kann doch im Neuen Testament selbst schon eigentlich sehen, dass diese Schriften kanonischen Anspruch erheben.“ (18:25) Dietz belegt das durch die Ähnlichkeit des Beginns des Johannesevangeliums mit dem Beginn der Genesis, durch den autoritativen Selbstanspruch von Paulus sowie durch den Umstand, dass schon Paulus einem Jesuswort die gleiche Autorität gab wie der Tora.[8]

Umso mehr stellt sich die Frage: Warum hält Dietz denn dann die Sichtweise von der Selbstdurchsetzung der kanonischen Schriften für „irreführend“? Was wäre denn die Alternative? Das von Dietz vorgeschlagene „Ineinander“ von Textautorität, kirchlichem Lehramt und menschlichen Interessen kann in dieser frühen Phase noch nicht in Frage kommen. Es gab ja noch gar keine institutionalisierten kirchlichen Gremien, in denen etwas beschlossen oder mit menschlichen Machtmitteln durchgesetzt werden konnte. Andere Erklärungen für diesen historisch extrem ungewöhnlichen (und somit erklärungsbedürftigen) Vorgang der Herausbildung einer Sammlung autoritativer heiliger Schriften liefert Thorsten Dietz in seinem Vortrag nicht.

Das Ringen drehte sich eigentlich um die Ränder des Kanons

Auch das spätere Ringen zur endgültigen Definition des neutestamentlichen Kanons drehte sich nie um das Grundprinzip, dass es sich bei den authentischen apostolischen Texten um einzigartig autoritative Schriften handelt. Stattdessen ging es schon früh nur um zweifelhafte Wackelkandidaten, also um die Frage nach den Rändern des Kanons.

Diese Frage nach den Kanonrändern hat die Christenheit zu allen Zeiten beschäftigt. Sie war und ist in einigen Kirchen bis heute akut in Bezug auf die Apokryphen des Alten Testaments, die von manchen Kirchen anerkannt, von anderen abgelehnt werden. Und alle Kirchen leben zum Beispiel mit dem Problem, dass die Kanonizität des langen Endes des Markusevangeliums unklar ist.

Solche Unschärfen beim Kanonrand ändern aber nichts daran, dass die Kirche in Bezug auf den weitaus größten Teil der Heiligen Schrift von Beginn an einen großen Konsens hatte, der nicht aus Machtkämpfen, Vernünfteleien oder Synodenentscheidungen resultierte, sondern letztlich nur auf die Autorität der Texte und ihrer Autoren zurückgeführt werden kann. Unschärfen an den Kanonrändern ändern zudem überhaupt nichts am Konsens über das Grundprinzip, dass diesen Schriften eine unfehlbare Autorität zukommt. Auch Martin Luther hatte zwar Zweifel an der Kanonizität mancher Schriften. Aber er hat die volle Autorität der unzweifelhaft kanonischen Schriften nicht in Frage gestellt[9] sondern ausdrücklich dem Kirchenvater Augustinus zugestimmt, der von der Irrtumslosigkeit der kanonischen Schriften ausging.[10]

Aber was folgt für Thorsten Dietz nun aus seiner Darstellung der Geschichte der Kanonentstehung? Welche Konsequenzen zieht er für sein Bibelverständnis? Sein Vortrag wirft bei vier Themen grundlegende Fragen auf:

1. Ist die Bibel ein Maßstab des Glaubens?

Ein zentrales Thema der Reformation war das Ringen um den Status der Bibel. Für Martin Luther war allein die sich selbst auslegende Schrift die letzte Instanz, der sich alle anderen Instanzen unterordnen müssen („Sola Scriptura“). Die Kammer für Theologie der EKD schreibt dazu in ihrer Publikation „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49, Hervorhebung nachträglich).

Diese Formulierungen knüpfen an das Bibelverständnis der frühen Kirche an. Schon im zweiten Jahrhundert wurden die allgemein anerkannten apostolischen Schriften als Maßstab zur Prüfung anderer Lehren und Schriften verwendet. Irenäus hatte um 180 die „regula fidei“ (Regel oder Norm des Glaubens), die sich bei ihm schon weitestgehend mit dem später formulierten Apostolikum deckte, aus den apostolischen Schriften abgeleitet. In seinen Schriften gegen die Häresien (Irrlehren) zitierte er aus fast allen neutestamentlichen Büchern abgesehen von Philemon, 2. Petrus, 3. Johannes und Judas.[11]

Thorsten Dietz äußert hingegen: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ (1:09.30) Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (1:12.00)

Richtig ist natürlich: Auch mit einer völlig vertrauenswürdigen Bibel haben wir die „Wahrheit nicht in der Tasche“. Und tatsächlich gab und gibt es unter Christen immer wieder das Phänomen eines toxischen „Autoritarismus“, der Bibelstellen als Machtinstrument missbraucht. Die Kirchengeschichte kennt leider zahllose Beispiele, in denen viel zu schnell aufgrund einer speziellen Bibelauslegung eine andere Position als Irrlehre ausgegrenzt und die Christenheit damit unnötig gespalten wurde.

Trotzdem stellt sich bei diesem Zitat die Frage: Macht man denn die Bibel immer zum „Knüppel“, wenn man in ihr einen Maßstab sieht, den man so wie Irenäus auch zur Entlarvung falscher Lehren verwendet? Ist die Identifikation von falscher Lehre durch den Vergleich mit dem Maßstab der Lehre Jesu und der Apostel schon per se ein Ausdruck von „Autoritarismus“? Wurde denn die Warnung vor falscher Lehre nicht sowohl in der frühen Kirche als auch im Neuen Testament als wichtige Aufgabe kirchlicher Leiter angesehen?

Ja, es ist wichtig, vor vorschnellen und selbstherrlichen Irrlehrenjägern zu warnen. Aber angesichts der traurigen Tatsache, dass heute in der evangelischen Kirche[12] und bis tief in evangelikale Kreise hinein der öffentliche Hinweis auf falsche Lehre weitgehend zum Tabu geworden ist, wäre es ebenso wichtig gewesen, den dringend notwendigen und Orientierung gebenden Unterscheidungsdienst auf Basis des biblischen Maßstabs zu würdigen. Diese Würdigung fehlt leider im Vortrag von Thorsten Dietz.

2. Dürfen biblische Aussagen bezweifelt werden?

Thorsten Dietz unterstützt die Auffassung, dass Christen der Bibel „Autorität“ beimessen sollten. Aber was versteht er unter diesem Begriff? Dazu sagt er ab 1:15:20: „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“

Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30) Sollen wir die Briefe von Paulus also prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Und was machen wir dann mit Bibeltexten, die wir erst einmal überhaupt nicht als einleuchtend und ansprechend, geschweige denn als faszinierend empfinden?

Zur Verteidigung seiner Sichtweise einer guten Autorität, die sich primär aus einem spürbaren Informationsvorsprung nährt und sich selbst zur Diskussion stellt, verwendet Dietz ein Beispiel aus dem Bauwesen: „Man ist gut beraten, bei allerlei Baumaßnahmen und handwerklichen Dingen schon auch mehr auf die zu hören, die sich mit diesem Sachverhalt auskennen. Mehr als auf das eigene Bauchgefühl.“ (ab 1:16:35) Das ist wahr. Jeder Planer weiß, dass im Bau sämtliche sicherheitsrelevante Fragen zur Statik, zum Brandschutz, zum Arbeitsschutz usw. anhand von feststehenden Normen entschieden werden müssen, die gelten – auch dann, wenn Planer und Bauherren so manche Norm für wenig sinnvoll halten mögen. Das Beispiel, das Dietz verwendet, zeigt also eher das Gegenteil dessen, was Dietz sagen will: Auch in Alltagsfragen funktioniert unsere Gesellschaft eben gerade nicht so, dass Autorität immer diskutierbar ist und vom zustimmenden Empfinden der Menschen abhängt.

Entsprechend sind auch die Aussagen in den Paulusbriefen keinesfalls so gemeint, dass ihre Autorität von unserem Empfinden abhängt und diskutiert werden können. Das räumt Thorsten Dietz in seinem Vortrag zuvor auch selbst ein: „Paulus schreibt ja nicht so seine Briefe, dass er sagt: Hier, ich möchte mal ein Gesprächsgang anstoßen, ich habe ein paar Ideen. Können wir uns vielleicht drüber austauschen. Ich lerne auch gern dazu, bin auch gern bereit, mich auf völlig neue Ideen bringen zu lassen, wie alles gewesen sein könnte. Also nehmt das jetzt nicht zu ernst, was ich schreibe. Es sind Vorschläge oder so. Macht er ja nicht.“ (ab 0:19:05) In der Tat. Wenn es um das Evangelium geht, kannte Paulus keine Kompromisse. Da zögerte er auch nicht, Petrus öffentlich anzugreifen (Gal.2,11ff.). Drastisch formulierte er im Brief an die Galater: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ (Gal.1,9). Von Diskussionsbereitschaft keine Spur. Dazu bestätigt Petrus in 2. Petr. 3,16: Auch wenn in den Paulusbriefen manche Dinge schwer zu verstehen sind (und dem Leser somit zunächst einmal gar nicht einleuchten wollen), ist es keinesfalls erlaubt, an diesen Aussagen herumzuschrauben. Eine Wertschätzung von Zweifeln an Aussagen der Schrift und der Apostel findet sich weder in der Bibel noch in der frühen Kirche.

Trotzdem assoziiert Thorsten Dietz eine Infragestellung von Zweifeln eher mit einem autoritären Leitungsstil: „Also wenn du Zweifel hast, darfst Du die äußern, kannst du zu deinem Seelsorger gehen ist okay. Wir wollen da menschenfreundlich mit umgehen. Aber eigentlich ist das Ziel immer den Zweifel wieder loszuwerden. Der Zweifel ist eigentlich schlecht. Der Zweifel ist eigentlich gefährlich. Versuch es loszuwerden. Sprich mit Seelsorgern. Der hört dir liebevoll zu. Aber eigentlich, weil die Texte inspiriert sind, sind sie wahr. Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss. Alles andere braucht kein Mensch.“ (ab 1:18:20) Ist bleibender Zweifel an biblischen Aussagen in den Augen von Thorsten Dietz also etwas Normales und Gutes, das nicht in Frage gestellt werden sollte?

Richtig ist natürlich, dass wir immer bedenken müssen, dass die Bibel ausgelegt werden muss. Da unsere Auslegung niemals fehlerfrei ist, kann unser Verständnis und unsere Auslegung biblischer Aussagen natürlich auch bezweifelt werden. Kein sorgfältiger Theologe oder Seelsorger dürfte deshalb einem zweifelnden Bibelleser einfach so entgegenschleudern: „Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss.“ Gerade der Zweifel an einer Interpretation biblischer Aussagen kann ja oft auch dazu führen, dass man mehr darüber lernt, wie diese Bibelstelle im gesamtbiblischen Kontext richtig auszulegen ist. Zudem hat Thorsten Dietz natürlich vollkommen recht, dass biblische Autorität nicht klein, unmündig und hörig machen darf, sondern zu Mündigkeit, Eigenständigkeit und Reife führen muss. Paulus will, dass der Glaube der Epheser zur vollen Reife gelangt“, damit sie nicht länger wie Kinder sind (Eph. 4, 13+14). Das steht aber für Paulus ganz offenkundig gerade nicht im Widerspruch zu einem apostolischen und biblischen Offenbarungs- und Wahrheitsanspruch, der von den Hörern letztlich Glauben und Vertrauen statt Zweifel und Widerspruch erwartet. Sowohl die innerbiblische wie auch die urkirchliche Sichtweise steht somit in einem deutlichen Gegensatz zu einer Sichtweise, nach der die Autorität gründlich untersuchter und sorgfältig ausgelegter biblischer Texte eher vom Empfinden des Lesers abhängt und bleibend bezweifelt werden könnte.

3. Bezieht sich die Inspiration der Bibel primär auf die Rezeption statt auf die Entstehung ihrer Texte?

Die Autorität der biblischen Texte hängt eng mit der Frage nach ihrer Inspiriertheit zusammen. Wer könnte den biblischen Texten mit Vorbehalten oder Zweifeln entgegentreten, wenn die Inspiration der Bibel bedeutet, dass hier letztlich Gott selbst spricht?

Thorsten Dietz stellt dazu einerseits klar: Für die frühe Kirche waren die kanonischen Texte auch inspirierte Texte: „Bibel unterscheidet sich von nicht in Bibel wie Inspiration von nicht Inspiration.“ (59:10) Jedoch meint er zugleich, dass der Begriff „Inspiration“ damals nur als „ein weiterer Terminus“ (59:55) für die Gültigkeit eines Textes verwendet worden sei (er habe damals z.B. auch für die Übersetzung der Septuaginta gegolten). Die Inspiriertheit eines Textes habe man ja auch nicht „messen“ können. Zugleich wendet er sich mit scharfen Worten gegen ein aus seiner Sicht völlig falsches Inspirationsverständnis (ab 1:18.05): Ein falsches Verständnis von Inspiration ist die Inspiriertheit als feststehende Tatsache einer bestimmten Gruppe von Schriften, wo man sagt: Die sind von Gott inspiriert. Das heißt, die sind absolut wahr. Das heißt, du musst das alles glauben. Das heißt, du darfst nicht nachdenken dabei großartig. Du darfst das nicht verstehen wollen, Du lieber Himmel! Darfst auch eigentlich nicht Zweifel haben.Ein solches Verständnis von Inspiriertheit ist durchtränkt von einem autoritären Geist, der menschenfeindlich und freiheitszerstörend sein kann und ist so dem Geist Gottes, wie ihn die Bibel uns vor Augen malt, schlicht nicht gemäß.“

Aber hätten nicht auch Jesus und Paulus einem Inspirationsverständnis zugestimmt, das beinhaltet, dass die Schriften „absolut wahr“ sind und dass wir das „alles glauben“ sollen? Schließlich sagt Thorsten Dietz selbst: „Paulus ist klar: Die Texte des Alten Testaments, die Heilige Schrift, klar, das ist von Gott, das sind Gottes Worte. Das ist Gottes Reden. Das ist aus dem Geist Gottes.“ (ab 01:20:29) So ist es. Und ganz eindeutig galt für die Autoren des Neuen Testaments: Wenn Gott spricht, dann ist es wahr. Und auf Gottes Worte kann nur Glaube und Gehorsam die angemessene Reaktion sein.

Zudem stellt sich die Frage: Warum sollte ein solches Grundvertrauen denn bedeuten, dass man über den Text nicht richtig nachdenken, ihn nicht verstehen wollen und keine Zweifel haben darf? Ist nicht vielmehr genau das Gegenteil wahr? Gerade, wenn man die Bibel für absolut wahr hält, muss doch der Wunsch besonders groß sein, intensiv über den Text nachzudenken und immer wieder daran zu zweifeln, ob man ihn bisher auch richtig verstanden hat. Warum also verknüpft Dietz hier das in weiten Teilen der Kirchengeschichte ganz selbstverständliche Vertrauen auf die völlige Wahrheit und Glaub-Würdigkeit der inspirierten Schrift mit einer plumpen Denkfeindlichkeit?

Thorsten Dietz fährt fort mit den Worten: „Ein solches Verständnis von Inspiriertheit beschreiben die biblischen Texte schlicht auch gar nicht. Es gibt ja letztlich nur diesen einen Vers, wo es von der Schrift heißt, sie sei theopneustos, gottdurchgeistet, gottbegeistet [gemeint ist 2. Tim. 3,16]. Gemeint ist hier völlig eindeutig die Septuaginta, ist das Alte Testament, von der wird es gesagt, wie es im hellenistischen Judentum üblich war. Das ist an dieser einen Stelle so, ansonsten heißt es von den Propheten: Sie haben getrieben vom Heiligen Geist geredet, was auch von David…, also da gibt’s mehr Stellen, das ist völlig klar. Inspiriertheit der Texte, aber letztlich dieser eine einzige Vers, aus dem in manchen Teilen des Christentums ein völlig maßloser Bibelglaube konzipiert worden ist, der als solcher gar nicht biblisch ist.“ (ab 1:19:15)

Hier stellt sich die Frage, auf welches Inspirationsverständnis Dietz mit dieser Kritik denn eigentlich zielt? Ist es denn wirklich ein „völlig maßloser“ und nur auf einem einzigen Vers basierender Bibelglaube, wenn man von der völligen Wahrheit und Glaubwürdigkeit der biblischen Texte ausgeht? Thorsten Dietz macht hier selbst klar, dass es ja noch zahllose weitere Bibelstellen gibt, die deutlich machen, dass Jesus und die Autoren des NT (genau wie die Kirchenväter) ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass in den biblischen Texten Gott bzw. der Heilige Geist selbst redet. Schließlich haben sie die Wendung „die Schrift sagt“ und „Gott sagt“ letztlich als austauschbare Autoritätsformel benutzt. Es gibt zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus, die Apostel oder die Kirchenväter von einem Kanon im Kanon ausgegangen wären oder dass sie auf eine sonstige Weise zwischen Gottes- und Menschenwort in den biblischen Texten unterschieden hätten. Insofern steht 2. Timotheus 3,16 im Neuen Testament keineswegs alleine da, sondern fügt sich vielmehr nahtlos ein in ein biblisch breit bezeugtes Bibel- und Inspirationsverständnis. Was wäre also „maßlos“ daran, als Nachfolger Jesu und als Schüler der Apostel von der völligen Wahrheit und Glaub-Würdigkeit dieser Texte auszugehen? Und was wäre „maßlos“ daran, Menschen dabei helfen zu wollen, diesen Worten wirklich zu vertrauen, statt beim Zweifel stehen zu bleiben?

Nach seiner Zurückweisung einer aus seiner Sicht falschen Inspirationslehre spricht Thorsten Dietz über sein eigenes Verständnis von Inspiration. Dabei bezieht er die Inspiration der biblischen Texte weniger auf ihre Entstehung, sondern vielmehr auf ihre Rezeption (ab 1:22:15): „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird. Dieses Verständnis von Inspiration ist sehr wesentlich, sehr wertvoll, wird oft erstickt durch ein Inspiriertheitsdogma, was in dieser Form gar nicht biblisch ist.“

Richtig ist: Natürlich ist Inspiration keine „mechanische Theorie“. Christen glauben nicht, dass die biblischen Autoren beim Schreiben zu roboterhaften Marionetten wurden. Sie haben ganz offenkundig ihren persönlichen Stil und ihre Perspektive eingebracht. Die Bibel ist somit auch ganz Menschenwort. Die Art und Weise, wie der Heilige Geist dafür gesorgt hat, dass die Worte der Apostel und Propheten trotzdem zugleich auch zu Gottesworten wurden, bleibt wohl ein Geheimnis. Das ändert nichts daran, dass gemäß dem biblischen Selbstzeugnis der Heilige Geist gleichermaßen für das Verständnis UND für die Entstehung der biblischen Texte eine entscheidende Rolle spielt. Eine Verengung des Geisteswirkens auf die Rezeption der biblischen Texte[13] würde sowohl dem innerbiblischen wie auch dem historischen und dem reformatorischen Bibelverständnis vollständig entgegenstehen.

4. Ist die Bibel fehlerhaft?

Wenn die ganze Bibel in ihrer Entstehung von Gottes Geist inspiriert ist, dann müsste sie natürlich auch eine Einheit bilden und als unfehlbar angesehen werden. Gott macht schließlich keine Fehler. Und er widerspricht sich nicht selbst. An dieser Sichtweise der Unfehlbarkeit der Schrift arbeitet sich Thorsten Dietz jedoch immer wieder ab. Von einer unfehlbaren Bibel auszugehen, hält er für „irreführend (15:15 / 16:40). Wer die Unfehlbarkeit der Schrift für wichtig hält, der spiele die Bibel gegen Christus aus (1:05:30)[14]. Die Annahme, dass man eine unfehlbare Bibel brauche, um von ihr zu Jesus geführt zu werden, sei auch „nicht das, was die frühen Christen gemacht haben.“ (1:05:50) Diese hätten ja vielmehr Christus als „Maßstab und Prinzip der Bibel“ gesehen. Auch Paulus habe die Schriften immer von Jesus her und auf ihn hin ausgelegt. Die Annahme der Unfehlbarkeit der Schrift sei hingegen der Versuch, „Jesus in den Griff zu kriegen.“ (1:06:28)

Damit baut Thorsten Dietz aber einen Scheinwiderspruch auf. Jesus als Mitte und Auslegungs­richtschnur der Bibel steht ja in keinem Widerspruch zu der Annahme, dass die Bibel über eine unfehlbare Autorität verfügt. Im Gegenteil: Ohne die verlässlichen kanonischen Aufzeichnungen über Jesus hätten wir ja gar keine Möglichkeit, die Schrift von Jesus her auszulegen.

Der Vorwurf, man wolle mit der Unfehlbarkeit der Schrift Jesus „in den Griff bekommen“, ist dementsprechend ein Strohmann. Auch die meisten konservativen Theologen sind sich natürlich bewusst, dass man in Bezug auf Jesus, seine Lehre, das Ausmaß seiner Liebe und die Größe seines Erlösungswerks niemals auslernt. Auch mit einer unfehlbaren Bibel bekommen wir Jesus natürlich nicht „in den Griff“. Jesus ist Wahrheit in Person. Als Christen hoffen wir darauf, dass diese Wahrheit uns immer mehr in den Griff bekommt, nicht umgekehrt. Aber gerade dafür ist es doch von entscheidender Bedeutung, dass sein in der Bibel dokumentiertes Handeln und Reden unsere Fehler kritisieren und korrigieren darf, statt dass wir umgekehrt der Bibel Fehler unterstellen.

Nun ist die Frage nach der Unfehlbarkeit der Bibel natürlich komplex. Sie erfordert eine differenzierte Antwort, weil genau definiert werden muss, in welcher Hinsicht die biblischen Texte denn fehlerlos sein können.[15] Fakt ist jedoch: Auch wenn die Bibel Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ selbst nicht gebraucht, so spricht sie doch in Bezug auf ihre heiligen Schriften erst recht nie von Fehlern oder dergleichen. Auf Basis einer sauberen Definition lässt sich sehr wohl ein biblischer Selbstanspruch auf Unfehlbarkeit nachweisen. So wird den Schriften des Alten Testaments im Neuen Testament durchgängig eine uneingeschränkte Autorität beigemessen. Für die Autoren des Neuen Testaments galt das Prinzip: Wenn die Schrift etwas sagt, spricht Gott! In den Schriften reden Menschen getrieben vom Heiligen Geist (2.Petr.1,20+21, Mark.12,36). Paulus sah aber auch seine eigene Botschaft als von Gott offenbart und als Gottes Wort an (Galater 1,11-12; 1. Thessalonischer 2, 13). An zwei Stellen werden biblische Texte sogar unter ein gerichtsbelegtes Veränderungsverbot gestellt, dabei stellt Petrus die Briefe des Paulus den „Schriften“ gleich (2. Petrus 3, 15-16, Offenbarung 22, 18-19).[16] Es ist also durchaus gerechtfertigt, die Irrtumslosigkeit des Neuen Testaments auch als ein Konzept des Neuen Testaments zu bezeichnen.[17]

Fazit: Eine fehlerhafte Bibel verliert ihre Orientierung gebende Kraft

Der Vortrag hinterlässt ein gemischtes Bild. Es gibt gute Passagen, die neben interessanten Informationen auch zurecht missbräuchliche Fehlhaltungen ansprechen, die es unter Christen leider tatsächlich gibt. Problematisch ist dabei jedoch oft die unsaubere Definition, welches Spektrum an Positionen von der Kritik denn eigentlich ins Visier genommen werden. So kann leider der Eindruck entstehen, dass der Glaube an eine Fehlerlosigkeit und völlige Vertrauenswürdigkeit der Bibel per se autoritär, denk- und vernunftfeindlich sein könne.

Welches Bibel- und Inspirationsverständnis Thorsten Dietz selbst im Einzelnen vertritt, wird oft nicht abschließend klar. Hält Thorsten Dietz daran fest, dass die Bibel eine Offenbarung des dreieinen Gottes ist (und nicht nur bezeugt) und damit auch als verbindlicher Maßstab („Norma normans“) des Glaubens angesehen werden muss, wie es z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt?[18] Einige Passagen in diesem Vortrag können den Eindruck erwecken, dass Dietz ein solches Bekenntnis nicht nur in seinen extremen Ausformungen verwirft, sondern grundsätzlich in Frage stellt.

Ganz eindeutig ist hingegen: Thorsten Dietz wendet sich gegen den Gedanken an eine Unfehlbarkeit im Sinne einer Fehlerlosigkeit der Bibel.[19] Und in der Praxis zeigt sich oft: Wo entgegen dem biblischen Vorbild die Rede von Fehlern in der Bibel ermöglicht wird, da öffnet sich die Tür zu einem sachkritischen Umgang mit der Bibel, in dem irgendwann auch durchgängige, klare und zentrale Aussagen des christlichen Glaubens bezweifelt und kritisiert werden können. So fällt bei Thorsten Dietz auf: Er kann sich trotz der durchgängigen biblischen Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualpraxis rückhaltlos hinter die Position Martin Grabes stellen, dass gleichgeschlechtliche Paare getraut werden sollen.[20] In Folge 10 seines viel beachteten Podcasts „Das Wort und das Fleisch“ über „Die neuen Evangelikalen“ stellt er einzig die Postevangelikale Rachel Held Evans als uneingeschränkt vorbildlich dar.[21] In einem Worthaus-Vortrag distanziert er sich deutlich erkennbar vom stellvertretenden Sühneopfer.[22] Und er kann zu einem Buch mit einem äußerst liberalen Bibelverständnis[23] ein uneingeschränkt begeistertes Vorwort schreiben.[24] Diese Beispiele verdeutlichen: Auch ein konservativ klingendes Bibelverständnis, das von der Autorität und Inspiration der Bibel redet, kann in der Praxis zu fundamental anderen exegetischen Ergebnissen führen, wenn es die Kritisierbarkeit der als fehlerhaft angesehenen biblischen Texte ermöglicht.[25]

Die Bibelfrage stand nicht umsonst im Zentrum der Reformation. Sie steht erkennbar auch heute im Zentrum der wachsenden Spannungen unter Christen. Gerade um der Einheit willen ist es deshalb so wichtig, dass verantwortliche christliche Leiter das Thema Bibelverständnis nicht zur Randfrage erklären, sondern sich im Gegenteil intensiv damit auseinandersetzen, welches Bibelverständnis in ihrem Umfeld vertreten wird und welche praktischen exegetischen Konsequenzen es hat.


[1] Thorsten Dietz: Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons | 9.11.2, Worthaus Pop-Up 2019 – Heidelberg: 30.12.2019, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/entstehung-und-autoritaet-des-neutestamentlichen-kanons-9-11-2/

[2] So schreibt Polykarp: „Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (Polykarp 12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26.

[3] In seinem Brief an die Trallianer schreibt Ignatius: Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

[4] „Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (Polykarp 3,2)

[5] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[6] Bemerkenswert ist dazu z.B. ein gemischtes Bibelzitat im 1. Clemensbrief (ca. 98 n.Chr.), das eingeleitet wird mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens (etwa in den Jahren 91-101 Bischof in Rom) die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

[7] Thorsten Dietz erwähnt in diesem Zusammenhang die Bemerkung in 2. Petrus 3, 16, dass in den Paulusbriefen einiges schwer zu verstehen ist, „was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“ Dietz kommentiert: „Der eigentliche Punkt ist ja hier: Die werden verdreht, genauso wie andere Schriften. Das ist schon eine sehr auf Wohlwollen setzende Exegese zu sagen: Da sieht man ja, dass hier die Paulusbriefe längst auf der Ebene der Tora gehandhabt werden.“ (23:30) M.E. entkräftet Dietz damit jedoch die von Petrus intendierte Gleichsetzung der Paulusbriefe mit der Tora nicht. Insbesondere durch die Bemerkung „zu ihrem eigenen Verderben“ stellt Petrus ja klar, dass das Verdrehen der Paulusbriefe genauso Gottes Gericht zur Folge hat wie das Verdrehen der Tora.

[8] In 1. Timotheus 5, 18 zitiert Paulus nach der Autoritätsformel „Die Schrift sagt“ zunächst aus 5. Mose 25,4 und dann ein Jesuswort aus Lukas 10,7. Thorsten Dietz sagt also zurecht: „Offensichtlich ist das für Paulus so: Tora und Jesus, das sind autoritative Setzungen Gottes, Jesu, die einfach gelten.“ (20:10)

[9] Siehe dazu Clemens Hägele: „Mit Christus gegen die Apostel? Beobachtungen zur Deutung zweier Lutherworte“. Erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 10 /2016

[10] So schrieb Luther in seiner „Assertio“: „Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Aus: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung (wie Anm. 83), S. 26 f.

[11] Siehe dazu Christian Haslebacher 2021 in: https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/

[12] Was leider noch lange nicht heißt, dass die evangelische Kirche heute keine „Knüppel“ gegen ihr nicht genehme Lehre mehr auspacken würde. Wenn es zum Beispiel um die Lehre geht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht gesegnet oder getraut werden können oder dass die Bibel nur zwei biologische Geschlechter kennt, dann zeigt sich leider immer wieder, dass die zur Schau getragene Toleranz rasch enden kann. So schreibt Martin Grabe: „In vielen evangelischen Landeskirchen ist die vollständige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit heterosexuellen inzwischen vollzogen. Pfarrer, die aufgrund ihres Gewissens immer noch nicht mitziehen, werden sanktioniert.“ (In: „Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama“, Francke 2020, S. 17)

[13] Ein solches Inspirationsverständnis würde sich jedoch gut decken mit einem Bibelverständnis, wie es beispielsweise der Theologe Udo Schnelle formuliert: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[14] „Das sagen manchmal auch sehr konservative Christen. Die sagen: Man darf nicht Jesus gegen die Bibel ausspielen. Es gibt konservative Christen, die das so sagen, es aber machen. Weil sie sagen: … Jesus ist natürlich der wichtigste Inhalt der Bibel. Ist ja klar. Aber man muss die Bibel anerkennen. Und nur wer die Bibel als unfehlbar anerkennt, der hat überhaupt eine Basis, auch zum biblischen Christus zu kommen. Naja, für mich ist das leider auch eine Weise, Jesus gegen die Bibel auszuspielen, nur umgekehrt. Denn so wird die Bibel ja letztlich Jesus übergeordnet in einer Weise, dass man sagt: Du musst zunächst einmal ein bestimmtes Bibelverständnis anerkennen, du musst die Bibel als unfehlbar und irrtumslos und absolut anerkennen, dann wirst du von ihr auch zu Jesus geführt.“ (ab 1:04:40)

[15] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ AiGG-Blog 2018 blog.aigg.de/?p=4212

[16] Siehe dazu Markus Till: „Das biblische Bibelverständnis“, AiGG-Blog 2021 blog.aigg.de/?p=5853

[17] Empfohlen sei dazu z.B. Armin D. Baum: „Is new testament inerrancy a new testament concept? A traditional and therefore open minded answer“ In: JETS 57/2 (2014) 265-80; online unter: www.etsjets.org/files/JETS-PDFs/57/57-2/JETS_57-2_265-80_Baum.pdf

[18] „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

[19] Das erinnert an die jüngst veröffentlichte Erklärung zum Schriftverständnis der evangelischen Hochschule Tabor, in der Adolf Schlatter zitiert wird mit den Worten: „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, dass er vor uns den Beweis führt, dass er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, dass er Menschen so mit sich verbindet, dass sie als Menschen sein Wort sagen […] Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, dass sie uns zu Gott beruft.“ In: „Die Bibel verstehen – der Schrift vertrauen – mit Christus leben“, Erklärung zum Schriftverständnis der ev. Hochschule Tabor vom 09.08.2021, https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/die_bibel_verstehen_-_der_schrift_vertrauen_-_mit_christus_leben.pdf

[20] Am 16.07.20 würdigte Thorsten Dietz auf Facebook gemeinsam mit Michael Diener das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube – ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe mit den Worten: „Das Buch von Martin Grabe, dem Vorsitzenden der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, ist eine sehr persönliche und erfahrungsgesättigte Darstellung dessen, was schwule und lesbische Gläubige in evangelikalen Kreisen erlebt und erlitten haben. Und er beschreibt den langen Weg, den es gebraucht hat, dass er am Ende selbst sagen kann. “Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen. (S. 76)”

[21] Das Bild der (leider inzwischen verstorbenen) US-Amerikanerin Rachel Held Evans ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge (wort-und-fleisch.de/die-neuen-evangelikalen/). Eine ausführliche Darstellung ihrer theologischen Positionen und ihres Bibelverständnisses liefern die Artikel „Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5447) sowie „Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?“ (blog.aigg.de/?p=5460) von Markus bzw. Martin Till im AiGG-Blog.

[22] Siehe dazu der Artikel „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“ in GuDh 1/2020, in dem auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ besprochen wird.

[23] Sein Bibelverständnis erläutert der FeG-Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“ (Neukirchener, 2021) wie folgt: „Warum entstehen überhaupt Bibeltexte? Ich stelle mir das so vor: Menschen machen Erfahrungen. … Irgendwann beginnen sie, über all das nachzudenken. … Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. … Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[24] Das Vorwort von Thorsten Dietz zum Buch „Wenn Gott reklamiert“ kann nachgelesen werden in der online verfügbaren Leseprobe unter www.scm-shop.de/media/import/mediafiles/PDF/156757000_Leseprobe.pdf

[25] Siehe dazu Markus Till: „Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen“, AiGG Blog 2021, blog.aigg.de/?p=5749

Keine „Schöpfung“ im Buch „glauben lieben hoffen“

Ein Gastkommentar von Dr. Reinhard Junker

Das im Juli 2021 erschienene Werk „glauben lieben hoffen“ – eine Sammlung von Antworten auf 103 Grundfragen zum christlichen Glauben – enthält einige Abschnitte mit Bezug zum Thema „Schöpfung“, hauptsächlich in den Kapiteln 9 und 10. Dabei geht es um folgende Fragen:

  • „Wie verträgt sich der Glaube an den Schöpfer mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen?“
  • „Wie kann aus Adam und Eva die ganze Menschheit entstanden sein?“

Dieser Beitrag bringt eine Analyse der Ausführungen dieser beiden Kapitel und soll Hilfestellungen geben, wie man sachgemäß zu den angesprochenen Punkten argumentieren kann.

Zu Kapitel 9 „Wie verträgt sich der Glaube an den Schöpfer mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen?“

Überraschenderweise geht es in diesem Kapitel nur am Rande um die in der Überschrift aufgeworfene Frage, sondern um das Alter der Schöpfung, der Erde, des Lebens und des Menschen. Diese Frage ist sicherlich wichtig und anspruchsvoll, wenn man gemäß den biblischen Texten und biblischen Zusammenhängen von einer jungen Schöpfung ausgeht.[1] Volkmar Hamp, der Autor dieses Kapitels, geht auf diese Frage aber nicht wirklich ein. Stattdessen setzt er die naturalistische Deutung der Naturgeschichte als wahr voraus[2] und definiert davon ausgehend neu, was der Glaube an einen Schöpfer in unserer Zeit zu bedeuten hat.

Volkmar Hamp weist zunächst darauf hin, dass man in einen Konflikt mit heutigen Vorstellungen von der Entstehung der Welt gerät, wenn man die Genesistexte als historische Tatsachenberichte versteht. Dazu gibt er zu bedenken, dass der Kreationismus im 19. Jahrhundert als Widerstandsbewegung gegen die Evolutionstheorie entstanden sei (was zeitlich allerdings nicht stimmt) und behauptet, der Kreationismus „definiere“ sich heute vor allem über den „Kampf gegen die moderne Naturwissenschaft“.

Ich beschäftige mich seit meiner Bekehrung zu Jesus Christus vor 43 Jahren (damals war ich im 4. Semester des Biologiestudiums) mit dem Thema „Schöpfung und Evolution“ und habe ungezählte Bücher und Beiträge dazu gelesen, aber es ist mir bisher nie untergekommen, dass Christen, die eine direkte Schöpfung unmittelbar durch Gottes Wort vertreten oder eine allgemeine Evolution der Lebewesen nicht für eine Tatsache halten, irgendwie gegen die Naturwissenschaft kämpfen würden oder sich gar darüber definieren würden. Es dürfte schwer fallen, für diese Behauptung eine Quelle zu finden. Es ist nichts anderes als üble Nachrede, wie sie vor allem Hansjörg Hemminger wiederholt sinngemäß in seinen Anti-Kreationismus-Schriften unters Volk gebracht hat.

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall – das wurde oft gesagt, begründet und publiziert: Naturwissenschaft ist eines der Mittel, um überhaupt Indizien für einen Schöpfer zu finden. Zweifellos findet man solche Indizien auch ohne Naturwissenschaft (vgl. Röm 1,20ff.), aber durch naturwissenschaftliche Forschung findet man viel mehr und detailliertere davon. Die Kreationisten, die sich angeblich dem Kampf gegen die moderne Naturwissenschaft verschrieben haben, sind mit  Freude Naturwissenschaftler, ganz im Sinne von Psalm 111,2: „Groß sind die Werke des HERRN; wer sie erforscht, der hat Freude daran.“ Einer der Mitarbeiter der Studiengemeinschaft Wort und Wissen, beendet seine Vorträge oft mit diesem Vers und mit dem Satz: „Danke Gott für die Wissenschaft.“ Ohne Naturwissenschaft wüssten wir viel weniger über die großartige und weisheitsvolle Schöpfung. Naturwissenschaftler decken laufend auf, was der Prophet Jeremia bezeugt: „Er ist es, der die Erde gemacht hat durch seine Kraft, der den Erdkreis gegründet durch seine Weisheit und den Himmel ausgespannt durch seine Einsicht“ (Jer 10,12). Das neue Buch „Schöpfung und Evolution. Ein klarer Fall!?[3] bringt dazu anschauliche und gut verständliche Beispiele.[4]

Beeindruckende Schöpfungsindizien gibt es auch in der unbelebten Welt. Ein Autorenteam hat dazu kürzlich ein allgemeinverständliches Buch verfasst: „Das geplante Universum. Wie die Wissenschaft auf Gott hindeutet“.[5]

Er darf niemals fehlen: Der „Lückenbüßergott“.

Im Weiteren spricht der Autor den sogenannten „Lückenbüßergott“ an. Wenn sich die Theologie auf Weltbilddiskussionen einlasse, könne sie am Ende nur verlieren. Denn mit jeder historischen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die ohne Gott auskommt, werde der Raum kleiner, für den Gott noch zuständig ist. Gott werde auf diese Weise zu einem „Lückenbüßergott“, der nur noch die Leerstellen in einem ansonsten in sich geschlossenen, rein mechanistischen Weltbild füllt (S. 32).

Das Lückenbüßer-Argument wird unablässig vorgebracht und es sitzt fest in vielen Köpfen. Was kann man dazu sagen?

Denken wir zunächst einmal im Sinne des Arguments weiter. Gott soll kein Lückenbüßer in einem „in sich geschlossenen, rein mechanistischen Weltbild“ sein, denn der Fortschritt der Forschung würde Gott aus diesen Lücken vertreiben. Offensichtlich besteht hier die Erwartung, dass die Wissenschaft es schaffen wird oder schaffen könnte, Gott aus allen Lücken zu vertreiben. Dann wäre Gott überflüssig. Gott wäre logischerweise auch dann überflüssig, wenn man ihn nicht für noch bestehende Lücken braucht. Ist es das, was der Autor sagen will? Anscheinend ja, denn der Autor schreibt in Kapitel 11: „Jedes Schöpfungswerk lässt sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen“ (S. 37). Und in Kapitel 13: Das Leben auf der Erde sei ein „vermutlich einzigartiger kosmischer Glücksfall“ (S. 42). Damit stellt sich aber die Frage, warum man überhaupt an einen Schöpfergott glauben sollte. Er ist doch „radikal ausgebootet“ worden, wie es der Verhaltensforscher Wolfgang Wickler einmal auf den Punkt gebracht hat.[6] Wenn der Autor meint, man könnte die biblischen Schöpfungsaussagen in das heutige naturalistische Weltbild einbauen, versucht er, Feuer und Wasser zu mischen. Und der Naturalismus ist das Wasser – Löschwasser! Die Behauptung, beides könne „unabhängig voneinander gelesen werden“, ist eine bloße Worthülse. Denn man muss doch fragen: Was tut eigentlich Gott als Schöpfer, wenn er überflüssig ist?

Aber das Lückenbüßer-Argument ist ohnehin fehlerhaft. Natürlich befindet sich Gott nicht in den Lücken eines wie auch immer gearteten Weltbilds oder gar in den Lücken unseres Wissens. Das sagt auch kein Kreationist und es folgt auch nicht aus ihrer Position. Das Lückenbüßer-Argument ist irreführend und arbeitet mit unzutreffenden Unterstellungen. An anderer Stelle bin ich sowohl in Bezug auf biologische als auch auf theologische Fragen ausführlich auf das Lückenbüßer-Argument eingegangen.[7] Das im Einzelnen hier auszuführen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; daher an dieser Stelle nur wenige Stichworte: Das Lückenbüßer-Argument setzt eine naturwissenschaftliche Erklärbarkeit bzw. eine natürliche Entstehung und Entwicklung der Lebewesen von vornherein und ohne stichhaltige Begründung voraus; d. h. die naturalistische Weltsicht wird ohne Beweis als wahr zugrunde gelegt. Unter dieser Prämisse wird jegliches Fehlen von Erklärungen als bloße „Lücken“ klein geredet, auch wenn es sich möglicherweise um grundsätzliche Defizite handelt, die durch weitere Forschung bestätigt werden. Das Fehlen einer Erklärung ist aber gar keine Lücke in irgendetwas, sondern ein Anlass dafür, es mit einer anders gearteten Erklärung als einer natürlichen Entstehungsweise zu versuchen. Vor allem aber sucht kein schöpfungsgläubiger Mensch Gottes Wirken in den „Lücken“ eines naturalistischen Weltbildes! Das ist ein bilderbuchmäßiger Strohmann. Vielmehr stehen sich zwei grundlegend verschiedene Erklärungsansätze gegenüber: Entstehung alleine durch natürliche Ursachen (naturalistischer Ansatz) oder Entstehung im Wesentlichen durch kreative Tätigkeit (Schöpfungs-Ansatz). Und in Bezug auf die Entstehung der Lebewesen (oder auch der physikalischen Welt) geht es darum, welcher Ansatz besser durch Indizien aus der Naturwissenschaft gestützt wird. Es ist eine Karikatur, den Schöpfungsansatz irgendwie in einen naturalistischen Ansatz einbauen zu wollen.

Dabei muss auch klar sein: Es geht hier nicht um Wissenslücken, sondern um zutreffende Erklärungen: Diese beiden Dinge werden beim Einsatz des Lückenbüßerarguments oft durcheinandergebracht. Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: Wissenslücken im Bereich der Natur werden durch Naturwissenschaft gefüllt und dadurch werden ggf. Indizien für einen Schöpfer gefunden.

Zu Kapitel 10 „Wie kann aus Adam und Eva die ganze Menschheit entstanden sein?“

Auch in diesem Kapitel passt die Überschrift kaum zum Inhalt. Denn die aufgeworfene Frage nach dem „Wie“ wird gar nicht behandelt. Dabei bietet das heutige genetische Wissen in Grundzügen durchaus Antworten auf diese Frage. Die Vielfalt innerhalb von Grundtypen[8] und entsprechend auch innerhalb der Menschheit kann auf der Basis bereits vorhandener Anlagen durchaus in wenigen Generationen ausgeprägt werden.[9] Diese Vielfalt muss nicht erst – wie im evolutionstheoretischen Rahmen – langwierig durch Darwin’sche Evolution (Mutation und deren zeitraubende Fixierung in der Population durch Selektion oder Gendrift) aufgebaut worden sein. In einem Schöpfungsrahmen gibt es hier kein grundsätzliches Problem bezüglich der Entstehung der Menschheit aus einem Paar bzw. der Noahfamilie.

Aber dies scheint den Autor von „Glauben lieben hoffen“ gar nicht zu interessieren, sondern er kommt stattdessen auf die biblische Sintflut zu sprechen. Geologische Befunde sprächen dagegen, dass die Menschheit von der Noahfamilie abstammt. Denn diese sprächen gegen eine weltweite Flut, ebenso wie physikalische Überlegungen. Hier gibt es – geowissenschaftliche Aspekte betreffend – tatsächlich schwerwiegende offene Fragen (zur Biologie s. o.). Der Autor kommt zu dem Schluss: „Wie auch immer: Weder Adam und Eva noch Noah und seine Familie sind historisch fassbare einzelne Menschen, auf die man die ganze Menschheit zurückführen könnte.“ Dieser Satz steht im Text hervorgehoben ohne jede Begründung. Irgendwann habe der Mensch festgestellt, dass er aus der „weitgehend unbewussten Einheit mit der Natur (und mit Gott) herausgefallen war und sich nun ‚jenseits von Eden‘ wiederfand“ (S. 35). Was soll hier „jenseits von Eden“ bedeuten, wenn es kein Eden und keinen Sündenfall gab? Dass der Mensch einerseits Geschöpf ist, andererseits Sünder geworden ist, der den Retter Jesus Christus braucht, geht völlig verloren. Die Aussage des Autors, dass die alten Geschichten, die nicht davon berichten, was wirklich geschehen ist, Hoffnung und Trost vermitteln sollen, ist hohl und hat keinerlei Fundierung. Der Autor meint, die Menschen hätten damals ihr „durch (Natur-)Katastrophen gefährdetes Dasein“ „reflektiert“. „Zugleich vergewisserten sie sich der Hoffnung, dass Gott sie durch alle Katastrophen hindurch bewahren und retten wird“ (S. 35). Reflexion und Selbstvergewisserung als Glaubensbasis? Wer soll hier was warum glauben? Was ist mit dem Anspruch der Heiligen Schrift, eine Offenbarung Gottes zu sein?

Wir können Jugendlichen, für die das Buch „glauben lieben hoffen“ gedacht ist, hier Besseres anbieten. Es gibt so viele Phänomene in der Natur, die förmlich nach einem Schöpfer schreien. Halten wir das den Jugendlichen vor Augen, damit sie das Schöpfersein Gottes ernst nehmen können und in ihrem Leben auch ganz real mit dem Wirken dieses Schöpfers rechnen.


[1] Hinweis auf https://www.wort-und-wissen.org/produkt/genesis-schoepfung-und-evolution/

[2] Er schreibt auf S. 37, dass jedes Schöpfungswerk sich auch ohne Gott als blindes Spiel von Zufall und Notwendigkeit begreifen lasse (s. u. im Text).

[3] https://www.wort-und-wissen.org/produkt/soe_klarer-fall/

[4] Das Buch ist laienfreundlich geschrieben. Die darin gemachten Aussagen sind durch aktuelle Fachliteratur belegt, was in einem ausführlichen Quellenteil am Schluss dokumentiert wird.

[5] https://www.wort-und-wissen.org/produkt/das-geplante-universum/

[6] Wolfgang Wickler: Der Schöpfer radikal ausgebootet. Bild der Wissenschaft 10/1987; Rezension des Buches „Der blinde Uhrmacher“ von Richard Dawkins.

[7] Aus biologischer Sicht: Das Design-Argument in der Biologie – ein Lückenbüßer? https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/a19.pdf; in überarbeiteter Form auch im Sammelband „Schöpfung ohne Schöpfer?“ (https://www.wort-und-wissen.org/produkt/schoepfung-ohne-schoepfer/)

Aus theologischer Sicht:  Das Design-Argument und der Bastler-Lückenbüßer-Gott:

https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/a07.pdf; in geringfügig überarbeiteter Form veröffentlicht auch im Sammelband „Genesis, Schöpfung und Evolution“ (https://www.wort-und-wissen.org/produkt/genesis-schoepfung-und-evolution/)

[8] Grundtypen sind Gruppen von biologischen Arten, die direkt oder indirekt miteinander kreuzbar sind. Dabei müssen die entstehenden Mischlinge nicht fortpflanzungsfähig sein, jedoch das Erbgut beider Elternarten ausprägen. Im Rahmen der biblischen Schöpfungslehre kann man Grundtypen als Abkömmlinge ursprünglich erschaffener Arten mit großem Variationspotential interpretieren.

[9] Wir wissen heute viel besser als noch vor ein paar Jahrzehnten, dass die Lebewesen ein enormes Potential an Variationsprogrammen besitzen. Zudem geht aus vielen Studien hervor, dass mit einem anfänglich großen Ausmaß an Mischerbigkeit und  anderen Formen präexistenter genetischer Vielfalt gerechnet werden kann. Näheres z. B. in: Crompton N (2019) Mendel’sche Artbildung und die Entstehung der Arten, Internetartikel, https://www.wort-und-wissen.org/wp-content/uploads/b-19-3_mendel.pdf

Der große Graben

In Matthäus 28, 20 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe.“ In diesem kurzen Satz stecken einige Aussagen, die zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehören:

  • Gott hat zu uns Menschen gesprochen und uns Gebote gegeben.
  • Gottes Worte sind so klar und verständlich, dass sie durch Lehre und Predigt weitergegeben werden können.
  • Dadurch werden wir Menschen vor die Entscheidung gestellt, ob wir tun wollen, was Gott sagt.

Soweit, so selbstverständlich – hätte ich bis vor einigen Jahren gedacht. Das ist es aber nicht. Eher im Gegenteil. Es erschüttert mich immer wieder, in welchem Umfang heutige Theologie diese zentrale christlich / jüdische Grundlage eines sich offenbarenden, redenden und sich verständlich machenden Gottes in den Wind schlägt. Das ging mir zuletzt so beim Studium des Buchs „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“, das der Theologieprofessor Jörg Lauster im Jahr 2008 verfasst hat. Ich habe dabei nicht den Eindruck, dass Prof. Lauster eine Randposition in der heutigen universitären Theologie einnimmt. Jedenfalls betont er selbst immer wieder, dass viele seiner Annahmen allgemeiner Konsens in der heutigen Theologie seien. Und er spricht selbst davon, dass es zwischen diesem Konsens und dem traditionellen reformatorischen Bibelverständnis einen großen, “garstigen Graben” gibt.

Dieser Diagnose kann ich mich nach der Lektüre des Buchs nur anschließen. Ich musste mich teilweise wirklich fragen: Kann man eine Theologie, die die oben genannten jüdisch/christlichen Grundlagen derart grundlegend verwirft, eigentlich noch als „christlich“ bezeichnen? Jedenfalls ärgert es mich zunehmend, wenn auch Evangelikale immer wieder äußern, konservative Christen würden durch ihre Debatten über theologische Fragen die Einheit zerstören. Tatsache ist: Die Einheit ist längst zerstört. Das liegt aber nicht daran, dass irgendwelche Konservative so dickköpfig und streitsüchtig sind. Das liegt vielmehr an einer Theologie, die nach eigener Selbstbekundung unüberbrückbare Gräben aufgerissen hat und die zugleich gegenüber Konservativen teils äußerst intolerant und herablassend auftritt – wie dieses Buch mir wieder gezeigt hat.

Ich bin mehr denn je überzeugt: Dieser große Graben verschwindet nicht, indem man ihn verharmlost, vernebelt oder totschweigt. Im Gegenteil: Wir Evangelikalen holen uns diesen großen Graben mitten in unsere Gemeinden, Gemeinschaften und Werke, wenn wir ihn nicht offen ansprechen.

Ich empfehle deshalb, das Buch von Jörg Lauster zu lesen, um einen Einblick in die Denkwelt vieler heutiger Theologen zu bekommen. Es hat nur 112 Seiten und ist auch für Laien weitgehend gut lesbar. Für alle, die nicht an das Buch herankommen (es ist aktuell leider nicht erhältlich) oder die sich nicht die Zeit dafür nehmen wollen, habe ich nachfolgend einige Zitate herausgeschrieben. Die farbig dargestellten kommentierenden Zwischenüberschriften stammen von mir.

Zitate aus Jörg Lauster: „Zwischen Entzauberung und Remythisierung“

Es gibt ein durchgängiges biblisches Zeugnis darüber, dass Gott zu den Menschen spricht und dass die biblischen Texte gemäß dem reformatorischen Verständnis das Reden Gottes wiedergeben:

S. 10: „Die gesamte Geschichte Gottes mit den Menschen ist nach alttestamentlicher Vorstellung maßgeblich davon bestimmt, dass Gott zu den Menschen und zu seinem Volk spricht. … Auf der Grundlage dieses biblischen Fundamentes ist in der christlichen Theologie die Vorstellung ausgebildet worden, dass Gott durch die Worte der Bibel zu Menschen spricht. Bei den Reformatoren tritt der Zusammenhang zwischen Wort Gottes und Bibel in besonderer Weise hervor.“

S. 31: „Die Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes und als heilige Schrift ist für das Christentum eine essentielle Aussage.“

S. 70: „Die eingangs erörterte Gleichsetzung der Bibel mit dem Wort Gottes und die Bezeichnung ihrer Bücher als heilige Schriften sind Bestandteil dieses protestantischen Bibeldogmas.“

S. 72: „Festzuhalten ist jedenfalls, dass das protestantische Bibeldogma fort lebt und dazu gehört entscheidend die Auffassung, dass die inhaltliche Ausrichtung der christlichen Religion und die begriffliche Ausgestaltung der Lehre in den biblischen Schriften ihren originären Ursprung und ihren gegenwärtigen Maßstab habe. … Die Bibel ist als göttliches Wort die letzte Lehrautorität.“

Nach der “Entzauberung” der Bibel ist es heute eine Selbstverständlichkeit, die Bibel nicht mehr als Gotteswort sondern als Menschenwort anzusehen:

S. 9: „»Wie bitte?« – So lautet die vermeintlich überrascht indignierte Antwort eines Journalisten auf die theologische Feststellung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist. Zugetragen hat sich dies bei einem Interview des Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, mit der Zeitschrift ‚Zeitzeichen‘. … Die Bestreitung, dass die Bibel nicht das Wort Gottes sei, vermag noch immer für Aufsehen zu sorgen’. Das ist theologisch erstaunlich, denn Steinacker kann sich in seinen Bemerkungen zum Schriftverständnis auf einen großen Konsens innerhalb der akademischen Theologie berufen. Die Bibel ist nicht mit dem Wort Gottes gleichzusetzen.“
(Vgl. dazu das zitierte Interview in: Zeitzeichen 11/2005, 39-42. Das Interview ist überschrieben mit »Die Bibel ist nicht Gottes Wort«.)

S. 13: „Die Bibelkritik macht auf Fehler und innere Widersprüche in der Bibel aufmerksam, welche die Vorstellung, Gott habe den Verfassern die biblischen Texte diktiert, zusammenbrechen lassen. … Es ist aber keineswegs allein das Aufkommen einer historischen Bibelkritik, die über die Erforschung der Entstehungsbedingungen der Bibel die Identität von Bibel und Gotteswort auflöst. Schwerer wiegt, dass in wesentlichen Teilen biblische Auffassungen mit dem modernen Weltbild in Konflikt geraten. … Die Entzauberung der Bibel als Wort Gottes ist ein Faktum der europäischen Religionsgeschichte in der Moderne. … Der Neuprotestantismus bricht mit der altprotestantischen Vorstellung, die Bibel mit dem Wort Gottes gleichzusetzen und versucht, die Bedeutung der Bibel auf dem Boden historischer Einsichten zu begründen. Das Wort Gottes wird so zum Wort von Menschen.“

Auch die Barth’sche Wort-Gottes-Theologie trennt zwischen Bibeltext und Wort Gottes, traut der Bibel aber zu, dass Gott durch sie zum Menschen spricht:

S. 16/17: „Die Bibel ist ein ganz und gar „menschliches Dokument“ und es sei, so hält Barth ausdrücklich fest, nicht nötig, „diese offene Türe […] immer wieder einzurennen“. … Die Schrift ist daher nicht Gottes Wort im Sinne eines Zustands, sie kann jedoch zum Wort Gottes werden. Diese Wortwerdung fasst Barth als das Ereignis einer Inspiration. … Darum ist das Wort Gottes ein Ereignis und nicht eine den biblischen Texten an sich schon zukommende Eigenschaft. … Barths Wort-Gottes-Theologie gründet darum in einem Gottesbegriff, der eine fulminante Remythisierung der Vorstellung vom redenden Gott darstellt. Gott spricht – und die Bibel ist die ‚Fortsetzung‘ dieses göttlichen Sprechens. … Die Wort-Gottes-Theologie bewahrt in diesem Sinne ein wichtiges Moment des biblischen Gottesbildes.“

Aber auch die Wort-Gottes-Theologie wird hart kritisiert als eitler, autoritärer Biblizismus und „infantile“, „abschreckende“, „mythologisch-magische Vorstellung eines redenden Gottes“, die mit modernem Denken nicht kompatibel ist und große Flurschäden hinterlassen hat:

S. 19: „Seit den 6oer Jahren schwindet der Einfluss der Wort-Gottes-Theologie. … Paul Tillich witterte … in Barths Theologie einen „neuorthodoxen Biblizismus“ … Diese argumentative Selbstabschließung trage, so Tillich, fundamentalistische Züge in sich.“

S. 20: „Wort-Gottes-Theologie kann so ein religiöses Herrschaftsinstrument werden, und die im Umgang mit der Bibel bisweilen unerträglich gekünstelten Eingeständnisse, man wolle allein dem Wort des Herrn dienen, gleichen Unterwerfungsgesten, hinter denen sich ein ungeheures Maß an Eitelkeit verbirgt.“

S. 21: „Identifiziert man so das göttliche Offenbarungshandeln mit dem Begriff des Wortes Gottes, so steht dahinter letztlich eine »mythologisch-magische« Vorstellung eines redenden Gottes.“

S. 22: „Die Wort-Gottes-Theologie hat in der theologischen Landschaft Flurschäden hinterlassen. … Die methodische Haltung, im wissenschaftlichen Argumentationsgang mit Gründen zu operieren, über deren Plausibilität dann selbst keine Rechenschaft mehr abgelegt werden darf und kann, ist jedoch wissenschaftlichem Denken ganz und gar fremd. … Die Remythisierung der Gottesvorstellung, das beharrliche Insistieren darauf, dass Gott redet, stellt eine geradezu gewaltsame Infantilisierung des Gottesbegriffs dar, die vielfach abschreckend und ausschließend wirken muss, weil sie keinerlei Anknüpfungspunkte an modernes kritisches Denken bereithält und darüber hinaus theologisch weit hinter das zurückfällt, was die christliche Tradition über Gott lehrt und bekennt.“

Die Bibel ist gemäß dem heutigen „Grundkonsens“ „durch und durch Menschenwerk“ und „Propaganda“ ohne Interesse für die tatsächliche Geschichte:

S. 23: „Überblickt man diese Folgeschäden der Wort-Gottes-Theologie, so gäbe es durchaus gute Gründe, den Begriff des Wortes Gottes theologisch ganz aufzugeben. Denn daraus gehen zahlreiche Missverständnisse hervor. Besonders deutlich wird dies in der Bezeichnung der Bibel als Wort Gottes. Sie im wörtlichen Sinne als Wort Gottes zu bezeichnen, hat von ihren nachweislichen Entstehungsbedingungen und ihrer religionsgeschichtlichen Verankerung her keinen Anhaltspunkt.“

S. 24: „Unabweisbar stellt sich heraus, dass die biblischen Schriften nicht die aufgezeichneten Worte eines redenden Gottes sind, sondern von Menschen erdachte, verfasste, überarbeitete Texte. … Doch von diesen Einzelfragen zu unterscheiden ist das, was sich in den alttestamentlichen und neutestamentlichen Einleitungswissenschaften als Grundkonsens etabliert hat. Demnach sind die biblischen Texte durch und durch Menschenwerk. Sie sind ganz eingebunden in ihre Zeit und werden in einem komplexen Überlieferungsprozess bei ihrer Weitergabe umgestaltet und fortgeschrieben. Die historisch-kritische Exegese … hat … damit unbestreitbar religiöse Gewissheiten und das Vertrauen in die Bibel erschüttert. … Die großen Geschichtswerke des Alten Testaments sind über Jahrhunderte fortgeschrieben worden, hinter den Prophetenbüchern lassen sich kaum noch konkrete Persönlichkeiten ausmachen, die Evangelien sind nicht von Augenzeugen des Lebens Jesu geschrieben, sondern mindestens eine Generation später und obendrein im Dienste einer Missionspropaganda, die an einer ‚historischen‘ Biographie Jesu gar kein Interesse hatte.“

S. 26: „Doch eines lässt die wissenschaftliche Betrachtung der Bibel ganz außer Zweifel: Sie ist nicht übernatürlich auf geheimnisvolle Weise entstanden. … Heilig kann kein Attribut sein, dass ihr als inhärente Eigenschaft anhaftet.“

An die Stelle der biblischen Heilsgeschichte tritt „Mythos“ und „Fiktion“:

S. 41: „Die biblischen Texte – das ist die unaufgebbare Einsicht der modernen Exegese – sind nicht in einem modernen Sinne als historische Quelle zu gebrauchen.“

S. 44: „Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen biblischen Texten nicht um historische Erzählungen, sondern um Mythen. … Der Mythos ‚antwortet‘ durch eine narrative und fiktive Verarbeitungsleistung darauf, wie Menschen die Wirklichkeit erfahren.“

S. 47: „Die Texte bilden daher nicht einfach historische Ereignisse der Vergangenheit fotografisch ab, sie malen vielmehr ein eigenes Bild der Person Jesu, aus dem seine Bedeutung für die Tradenten hervorgeht. … Es sind nicht die Ereignisse selbst, sondern die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse, die aus den Texten spricht. Dabei kommen wie schon im Alten Testament der Mythos und die Semiotisierung von Ereignissen zur Anwendung.“

S. 51: „Selbst der Mythos ist keine ‚Erfindung‘ ohne Anhaltspunkt, sondern eine Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrungen mit den Mitteln der Fiktion.“

Die biblischen Texte sind vielfältige „Deutungen religiöser Erfahrung“, „Dichtung“, „religiöse Literatur“, „existentiale Selbstauslegungen“, die das Lebensgefühl von Menschen widerspiegeln:

S. 38: „Die biblischen Texte sind ihrem Wesen nach Deutungen religiöser Erfahrung. In produktiver Anknüpfung an die kulturell vorgegebenen Deutungsmöglichkeiten ihrer Zeit interpretieren sie den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt der Menschen konkret als Gottesbegegnungen.“

S. 54: „Der als Gottesbegegnung gedeutete Einbruch von Transzendenz setzt eine Vielzahl von menschlichen Reaktionsmöglichkeiten frei. … Daraus ergibt sich notwendigerweise ihre Vielfalt. Es ist zudem damit zu rechnen, dass sich in der menschlichen Ausdrucksbildung Verzerrungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen einstellen.“

S. 40/41: „Die biblischen Texte räsonieren nicht über die Gottesbegegnung, sie erzählen sie. … Die Art der Erlebnisdeutung ist in den biblischen Texten eher mit der Dichtung als etwa mit einem philosophischen Zugang zu vergleichen. Mit gutem Recht lässt sich daher die deutende Wirklichkeitsverarbeitung der Bibel in ihrem ganzen Facettenreichtum als religiöse Literatur beschreiben.“

S. 41: „Die biblischen Schriften sind – um es fundamentaltheologisch zu formulieren – nicht Offenbarung an sich, sondern Deutungen von Ereignissen als Offenbarung.“

S. 87: „Die biblischen Sprachbilder symbolisieren Transzendenzerfahrungen, genauer, sie symbolisieren Gottesbegegnungen.“

S. 89: „Die biblischen Schriften artikulieren … sprachliche Deutungsmuster der Erfahrung von Transzendenz. Dabei interpretieren sie Transzendenz präziser als Gottesbegegnung. … In den biblischen Schriften spiegelt sich das Lebensgefühl von Menschen wider, die ihr Leben im Lichte der Begegnung mit Gott deuten und interpretieren. In diesem Sinne ist die Bibel als literarisches Aus- drucksuniversum religiöser Erfahrung zu verstehen, das religiöse Deutungsmuster für den Umgang mit Transzendenz bereitstellt.“

S. 105/106: „In diesem Sinne sind die biblischen Deutungen immer auch – darin Iiegt die bleibende Bedeutung Rudolf Bultmanns – existentiale Selbstauslegungen. In ihnen artikuliert sich, wie sich Menschen vor dem Einbruch und der Wirksamkeit göttlicher Präsenz verstehen.“

Die Gestalt des Kanons ist bis heute fraglich:

S. 56: „In diesem Prozess nehmen allerdings zeit- und kontextabhängige Erinnerungsinteressen Einfluss, deren Plausibilität schon damals fraglich war und vor allem dann späteren Generationen nicht immer als zwingend erscheinen muss. Die Grenzen zwischen den kanonischen und den apokryphen Schriften, die nicht in den Kanon gelangten, sind daher fließend.“

Die biblischen Texte sind als widersprüchliche „literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten“ gar nicht geeignet, um aus ihnen theologische Lehren zu begründen:

S. 76/77: „Die biblischen Schriften erfüllen … von ihrem Wesen her nicht die Funktion, theologische Lehrbildungen zu begründen. … Als literarische Darstellung religiöser Gestimmtheiten sind die neutestamentlichen Texte im Grunde nicht geeignet, aus ihnen Lehrgehalte zu erheben. … Die biblischen Texte geben das spezifische ‚Lebensgefühl‘ der ersten Christen in seinem ganzen Facettenreichtum wieder, sie fangen religiöse Stimmungen ein und bringen diese literarisch zum Ausdruck.“

S. 79/80/81: „Die Bibel ist in der Breite ihrer Aussagen und Ausdrucksformen nicht auf Lehren zu reduzieren, und schon gar nicht auf eine Lehraussage, sie thematisiert und artikuliert vielmehr ein Universum religiöser Gestimmtheiten. … Der Versuch, eine der Bibel gemäße Theologie zu konstruieren, wirft ein gravierendes Problem auf. Welche Theologie soll dies sein? Es ist ein theologisch sattsam bekanntes Faktum, dass der neutestamentliche Kanon eine Vielfalt von Theologien enthält. … Dieser plurale Charakter der biblischen Schriften ist in der Exegese weitgehend unstrittig: »Die Vorstellung einer Einheit im Sinn einer sich durchhaltenden einheitlichen Dogmatik im Neuen Testament ist eine Fiktion«.“*

*: Seltsam nur, dass auch Lauster selbst von einem durchgängigen “biblischen Gottesbild” eines redenden Gottes spricht (siehe oben), während er hier meint, so etwas wie ein biblisches Gottesbild gäbe es gar nicht.

S. 104: „Von der Exegese führt kein unmittelbarer Weg zum Dogma und auch nicht zur Predigt. Sie zielt vielmehr auf die historische Rekonstruktion vergangener religiöser Sinnbildungs- und Deutungsprozesse im Kontext der Erfahrungszusammenhänge, aus denen sie entstehen.“

Strohmänner und Diffamierung: “Fundamentalismus” ist Bibelvergötzung und vernunftfeindliche „Propaganda“:

S. 15: „Der gesamte vormoderne Vorstellungskomplex vom redenden Gott, der die Bibel diktiert und so zu den Menschen spricht … ist gegenwärtig ein erfolgreiches Modell protestantischer Missionspropaganda.“

S. 30: „Entscheidend daran ist, dass es nach christlichem Verständnis um die Vergegenwärtigung einer Person, Jesus Christus, geht und nicht um die Anbetung eines Buches. … Der Fundamentalismus ignoriert die Unterscheidung zwischen Buch und Person ganz und vergöttert so die Schrift an sich.“*

*: Zum verbreiteten Strohmannargument der Bibelvergötzung siehe der Artikel “Die 5 häufigsten Strohmannargumente gegen ein konservatives Bibelverständnis”

S. 31: „Die Verleugnung oder Ignorierung einer historischen Betrachtung* der Bibel erhöht deren Glaubwürdigkeit keineswegs, sondern untergräbt sie in tragischen Ausmaßen. … Man muss an dieser Stelle Kant bemühen dürfen: »Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“. … Eine tragende Bedeutung der Bibel ist in der Gegenwart nicht an der modernen Entzauberung vorbei oder gar gegen sie, sondern nur durch sie hindurch zu entfalten.“

*: Zum verbreiteten Strohmannargument, konservative Theologie würde das historische Umfeld und den historischen Abstand der biblischen Texte “verleugnen oder ignorieren” siehe der Artikel: “Streit um das biblische Geschichtsverständnis”

Zwischen der „neuprotestantischen“ Theologie und dem “Fundamentalismus” bzw. der Wort-Gottes-Theologie „klafft ein garstiger Graben“:

S. 72/73: „Für das ‚Dogma‘ der Bibel, oder anders formuliert, für eine systematisch-theologische Schriftlehre ergibt sich daraus gegenwärtig eine eigenwillige, ja eine fast skurrile Ausgangssituation. Einerseits finden sich vornehmlich im Fundamentalismus und in der Wort-Gottes-Theologie moderne Restaurierungs- und Reparaturversuche des altprotestantischen Schriftverständnisses. … Dagegen richtet sich andererseits das Verständnis der Bibel in dem weiten Feld des liberalen Neuprotestantismus. … Zwischen dem historischen Verständnis der biblischen Schriften in den exegetischen Disziplinen und dem Bibeldogma klafft ein garstiger Graben.“

S. 96: „Historische und dogmatische Methode sind vielmehr zwei grundverschiedene Stile, Theologie zu treiben, die sich durch alle theologischen Disziplinen ziehen. Die dogmatische Methode erhebt die eigene religiöse Überzeugung zur unhintergehbaren Voraussetzung, während die historische Methode die eigene Religion einer methodisch ausweisbaren, Wissenschaftlichen Überprüfung unterzieht.* … unaufgebbar entscheidend bleibt folgender Grundgedanke: Eine auf Plausibilität zielende Beschreibung des Christentums kann im Kontext der Neuzeit nur eine Beschreibung in rationaler, wissenschaftlicher Durchführung sein. Die historisch-kritische Methode der Exegese ist daher eine konkrete Erscheinungsform dessen, was Troeltsch historische Methode nennt. Sie ist der den neuzeitlichen Rationalitätsstandards sich verdankende Umgang mit den biblischen Texten.“

* Zum verbreiteten Strohmannargument der Vernunftfeindlichkeit konservativer Theologie und der angeblichen Unvoreingenommenheit der universitären Theologie siehe der Artikel „Das wunderkritische Paradigma“: Die traditionelle protestantische Theologie erhebt ja gerade nicht die „eigene religiöse Überzeugung“ zum Dogma, sondern sie nimmt im Gegensatz zur modernen universitären Theologie den Forschungsgegenstand Bibel samt dem bibeleigenen Selbstanspruch zum Wesen der Texte und zu ihrem Offenbarungscharakter ernst gemäß dem Prinzip: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Gerade dadurch wird die Bibel vor menschlichen Übergriffen und „Eisegese“ (also das Hineininterpretieren bibelfremder Annahmen in die Texte) geschützt. Die neue Theologie ist hingegen keineswegs methodisch neutral, sondern sie basiert mit ihrem Wissenschaftsbegriff auf einem philosophischen Unterbau, der vom Rationalismus (hier als „neuzeitliche Rationalitätsstandards“ bezeichnet), Naturalismus und Wunderkritik geprägt ist.

Bibelkritik ist heute institutionalisierter Mainstream:

S. 103: „Historische Kritik, die einstmals Rebellion war, ist zur Institution geworden.“

Zwei abschließende Bemerkungen:

  • Es wirkt auf mich angesichts der Dominanz dieser theologischen Sichtweisen seltsam, wenn manche Postevangelikale sich immer noch als Rebellen inszenieren. Sie sind einfach nur auf den Weg des großen Mainstreams volkskirchlicher Theologie abgebogen.
  • Ganz wichtig: Auch in diesem Artikel geht es natürlich in keiner Weise um persönliche Kritik an Prof. Lauster. Es geht schlicht darum, nüchtern die grundlegenden Differenzen im Bibelverständnis transparent zu machen, die Prof. Lauster ja selbst offen anspricht.

Alle Zitate stammen aus Jörg Lauster: Zwischen Entzauberung und Remythisierung, Forum theologische Literaturzeitung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2008

Mehr Toleranz oder mehr Konsens? Was dient der Einheit?

Wie gehen wir mit den wachsenden Spannungen unter Christen um? Welche Rolle spielt die Internetmediathek Worthaus dabei? Brauchen wir mehr Konsens oder mehr Toleranz, um den Riss zu überbrücken? Wie können wir zu tragfähiger Einheit in Vielfalt finden? Mit diesen Fragen habe ich mich in meinem Vortrag bei der Leiterkonsultation des Netzwerks Bibel und Bekenntnis am 14. November 2020 befasst. Er ist jetzt auf YouTube verfügbar. Das Vortragsskript mit allen Quellenangaben dokumentiert dieser Artikel.

In vielen Äußerungen von christlichen Leitern nehme ich immer stärker eine zentrale Grundfrage wahr: Wie können wir beieinander bleiben? Ganz offenkundig wird quer durch alle Werke und Gemeinschaften eines immer spürbarer: Wir werden unterschiedlicher. Wir driften auseinander. In einer kleinen Umfrage vor dieser Leiterkonsultation hat uns Andreas Späth von der KSBB Bayern geschrieben: „Leider geht der Riss quer durch Gemeinden.“ Und spürbar ist dabei: Die Differenzen betreffen nicht nur Fragen der Prägung oder des Musikgeschmacks. Sie betreffen gerade auch theologische Themen. Dr. Jens-Peter Horst von der landeskirchlichen Gemeinschaft Eschwege hat uns geschrieben: „Ich sehe hier eher keinen grundsätzlichen Unterschied zu der bestehenden Kontroverse mit der liberalen Theologie in der Kirche bzw. insgesamt. Die Kontroverse hat nun nur … auch innerhalb der evangelikalen Bewegung Fuß gefasst.“ Das heißt also: Die theologischen Konflikte, die wir beobachten, sind inhaltlich gar nichts Neues. Aber sie treten jetzt eben auch mitten in unserem evangelikalen Umfeld auf. Kein Wunder, dass sich dann immer dringender die Frage stellt: Wie kann heute noch Einheit in Vielfalt gelingen, wie es z.B. so lange Zeit in der evangelischen Allianz oder bei Evangelisationen wie Pro Christ gelungen ist?

Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Meine Wahrnehmung ist: Immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden neigen dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums sei keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Aber die Frage ist: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen haben gerade die letzten Wochen wieder gezeigt: Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue politische und moralistische Trennmauern aufgerichtet.

Und meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir schlicht keine gemeinsame Botschaft mehr.

An dieser Stelle höre ich oft: Aber so schlimm ist es doch gar nicht! Natürlich haben wir gerade in unseren evangelikal geprägten Kreisen noch sehr viel Gemeinsames über Jesus Christus und über das Evangelium zu sagen. Auch ich habe lange Zeit so gedacht. Aber ich muss sagen: Diese Sichtweise hat sich bei mir in den letzten drei Jahren sehr geändert. Und diese Veränderung begann, als ich angefangen habe, mich intensiv mit Worthaus auseinanderzusetzen.

Die Worthaus-Mediathek

Die Worthaus-Mediathek umfasst aktuell mehr als 150 Vorträge von 27 ganz verschiedenen Referenten. Bei der letzten kleineren Worthaustagung war zum Beispiel Dr. Eugen Drewermann der Hauptredner. Bei einer solchen Vielfalt ist natürlich auch die Theologie, die dort vermittelt wird, ziemlich bunt. Allerdings gibt es bei Worthaus 2 prägende Personen, die schon rein zahlenmäßig die allermeisten Worthaus-Vorträge halten und deswegen natürlich auch die Theologie von Worthaus prägen: Das ist zum einen der emeritierte Theologieprofessor Siegfried Zimmer und zum anderen der Dozent der evangelischen Hochschule Tabor Prof. Thorsten Dietz. Gerade auch bei der letzten großen Worthaus-Tagung („Worthaus 9“) haben sich Prof. Zimmer und Prof. Dietz mit den allerzentralsten Fragen des Christentums beschäftigt: Wer war und wer ist Jesus Christus? Was bedeutet sein Tod am Kreuz? Ist Jesus wirklich leiblich auferstanden? Ich habe dieses Jahr eine ausführliche Analyse aller Vorträge dieser Worthaus-Tagung vorgelegt[1]. Lassen Sie mich aus dieser Analyse kurz einige Schlaglichter herausgreifen, zunächst zu einer absoluten Knackpunktfrage der Theologie:

War Jesus von Nazareth nicht nur wahrer Mensch sondern auch wahrer Gott?

Bei Worthaus 9 sagte Siegfried Zimmer zu diesem Thema folgendes:[2]

„Gehört bitte nicht zu den Christen, die gleich den Flatterich kriegen, wenn ich sage: Jesus war vielleicht selber der Überzeugung, dass er selber gar nicht der Menschensohn ist, dass das ein späterer christlicher Eintrag war … Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. … Er ist schon ein normaler Mensch, bitte! … In einem Mitarbeiterheft für tausende von Sonntagsschulmitarbeitern hat eine Frau einen Artikel über Jesus geschrieben … : „Jesus war der Gottessohn und der Retter der Welt. Er kam, um zu sterben und er hat viele Wunder getan und konnte übers Wasser laufen.“ Das schreibt eine Frau für tausende von Mitarbeitern in der Sonntagsschule. Da muss ich fast kotzen. Ich kann’s nicht anders sagen. … Ich habe dann dem Vorstand von diesem Verlag geschrieben: Sie könnten doch mit gleicher Buchstabenzahl … sagen: „Jesus war aufmerksam für die Armen, er schätzte die Frauen höher als es damals üblich war und er liebte die Kinder. Das ist doch Millionen mal mehr als dieses Titelgeklapper.“

Ich bekomme keinen „Flatterich“ bei diesen Aussagen. Aber ich stelle einfach nüchtern und sachlich fest, dass sich meine Theologie hier an zentralster Stelle fundamental von der Theologie Siegfried Zimmers unterscheidet. Denn bei der Aussage, dass Jesus der Gottessohn und Retter der Welt war, der gekommen ist, um für uns zu sterben, da steigt in mir nun einmal kein Würgreiz auf sondern ein lautes „Ja, so ist es!“. Was mich aber wirklich verstört ist der Umstand, dass Zimmer diesen Text tatsächlich ersetzen möchte durch eine Beschreibung, die genauso auf Mutter Theresa oder Mahatma Gandhi zutreffen könnte

Was bedeutet nun der Tod Jesu am Kreuz?

Dazu sagt Siegfried Zimmer[3]:

„Im Englischen unterscheidet man zwischen „victim“ … und „sacrifice“. „Victim“ ist ein Opfer VON etwas: Verkehrsopfer, Kriminalitätsopfer. Und „sacrifice“ ist ein Opfer FÜR etwas. Wir müssen Jesu Tod erst mal als „victim“ würdigen. Jesus ist erst mal ein Opfer der römischen Militärbehörde geworden und er ist gefoltert worden. Wenn wir sofort mit „sacrifice“ arbeiten, dann haben wir ein Modell, da muss Jesus halt ans Kreuz. … So hat man in den Jahrhunderten des Abendlands das Christusverständnis und das Gottesverständnis hineingezwängt in eine Straflogik, als ob Gott die Strafe nötig hätte. … Aus diesem Modell, ihr Lieben, müssen wir, dürfen wir – jubilate – ganz aussteigen. Dieses Modell verdirbt das Evangelium und den liebenden Gott im Kern.“

Zimmer lehnt die biblische Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer also in einer grundlegenden Weise ab. Auch Thorsten Dietz äußert sich bei Worthaus 9 zu diesem Thema. Und zu der Frage, was denn die Botschaft des Kreuzes ist, sagt er[4]:

„Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! … Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein großes „Für Dich“! Ein großes „Ja“!“

Natürlich geht es beim Kreuzestod um eine Liebesbotschaft. Aber ich bin überzeugt: Es geht im Kern eben auch um Sündenvergebung und um die Tatsache, dass Jesus stellvertretend sein Blut vergossen hat, damit meine Schuld bezahlt und mein Schuldsein getilgt wird.

Wie wird die Frage nach der leiblichen Auferstehung bei Worthaus gesehen?

Sowohl Siegfried Zimmer wie auch Thorsten Dietz betonen immer wieder, dass sie an die leibliche Auferstehung Jesu glauben. Allerdings betont Thorsten Dietz in seinem Vortrag über dieses Thema auch[5]:

„Hier ist nichts, kein Paragraph, keine These, kein Abschnitt, nichts, wo Du sagen kannst: Hier rechts unten bitte unterschreiben. Dann hältst Du das feste für wahr und das ist dann Deine Lebensversicherung für die Unendlichkeit.“

Also gibt es für ihn auch in der Osterbotschaft nichts, was letztlich für alle Christen eine selbstverständliche gemeinsame Glaubensgrundlage darstellt. Auch die Frage nach dem Charakter der Auferstehung darf man also gerne unterschiedlich sehen.

Dazu passt, was Thorsten Dietz in Worthaus 9 ganz grundsätzlich über sein Bibelverständnis sagt[6]:

Es ist doch unendlich viel besser zu akzeptieren, dass solche Verstehensweisen biblischer Texte immer wieder neu und immer wieder anders und immer wieder frisch sich ereignen müssen. Es kann da keinen ewigen und absoluten Schlüssel geben.“

Kann man also gar keine bleibenden, objektiv für alle richtigen theologischen Erkenntnisse aus der Bibel gewinnen? Dazu muss man wissen, dass es quer durch Worthaus hindurch als selbstverständlich gilt, dass der Bibeltext selbst keine Offenbarung darstellt, sondern nur von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ZEUGT. Der Bibeltext selbst ist aber fehlerhaft, menschlich und kritisierbar. Wenn in Worthaus von „Bibelkritik“ die Rede ist, dann ist damit nie nur eine unterscheidende Bibelkritik gemeint im Sinne einer genauen Ermittlung der Textgattung und der Textaussage im Rahmen seines geschichtlichen Umfelds. Es geht immer auch um Sachkritik, also an echter inhaltlicher Kritik an der Aussageabsicht der biblischen Texte. Siegfried Zimmer geht davon aus, dass Jesus das Alte Testament kritisiert hat und dass wir deshalb auch heute noch mit Jesus die Bibel kritisieren könnten. Zu den Gesetzestexten in den Mosebüchern äußert er[7]:

„In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Siegfried Zimmer bekundet immer wieder, dass für ihn die Bibel natürlich Wort Gottes sei. Diese Äußerung macht für mich jedoch deutlich, dass er damit etwas völlig anderes meint als ich. Denn ich gehe davon aus, dass tatsächlich die ganze Bibel von Gottes Geist inspiriert und „durchhaucht“ ist.

Lassen Sie mich aber auch dazu sagen: Es geht hier überhaupt nicht darum, Prof. Dietz oder Prof. Zimmer persönlich zu kritisieren. Es geht um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Und natürlich sind auch diese wenigen Zitate viel zu kurz, um sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Ich möchte Sie deshalb ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, einmal die ganze Analyse der Worthausvorträge durchzulesen und sich auch die wichtigsten Vorträge einmal selbst anzuschauen. Machen Sie sich selbst ein Bild! Ich finde es wichtig, dass wir uns als Leiter damit auseinandersetzen, welche Botschaften in unserer Mitte wirken und Einfluss ausüben.

Denn so viel ist sicher: Diese Botschaften haben tatsächlich großen und wachsenden Einfluss in unserer Mitte. Schon 2018 hatte Siegfried Zimmer berichtet: Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Mir fällt auf, dass Siegfried Zimmer und Thorsten Dietz immer wieder auch evangelikale Leiter schulen dürfen, so zum Beispiel Gemeinschaftsverband Württemberg, den Apis. Thorsten Dietz gehört zum Gnadauer Arbeitskreis Theologie. Er spricht bei evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. beim Gnadauer Upgrade-Kongress oder jüngst bei der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft für missionarische Dienste. Er ist beim ERF zu hören und zu sehen. Und Thorsten Dietz macht natürlich auch Werbung für andere theologisch progressive Formate wie zum Beispiel Hossa Talk mit Gottfried Müller und Jakob Friedrichs. Im neuesten Buch von Jakob Friedrichs ist mir unter anderem dieser Satz aufgefallen [8]:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Auch hier sehen wir wieder die gleiche Botschaft: Einheit geht nicht mehr über Konsens in den zentralen Glaubensfragen sondern über Toleranz. Alles soll gleichermaßen akzeptabel sein.

Aber gewinnen wir so wirklich Einheit in Vielfalt? Peter Hahne einmal gesagt hat: „Wenn alles gleich gültig ist, ist auch schnell alles gleichgültig.“[9] Und genau das ist doch das Drama meiner evangelischen Kirche: Sie ist weder anziehend. Sie ist aber auch nicht abstoßend. Sie ist für die allermeisten Leute schlicht egal geworden. Deshalb glaube ich: Eines unserer großen Probleme ist die falsche Vorstellung, dass wir Einheit in Vielfalt gewinnen können, indem wir uns vom biblisch begründeten Konsens verabschieden. Die Wahrheit ist: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht nicht nur der Konsens verloren, sondern auch unsere gemeinsame Basis, unsere gemeinsame Botschaft und unsere missionarische Dynamik. Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich. Aber sie steht und fällt mit der hohen Wertschätzung von Bibel und Bekenntnis.

Ich bin ein großer Anhänger von Einheit in Vielfalt. Ich liebe es, wenn zum Beispiel bei ProChrist ganz unterschiedlich geprägte Christen zusammen kommen, um gemeinsam das Evangelium weiter zu geben. Ich bin sehr dafür, dass wir in Randfragen ganz viel Weite haben. Aber wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum starke, fest gegründete Pfeiler. Da brauchen wir im Kern den Jesus Christus, den die Heilige Schrift uns bezeugt und den die Christen zu allen Zeiten in ihren Bekenntnissen festgehalten haben. Deshalb ist das Engagement für Bibel und Bekenntnis heute mehr denn je aktiver Einsatz für die Einheit und für die missionarische Dynamik der Kirche Jesu.

Lassen Sie mich am Ende noch einmal zwei Impulse aus unserer Umfrage aufgreifen: Pfarrer Bernhard Elser hat uns geschrieben: „Mir scheint die Ermutigung zum öffentlichen Bekenntnis, auch angesichts von Widerstand und Anfechtung, für absolut zentral.“ Und Dr. Joachim Cochlovius hat geschrieben: „Dieser Verführungskraft ist letztlich nur geistlich mit Gebet beizukommen.“ In der Tat: Öffentliches Bekenntnis und Gebet: Beides wird unbedingt notwendig sein, um die zentralen Glaubensschätze, die uns verbinden und auf denen die Kirche Jesu gebaut ist, zu bewahren und ganz neu zu stärken.


[1] Markus Till: „Quo vadis, Worthaus? Quo vadis, evangelikale Bewegung?“ In: “Glauben & Denken heute” Ausgabe 1 /2020, S. 18, online unter https://blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf

[2] Siegfried Zimmer: „Der Prozess vor Pilatus (Mk 15, 1-15)“, Worthaus 9, Tübingen 10.06.2019, ab Min. 53.12, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-vor-pilatus-mk-15-1-15-9-4-2/

[3] Siegfried Zimmer: „Gibt es einen strafenden Gott?“ Worthaus Pop-Up Wipperfürth, 3.08.2018, ab Min. 1:03:58, online unter: https://worthaus.org/worthausmedien/gibt-es-einen-strafenden-gott-8-6-1/

[4] Thorsten Dietz: „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ Worthaus 9, Tübingen, 10.6.2019, ab Min. 47:15, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/

[5] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 1:06:24, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[6] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 51:50, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[7] Siegfried Zimmer: „Jesus und die blutende Frau (MK 5, 21-43)“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 36.57, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/jesus-und-die-blutende-frau-mk-5-25-34-9-5-2/

[8] Jakob Friedrichs: „Ist das Gott oder kann das weg?“ Asslar, 2020, S. 18.

[9] Peter Hahne in: „Schluss mit lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft“ Lahr, 2004