Deutschland braucht eine große Koalition

2023 war kein gutes Jahr für Deutschland. Neben Bildung und Wirtschaft ist vor allem der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter geschrumpft. Immer deutlicher wird: Deutschland ist ein Schnittblumenland. Die christlichen Wurzeln, die unser Land so positiv geprägt haben, sind weitgehend abgeschnitten. Folglich verblüht auch unser verbindender Wertekanon.

Viele Menschen setzen ihre Hoffnung jetzt auf neues politisches Personal. Jedoch muss uns klar sein: Auch die besten Politiker können die bröckelnden Wertefundamente nicht ersetzen. Was unser Land deshalb dringender denn je benötigt, ist ein neuer geistlicher Aufbruch. Deutschland braucht dringend, ja verzweifelt eine Erweckung, aus der eine Kirche hervorgeht, die wieder Salz und Licht ist für unser Land.

Leider sind vor allem die großen Kirche davon weiter entfernt denn je. Sie werden fast nur noch durch Skandale und Mitgliederschwund wahrgenommen. Aber auch das freikirchliche und allianzevangelikale Umfeld hat viel von seiner Ausstrahlung verloren. Der Schnittblumeneffekt wirkt auch hier: Die gemeinsamen, verbindenden Glaubensgrundlagen sind durch das Vordringen von progressiver und postevangelikaler Theologie weitgehend aufgeweicht. Auch in vielen allianzevangelikalen Institutionen kann man sich kaum noch darauf einigen, was denn eigentlich das Evangelium ist. Und in ethischen Fragen verfällt man bestenfalls in Sprachlosigkeit, immer öfter aber in offenen Streit und Spaltung. Insgesamt gibt es immer weniger, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Aber ohne Profil kann man auch nicht Salz und Licht für die Gesellschaft sein.

In meinen Begegnungen mit christlichen Leitern ist mir zudem viel Entmutigung begegnet. Nicht Wenige haben das Gefühl: Wir stehen auf verlorenem Posten. Eine Autorin, die sich seit Jahren in Büchern und Vorträgen für eine gesunde biblische Sexualethik engagiert, sagte mir jüngst: Es bringt nichts. Wir dringen in den Gemeinden nicht mehr durch. Der Einfluss von Zeitgeist und progressiver Theologie ist einfach zu stark. Wie konnte es soweit kommen?

Drei Milieus fließen nebeneinander her

Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten in ganz unterschiedlichen christlichen Milieus bewegt. Dabei durfte ich wunderbare Menschen kennenlernen, die in ihrem Einflussbereich großartige Arbeit machen. Aber zunehmend fiel mir auf: Zwischen diesen Milieus gibt es nur wenig Zusammenarbeit. Das gilt auch dann, wenn sie theologisch eigentlich ganz nah beieinander sind. Ich sehe vor allem drei verschiedene Ströme, die nach meiner Wahrnehmung weitgehend getrennt nebeneinander herfließen:

  • Da sind zum einen die „Bekenntnisleute“, also bibeltreue (Laien-)Theologen, die sich in unterschiedlichsten Initiativen und Netzwerken für die Autorität der Schrift und die Gültigkeit ihrer Botschaft einsetzen.
  • Zum zweiten denke ich an die „Beter“, die sich in einer Vielzahl von Gebetsbewegungen und Gebetshäusern engagieren und dort ihre Zeit und Kraft dafür investieren, Gottes Angesicht zu suchen und möglichst viele Christen in die Gottesbegegnung mit hineinzunehmen.
  • Und schließlich sehe ich die vielen „Praktiker“, die unsere Gemeinschaften, Gemeinden und Werke am Laufen halten, also Pastoren, Älteste sowie Leiter von christlichen Werken und Institutionen aller Art.

Und ich habe mich gefragt: Woran liegt es, dass es zwischen diesen drei Milieus scheinbar so wenig Zusammenarbeit gibt?

Vorurteile, Verletzungen und trennende Dynamiken

Meine Wahrnehmung ist: Zwischen diesen drei Milieus stehen Vorurteile im Raum, die auch auf Verletzungen durch negative Erfahrungen in der Vergangenheit beruhen. Die Aussagen klingen immer wieder ähnlich:

  • Diese Leute aus den verschiedenen Bekenntnisgruppen: Die neigen doch eher zu Gesetzlichkeit und dogmatischer Kälte. Intellektuell und wissenschaftlich sind sie nur selten auf der Höhe der Zeit. Und zudem sind sie doch eher anticharismatisch, verkopft und gefühlsfeindlich.
  • Diese Beter aus den verschiedenen Gebetsbewegungen und Gebetshäusern: Die sind doch eher theologiefeindlich und gefühlsbetont. Ökumene ist ihnen wichtiger als die biblische Wahrheit. Mystische Erfahrungen lieben sie mehr als gesunde, biblisch fundierte Theologie.
  • Diese Praktiker, die unsere Gemeinden, Gemeinschaften, Werke und Institutionen leiten: Die sind doch eher methoden- als bibelorientiert. Oft sind sie verstrickt in Abhängigkeiten. Sie müssen sich halt mit denen gut stellen, die ihre Jobs und Werke finanzieren. Deshalb positionieren sie sich theologisch lieber gar nicht, um ja bei niemand anzuecken.

Hast Du so ähnliche Einstellungen auch schon wahrgenommen? Sind Dir vielleicht sogar Menschen begegnet, die von Erfahrungen berichten, die solche Vorurteile zu bestätigen scheinen? Hast Du vielleicht selbst schon solche Missstände in anderen Milieus erlebt und bleibst deshalb lieber auf Distanz?

Neben solchen Vorurteilen, schlechten Erfahrungen und Verletzungen beobachte ich noch weitere Dynamiken, die die Kooperation zwischen diesen drei Gruppen behindern können, zum Beispiel:

  • Die Sorge um den guten Ruf: Man kann ja leicht als intolerant, hartherzig und ausgrenzend eingestuft werden, wenn man sich kritisch über problematische Theologien oder Theologen äußert bzw. wenn man sich öffentlich mit Leuten verbindet, die das tun.
  • Die Angst vor beziehungs- oder existenzgefährdenden Konflikten: Der Streit um theologische Fragen hat schließlich schon oft zu zerstörerischen Spaltungen geführt.
  • Die Sehnsucht nach möglichst großer Ökumene und Reichweite: Um möglichst viele Christen aus den unterschiedlichsten Lagern einzubinden, möchte man Lehrfragen lieber gar nicht erst ansprechen – und auch die Leute meiden, die das tun.
  • Das Narrativ, dass eine offene Theologie Einheit in Vielfalt bringt, während das Beharren auf gemeinsamen Lehrüberzeugungen spaltet. Dabei ist es in Wahrheit eher umgekehrt: Eine zu offene Theologie raubt der Kirche die Basis für Einheit und führt zur ungehinderten Verbreitung von immer neuen Spaltpilzen.

Warum wir einander brauchen

Die Mauern, die unter Christen durch solche Dynamiken, Vorurteile und schlechte Erfahrungen entstanden sind, schaden der Kirche Jesu enorm. Denn meine Beobachtung ist:

  • Wo die bibeltreuen Theologen fehlen, da fehlt nicht selten auch der theologische Kompass, der das Kirchenschiff in den heftiger werdenden zeitgeistigen Strömungen dauerhaft auf einem gesunden Kurs halten kann. Die Kirche braucht gesunde theologische und denkerische Grundlagen, um die verbindenden Bekenntnisgrundlagen immer wieder neu mit Leben zu füllen und in Bezug auf unsere Botschaft sprachfähig zu bleiben.
  • Wo die Beter fehlen, da wird es irgendwann gesetzlich, trocken und unattraktiv. Dann verlagert sich unser Vertrauen zunehmend auf Wissen, Methoden und Menschen statt auf Gottes Kraft und auf seinen Segen. Dann vergessen wir, dass letztlich alles an Gottes Segen gelegen ist und dass wir ohne ihn NICHTS tun können, egal wie klug und methodisch durchdacht wir die Dinge auch anpacken.
  • Wo die Praktiker fehlen, da wird es irgendwann verkopft und praxisfremd oder aber abgehoben, hypergeistlich und weltfremd. Letztlich hilft uns die großartigste Theologie und die tiefste Gottesbegegnung nicht weiter, wenn es nicht Menschen gibt, die Gemeinden und Strukturen bauen, durch die geistliches Leben nachhaltig wachsen und gedeihen kann.

Paulus hat diese Realität so ausgedrückt:

„Und da wir alle in Christus ein Leib sind, gehören wir zueinander, und jeder Einzelne ist auf alle anderen angewiesen. (Römer 12, 5b)

Genau deshalb braucht Deutschland so dringend eine große Koalition aus bibeltreuen Theologen, Betern und Praktikern. Die Kraft von Gottes Wort, von Gebet und von gesunden Strukturen muss zusammenfließen, damit die Kirche Jesu wieder aufblühen kann.

Zarte Anfänge und wachsende Einheit

Im Oktober 2022 durfte ich gemeinsam mit Rainer Harter, dem Leiter des Gebetshauses Freiburg, eine ganz besondere Veranstaltung auf den Weg bringen: Vertreter von Bibel- und Bekenntnisinitiativen haben sich getroffen mit Vertretern von Gebetshäusern und Gebetsbewegungen aus dem ganzen Land. Am Morgen dieses Tages war ich sehr nervös. Ich war mir unsicher, wie das wohl ausgehen würde. Der Tag begann mit einem sehr offenen, ehrlichen Austausch. Dabei kamen auch kritische Fragen und schwierige Erfahrungen aus der Vergangenheit zur Sprache. Zugleich waren wir überrascht, wie viel uns doch miteinander verbindet. Im „Ergebnisprotokoll“ schrieb Frank Laffin vom Gebetshaus Bremen unter anderem:

„Es gab echtes Interesse aneinander und eine gemeinsame Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Bibel und zu Gebet. Ein Treffen unter Geschwistern in großer Ernsthaftigkeit. Wir haben Einheit in Kernfragen erlebt. Wir fördern die Stärkung der beiden “Bewegungen”, um frühere Verletzungen auszuräumen, hier hat ein Lernprozess auf mehreren Seiten begonnen. Wir kehren zurück zu den Wurzeln unserer Väter: Bibel und Gebet. Wir wollen füreinander einstehen und beten. Wir profitieren voneinander. Wir wollen miteinander auf Gott hören.

Seit diesem Tag habe ich viele weitere ermutigende Begegnungen zwischen „Bibelleuten“, „Betern“ und „Praktikern“ erlebt. Meine Hoffnung wächst, dass der Leib Christi wieder zusammenfindet und sich versammelt auf diesem einen Fundament, ohne das die Kirche aufhört, Kirche zu sein:

„Ihr seid auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufgebaut, in dem Jesus Christus selbst der Eckstein ist. Durch ihn sind alle Bauteile fest miteinander verbunden, sodass durch ihn, unseren Herrn, ein einzigartiges Heiligtum entsteht.“ (Epheser 2, 20+21)

Paulus macht hier deutlich: Echte Einheit im biblischen Sinn ist nicht menschengemacht. Sie ist kein Resultat von geschickter Diplomatie. Erst recht entsteht sie nicht durch die Reduktion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Echte Einheit ist eine natürliche Folge davon, dass wir uns mit dem Haupt der Gemeinde, mit Jesus Christus verbinden. ER ist es, der die Glieder seines Leibes miteinander verbindet. Und er gebraucht dafür sein heiliges Wort, das uns in den Schriften der Apostel und Propheten als gemeinsame Grundlage gegeben ist.

Nach dieser Art von Einheit sehne ich mich. Viel wichtiger als formale Bündnisse scheinen mir geistgewirkte, christuszentrierte Vertrauensnetzwerke von Leitern zu sein, die voneinander wissen: Wir lieben Jesus gemeinsam. Wir folgen ihm von Herzen nach. Wir sind (trotz mancher Differenzen in theologischen Randfragen) gemeinsam verwurzelt im inspirierten Wort Gottes. Wir halten fest an den soliden Lehr- und Bekenntnisgrundlagen des historischen Christentums. Und wir brauchen einander in unseren vielfältigen Diensten und Berufungen, damit die Kirche Jesu wieder Salz und Licht werden kann für unser Land. Das wünsche ich mir mehr als alles andere für die vor uns liegende Zeit.

6 Wege zur Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen

und warum sie in der Praxis auf Dauer nicht funktionieren (können)

Ist Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen möglich? Fakt ist: Die theologischen Differenzen zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen sind oft grundsätzlicher Natur. Sie betreffen den innersten Kern des Evangeliums und die zentralen, verbindenden Merkmale der weltweiten evangelikalen Bewegung.[1] Es ist deshalb nicht überraschend, dass die Ausbreitung postevangelikaler Theologie im allianzevangelikalen Umfeld in der Praxis oft nicht zu fröhlicher Vielfalt führt, sondern eher zu wachsender Entfremdung, zu Streit und Spaltung[2] oder zur schrittweisen Verdrängung evangelikaler Überzeugungen.

Dennoch höre ich seit Jahren: Einheit zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen sei trotzdem möglich. Mehr noch: Es sei unsere Pflicht, diese Einheit anzustreben! Die Vorschläge, wie das trotz der grundlegenden Differenzen gelingen soll, klingen immer wieder ähnlich. Die 6 verbreitetsten Vorschläge zum Brückenbau zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen beschreibt dieser Artikel. Und er gibt Hinweise, warum sie in der Praxis oft so wenig funktionieren – und warum sie auf Dauer kaum erfolgversprechend sind.

1. Der pragmatische Ansatz: Lasst uns lieber miteinander evangelisieren und Gemeinde bauen, statt über theologische Themen zu streiten!

Dieser Vorschlag packt uns Evangelikale an einer Stelle, an der wir ganz besonders zugänglich sind. Mission, Evangelisation und Gemeindebau war schon immer unser großes Herzensanliegen. Sollte es uns nicht tatsächlich am wichtigsten sein, einfach Menschen gemeinsam für Jesus zu gewinnen? Und hat Jesus uns nicht gelehrt, dass unsere Einheit eine entscheidende Basis für die Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses ist (Johannes 17, 21-23)? Wer von uns wollte schon schuld daran sein, dass Menschen Jesus nicht begegnen, weil wir mit theologischen Debatten beschäftigt sind? Niemand.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Wie sollen wir gemeinsam evangelisieren, wenn wir keine gemeinsame Evangeliumsbotschaft haben? Während das stellvertretende Sühneopfer für Evangelikale klar im Zentrum des Evangeliums steht,[3] wird es im Umfeld von liberaler, progressiver und postevangelikaler Theologie weithin bezweifelt, subjektiviert oder offen abgelehnt. Zugleich geht man dort vielfach davon aus: Gott offenbart sich auch in anderen Religionen. Und am Ende zieht er alle Menschen zu sich – unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Religion.[4] Ziel von „Mission“ ist daher eher ein Gesinnungswechsel für mehr Mitmenschlichkeit[5] und die Transformation der Gesellschaft statt die rettende Bekehrung und Wiedergeburt der Herzen.[6] Wenig überraschend ist deshalb, dass „die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen“.[7] Die gähnend leeren Kirchen sind die zwangsläufige Konsequenz. Die evangelische Kirche unterstreicht somit auf traurige Weise: Wer auf die missionarische Praxis fokussiert, ohne dabei die theologischen Grundlagen für diese Praxis hochzuhalten, bei dem geht am Ende beides verloren: Die Praxis und die Einheit.

2. Der christuszentrierte Ansatz: Unsere verbindende Mitte ist kein Dogma sondern die Person Jesus Christus!

Auch dieser Vorschlag klingt für Evangelikale naheliegend. Kein Evangelikaler würde sich dagegen wenden, dass der lebendige, auferstandene Christus die Mitte und das verbindende Haupt der Gemeinde Jesu ist. Unsere Verbindung mit ihm besteht nicht nur in einem rationalen Fürwahrhalten biblischer Lehrsätze. Evangelikale sind überzeugt: Der lebendige Christus ist in unserer Mitte! Im Gebet sind wir ihm nahe. Was könnte uns mehr miteinander verbinden als die gemeinsame Begegnung mit unserem auferstandenen Herrn? Wer will denn mitten in der staunenden Anbetung noch Diskussionen über das richtige Bibelverständnis anfangen? Niemand.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Die Theologie hat eine Unzahl an verschiedenen, oft gegensätzlichen Christusbildern hervorgebracht. Verbinden kann uns aber nur der eine lebendige Christus, der tatsächlich existiert. Um verstehen zu können, wer dieser reale Christus wirklich ist, was er lehrt und was er am Kreuz und an Ostern für uns getan hat, haben wir nur genau eine einzige Informationsquelle: Die Bibel. Wenn der Christusbegriff von der biblischen Offenbarung getrennt wird, dann wird er zur Hülse, die jeder beliebig füllen kann – der uns aber nicht mehr miteinander verbindet. In meiner Kirche erlebe ich zudem: Je beliebiger das Bild von Christus wird, umso mehr schläft auch die Anbetung ein. Dann verliert die Kirche ihre Mitte – und damit auch ihre Einheit.

3. Der diplomatische Ansatz: Wir sollten auf die Gemeinsamkeiten statt auf die Differenzen schauen!

Dieser Vorschlag weckt die Hoffnung: Wenn wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wir immer noch gemeinsam sagen und bezeugen können, dann werden die Differenzen mit der Zeit immer weniger wichtig. Wenn wir die konfliktträchtigen Themen aus dem Zentrum rücken oder am besten gar nicht ansprechen, dann streiten wir auch nicht. Dann können wir unsere Kraft und Energie für Konstruktiveres einsetzen als für Debatten, die womöglich in Streit und Spaltungen münden. Das klingt gut. Niemand von uns hat Zeit und Kraft für überflüssige Konflikte übrig.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Die Differenzen verschwinden nicht, indem wir sie unter den Teppich kehren oder verschleiern durch gemeinsame Begriffe, die wir aber ganz unterschiedlich füllen. Spätestens im (g)rauen Gemeindealltag kommen sie wieder mit voller Wucht auf den Tisch, und zwar spätestens dann, wenn wir uns entscheiden müssen: Trauen wir in unserer Gemeinde gleichgeschlechtliche Paare oder nicht? Geben wir ihnen Leitungsverantwortung oder nicht? Lehren wir unsere Jugendlichen, dass sie ruhig schon vor der Ehe Sex haben können oder nicht? Es sind gerade auch die Progressiven, die bei solchen Themen oft keinerlei Kompromissmöglichkeiten sehen, weil sie sie die konservative Position für lieblos und diskriminierend halten.[8] Und für die theologischen Differenzen zum Evangelium gilt: Wer sie kleinredet oder verschweigt, vermeidet vielleicht den Streit. Aber die Entfremdung findet trotzdem statt. Und jeder Paarberater weiß: Wo nicht mehr gestritten wird, da ist die Ehe tot. Je eher wir uns offen und ehrlich den (potenziellen) Konfliktthemen stellen, umso größer ist die Chance, dass wir belastbare und praxistaugliche gemeinsame Wege zur Einheit finden – oder uns respektvoll und geordnet in Liebe einander loslassen, wenn offenkundig die gemeinsame Grundlage fehlt.

4. Der entwaffnende Ansatz: Wir beziehen uns doch alle auf die Bibel, wir legen sie nur unterschiedlich aus!

Dieser Vorschlag packt uns bei der Tatsache, dass niemand von uns einen absolut objektiven Zugang zur Bibel hat. Jeder liest und versteht die Bibel durch die Brille seiner persönlichen Biografie und Prägung. Wer das leugnet und behauptet, die tatsächliche Aussageabsicht der Bibel durchgängig genau zu kennen, ist entweder naiv oder arrogant. Wir Christen sind zur Demut aufgerufen. Kann ich dem Heiligen Geist nicht zutrauen, dass er anderen Menschen ganz andere Dinge aus der Bibel heraus wichtig macht als mir? Ja, das kann ich.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Er ignoriert die entscheidende Frage nach dem Bibelverständnis. Wer dem biblischen Selbstanspruch nicht glauben kann, Offenbarung Gottes und damit höchste Autorität zu sein,[9] nimmt der Bibel ihre Kraft, der Christenheit eine verbindende gemeinsame Grundlage zu geben. Dann gibt es zunehmend nur noch persönliche Wahrheiten (Du hast Deine Wahrheit und ich habe meine Wahrheit), aber immer weniger, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Luther sprach nicht umsonst davon, dass allein die Schrift herrschen soll. Und er ging von der Klarheit der Schrift aus, das heißt: Für ihn waren die wesentlichen biblischen Aussagen so eindeutig, dass er damit die Lehren seiner Zeit prüfen und ihnen auf biblischer Basis widersprechen konnte. Für ihn war klar: Nur als verlässliche und verständliche Offenbarungsquelle kann die Bibel eine „normierende Norm“ sein und der Kirche Orientierung, Profil und eine feste gemeinsame Hoffnung geben. Auf diese Grund-legende biblische Offenbarungsquelle ist die Kirche Jesu auch heute angewiesen. Es ist deshalb kein Beitrag zur Einheit, den Offenbarungscharakter der Bibel (wie ihn z.B. die evangelische Allianz bekennt[10]) für nebensächlich zu halten.

5. Der seelsorgerliche Ansatz: Wir sollten einander den Glauben glauben!

Dieser Vorschlag packt uns bei einer Warnung, die im Neuen Testament weit verbreitet ist: Richtet und verurteilt einander nicht. Seid nicht hochmütig. Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat – nämlich als wir noch verirrte Sünder waren. Wir sind alle fehlerhaft und leben aus der unverdienten Gnade Gottes. Ist es nicht lieb- und herzlos, jemand anderem abzusprechen, dass auch er von Herzen Jesus folgen will und die Bibel wirklich so versteht, wie er sie nun einmal versteht? Und schaden wir uns mit dieser Lieblosigkeit nicht auch selbst? Steckt nicht in jedem Hinweis auf falsche Lehre bei Anderen die Versuchung, ein arroganter, unbarmherziger Richter und Machtmensch zu werden? Ja, das ist ohne Zweifel so.

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist, dass er zwei völlig verschiedene Ebenen durcheinanderwirft: Die Haltung eines Menschen. Und der Inhalt seiner Botschaft. Niemand von uns hat das Recht, einem Menschen niedere Motive oder einen schlechten Charakter zu unterstellen, weil er Zigaretten raucht. Aber wenn dieser Mensch die These verbreitet, dass Rauchen harmlos sei und nicht süchtig macht, dann müssen wir das richtigstellen – auch wenn er ehrlich überzeugt davon ist. Denn sonst wären wir mitverantwortlich dafür, wenn Andere süchtig und krank werden. Keine Gemeinschaft kann auf Dauer nach dem Motto leben, dass nur die Haltung und nicht der Inhalt zählt – auch nicht die Kirche Jesu. Zwar steht es keinem Menschen zu, sich ein abschließendes Urteil über die Haltung, das Heil und die Motive anderer Menschen zu bilden. Gott allein ist der Richter! Nur er kann in die Herzen schauen. Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, die Inhalte der Botschaft von anderen Menschen anhand des biblischen Maßstabs zu beurteilen. Das Neue Testament fordert uns auf: Prüft alles! Es lobt Christen, die falsche Lehre zurückweisen.[11] Es ist nicht lieblos, auf inhaltliche Widersprüche zu Gottes Wort und Gebot aufmerksam zu machen, im Gegenteil: Wenn bei uns alles vertreten werden darf, solange man es nur authentisch tut, dann verlieren wir die gemeinsame Grundlage unseres Glaubens.

6. Der Rat des Gamaliel: Wir müssen nichts tun! Mit der Zeit werden sich die Konflikte ganz von selbst beruhigen!

Dieser Vorschlag, der sich an Apostelgeschichte 5, 33-42 orientiert[12], wirkt reif und souverän: Du musst Dich nicht verkämpfen! Gott ist in Kontrolle. Wenn Du recht hast mit Deiner kritischen Einschätzung, dann wird das mit der Zeit am ausbleibenden Segen von selbst sichtbar werden. Also reicht es, wenn Du mit Gott im Gebet darüber sprichst. Die Wahrheit und die Bibel muss nicht verteidigt werden. Das kann sie schon selbst. Dieser Vorschlag wirkt auf mich persönlich besonders attraktiv. Ich bin ein Harmoniemensch. Es kostet mich immer viel Überwindung, Anderen zu widersprechen. Wieviel Zeit und Nerven könnte ich sparen, wenn ich die Entwicklungen einfach Gott überlasse!

Aber das Problem an diesem Vorschlag ist: Er hat kein Fundament, weder in der Bibel noch in der Kirchengeschichte. Quer durch die Bibel kümmert Gott sich nicht einfach selbst um die falschen Lehren, Lehrer und Propheten. Immer wieder schickt er Menschen, um ihnen zu widersprechen. So schreibt Paulus an Timotheus: „Verkündige das Wort ‹Gottes›! Tritt dafür ein, ob es den Leuten passt oder nicht. Rede ihnen ins Gewissen, warne und ermahne sie! Verliere dabei aber nicht die Geduld und unterweise sie gründlich! Denn es wird eine Zeit kommen, da werden sie die gesunde Lehre unerträglich finden und sich Lehrer nach ihrem Geschmack aussuchen, die ihnen nur das sagen, was sie gern hören wollen.“ (2. Tim. 4, 2-3) Von Zurückhaltung keine Spur. Paulus scheut sich nicht einmal, dem Kirchenleiter Petrus öffentlich zu widersprechen, wenn dieser sich nicht evangeliumsgemäß verhält. Auch die frühen Kirchenleiter mussten intensiv gegen falsche Lehre vorgehen. Es hätte keine Reformation gegeben, wenn Luther nicht so klar und pointiert gegen falsche Lehre aufgetreten wäre. Die Kirchengeschichte zeigt zudem: Falsche Lehren verschwinden nicht einfach von selbst. Sie haben sich oft jahrhundertelang gehalten, zahllose Menschen irregeführt und ganze Werke und Denominationen zerstört. Die gemeinsame, verbindende Lehrgrundlage der Kirche war schon immer umkämpft. Sie musste zu allen Zeiten gegen Widerspruch verteidigt werden. Auch heute noch brauchen wir den Mut, falsche Lehre im geeigneten Rahmen öffentlich anzusprechen – liebevoll, demütig, differenziert, informiert und klug, aber so klar, dass Menschen und Gemeinden sich orientieren können. Nur so können wir die gemeinsame Grundlage unseres Glaubens und unserer Einheit bewahren.

Das Grundproblem: Einheit auf Kosten der Wahrheit zerstört die Einheit

Letztlich haben alle sechs Vorschläge das gleiche Problem: Unsere bisher verbindlichen und damit verbindenden Glaubensfundamente gelten nicht mehr objektiv für alle, sondern sie werden zu randständigen und subjektiven Wahrheiten herabgestuft. Die „Einheit“, die man auf diese Weise gewinnen kann, muss folglich auf andere Faktoren als das gemeinsame Bekenntnis setzen: Gemeinsame Traditionen, gemeinsame Frömmigkeitsformen, gemeinsames Vokabular und gemeinsame Institutionen. Tatsächlich können evangelikal geprägte Formate (Gemeinden, Bünde, Werke, Kongresse, Medien, Ausbildungsstätten …) durchaus lange davon zehren, dass man zusammen die gleichen Lieder singt, die gewohnten Begriffe benutzt und sich in langjährig gewachsenen Institutionen und Veranstaltungen trifft. Das Problem ist nur: Brücken ohne gemeinsame Bekenntnisgrundlage haben ein eingebautes Verfallsdatum. Denn früher oder später wirkt sich die unterschiedliche Theologie auch auf die Formen, die Lieder, die Strukturen und das Vokabular aus (man denke nur an die Gendersprache[13]). Und dann gibt es gar keine gemeinsame Grundlage mehr.

Und was noch schlimmer ist: Brücken ohne gemeinsame Bekenntnisgrundlage senden das Signal, dass die Bekenntnisse für uns nicht verbindlich sind. Das zerstört die Vertrauensgrundlage für die Einheit mit all den Gruppen, mit denen wir auch bisher schon ausschließlich durch das gemeinsame Bekenntnis verbunden waren.Gerade das ist ja das zentrale Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen: Sie bilden eine weltweite und kulturübergreifende Bewegung, obwohl sie über kein gemeinsames Lehramt, keine gemeinsamen Traditionen, Institutionen, Prägungen und Strukturen verfügen. Diese einzigartige Einheit in Vielfalt kann nicht bestehen, wenn die verbindenden Bekenntnisgrundlagen zerfallen, die sich aus den zentralen und klaren Aussagen der Heiligen Schrift ergeben.[14] Brückenbau über Bekenntnisgrenzen hinweg führt also immer dazu, dass zugleich bestehende Brücken geschwächt oder eingerissen werden. Wir sollten deshalb aufhören, solche Bestrebungen als Brückenbau zu feiern. Echter Brückenbau und echter Einsatz für Einheit in Vielfalt muss immer auch die Stärkung und Verteidigung unserer verbindlichen und verbindenden Bekenntnisgrundlagen beinhalten. Ansonsten kaschieren wir nur unsere Probleme, die dann im Hintergrund umso ungehinderter wuchern können.

Warum Haltung trotzdem wichtig ist

Obwohl ich diese 6 Vorschläge also für wenig zielführend halte, erkenne ich in ihnen trotzdem wichtige Wahrheiten, die wir unbedingt bedenken sollten:

  1. Eine Theologie, die nicht in eine gesunde Praxis führt, ist offenkundig ungesund.
  2. Ein rationales Fürwahrhalten von Dogmen ohne die gelebte Liebe zum lebendigen Christus führt nicht zu echter Herzenseinheit.
  3. Gelassenheit und Weite bei Rand-, Kultur- und Prägungsfragen ist eine ebenso wichtige Tugend wie die Wahrung unserer verbindenden Bekenntnisgrundlagen.
  4. Unsere Bibelauslegung bleibt fehlerhaft und unvollständig. Deshalb bleiben wir angewiesen auf die große Auslegungsgemeinschaft der historischen und weltweiten Kirche.
  5. Die Liebe glaubt und hofft immer (1. Kor. 13,7). In einer von Misstrauen und Skepsis geprägten Kultur kann nichts Gutes gedeihen.
  6. Bei allem aktiven Einsatz für eine gesunde Kirche brauchen wir zugleich die Gelassenheit, dass am Ende Gott selbst das allein Entscheidende tut.

Wir dürfen niemals vergessen: Widerspruch gegen falsche Lehre beinhaltet immer auch eine große Versuchung: So leicht fangen wir an, uns innerlich über andere zu stellen. So schnell bauen wir uns eine Identität aus dem Rechthaben, statt unseren Wert in Christus zu haben. So leicht lassen wir es zu, dass Widerspruch uns zynisch, verurteilend und bitter macht. Debatten und Konflikte sind manchmal notwendig. Aber es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, unser Herz dabei rein, weich und korrigierbar zu halten. Nicht selten verstecken sich ganz menschliche Abgründe hinter theologischem Streit. Gesunde Lehre muss eingebettet sein in einen Lebensstil des Gebets, in die gelebte Liebesbeziehung zu Jesus Christus, in eine echte Liebe zu den Menschen, egal ob sie uns zustimmen oder nicht.

Auf dem Weg zur Einheit, für die Jesus gebetet hat, haben wir alle noch viel zu lernen. Lasst uns gemeinsam beides tun: Die gesunde, verbindende Lehrgrundlage der Kirche Jesu hochhalten – und zugleich herunterkommen vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit. Unsere Hoffnung ist und bleibt Christus allein. Denn Einheit können wir nicht machen. Er selbst ist es, der die Glieder seines Leibes miteinander verbindet (Eph. 4, 15-16), durch sein Wort und seinen Geist. Ich sehne mich so sehr danach, dass diese christusgewirkte Einheit wächst – und dadurch ein Stück Himmelreich auf Erden sichtbar wird.


Fußnoten:

[1] Die 4 zentralen und verbindenden Merkmale der evangelikalen Bewegung sind gemäß dem Historiker D. Bebbington: Die Betonung der völligen Vertrauenswürdigkeit der Bibel, die Zentralität des Versöhnungswerks Christi am Kreuz durch seinen stellvertretenden Opfertod, die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung und der aktive Einsatz aller Christen für die Ausbreitung des Evangeliums. Alle diese Merkmale werden im postevangelikal/progressiven Umfeld hinterfragt oder offen abgelehnt: Die Autorität der Schrift (blog.aigg.de/?p=6707), der stellvertretende Opfertod Jesu (blog.aigg.de/?p=3887), die Notwendigkeit der Bekehrung (siehe Fußnote 4), und der Einsatz für Mission (siehe die Fußnoten 5 und 6).

[2] So schreibt z.B. Ulrich Eggers in der Zeitschrift AUFATMEN: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“

[3] So bekennt z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

[4] So schreibt z.B. Rolf Krüger, der ehemalige Leiter von jesus.de: „Gott wird nach dem Tod keine Bestrafung vornehmen … Wenn aber niemand vor Gott gerettet werden muss, sondern die Menschheit nur vor sich selbst, wenn es darum geht, dass Gott uns zu einem Lebensstil der Liebe und Versöhnung ruft, dann ist das Einmischen in die Politik sogar ein zentrales Element von Mission … Oder der Dialog mit anderen Religionen: Wenn ein Mensch Christ werden muss, um die Ewigkeit glücklich zu verbringen, können Moslems, Buddhisten oder Atheisten nicht einfach solche bleiben. Mission ist in diesem Fall erst mit einem Religionswechsel ein Erfolg. Im anderen Fall ist der nicht nötig, denn es geht um die Idee, für die Jesus steht … Ziel von Mission ist dann nicht ein Religionswechsel, sondern ein Gesinnungswechsel.“ In: „Der Elefant im christlichen Raum“, 15.1.2018, www.aufnkaffee.net/2018/01/der-elefant-im-christlichen-raum

[5] So äußert der Postevangelikale Torsten Hebel im „Hossa-Talk“: „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. Das glaube ich. Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren. Aber ich glaube auch, dass es in der Diesseitigkeit einen Riesenunterschied macht: Wofür setzt du dein Leben ein? … Und da sehe ich Bekehrung, also diese Umkehr hin zu dem anderen, diese Hinwendung, Mensch zu werden, wie es eigentlich gedacht war, – das empfinde ich schon als eine Art Bekehrung. Wenn das dann dazu dient, bin ich der erste, der wieder zur Bekehrung aufruft.“ In: Ex-Evangelisten unter sich. Hossa Talk Nr. 5, 11.1.2015, https://hossa-talk.de/hossa-talk-5-ex-evangelisten-unter-sich-mit-t-hebel/, ab 51:50.

[6] Siehe dazu der AiGG-Artikel „Transformation – Eine Aufgabe der Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5699), eine Rezension zum „Handbuch Transformation“, herausgegeben von Tobias Faix und Tobias Künkler, 2021, Neukirchener

[7] In: „Mission Zukunft“, SCM 2018, S. 292

[8] So sagt z.B. Thorsten Dietz im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Dietz schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“, so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] Siehe dazu den AiGG-Artikel: Das biblische Bibelverständnis: https://blog.aigg.de/?p=5853

[10] So heißt es in der Glaubensbasis der EAD: „Die Bibel… ist Offenbarung des dreieinen Gottes.“

[11]  Röm.12,2; 16,17; 1.Thess. 5,21; 1.Joh. 4,1; 2.Joh.1,10; Offenbarung 2,2

[12] Die fragwürdige Argumentation und die historische Wirkungsgeschichte rund um den „Rat des Gamaliel“ wird aufschlussreich dargestellt im äußerst empfehlenswerten Artikel: „Die Gamaliel-Strategie“ von Peter Bruderer (danieloption.ch/featured/die-gamaliel-strategie/) im Blog Daniel-Option, 2023

[13] Warum ich mich gerade auch als Christ niemals an diesen Eingriffen in die Sprache beteiligen kann, erläutert einer der meistgelesenen AiGG-Artikel: blog.aigg.de/?p=6323

[14] Dass das apostolische Glaubensbekenntnis schon für die frühen Kirchenväter letztlich nichts anderes war als ein Extrakt aus den zentralen und eindeutigen biblischen Botschaften, weist Christian Haslebacher nach in seinem sehr empfehlenswerten Artikel „Plädoyer für das Apostolische Glaubensbekenntnis – den zeitlosen Klassiker“ (https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/ ) im Blog Daniel-Option, 2021.

Grenzen der Einheit? Einheit ohne Grenzen?

Gedanken zu einem AUFATMEN-Gespräch zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl

Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das ist zweifellos eine Schlüsselfrage für die evangelikale Bewegung in Deutschland. In einer Serie von Artikeln haben Thorsten Dietz und Stephanus Schäl über diese Frage gesprochen.[1] Beide sind einflussreich im allianzevangelikalen Umfeld.[2] In welche Richtung denken sie? Kann man manches auch anders sehen? Gibt es fehlende Aspekte? Ein Beitrag zu einer Diskussion, die dringender denn je geführt werden muss.

Warum tun wir uns so schwer mit der Einheit, für die Jesus doch so intensiv gebetet hat? Zurecht weisen Schäl und Dietz darauf hin: Es sind allzuoft ganz menschliche Abgründe, die unsere Einheit untergraben. Wenn Machtstreben sich verbindet mit der Unfähigkeit, zwischen biblischer Aussage und eigener Bibelauslegung zu unterscheiden, dann kann Einheit nicht gelingen. Zudem betonen beide: Durch unsere Zugehörigkeit zu Christus sei Einheit ja schon Realität. Wir gehören zur gleichen Familie, egal ob wir uns lieben oder streiten. Deshalb sollten wir doch miteinander statt übereinander reden, Vorurteile und „Lagerdenken“ vermeiden, vom Kampf- in den Dialogmodus wechseln und stets die Begrenztheit der eigenen Perspektive im Blick behalten. Wenig hilfreich sei es, zwischen „innen” und „außen” bzw. zwischen „uns” und „ihnen” zu unterscheiden. Wir sollten Einheit nicht zerreden, sondern sie lieber erfahrbar werden lassen im Einsatz für gemeinsame Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche.

Ein fehlender Aspekt: Zurückweisung von falscher Lehre

All das lässt sich biblisch gut begründen. Allerdings findet man im Neuen Testament einen weiteren Aspekt zum Thema Einheit, der in der Artikelserie fehlt: Die notwendige Zurückweisung falscher Lehre. In den 7 Sendschreiben der Offenbarung nimmt dieses Thema sogar den größten Raum ein. Einige Briefe im NT (insbesondere der Judasbrief) sind regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehre. Das „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Römer 15, 7) steht im Neuen Testament durchgängig auf dem Fundament der apostolischen Lehre als einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage:

„Ich bitte euch aber, Brüder, nehmt euch vor denen in Acht, die von der Lehre abweichen, wie ihr sie gelernt habt! Sie rufen nur Spaltungen hervor und bringen den Glauben der Geschwister in Gefahr. Geht ihnen aus dem Weg!“ (Römer 16, 17)

Falsche Lehre wird von Paulus also ausdrücklich als Spaltungsursache benannt. Auch deshalb findet er so harte Worte, wenn am Evangelium etwas verändert wird (Galater 1, 8+9). Und er scheut sich nicht, für die Verteidigung des Evangeliums auch übereinander zu reden (zum Beispiel über die Verfehlungen von Petrus in Galater 2, 11-14).

Biblische Offenbarung als Basis für starke Mitte?

Schäl schreibt deshalb zurecht:

„Christliche Einheit braucht … das Festhalten an der biblischen Offenbarung als zuverlässige Richtlinie für Lehre und Leben. Wo die Bibel nicht mehr norma normans, also normierende Norm für Glauben, Theologie und Ethik ist, verkommt die Einheit zur Beliebigkeit.“

Und Thorsten Dietz ergänzt: „Eine starke Mitte kann sehr, sehr viel Buntes und Verschiedenes aushalten.“ Die Frage ist nur: Wie soll die verbindende starke Mitte definiert und der Inhalt der „normierenden Norm“ festgestellt werden, wenn wir zwar „Festhalten an der Wahrheit der Bibel“, aber zugleich wissen, „dass unsere eigene Perspektive auf diese Wahrheit begrenzt, stückhaft und unvollständig ist“ (Stephanus Schäl)?

Schäl schlägt einen Minimalkonsens vor: „Wir gruppieren uns um Christus, so wie er uns in der Bibel beschrieben wird. Und: Ich glaube, Einheit ist wirklich nicht möglich, wenn wir in Zweifel ziehen, dass die Offenbarung Gottes Grundlage für unser ganzes Denken ist.“ Reicht der so formulierte Bezug auf Christus, Bibel und Offenbarung, um zu gemeinsamen, verbindenden Kernüberzeugungen zu gelangen?

Vertrauen in die Haltung statt in prüfbare theologische Aussagen

Leider zeigt das Gespräch von Dietz und Schäl, wie auch solche konservativ klingenden Formulierungen unterlaufen werden können. Dietz greift die Aussagen von Schäl zwar zustimmend auf. Er kommentiert jedoch zugleich:

„Gemeinsamkeit kann nur dort entstehen, wo man einander den Glauben glaubt. … Einheit ist möglich, wo wir einander zugestehen, dass die Bibel für uns die Grundlage des Glaubens ist, … Ja, es gibt erhebliche Unterschiede, wie wir die Bibel auslegen und verstehen. Welche Worte wir heute für die Dreieinigkeit Gottes finden, ob und wie wir von Gottes Offenbarung reden und wie wir sie ins Verhältnis setzen zur Vielfalt der Religionen heute“.

Zunächst fällt auf: Die oberste Priorität hat hier nicht die biblische Norm, sondern das Vertrauen in die Haltung des Anderen. Wir sollen einfach glauben, dass für unser Gegenüber die Bibel die Grundlage ist – unabhängig davon, wie er die Bibel versteht und auslegt. Und unabhängig davon, wie bzw. ob überhaupt (!) er von Gottes Offenbarung redet.

Offenbarung und Sexualethik: Spezialfragen ohne Bekenntnisrang?

Zugleich warnt Dietz davor, „alle möglichen Spezialfragen, wie ich die Offenbarung verstehe oder wie ich Sexualethik deute, zu Bekenntnisrang hochzupushen.“ Hier ist wohlgemerkt nicht vom Buch der Offenbarung die Rede, sondern allgemein vom Offenbarungshandeln Gottes. Dazu bekennt schon das Nicäno-Konstantinopolitanum: Wir glauben an den Heiligen Geist, der … gesprochen hat durch die Propheten“. Und die deutsche evangelische Allianz formuliert in ihrer Glaubensbasis: „Die Bibel … ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben.“ Zur Sexualethik stellt sie klar: Der Mensch … ist als Mann und Frau geschaffen.“ Schon diese wenigen Beispiele zeigen: Hier muss man nichts mehr pushen. Aussagen zu diesen Themen haben schon längst Bekenntnisrang.[3]

In seinem Buch „Menschen mit Mission“ hatte Dietz formuliert: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Aber auch dieses maximal verknappte Bekenntnis kann in seinen Augen offenkundig keine Grundlage für eine gemeinsame starke Mitte sein. Im Gegenteil: Er warnt ausdrücklich davor, einige der dort formulierten Aussagen festzuschreiben.

Die Zusammenfassung der gemeinsamen Botschaft aller Christen, die Dietz in AUFATMEN dann selbst zu formulieren versucht[4], kommt tatsächlich ohne die Themen Sünde und Schuld, die Trennung des Menschen von Gott, Jesu Opfertod als alleinige Grundlage für Vergebung und den Freispruch in Gottes Gericht und auch ohne die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist aus – alles Themen, die die evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis für unaufgebbar wichtig hält. Die Allianz bekennt sich zudem in aller Klarheit zur Zentralität des stellvertretenden Sühneopfers – Dietz hingegen hat es schon 2019 in einem Worthausvortrag weitgehend relativiert.[5]

Die evangelische Kirche ist nicht beliebig

Trotzdem wendet sich Dietz gegen den Verdacht der Beliebigkeit in kirchlichen Kreisen:

„Viele Dinge werden dort sehr ernst genommen. Es wird z.B. sehr intensiv darüber diskutiert, ob man überhaupt noch Fleisch anbietet in kirchlichen Tagungshäusern. Es wird über Tempolimit und Tierschutz und Frauenrechte und die Rechte von Transmenschen geredet. Ich kenne in den Landeskirchen keine Menschen, die sagen würden: „Ich finde Beliebigkeit super, soll doch jeder, wie er will.”

Diese Aussage kann ich nur bestätigen. Schon 2020 habe ich ganz ähnlich geschrieben: „Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen.“[6] Beliebigkeit gibt es zwar nicht in der Kirche. Aber die Themen, bei denen in der Kirche Entschiedenheit gefordert wird, haben nur wenig mit den zentralen Bekenntnissen der Christenheit zu tun. Und bei diesen Themen ist definitiv noch weniger Einheit unter Christen zu gewinnen als bei den zentralen Glaubensfragen.

Besonders deutlich wurde das in der Abschlusspredigt zum letzten evangelischen Kirchentag von Pastor Quinton Ceasar. Darin hatte er geäußert:

„Wir können nicht mehr warten. … Die Zeit ist jetzt, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff. … es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.“

Was für eine proklamative Botschaft! Von Dialogbereitschaft und Wissen um die Begrenztheit der eigenen Perspektive keine Spur. Trotzdem kommentiert Dietz in einer Kirchenzeitung hocherfreut: „Schön, dass der Kirchentag den Mut hatte, mit einer so herausfordernden Botschaft zu schließen!“[7] In einem Facebookpost schreibt er zudem: „Gott steht jenseits der Geschlechterdifferenz. Gott ist weder Mann noch Frau. Und zugleich sind Mann und Frau zu seinem Bilde geschaffen (Gen 1, 27). Genau das ist doch der Sinn von Queer, jenseits der binären Geschlechterlogik. Und genau darum ist es für queere Menschen so tröstlich, sich das vor Augen zu führen. Wenn sie zum Bilde Gottes geschaffen sind und Gott queer ist, dann ist Gott wirklich ein safe place, das Gegenteil von dem, was sie in vielen Kirchen erfahren haben. Das ist für viele reinstes Evangelium.“

Polarisierung statt Annäherung

Diese Begeisterung für die Abschlusspredigt des Kirchentags bringe ich nur schwer zusammen mit den Aussagen von Dietz in AUFATMEN, in denen er sich Annäherung wünscht:

„Lasst uns wenigstens nicht mehr kaputt machen. Wir sehen, wie schlimm es werden kann und können daraus lernen: In die Richtung wollen wir auf keinen Fall weiter. Es müsste wieder zurück an runde Tische.“

Ich möchte Dietz diesen Wunsch gerne glauben. Aber Tatsache ist aus meiner Sicht: Es gab in letzter Zeit wohl kaum eine Predigt wie die von Quinton Ceasar, die so viel Zusammenhalt kaputt gemacht und Polarisierung unter Christen vorangetrieben hat. Denn während Ceasar seine Positionen als moralisch alternativlos darstellt, ist für zahlreiche Christen klar: Die Gesetzesbrüche und die angstmachenden Botschaften der sogenannten „Letzten Generation“ sind inakzeptabel. Das von der EKD finanzierte Rettungsschiff „Sea watch 4“, das unter einer linksradikalen Flagge fährt, ist kein passender Ausdruck von christlicher Diakonie und Nächstenliebe. Und zum Thema „Gott ist queer“ schreibt der Vorsitzende der deutschen evangelischen Allianz Reinhardt Schink:

„Gott lässt sich von uns nicht in ein bestimmtes “Raster” pressen, um menschliche, zumeist ideologische, Interessen theologisch zu legitimieren. Es gibt in der Geschichte leider viel zu viele Beispiele davon: Gott als Judenfeind, Gott als Antikatholik, Gott als Nationalist („Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern), Gott als Kommunist oder Antikommunist, Gott als Kolonialist, Gott als weißer Mann, Gott als männlich, weiblich oder “queer”. Den heiligen Gott in so ein Raster pressen zu wollen, ist eine völlig unangemessene und häufig blasphemische Vorstellung. All dies ist Gott nicht. Vielmehr zieht sich durch die gesamte Bibel wie ein roter Faden das Bekenntnis: Gott ist heilig.“

Deutlicher könnten die Gegensätze kaum sein.

Einheit ohne Grenzen? Jedenfalls nicht beim Thema Sexualethik!

Führt die Offenheit von Dietz nicht zu einer grenzenlosen Ökumene? Dietz antwortet:

„Die Grenze ist da, wo Menschen unfähig sind, ihre Bibelauslegung von der Bibel selbst zu unterscheiden … und wo unterschiedliche ethische Erkenntnisse das Christusbekenntnis an Gewicht überbieten.“

Demnach scheint grenzenlose Einheit tatsächlich möglich zu sein. Denn natürlich wird kein einigermaßen reflektierter Christ behaupten, dass seine Bibelauslegung 1:1 mit der tatsächlichen Aussageabsicht der Bibel übereinstimmt. Und kein Christ wird ethische Fragen über das Christusbekenntnis stellen.

Bemerkenswerterweise ist es aber Thorsten Dietz selbst, der an anderer Stelle der These von der grenzenlosen Einheit widerspricht. In der live auf dem Kirchentag aufgenommenen Podcastfolge 24 von „Karte und Gebiet“ sagt Dietz: Innergemeindliche „Einheit in Vielfalt“ oder „versöhnte Verschiedenheit“ kann beim Thema „Ehe für alle“ unmöglich funktionieren. Denn das wäre ja „versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen“.[8] Dietz bestätigt damit, worauf viele Konservative seit langem hinweisen: Wo progressive Sexualethik in einer bislang konservativen Gemeinde Raum gewinnt, da gibt es auf Dauer nur 2 Möglichkeiten: Entweder setzt sich eine der beiden Positionen durch. Oder es muss irgendeine Form von Trennung geben. Grenzenlose Einheit ist gerade auch bei Progressiven unmöglich, wenn es um die Sexualethik geht.

Das wurde zuletzt auch deutlich in einem Gottesdienst der Gemeinde „UND Marburg“, die unter anderem geleitet wird von Tobias Faix, dem Podcastpartner von Thorsten Dietz. In der Predigt wurde die These vertreten: Die „Aufregung“ um die Predigt von Quinton Ceasar und seinen Satz „Gott ist queer“ zeige, wie viel „Queerfeindlichkeit“ es immer noch unter Christen gebe. Von Offenheit für andere Positionen auch hier keine Spur, stattdessen die Unterstellung niedriger Motive. Das hört sich für mich nicht so an, als ob man hier wieder runde Tische mit Konservativen sucht.

Tiefe theologische Gräben

Zugleich wurden die Gottesdienstbesucher von UND-Marburg aufgefordert, beim „Vater-Unser“ den Begriff „Vater“ durch eine beliebige andere Anrede zu ersetzen. Es ist schon bemerkenswert: Während es in progressiven Kreisen fast als Verbrechen gilt, die selbstgewählten Pronomen einer Person zu ignorieren, setzt man sich bei der Anrede Gottes großzügig darüber hinweg, wie Gott selbst angesprochen werden möchte: „Ihr sollt vielmehr so beten: Unser Vater…“ (Matth. 6, 9)

Hinzu kommt: Gott kann natürlich unmöglich „queer“ sein in dem Sinne, wie der Begriff im Allgemeinen verwendet wird. Denn anders als wir Menschen hat Gott kein biologisches Geschlecht, mit dem er sich in Spannung befinden könnte. Er hat auch kein wie auch immer geartetes sexuelles Begehren. Zugleich macht Jesus deutlich, dass Gott mit der „binären Geschlechterlogik“ offenbar keinerlei Probleme hat:

„Habt ihr nie gelesen”, erwiderte Jesus, “dass Gott die Menschen von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hat? Und dass er dann sagte: ‘Deshalb wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden völlig eins sein.’? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Und was Gott so zusammengefügt hat, sollen Menschen nicht scheiden!”“ (Matthäus 19, 4-6)

Die Ehe von Mann und Frau ist für Jesus offenkundig eine Idee des Schöpfers – weshalb Scheidung für ihn normalerweise nicht in Frage kommen kann. Thorsten Dietz hingegen schreibt im Medienmagazin PRO: „Die Ehe ist keine christliche Idee. … Für Christen gilt: Der Wunsch nach Ordnung ist eng verknüpft mit Konservatismus. Zu dieser Ordnung gehört auch die Familie. Kurz gesagt: Je unruhiger die Welt, desto größer der Wunsch nach Erhalt und Ordnung. Die Ehe ist ein Ordnungsmittel. So erkläre ich mir den Hype darum.“[9] Der Ehe-„Hype“ des „Konservatismus“ ist also eine Folge von Ordnungssehnsucht? Auch diese Unterstellung niedriger Motive empfinde ich nicht gerade als Beitrag zum respektvollen Dialog. Und die Beispiele mögen zeigen: Hier werden theologische Wege eingeschlagen, die Evangelikale unmöglich mitgehen können – denn sie wären dann nicht mehr evangelikal.

Wie geht es weiter?

Wie werden wir wohl in 20 Jahren auf diese konfliktreiche Zeit zurückblicken? Schäl äußert dazu: „Ich glaube, wir schauen entspannter zurück, so wie wir jetzt auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, als die charismatische Bewegung aufkam. Heute schmunzelt man und ärgert sich ein bisschen.“ Sind also die Auseinandersetzungen unserer Zeit nur ein Sturm im Wasserglas, der sich mit der Zeit von selbst wieder legen wird?

Ich halte Schäl‘s Vergleich für fragwürdig. Denn genau wie Volker Gäckle (Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell) nehme auch ich wahr, dass die heutigen Konflikte viel zentralere Themen betreffen als der Streit um Charismen:

„Die Debatte nahm ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität und ist mittlerweile bei viel zentraleren theologischen Fragen gelandet: Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ [10]

Die Konflikte, die jetzt auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld aufbrechen, sind also im Kern die gleichen Konflikte, die im letzten Jahrhundert schon einmal im kirchlichen Umfeld aufbrachen. Im Zentrum standen damals wie heute die zentralen Fragen nach dem Schrift- und Offenbarungsverständnis, nach der Christologie und nach der Kreuzestheologie. Diese Konflikte haben sich nicht wieder beruhigt, im Gegenteil: Jahrzehnte später nutzt die EKD ihre noch verbliebene Macht mehr denn je, um Evangelikale von den Ausbildungsstätten und Leitungsgremien fernzuhalten.

Aus gutem Grund haben die evangelikalen Leiter im kirchlichen Umfeld damals gespürt: Wir müssen Parallelstrukturen bauen! So entstanden wunderbare evangelikale Verlage, Medien, Werke, Gemeinschaften und Großveranstaltungen, von denen auch ich sehr stark profitiert habe. Ich glaube nicht, dass diese evangelikalen Pioniere vom Lagerdenken getriebene Spalter waren. Denn sie hatten für ihre Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, handfeste Gründe:

Eine Theologie, die den Missionsauftrag entkernt

Mission und Evangelisation ist und bleibt das Herzensanliegen der Evangelikalen. Doch die Kirche fremdelt seit langem damit. Im Buch „Mission Zukunft“ fiel auch Michael Diener auf: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“Und Alexander Garth bemerkt: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ Die Gründe für diese Missionsphobie der EKD werden in diesem Buch überaus deutlich. So schreibt zum Beispiel der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ Gleich mehrfach wird ein Satz des Theologen Fulbert Steffensky zitiert:

„Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes. Mission heißt zeigen, was man liebt.“

War Paulus auf seinen Missionsreisen also „absichtslos“ unterwegs gewesen? Wollte er in erster Linie die Welt bereisen und anderen Menschen nur bei Gelegenheit von seinem schönen Lebenskonzept erzählen? Bernhard Meuser hält zurecht dagegen: „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ Diese auf dem Missionsbefehl basierende Perspektive ist in der EKD komplett verloren gegangen. Kein Wunder, dass evangelikale Pioniere auf Parallelstrukturen setzen mussten angesichts einer um sich greifenden Theologie, die mit Mission im biblischen Sinn vollständig inkompatibel ist.

Im Gespräch zwischen Schäl und Dietz könnte man hingegen den Eindruck bekommen: Die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung der Kirche wäre so klar, dass man darüber die theologischen Differenzen zurückstellen könnte.[11] Das erlebe ich tatsächlich vollkommen anders. Ich kenne keine Definition des Evangeliums und des Sendungsauftrags der Kirche, die in meiner evangelischen Kirche konsensfähig wäre und zugleich von Evangelikalen mitgetragen werden könnte. Mir zeigt das: Wenn unsere Theologie nicht in der Lage ist, den Bekenntniskern des Christentums zu schützen, dann gehen auch die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sendung verloren. Dann hat die Kirche keine Zukunft. Oder bildlich gesprochen: Wer auf die Praxis fokussieren will, während zugleich die zentralen theologischen Grundlagen verschwimmen, der ist wie ein Kapitän, der sich auf dem sinkenden Boot aufs Fischen konzentriert, statt das Leck zu verschließen.

Bibel und Bekenntnis sind unverzichtbar für Einheit in Vielfalt

Für gelingende Einheit in Vielfalt und für eine starke missionarische Dynamik ist deshalb eine verbindende Bekenntnisgrundlage (wie das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum oder die Glaubensbasis der evangelischen Allianz) unverzichtbar. Dabei muss klar sein: Bekenntnisse bilden natürlich immer auch eine Grenze! Sie sorgen für ein „innen“ und „außen“ und für die Unterscheidung zwischen „uns“ und „ihnen“.

Selbstverständlich sind Christen allen Menschen in Liebe zugewandt. Aber die Zugehörigkeit zur Einheit der Familie Gottes gilt nun einmal nur den Jüngern Jesu, die alles halten wollen, was Jesus uns geboten hat (Matthäus 28, 19). Die Lehre und Gebote Jesu finden wir ausschließlich in der Bibel. Es stimmt zwar, dass unser Verständnis der biblischen Aussagen manchmal undeutlich ist und Stückwerk bleibt. Aber in allen zentralen und heilsrelevanten Fragen sind die biblischen Aussagen doch so klar, dass Christen sie immer wieder in eindeutigen Bekenntnissen fassen und festschreiben konnten. Wenn aber selbst diese wenigen, allerzentralsten Bekenntnissätze in Frage gestellt werden, dann lässt das ganz offenkundig auf ein Bibelverständnis schließen, in dem die Bibel faktisch keine „normierende Norm“ mehr ist.

Die Geschichte der Christenheit zeigt: Die Bibel kann der Christenheit eine gemeinsame, verbindende Basis und eine starke Mitte geben, die uns hilft, viele randständige Differenzen fröhlich auszuhalten. Das gilt aber nur, wenn wir an dem Bibelverständnis festhalten, das die Bibel selbst bezeugt und das schon für die ersten Kirchenleiter galt: Die Bibel IST Offenbarung. Sie enthält oder bezeugt sie nicht nur. Hinter allen ihren Texten steht letztlich dieser eine Heilige Geist. Deshalb ist dieses Buch kein widersprüchliches und fehlerhaftes Durcheinander, sondern eine verlässliche und weithin verständliche Einheit. Wenn unser Schriftverständnis aber dazu führt, dass der Bekenntniskern verschwimmt, dann versandet auch die Einheit. Deshalb finden wir die orientierunggebende Zurückweisung falscher Lehre und das bekenntnishafte Benennen von Grenzen der Einheit nicht umsonst immer wieder im Neuen Testament. Beides ist unverzichtbar für ein gelingendes Miteinander und für eine starke, missionarische Kirche Jesu.

Mein Votum ist deshalb: Lasst uns beides wieder ganz neu schätzen lernen und praktizieren. Nicht aus Rechthaberei, Lagerdenken oder Machtstreben. Sondern aus Liebe zu den Menschen, zur Kirche Jesu und zu unserem Herrn, dem wir gemeinsam folgen.


Fußnoten:

[1] „Einheit oder Einheitlichkeit?“ In Aufatmen 2023, Ausgabe 2 (S. 52-58) und 3 (S. 44-47)

[2] Stephanus Schäl ist Dozent für Altes Testament an der Bibelschule Brake. Er ist stellvertretender Sprecher des Konvents der Evangelischen Allianz in Deutschland und Teil der EAD-Mitgliederversammlung. Prof. Dr. Thorsten Dietz lehrte bis 2022 als Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor. Jetzt ist er unter anderem zuständig für die Erwachsenenbildung der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz. Medial präsent ist er vor allem durch seine Arbeit bei RefLab, als einer der Hauptreferenten der Mediathek Worthaus, beim Podcast „Karte und Gebiet“ (gemeinsam mit Tobias Faix) sowie durch diverse Bücher (zuletzt Menschen mit Mission, SCM R. Brockhaus 2022). Seit 2020 ist er Mitglied des Trägervereins des ERF.

[3] Zur Sexualethik wird zudem z.B. im Helvetischen Bekenntnis und im Westminster Bekenntnis einiges ausgesagt, siehe dazu der Artikel „Das reformierte Glaubensbekenntnis zur Ehe für alle“ im Blog Daniel Option.

[4] Wörtlich schreibt Dietz: „Alle Kirchen verbindet der Glaube: Wir haben etwas wirklich Gutes zu erzählen und zu feiern. Die Jesus-Geschichte des Neuen Testaments wurde für die ersten Nachfolgenden ein Brennpunkt, in dem die Befreiungsgeschichten Israels zusammenliefen. Und zugleich öffneten sie sich zu einer umfassenden Einladung an alle Menschen, in diesem Jesus das unbedingte Ja Gottes des Schöpfers zu finden. Diese Botschaft von der großen Bejahung ist bis heute die Gründungsgeschichte der Christenheit, die es in immer neuen kreativen Formen weiterzuerzählen gilt.“

[5] Der Worthausvortrag „Der Prozess – Warum ist Jesus gestroben?“ von Thorsten Dietz (10.6.2019, worthaus.org/mediathek/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/) wurde ausführlich zusammengefasst und kommentiert in: Markus Till: „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“, in „Glauben &Denken heute“, Ausgabe 1/2020, S. 25-31, PDF-Download unter: blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf  

[6] Im AiGG-Blogartikel „Wie gelingt Einheit in Vielfalt“, 12.12.2020, blog.aigg.de/?p=5332 

[7] In: „Ist Gott queer?“, 16.6.2023, www.meine-kirchenzeitung.de/c-aktuell/ist-gott-queer_a41301

[8] So sagt er im Podcast „Karte und Gebiet“ Folge 24 „Live auf dem Kirchentag“ ab 36:50: Einheit in Vielfalt oder auch versöhnte Verschiedenheit „sind aber Dinge, die gehen ja nicht überall. Also nehmen wir „Ehe für alle“: Man kann in einer Gemeinde nicht Betroffenen zumuten, hier ‚Komm zum Gottesdienst‘ und die einen werden dich umarmen und sagen: Schön, dass Du da bist. Und die anderen werden sagen: Guten Morgen, aber Sünde ist es doch. Das ist irgendwie ein bisschen doof. Das wäre ein Kompromiss und versöhnte Verschiedenheit auf Kosten von Betroffenen.“ Er schlägt deshalb vor, im Rahmen eines „good disagreement“ „verschiedene Wege“ zu gehen, die „unterschiedliche Räume vorhalten“ , so dass „safe places“ für alle da sind.

[9] In: „Theologe Thorsten Dietz: Die Ehe ist keine christliche Idee“, Christliches Medienmagazin PRO, 18.6.2023, www.pro-medienmagazin.de/theologe-thorsten-dietz-die-ehe-ist-keine-christliche-idee/

[10] Volker Gäckle: „Windstille, Wandel und Gottes Wirken“, in „Lebendige Gemeinde“ 4/2021, S. 14, online unter https://lebendige-gemeinde.de/wp-content/uploads/2021/12/LG_2021_04_ChristusBewegung.pdf

[11] So sagt Schäl u.a. zu Dietz: „Ich finde, du setzt da einen ganz wichtigen Akzent: „Für alle Kirchen und Verbände dürfte das die entscheidende Herausforderung sein: Einheit nicht zu zerreden, sondern im Einsatz für gemeinsame Ziele erfahrbar werden zu lassen. Zentrale Bedeutung hat die Besinnung auf die gemeinsame Sendung der Kirche.” Ich schreibe ja, dass wir vom Kampf zum Dialogmodus gehen müssen. Und du setzt noch einen drauf: Wir müssen zum Sendungsmodus kommen. Ich finde das Ringen, das eher theoretische Ringen wichtig, aber der Punkt ist ja nicht, dass wir uns in einem Diskurs auf Einheit einigen, sondern dass wir als Kirche Jesu das umsetzen, was wir leben sollen.“

Die zentrale Herausforderung der Christenheit: Der schwindende Konsens bei den Kernüberzeugungen

Der schweizer Blogger Matt Studer hat mich gebeten, einen Gastartikel zu schreiben zu der Frage: Was ist im Moment DIE zentrale Herausforderung der Christenheit? Meine Antwort: Der schwindende Konsens bei den Kernüberzeugungen, der zur Folge hat, dass wir unsere Einheit, unsere Botschaft und unsere missionarische Dynamik verlieren. Das zeige ich am Beispiel meiner evangelischen Kirche, aber auch anhand von aktuellen Beispielen aus der evangelikalen Welt. Und ich habe einen Vorschlag, wie Einheit in Vielfalt wirklich gelingen kann.

Austritte, Skandale, Mitgliederschwund – darunter leiden nicht nur die großen Kirchen. Unter den mächtigen Megatrends wie Säkularisierung, Individualisierung und Polarisierung leiden alle Institutionen. Kein Wunder, dass sich viele kirchliche Leiter fragen: Wie kommen wir endlich „raus aus der Sackgasse“? Michael Diener schreibt dazu in seinem gleichnamigen Buch: …

Weiterlesen im mindmatt-Blog: www.mindmatt.com/post/g%C3%A4stebuch-markus-till-schreibt-%C3%BCber-den-schwindenden-konsens-der-christen-bei-den-kern%C3%BCberzeugungen

 

Ist Einheit zwischen progressiven und konservativen Christen möglich? – Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt

Der Begriff „evangelikal“ ist in Verruf geraten. Evangelikalen wird nachgesagt, sich besonders leicht für politische Ideologien vereinnahmen zu lassen und intolerant zu sein. Aber stimmt das auch? Trevin Wax hat auf der Internetseite der „Gospel Coalition“ die Ergebnisse eines Forschungsprojekts präsentiert, das das Phänomen des wachsenden Gegeneinanders zwischen „konservativen“ und „progressiven“ Christen beleuchtet. Die Ergebnisse sind überraschend – und auch für die evangelikale Welt in Deutschland hoch relevant!

Veröffentlicht wurden die Forschungsergebnisse in dem Buch „One Faith No Longer: the Transformation of Christianity in Red and Blue America“ („Nicht länger ein Glaube: Die Transformation des Christentums im roten und blauen Amerika“) von George Yancey und Ashlee Quosigk. Als konservativ galten dabei Christen, die glauben, dass die Bibel das irrtumslose Wort Gottes und Jesus der einzige Weg zur Erlösung ist. Christen, die dem nicht zustimmen, wurden als progressiv eingestuft. Ein grundlegendes Ergebnis der Untersuchung war:

„Progressive Christen … sind mehr, nicht weniger politisch als konservative Christen.“

Zudem ergaben sich aus den Untersuchungen und Interviews 3 überraschende Erkenntnisse in Bezug auf die Identität, die Toleranz und die missionarische Ausrichtung von progressiven bzw. konservativen Christen. Die erste Überraschung lautet:

1. „Progressive Christen definieren ihre Identität eher über Politik, während konservative Christen ihre Identität in der Theologie finden.“

Bei der Frage, mit wem man sich zusammengehörig fühlt, neigen progressive Christen dazu, sich weniger um theologische Übereinstimmung zu kümmern. Stattdessen stehen für sie politische Werte im Vordergrund. Konservative Christen hingegen legen (anders als oft behauptet) keinen großen Wert auf politische Übereinstimmung. Ihr Hauptanliegen ist die Frage, ob man in theologischen Kernpunkten übereinstimmt.

Die zweite Überraschung heißt folgerichtig:

2. „Konservative Christen sind eher bereit, über abweichende politische Auffassungen hinwegzusehen als progressive Christen.“

Wax berichtet: Schon zur Zeit von Donald Trump wehrten sich viele konservative evangelikale Führungspersönlichkeiten unter großen persönlichen Opfern gegen “konservative politische Ideologie”, wo sie biblischen Lehren und Werten widerspricht. Auch heute noch gibt es theologisch konservative Evangelikale mit großen Meinungsverschiedenheiten bei politischen Fragen. Bei progressiven christlichen Leitern ist das hingegen nicht der Fall. „Das einzige politische Thema, bei dem mehrere Blogger von der allgemeinen progressiven politischen Grundausrichtung abwichen, war das Thema Abtreibung”, so die Autoren, und selbst da war die Gegenwehr gering.“

Und die dritte Überraschung lautet:

3. „Progressive Christen missionieren eher konservative Christen als Nichtchristen.“

Wax schreibt: „Die allgemeine Auffassung ist, dass theologisch konservative Christen in einer Blase von Gleichgesinnten verharren. Aber die Untersuchungen von Yancey und Quosigk haben das Gegenteil gezeigt. Es sind theologisch progressive Christen, die sich mit homogen denkenden Gleichgesinnten umgeben, und ein Teil dieser Homogenität definiert sich durch eine “überwältigend negative” Sicht auf konservative Christen. … In der Tat ist die progressive Sicht der Konservativen so düster, dass sich Progressive eher mit Muslimen als mit konservativen Christen verbunden fühlen.“

Das hat Konsequenzen für die Frage, wen progressive Christen missionieren: „Die meisten progressiven Christen gründen ihre Religion nicht auf verbindlichen Gehorsam gegenüber der Bibel, und sie haben auch nicht das Bedürfnis, andere zu ermutigen, ihre Interpretation der Bibel zu akzeptieren oder gar den christlichen Glauben anzunehmen. Der Kern ihrer Religion beruht auf den Werten der Integration, der Toleranz und der sozialen Gerechtigkeit. … Die Menschen, die am meisten der “Bekehrung” bedürfen, sind deshalb nicht Ungläubige, sondern konservative Christen.“

Fazit

Trevin Wax kommt zu dem Schluss: „One Faith No Longer stellt die herkömmliche Vorstellung auf den Kopf, dass konservative Christen in besonderem Maße dazu neigen, unbiblischen politischen Ideologien zu verfallen, oder dass konservative Christen von Wut auf ihre theologischen Gegner erfüllt sind. Anhand von Recherchen und Interviews zeigen Yancey und Quosigk das Gegenteil: Es sind die Progressiven, die selten von ihrer politischen Grundausrichtung abweichen und Verachtung für die Konservativen hegen. Und die sich verhärtenden Grenzen zwischen diesen beiden Gruppen untermauern die These, die J. Gresham Machen vor einem Jahrhundert aufstellte: Wenn es um das Christentum und den theologischen Liberalismus geht, haben wir es wirklich mit zwei verschiedenen Religionen zu tun.“

Was heißt das für die Situation im deutschsprachigen Raum?

Meine Beobachtungen von Progressiven und Konservativen im deutschsprachigen Raum vermitteln mir den Eindruck: Die Polarisierung ist bei uns noch nicht so weit vorangeschritten. Der Trend geht aber in die gleiche Richtung wie in den USA. Und die Ursachen sind vergleichbar.

Zugleich sehen wir im allianzevangelikalen Umfeld unverkennbar einen sich verfestigenden Trend: Viele evangelikale Werke versuchen, die progressiven und postevangelikalen Stimmen in ihr Spektrum zu integrieren. Da dies zwangsläufig zu immer größeren theologischen Differenzen führt, redet man immer seltener über die eigene Glaubensbasis. Stattdessen wird immer stärker die Notwendigkeit von mehr „Ambiguitätstoleranz“ betont, also das Stehenlassen und Aushalten gegensätzlicher Positionen. Vielerorts sind die Verflechtungen und Sympathien auf den Leitungsebenen offenkundig so stark, dass es auf diesem Weg kein Zurück mehr zu geben scheint.

Aber kann dieser Integrationsversuch auf Dauer gelingen? Ist es möglich, dass Progressive, Postevangelikale und Konservative im gleichen Team spielen? Wenn nein: Sind daran wirklich nur die Konservativen schuld, wie oft behauptet wird?

Die Ergebnisse von „One Faith No Longer” legen nahe: Progressive sind zwar theologisch sehr tolerant. Aber das heißt nicht, dass sie insgesamt toleranter sind als Konservative. Sie haben einfach nur andere Identitätsmarker. Sie stehen konservativen Forderungen nach einer Rückbesinnung auf historische Glaubensgrundlagen und Bekenntnisse zurückhaltend oder ablehnend gegenüber. Stattdessen fordern sie eher eine rasche Anpassung der Kirche an gesellschaftliche Entwicklungen in Bereichen wie Gender, Gleichstellung, Sexualethik, Ökologie oder linke Wirtschafts-, Sozial- und Flüchtlingspolitik. Und sie sind bei diesen polarisierenden Themen deutlich weniger tolerant als Konservative.

Am geringsten ist ihre Toleranz jedoch oft in Bezug auf die konservativen Christen. Konservative verfolgen oft die Strategie, eine christliche Gegenkultur zu etablieren an Stellen, an denen sich die Gesellschaft von biblischen Normen entfernt. Von Progressiven werden sie deshalb tendenziell als Bremsklötze empfunden auf dem Weg „Raus aus der Sackgasse“ einer von ihnen empfundenen gesellschaftlichen Rückständigkeit und theologischen Enge der Konservativen. Das gleichnamige Buch von Michael Diener macht diese Sichtweise deutlich. Und es zeigt beispielhaft den von Wax beschriebenen missionarischen Eifer, Konservative zum progressiven Kurs bekehren zu wollen.

Was würde es bedeuten, wenn diese Beschreibung der Situation zwischen Konservativen und Progressiven auch nur einigermaßen zutrifft? Die Konsequenz wäre: Alle Aufrufe zum Miteinander würden am Ende nicht fruchten. Im Gegenteil: Mit der Zeit würde immer deutlicher werden, dass Konservative und Progressive vielfach gegensätzliche Ziele verfolgen. Dann würde sich die Entscheidung, Progressive und Postevangelikale ins evangelikale Spektrum integrieren zu wollen, als historischer Fehler erweisen, weil sie zwangsläufig dorthin führt, wo man andernorts schon angekommen ist: In immer tieferer innerer Entfremdung und wachsendem Gegeneinander (wie in den USA), in offenen Spaltungen (wie bei den weltweiten Methodisten) oder in der weitgehenden Verdrängung der Konservativen (wie in der evangelischen Kirche).

Ich wünsche mir keines dieser Szenarien. Deshalb werde ich nicht aufhören, in der evangelikalen Welt Werbung dafür zu machen, die eigene Glaubensbasis hochzuhalten. Dafür ist es so wie im Neuen Testament notwendig, im Bedarfsfall nicht nur positiv vom eigenen Glauben zu reden sondern in zentralen Glaubensfragen auch „nein“ zu sagen zu Lehren und Einflüssen, die der eigenen Glaubensbasis widersprechen. Glaubensverteidigende Apologetik war schon immer ein wichtiges Feld der Theologie. Sie gehörte zu allen Zeiten zum Aufgabenbereich christlicher Leiter. Sie wird heute dringender denn je gebraucht.


Der Artikel „3 Surprises from New Research on ‘Progressive’ and ‘Conservative’ Christians“ von Trevin Wax, aus dem die Zitate dieses Artikels stammen, kann hier vollständig nachgelesen werden: https://www.thegospelcoalition.org/blogs/trevin-wax/research-progressive-conservative-christians/

Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Dieser Artikel ist in etwas kürzerer Form zuerst erschienen in IDEA Spektrum Ausgabe Nr. 49.2020 vom 2.12.2020

Ich liebe Einheit in Vielfalt. Es begeistert mich, wenn Christen aus verschiedenen Kirchen, Generationen und Prägungen zusammen kommen, um gemeinsam Jesus zu feiern und ihren Glauben zu bezeugen. Jesus selbst hat intensiv für Einheit gebetet. Und er hat dabei deutlich gemacht: Die Glaubwürdigkeit unseres Christuszeugnisses hängt auch von unserer Einheit ab (Johannes 17, 23).

Deshalb habe ich mich immer sehr darüber gefreut, dass wir Evangelikale bei aller Vielfalt ein paar zentrale Glaubensüberzeugungen haben, die wir ganz selbstverständlich gemeinsam glauben, feiern und bekennen können. Dazu gehörten für mich zum Beispiel:

  • Der Glaube, dass Gott in der Geschichte übernatürlich eingreift und sich übernatürlich offenbart hat.
  • Der Glaube an die Leiblichkeit der Auferstehung und die Historizität des leeren Grabs.
  • Der Glaube an den Kreuzestod Jesu als ein stellvertretendes Opfer für die Vergebung unserer Sünden.
  • Das Vertrauen, dass die biblischen Texte Offenbarungscharakter haben.

Ohne es mir bewusst zu machen habe ich mich immer ganz selbstverständlich darauf verlassen, dass diese Punkte klar sind, wenn ich zum Christustag oder auf einen Willow-Kongress gehe, wenn ich einen Prediger einlade, der von einer KBA-Ausbildungsstätte kommt, wenn ich für ein evangelikales Missionswerk spende, wenn ich ein Buch des Hänssler-Verlags kaufe, wenn ich ERF höre oder wenn ich unsere Gemeindejugend auf ein Event des CVJM schicke. Diese Punkte waren selbstverständliche Ankerpunkte meiner evangelikalen Identität und Heimat. Und ich habe es immer als etwas höchst Verbindendes empfunden, zu wissen: Das bezeugen wir gemeinsam. Dafür können wir fröhlich unsere Differenzen zurückstellen, denn am wichtigsten ist doch, dass alle Welt von uns als große Gemeinschaft hört: Unser Gott ist kein ferner, kein schweigender Gott. Das Grab war leer. Jesus hat den Tod besiegt. Er ist am Kreuz stellvertretend für unsere Schuld gestorben. Und wir haben mit der Bibel ein verlässliches Zeugnis darüber, wer und wie Gott ist.

Der Verlust der gemeinsamen Kernüberzeugungen

In den letzten 3 Jahren musste ich im Rahmen meiner Beschäftigung mit Formaten wie Worthaus aber feststellen: Alle diese Kernüberzeugungen werden inzwischen auch mitten in der evangelikalen Welt lautstark inhaltlich in Frage gestellt, subjektiviert oder offen verneint. Ich schreibe bewusst „inhaltlich“, weil die Begrifflichkeiten ja oft noch beibehalten werden und man erst bei genauem Hinhören merkt, dass die Inhalte völlig anders sind. Und mit „subjektiviert“ meine ich: Vielleicht lässt man die evangelikale Position noch gelten, aber eben nicht mehr als gemeinsame Grundüberzeugung sondern nur noch als persönliche Glaubensoption, die jemand für sich persönlich haben kann, falls das für ihn hilfreich ist, die man doch aber bitte nicht zum Maßstab für Alle machen soll.

Auch im evangelikalen Umfeld sind somit ganz offenkundig die Zeiten vorbei, in denen Christen ganz selbstverständlich gemeinsame Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens geben konnten. Kein Wunder, dass christliche Leiter immer öfter die Frage stellen: Wie können wir dann noch beieinander bleiben? Wie kann angesichts der wachsenden Differenzen heute noch Einheit in Vielfalt gelingen? Auf welcher gemeinsamen Basis stehen zukünftig die evangelische Allianz und all die vielen evangelikalen Werke und Initiativen, die auf Einheit in Vielfalt existenziell angewiesen sind?

Wie umgehen mit dem verloren gegangenen Konsens?

Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Strategien für den Umgang mit einem verloren gegangenen Konsens: Man kann entweder versuchen, um den Konsens zu ringen und ihn wiederherzustellen. Oder man kann den verlorenen Konsens bewusst loslassen und stattdessen zu Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Standpunkten aufrufen. Je nachdem, welche Strategie man für richtig hält, wird man ganz unterschiedliche Menschen als Brückenbauer empfinden:

  • Anhänger der Konsensstrategie sehen Brückenbauer dort am Werk, wo um die Gültigkeit zentraler gemeinsamer Glaubenswahrheiten gerungen wird.
  • Anhänger der Toleranzstrategie werden hingegen gerade dieses Festhalten an gemeinsamen Glaubensüberzeugungen als einheitsgefährdend ansehen, weil das ja alle die ausschließt, die an diese Überzeugungen nicht (mehr) glauben können oder wollen. Stattdessen werden sie solche Menschen als Brückenbauer empfinden, die die Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten in Frage stellen (die also Glaubenswahrheiten subjektivieren), um damit Raum für sich widersprechende Positionen zu schaffen.

Meine Beobachtung ist: Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansätzen wird zunehmend scharf geschossen, auch mitten im evangelikalen Umfeld. Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen: Welche Sichtweise stimmt? Brauchen wir mehr Konsens? Oder mehr Toleranz? Und was verbindet uns noch, wenn wir keine gemeinsamen theologischen Positionen mehr formulieren können?

Die Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern eine Person

Anhänger der Toleranzstrategie antworten auf diese Frage oft in etwa wie folgt: Die verbindendende Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Seine grenzenlose Liebe und Annahme hilft uns, Enge und Rechthaberei zu überwinden, uns einander in aller Unterschiedlichkeit anzunehmen, uns gegenseitig unseren Glauben zu glauben und Raum zu geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse.

Ich halte diese Sichtweise im Prinzip für absolut richtig. Jesus selbst, die Wahrheit in Person, ist das Haupt der Gemeinde, das die Glieder miteinander verbindet (Epheser 4, 15-16). Echte Einheit lebt immer von der gemeinsam gelebten Christusbeziehung und von der erlebten Liebe, Gnade und Vergebung, die uns auch gnädig und barmherzig füreinander machen kann. Ein theologischer Buchstabenkonsens wird die verbindende Kraft einer gelebten Christusbeziehung niemals ersetzen können. Zudem bin ich der Meinung: Natürlich brauchen wir in Randfragen Weite für respektvolle, unverkrampfte Debatten. Christen werden niemals in allen Fragen einer Meinung sein. Für Einheit in Vielfalt dürfen und müssen wir deshalb unterschiedliche Positionen aushalten lernen. Und meine Erfahrung ist: Wo die Liebe zu Jesus im Mittelpunkt steht, da gelingt das in aller Regel auch.

Trotzdem müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die immer öfter und lauter formulierten Forderungen nach mehr Weite und Toleranz nicht geholfen haben, im Gegenteil: Der Riss, der oft mitten durch die evangelikal geprägten Werke und Gemeinschaften geht, scheint stetig tiefer zu werden. Woran liegt das?

Politische Polarisierung statt theologischem Streit

Zum einen stelle ich fest: Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue moralistische Trennmauern aufgerichtet. Wo es keine theologischen Häresien mehr gibt, da treten ethische und politische Häresien an ihre Stelle. Und da zeigt sich: Auch „liberale“ Positionen können äußerst intolerant, aggressiv und herablassend gegenüber anderen Standpunkten auftreten und spaltend wirken.

Wer und wie ist Christus eigentlich?

Das zweite, noch größere Problem ist aus meiner Sicht: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ subjektiv vollkommen unterschiedlich gefüllt werden kann. Denn die Fragen stellen sich ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der unsere verbindende Mitte sein soll? Was hat er gelehrt? Was hat er für uns getan? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wie können wir mit ihm in Verbindung treten? Unsere einzige Informationsquelle zu solchen Fragen ist die Bibel. Wenn die Bibel aber kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird alles subjektiv. Dann ist es letztlich unmöglich, auf solche Fragen gemeinsame Antworten finden zu können.

Ohne gemeinsame Antworten auf diese innersten Kernfragen des Glaubens haben wir als Kirche Jesu aber auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann gibt es letztlich nichts mehr, was wir trotz aller Unterschiedlichkeit ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und bezeugen können. Dann fällt die Kirche Jesu auseinander – wenn nicht im Streit um theologische Fragen, dann doch (was noch wesentlich schlimmer ist) in einem schleichenden Prozess der inneren Entfremdung. Hinzu kommt: Ohne gemeinsame Botschaft verliert die Kirche Jesu ihr Profil – und marginalisiert sich dadurch selbst. Denn wo alles gleich gültig ist, da wird am Ende alles gleichgültig. Und da kann es dann auch keine Einheit mehr geben.

Der Schatz der gemeinsamen Bekenntnisse

Deshalb bin ich überzeugt, dass Einheit in Vielfalt nur gelingen kann, wenn zur gelebten Christusmitte auch gemeinsam geteilte Glaubensüberzeugungen hinzukommen. Ganz offenkundig haben das auch die frühen Christen gespürt. Sie haben extrem viel Energie investiert, um auf Basis der biblischen Schriften gemeinsame Bekenntnisse zu formulieren. Das nicäno-konstantinopolitanische Bekenntnis gilt größtenteils bis heute in den protestantischen, in der katholischen, in der anglikanischen und sogar in den orthodoxen Kirchen als Glaubensgrundlage. Und ich frage mich: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn ausgerechnet wir Christen im Westen es heute nicht mehr für wichtig halten, ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist und ob er von einer Jungfrau geboren wurde oder nicht? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt ein gewaltiger Schatz, wenn alle Christen wenigstens diese wenigen Sätze ganz selbstverständlich gemeinsam glauben und bezeugen könnten?

Die missionarische Dynamik geht verloren

In meiner evangelischen Kirche fällt mir das besonders auf: Ohne gemeinsame Botschaft gibt es nichts mehr, wofür man sich gemeinsam engagieren und Opfer bringen möchte. Da verlieren wir die gemeinsame Leidenschaft, und damit auch die missionarische Dynamik.

Kaum jemand weiß das so gut wie Ulrich Parzany. Evangelisationen wie Pro Christ leben davon, dass unterschiedlichste christliche Gruppen ihre Differenzen zurückstellen und sich gemeinsam engagieren für dieses eine Evangelium. Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet ein Vollblutevangelist, der schon so viele verschiedene Christen zusammengeführt hat, sich heute so intensiv dafür einsetzt, dass wir unsere zentralen Bekenntnisse und Glaubensüberzeugungen bewahren. Ein Evangelist bemerkt nun einmal zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.

Grenzzieher werden ausgegrenzt

Auch den Schreibern des Neuen Testaments war es wichtig, den Menschen nicht nur das Evangelium vor Augen zu malen, sondern es auch deutlich gegen falsche Lehren abzugrenzen. Heute fällt mir jedoch auf: Wer als „Grenzzieher“ auftritt, weil er den Konsens in den Kernfragen des Glaubens verteidigen und bewahren möchte, wird eher gemieden und ausgegrenzt. Statt sachlicher Debatte steht schnell der Vorwurf der „Rechthaberei“ oder die Unterstellung von „Angst“ oder gar „Denkfeindlichkeit“ im Raum. Man weist auf (ohne Zweifel vorkommende) fragwürdige und lieblose Äußerungen hin. Aber man redet kaum über berechtigte Impulse, die von solchen Leuten kommen.

Kein Teamgeist ohne Toreschießen

Das finde traurig. Denn die Verteidigung der christlichen Kernüberzeugungen ist aus meiner Sicht ein unverzichtbarer Dienst an der Einheit der Christenheit. Kirche ohne theologische Grenzen wirkt auf mich wie ein Fußballteam, das nicht nur über Taktik und Aufstellung diskutieren will, sondern auch darüber, ob es überhaupt richtig ist, Tore schießen zu wollen. Das kann man ja machen. Man kann es sogar sympathisch finden, wenn alles offen zur Diskussion steht und wenn man der anderen Mannschaft nicht wehtun will. Aber es hat dann halt nichts mehr mit Fußball zu tun. Und wenn das Team dann absteigt und auseinanderfällt ist das nicht die Schuld derer, die an die Regeln erinnern und Tore schießen wollen.

Anders ausgedrückt: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht eben nicht nur der Konsens in Randfragen verloren, sondern auch der zentrale Grund, der uns überhaupt zusammen geführt hat. Da verlieren wir unser gemeinsames Ziel, unsere gemeinsame Leidenschaft und die Bereitschaft, uns trainieren zu lassen und miteinander für diese Leidenschaft Opfer zu bringen. Genau dieser Abwärtstrend ist heute in so vielen liberal geprägten Kirchen schmerzlich spürbar.

Große Brücken brauchen starke Pfeiler

Dabei geht es doch auch anders. Ich habe in den letzten Jahren viel Versöhnung unter Christen erlebt. Ich freue mich heute über freundschaftliche Verbindungen zu ganz unterschiedlich geprägten Christen mit verschiedenen theologischen Positionen in ganz unterschiedlichen Fragen. Fröhliche Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich! Sie wächst ganz offenkundig um eine gemeinsame Leidenschaft für einen starken, gemeinsamen Kern herum. Da wird “Kirche” lebendig. Da kommt sie in Bewegung. Wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum einen starken, fest gegründeten Pfeiler, der diese Brücken tragen kann. Diese verbindende Mitte kann nur Jesus Christus sein. Damit der Begriff „Christus“ aber nicht zur beliebig füllbaren Formel verkommt, brauchen wir die Autorität der Heiligen Schrift und das Festhalten an den Bekenntnissen. Sonst bricht dieser Pfeiler schnell zusammen.

Lassen Sie uns deshalb aus Liebe zur Kirche und zu den Menschen gemeinsam dafür beten und arbeiten, dass dieser gemeinsame, verbindende Kern nicht verloren geht sondern ganz neu wertgeschätzt, verteidigt und hochgehalten wird.

Einheit zwischen Enge und Beliebigkeit

Wie wächst Einheit? Und was zerstört sie? Das sind entscheidende Zukunftsfragen für die Kirche Jesu. Unser Herr hat nicht nur intensiv für Einheit gebetet. Er hat zudem klar gestellt: Nicht nur unser Zusammenhalt, auch unsere evangelistische Strahlkraft hängt daran (Johannes 17, 21-23). Aber obwohl der Ruf nach Toleranz für mehr Einheit in Vielfalt scheinbar in aller Munde ist – es vergeht doch kaum eine Woche ohne Klagen über Risse, Gräben und Konflikte unter Christen. Könnte es sein, dass wir zu einseitig auf dieses wichtige Thema schauen? Tatsächlich macht die Bibel deutlich: Wenn wir wirklich Einheit wollen, dann müssen wir immer 3 Dinge im Blick behalten:

1. Es ist Christus, der Einheit schafft!

Toleranz schafft keine Einheit. Weite schafft keine Einheit. Echte Einheit kommt immer von Christus:

„Stattdessen lasst uns in Liebe an der Wahrheit festhalten und in jeder Hinsicht Christus ähnlicher werden, der das Haupt seines Leibes – der Gemeinde – ist. Durch ihn wird der ganze Leib zu einer Einheit.“ (Eph.4,15+16a)

Das bedeutet: Echte Herzenseinheit ist etwas Übernatürliches. Sie ist ein Geschenk, das wir aus uns selbst heraus nicht machen, nicht produzieren und deshalb auch nicht einfach so einfordern können. Einheit wächst, wenn wir zu Christus aufschauen. Christus als Fundament und als Haupt seines Leibes fügt die vielfältigen Glieder der Gemeinde zu einer Einheit zusammen.

2. Gottes Geist schützt uns vor Enge

Aber wie macht Jesus das? Bevor Jesus ging, hat er das Kommen seines Geistes angekündigt (Johannes 16, 7). Es ist dieser Geist, der…

… die Liebesbeziehung zum himmlischen Vater lebendig und kraftvoll werden lässt (Galater 4, 6) und „uns tief im Herzen bestätigt, dass wir Gottes Kinder sind.“ (Römer 8, 16) Dieses Wissen kann uns eine feste, gesättigte Identität verleihen. Als geliebte Königskinder sind wir sehr viel weniger anfällig dafür, unsere Identität aus einem einflussreichen Posten oder aus dem Beifall von Menschen zu nähren. Das macht gelassen und einheitsfähig.

… christusgemäße Früchte in uns wachsen lässt, die für harmonische Beziehungen unerlässlich sind: Liebe. Frieden. Geduld. Freundlichkeit. Güte. Treue. Sanftmut. (Galater 5, 22-23)

… uns unsere Schuld und unsere Fehlerhaftigkeit offenbart (Johannes 16, 8) und uns somit spüren lässt: Wir leben alle aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Das macht demütig. Das hilft uns, auch anderen gegenüber gnädig und barmherzig zu sein. Das hilft uns, zu vergeben, so wie auch uns vergeben wurde.

… uns hilft, die Bibel mit den Augen des Autors zu lesen, damit biblische Lehre nicht menschlich verengt wird und damit Speziallehren nicht zu Spaltpilzen werden.

… uns hilft, die Gebote Jesu zu leben, die wir aus eigener Kraft niemals leben könnten. Eine geist-lose Kirche hat immer nur die Wahl, entweder liberal oder gesetzlich zu werden. Beides spaltet die Kirche gleichermaßen.

Deshalb sind wir unbedingt angewiesen auf diese geistgewirkte Verbindung zu Christus. Sie schützt uns vor der Enge, die unsere Einheit zerstört.

3. Gottes Wort schützt uns vor Beliebigkeit

Paulus sagt aber auch: Wir sollen „in Liebe an der Wahrheit festhalten und in jeder Hinsicht Christus ähnlicher werden.“ Was ist denn die Wahrheit? Wer und wie ist denn dieser Christus, dem wir immer ähnlicher werden sollen? Wie hat er gelebt? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Was denkt er darüber, wie wir leben sollen?

Unsere zentrale und letztlich einzige Informationsquelle zu diesen wichtigen Fragen ist die Bibel. Wenn alle Christen sich diesem biblischen Christus nähern, dann finden Sie automatisch auch immer näher zueinander – trotz aller Vielfalt an Prägungen, Erfahrungen, unterschiedlichen Schwerpunkten und trotz aller Unterschiede in Auslegungsdetails. Wenn aber die biblischen Texte selbst in Frage gestellt sind, dann können sie kein gemeinsamer Maßstab und keine gemeinsame Mitte mehr sein. Wenn wir meinen, dass die Bibel nur alte Erfahrungen enthält, die heute so nicht mehr gelten und die zudem nur mit bibelwissenschaftlichen Mitteln entschlüsselt werden können, dann verlieren wir die Offenbarungsqualität und die Klarheit der Schrift. Dann verirren wir uns in unterschiedliche, ja gegensätzliche Christusbilder.

Auch theologische Experten werden daran nichts ändern können, denn sie sind sich ja selbst nicht einig, wer und wie dieser Christus ist. Wenn die Bibel keine allgemeinverständlichen zeit- und kulturübergreifenden Wahrheiten enthält, dann gibt es für diese Grundlage der Kirche Jesu keinen Ersatz. Dann wird unser Bild von Christus subjektiv und beliebig. Dann wird die gute Nachricht, die die Kirche an Christi statt weitergeben soll (2. Kor. 5, 20), unklar und vielstimmig. Dann gibt es zur Frage nach der Aufgabe und Ausrichtung von Gemeinde keine Einigkeit mehr. Dann haben wir nicht einmal mehr eine gemeinsame Diskussionsbasis für das gemeinsame Ringen um einen „jesusmäßigen“ Kurs der Kirche Jesu. Dann verliert die Kirche ihre gemeinsamen Bekenntnisse, ihre gemeinsame Botschaft und ihre gemeinsame Ausrichtung. Dann fangen wir in unseren Gemeinschaften an, in völlig verschiedene Richtungen zu ziehen. Dann lähmt und spaltet sich die Kirche selbst.

Deshalb sind wir unbedingt angewiesen auf dieses feste Vertrauen in die Verlässlichkeit und Gültigkeit der heiligen Schrift als das zuverlässige Wort Gottes, das unser gemeinsamer Maßstab für alle Fragen des Glaubens und des Lebens ist. Das schützt uns vor der Beliebigkeit, die unsere Einheit zerstört.

Unsere Einheit steht auf 2 Beinen: Gebet und Gottes Wort

Als die Gemeinde in Jerusalem wuchs und es dadurch immer mehr organisatorische Aufgaben zu bewältigen gab, trafen die Apostel eine kluge Entscheidung:

„Wählt unter euch sieben Männer mit gutem Ruf aus, die vom Heiligen Geist erfüllt sind und Weisheit besitzen. Ihnen wollen wir die Verantwortung für diese Aufgabe übertragen. Auf diese Weise haben wir Zeit für das Gebet und die Verkündigung von Gottes Wort.“ (Apostelgeschichte 6, 3-4)

Die Apostel wussten genau, was die beiden entscheidenden Faktoren sind, um diese schnell wachsende, extrem bunte und vielfältige Truppe zusammen zu halten: Zum einen die praktisch gelebte Beziehung zu Jesus Christus im Gebet und in der Anbetung. Und dazu die gesunde Lehre (Titus 1, 9) der Propheten und der Apostel, die wir heute in geschriebener Form in der Bibel finden. Genau das bildet auch für Paulus das entscheidende Fundament für die Kirche Jesu:

„Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein.“ (Epheser 2, 20)

Natürlich ist Gebet und Gottes Wort ist nicht alles. Zum erfolgreichen Gemeindebau gehört noch sehr viel mehr. Aber ohne Gebet und Gottes Wort ist alles nichts. Der geistgewirkte Fokus auf Jesus Christus, der durch Gebet und Gottes Wort jeden Tag praktisch gefördert wird, ist und bleibt die entscheidende Grundlage für unsere Einheit und evangelistische Ausstrahlung.

Lassen Sie uns gemeinsam diese Einheit suchen. Oder besser formuliert: Lassen Sie uns gemeinsam Jesus Christus suchen im Gebet und in seinem Wort. Er schenkt uns die Einheit, nach der wir uns alle sehnen und die wir so dringend brauchen.


Weiterführend dazu: Umkämpfte Einheit – Ein Frontbericht

 

Wie geht Einheit? Das Paulus-7-Punkte-Programm

Was braucht es, damit Christen untereinander einig sein können? Paulus stellt dazu das folgende simple Rezept mit 7 Zutaten zusammen (Kolosser 3, 12-16):

  1. Da Gott euch erwählt hat, zu seinen Heiligen und Geliebten zu gehören, seid voll Mitleid und Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftheit und Geduld.
  2. Seid nachsichtig mit den Fehlern der anderen und vergebt denen, die euch gekränkt haben. Vergesst nicht, dass der Herr euch vergeben hat und dass ihr deshalb auch anderen vergeben müsst.
  3. Das Wichtigste aber ist die Liebe. Sie ist das Band, das uns alle in vollkommener Einheit verbindet.
  4. Euren Herzen wünschen wir den Frieden, der von Christus kommt. Denn als Glieder des einen Leibes seid ihr alle berufen, im Frieden miteinander zu leben.
  5. Und seid immer dankbar!
  6. Gebt den Worten von Christus viel Raum in euren Herzen. Gebraucht seine Worte weise, um einander zu lehren und zu ermahnen.
  7. Singt, von Gnade erfüllt, aus ganzem Herzen Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder für Gott.

Jesus, bitte fülle mich heute mit Deinem Wesen und Deinem Charakter. Ich möchte so leben, dass jeder Mensch, dem ich begegne, etwas von Deinem Erbarmen, Deiner Freundlichkeit, Deiner Sanftmut und Geduld spüren kann. Hilf mir demütig zu sein, damit ich mich nicht über andere Menschen erhebe.

Hilf mir, denen zu vergeben, die mich gekränkt haben. Erinnere mich immer wieder daran, wie sehr ich davon lebe, dass Du mir so unendlich viel mehr vergeben hast.

Fülle mich mit Deiner Liebe für die Menschen. Du weißt um diejenigen, die ich eigentlich nicht mag. Aber Du liebst sie. Du bist für sie gestorben. Berühre mich mit Deiner aufopferungsvollen, bedingungslosen und vorauslaufenden Liebe, damit ich in Dir andere Menschen nicht nur stehen lassen sondern wirklich lieben kann.

Wo ich aufgewühlt bin, will ich jetzt wieder eintauchen in Deinen Frieden, der nicht von Umständen abhängig ist sondern vom Kreuz kommt, wo Du Frieden zwischen mir und Dir erworben hast.

Vertreibe mein Mürrischsein und meine Unzufriedenheit mit Dankbarkeit für all das Gute, das Du mir geschenkt hat. In Dir bin ich jederzeit überreich beschenkt.

Fülle meine Gedanken mit Deinen Worten. Ich will sie lesen, hören, darüber nachdenken und meditieren. Deine kostbaren Worte sollen mich jeden Tag noch mehr prägen und mein Denken erneuern. Deine Wahrheit macht mich frei. Gib mir Freunde, die mir Dein Wort sagen, mich damit trösten und ermahnen.

Und gib mir jederzeit ein Lied auf meine Lippen. Mein Leben soll ein Lobpreis sein für Dich. Denn Du bist schön. Du bist gewaltig groß. In Dir sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen. Wo Du angebetet wirst, wo Du die Mitte bist, da breitet sich Friede aus. Und da wachsen ganz von selbst alle die zusammen, die Dich lieben und in Dir geborgen sind.

Vom Pferd gefallen

Von der Kunst, Fehlentwicklungen offen anzusprechen und sich zugleich ein weites Herz zu bewahren

Eins der schockierendsten Bücher, das ich je gelesen habe, war der Bericht über die Verfolgung der Täuferbewegung im 16. und 17. Jahrhundert. Was um alles in der Welt hat so phantastische Gottesmänner wie Martin Luther nur geritten, die grausame Ermordung von täuferisch gesinnten Glaubensgeschwistern samt der furchtbaren Vertreibungs- und Säuberungswellen mit zu unterstützen?

Leider ist dieses Drama kein Einzelfall. In der Kirchengeschichte gab es immer wieder theologisch hochkompetente Nachfolger Jesu, die gute und fruchtbringende geistliche Bewegungen bekämpft haben. Ganz offensichtlich ist es gar nicht so einfach, auf keiner der zwei folgenden Seiten vom Pferd zu fallen:

Die eine Seite des Pferdes: Einheit auf Kosten der Wahrheit

Für Paulus war absolut klar: Es gibt nur ein wahres Evangelium. Schon eine scheinbare Kleinigkeit wie die Ergänzung der Gnade Gottes durch die Beschneidung brachte ihn dazu, den ganzen bisherigen Gemeindeaufbau in Galatien komplett in Frage zu stellen (Gal.4,19). Zwar passt es gut zur Postmoderne, alle Sichtweisen gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen. Mit dem Neuen Testament ist diese Sichtweise jedoch in keinster Weise vereinbar. Schließlich sind einige der neutestamentlichen Briefe regelrechte Streitschriften gegen falsche Lehren und Lehrer. Einheit auf Kosten der Wahrheit kam für die Apostel nicht in Frage, denn sie führt auf Dauer erst recht zu Spaltung. Das muss ich in meiner evangelischen Kirche gerade jetzt wieder schmerzlich erleben.

Die andere Seite des Pferdes: Falsche Mauern aus menschlicher Erkenntnis

Bei bestimmten Fragen konnte Paulus aber ziemlich flexibel sein. Er war bereit, sich um des Evangeliums willen der Kultur seiner Zielgruppe vollständig anzupassen (1.Kor.9,20ff.). Bei der Frage nach der Einhaltung von Feiertagen (Römer 14,5-6) oder dem Essen von Opferfleisch (1.Kor.10,23ff.) war es ihm wichtiger, das individuelle Gewissen zu beachten statt ein universelles Dogma aufzurichten. Auch Jesus hat zwar die Einhaltung der Gebote eingefordert, andererseits aber auch das Wohl von Menschen über die sklavische Einhaltung von Gesetzen gestellt (z.B. bei der Frage der Einhaltung des Sabbats Mark.2,27). Wer bei solchen Themen immer nur penibel statt flexibel ist richtet Mauern auf, die nicht im Sinne der Bibel sind und zerstört ebenfalls die Einheit der Kirche Jesu.

Die 1-Million-Euro-Frage

Es ist also wie so oft: Man kann auf 2 Seiten vom Pferd fallen! Das führt uns direkt zur großen 1-Million-Euro-Frage: Bei welchen Themen müssen wir denn nun unbedingt auf der richtigen Lehre bestehen? Und wo dürfen bzw. müssen wir flexibel und weitherzig sein, um die Einheit der Kirche trotz Lehrdifferenzen nicht unnötig zu beschädigen?

Die 1. Antwort: Christus

Viele würden jetzt antworten: Der unaufgebbare Kern des Christentums, auf den wir unbedingt bestehen müssen, ist keine Lehre sondern eine Person: Jesus Christus! Und tatsächlich finden sich im Neuen Testament Hinweise, die diese Antwort bestätigen. In 2. Timotheus 2, 22 ermahnt uns Paulus zum Frieden mit allen, „die mit aufrichtigen Herzen den Herrn anrufen.“ Und in Epheser 6, 24 wünscht er Gottes Gnade „allen, die Jesus lieb haben“. Paulus orientiert sich hier also bei der Frage, wer alles zur Gemeinschaft der Christen gehört, nicht an bestimmten zu bejahenden Dogmen. Vielmehr war für ihn die authentische Liebesbeziehung zu Jesus ein zentrales Kriterium. Ohne Liebe war für ihn sowieso jede Lehre wertlos (1.Kor.13). Auch für Jesus war die Liebe zu Gott das entscheidende Gebot (Mk.12,30). Wir lernen daraus: Auch Bibeltreue können auf dem falschen Dampfer sein, wenn sie zwar die richtigen Dogmen vertreten, aber die Liebe zu Jesus fehlt (Offb.2,4)!

So weit, so gut. In der gelebten Praxis reicht diese 1. Antwort aber nicht. Denn die Frage ist ja: Welchen Jesus meinen wir? Den Christus der Urchristen? Oder den „historischen Jesus“ einiger moderner Bibelwissenschaftler? Die Christusbilder, die in der christlich/kirchlichen Landschaft umherschwirren, haben zum Teil nur noch wenig miteinander zu tun. Damit Jesus das einende Band der Kirche sein kann muss man schon definieren, welchen Jesus man meint. Wir kommen daher bei der Beantwortung der 1-Million-Euro-Frage um Lehrfragen nicht herum. Und deshalb brauchen wir…

Die 2. Antwort: Die Autorität der Schrift

Allein durch die Schrift wissen wir, wer und wie Jesus ist. Nur wenn wir der Bibel Autorität einräumen bleibt gewährleistet, dass wir einigermaßen über das Gleiche reden, wenn wir von Jesus Christus sprechen. Entsprechend galt für die Reformatoren: Die Schrift soll die „Königin“, also die oberste Wahrheitsinstanz sein, über die sich nichts und niemand stellen kann. Sola scriptura heißt: Nur die Schrift soll die Schrift auslegen. Nur mit der Schrift kann verbindlich theologisch argumentiert werden. Und in allen entscheidenden Lehrfragen ist die Bibel so eindeutig und klar, dass Jeder, der sie demütig und hörend liest, ihre Botschaft verstehen kann.

Mit diesem Grundsatz entstand einerseits ein Schutz vor einem Zuviel an Dogmatik und vor der menschlichen Tendenz, die Bibel um zusätzliche Lehren ergänzen zu wollen. Das hatten ja schon die Pharisäer zu biblischen Zeiten praktiziert. Und bis heute tappen die kirchlichen Eliten immer wieder in diese Falle.

Zum Anderen entstand ein verbindliches gemeinsames Fundament, auf dessen Basis man sich zwar streiten, auseinandersetzen und um die Wahrheit ringen kann, das aber trotzdem der weltweiten Kirche Jesu bis heute ein solides gemeinsames Fundament verleiht – sofern die Bibel denn ernst genommen und respektiert wird.

Zwischenfazit

Somit haben wir eine doppelte Antwort auf die 1-Million-Euro-Frage: Die Liebe zu Christus muss die Mitte sein. Und die Autorität der Schrift muss anerkannt werden, um nicht in die Beliebigkeit zu rutschen.

Aber auch damit ist die 1-Million-Euro-Frage noch nicht komplett beantwortet. Denn die Frage bleibt ja: In welchen Lehren ist die Bibel denn nun eindeutig und klar? Und wo ist sie das nicht? Bei welchen Lehrdifferenzen muss man sich von einem christlichen Lehrer oder einer Bewegung distanzieren? Und welche Lehrdifferenzen sollten Christen fröhlich aushalten können, ohne sich voneinander trennen zu lassen?

6 Prinzipien für die Prüfung von Lehren und Bewegungen

Es würde Bücher füllen, wenn wir jetzt alle einzelnen Lehrunterschiede diskutieren würden, die einige Christen für fundamental und andere für verschmerzbar halten. Statt einer Einzeldiskussion will ich 6 Prinzipien nennen, die wir bei der Prüfung von Lehren und Bewegungen ganz grundsätzlich immer beachten müssen:

1. Niemals Fehlerfreiheit erwarten!

Zuerst müssen wir uns bewusst machen: NIEMAND hat eine vollkommen richtige und ausgewogene Theologie – auch wir selbst nicht. “Bildet euch nicht ein, alles zu wissen” ermahnte uns Paulus (Röm.12,16). Eine gewisse Weite in der Beurteilung anderer Christen ist deshalb zwingend erforderlich. Wir alle leben davon, dass Gott uns gegenüber diese Weite hat und gnädig mit uns umgeht! Paulus sagte deshalb auch nicht: Prüft alles – und wo ihr etwas Schlechtes findet verwerft alles, was aus dieser Richtung kommt. Vielmehr sagte er gelassen: „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1.Thess.5,21).

2. Hochmut und Geistlosigkeit tötet

Wer sich im Dienst der Unterscheidung betätigen will braucht dazu den Heiligen Geist! Denn lieb- und geistlose Buchstabenwahrheit verursacht nicht nur Blähungen (1.Kor.8,1), sie wirkt geradezu tödlich (2.Kor.3,6). Tatsächlich verbirgt sich hinter Manchem, was sich die Reinhaltung der rechten Lehre auf die Fahne geschrieben hat, in Wahrheit Hochmut, Machtmissbrauch, Manipulation und Selbstbeweihräucherung. Man fühlt sich halt gut, wenn man im Gegensatz zu anderen die Wahrheit kennt. Das verschafft eine falsche Befriedigung und eine Scheinidentität, die auf Abgrenzung statt auf geistlicher Vollmacht beruht. Mit einer solchen falschen Motivation bringen sogar die theologisch korrektesten Worte Verwüstung statt Heilung. C.H. Spurgeon hat das so ausgedrückt: „Wenn der Geist Gottes fehlt, wird sogar die Wahrheit zum Eisberg.“ Das starke Wachstum der sogenannten „Postevangelikalen“ geht nach meinem Eindruck sehr wesentlich auf genau dieses Problem zurück. Wenn wir Konservativen das nicht abstellen sind wir selbst schuld am Exodus aus unseren Kreisen.

3. Durchgängigkeit des biblischen Zeugnisses

Mit einzelnen Bibelstellen kann man auch die schrägsten Lehren zusammen zimmern. Wenn aber die Bibel durchgängig immer nur in eine Richtung weist (wie z.B. bei der Frage nach der Bewertung von praktizierter Homosexualität), dann können wir unmöglich in eine andere Richtung zeigen. Wenn die Bibel aber in verschiedenen Passagen zu einem Thema unterschiedliche Akzente setzt (wie z.B. bei der Frage nach der Rolle von Frauen beim Predigen und Leiten) dann könnte es sein, dass auch wir bei diesem Thema unbedingt flexibel sein sollten.

4. Verwurzelung in Tradition und Bekenntnis

Bekenntnisse sind dazu da, uns Orientierung zu geben und uns einzugliedern in die große Auslegungsgemeinschaft der weltweiten und historischen Kirche. Wenn es Streitereien um die richtige Auslegung der Bibel gibt, dann hat für mich zunächst einmal die Seite mehr Glaubwürdigkeit, die bislang von der großen Mehrheit der weltweiten und historischen Theologen geteilt wurde. Wenn aber ein Lehrer oder eine Bewegung meint, etwas vollkommen Neues erkannt zu haben, dann sollten wir zurecht skeptisch sein.

5. Das Kriterium der Frucht

Jesus hat gelehrt: Einen guten Baum erkennt man nicht an der Form sondern an der Frucht (Mt.12,33). Das Problem ist: Man kann nicht immer sofort sehen, welche Frucht ein Baum hervorbringt. Dafür braucht es Zeit. Ich frage mich, wie ich wohl die Pfingstbewegung in ihren wilden, teils überdrehten und theologisch schrägen Anfangszeiten beurteilt hätte? Viele gute Leute haben sie damals abgelehnt oder sogar bekämpft. Heute sehen wir, dass diese Bewegung weltweit eine phantastisch gute Frucht für das Reich Gottes bringt. Wo würde die Kirche in Deutschland heute wohl stehen, wenn die Geschwister von 1909 die Fehlentwicklungen der ersten Zeit zwar klar kritisiert aber nicht gleich die gesamte Bewegung vollständig verurteilt hätten? Wie viele Menschen sind für immer verloren gegangen wegen der daraus resultierenden tiefen Spaltung der Kirche?

6. Statt Richten lieber öfter mal die Klappe halten

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Mt.7,1) „Mit welchem Maß ihr messt, werdet ihr gemessen werden.“ (Mk.4,24) Drastischer kann man nicht davor warnen, dass wir uns nicht an Gottes Stelle setzen und uns nicht zum Richter aufspielen sollen. Dazu passt die biblische Aufforderung, dass nicht zu viele Leute lehren sollten, weil sie von Gott besonders streng beurteilt werden (Jak.3,1). Mit anderen Worten: Wer sich im Dienst der Unterscheidung betätigt trägt eine riesige Verantwortung. Solange wir uns über etwas nicht ganz sicher sind, sollten wir doch lieber die Klappe halten!

Das gilt ganz besonders, wenn wir unseren Unterscheidungsdienst auf die folgenden fragwürdigen Prüfungskriterien stützen:

Vorsicht Falle: 6 fragwürdige Prüfungskriterien

Ich habe mich schon durch einige Bücher gekämpft, in denen vor Irrlehren und Irrlehrern gewarnt wurde. Einige dieser Bücher fand ich sehr wertvoll und unbedingt notwendig. In anderen jedoch ist mir immer wieder aufgefallen, dass fragwürdige Urteile auf der Basis folgender fragwürdiger Prüfungskriterien aufgestellt wurden:

1. Formen: Erinnern Sie sich noch an die Diskussionen, ob ein Schlagzeug dämonische Kräfte freisetzen kann? Heute höre ich immer wieder, moderne Lobpreislieder seien oberflächlich. Ich staune zugleich, wie teilnahmslos und distanziert einige dieser Leute die alten Choräle in ihren schrumpfenden Gemeinden heruntersingen. Was sie wohl über Davids verrückten Tanz vor der Bundeslade gesagt hätten? Mir scheint, die Strafe der Unfruchtbarkeit (2.Sam.6,23) trifft auch heute noch Christen, die Andere aufgrund ungewohnter Formen vorschnell verurteilen.

2. Gefühle werden zurecht oft kritisiert, weil sie niemals ein tragfähiges Fundament für unseren Glauben bilden können. Aber meine Bibel sprüht trotzdem vor Emotionen! Also Vorsicht: Eine emotionsgeladene Veranstaltung ist noch lange nicht einseitig emotional. Mein Eindruck ist, dass wir in Deutschland immer noch viel mehr an einem verkopften Christentum leiden, dem es an Herz, Leidenschaft und Liebe mangelt.

3. Überinterpretierte Einzelzitate: Wer von uns hat nicht irgendwann mal Blödsinn verzapft? Wer nur lange genug sucht, kann bei Jedem ein Zitat finden, mit dem man ihn öffentlich bloßstellen kann. Deshalb habe ich es mir abgewöhnt, mir aufgrund von ein paar Zitaten ein Urteil über jemand zu bilden.

4. Falscher Beifall: Noch schlimmer ist die Praxis, jemand zu verurteilen, weil er mal einen Irrlehrer zitiert hat oder von zweifelhaften Leuten Beifall bekommen hat. Nichts wird allein dadurch falsch, dass falsche Leute es gesagt haben oder Beifall klatschen.

5. Unterschiedliche Begriffsfüllung: Kommunikation ist oft eine schwierige Sache, weil wir Begriffe auf Basis unserer Prägung und Erfahrung ganz unterschiedlich füllen und mit ganz verschiedenen Emotionen verknüpfen. Um wirklich zu verstehen, wie Andere ticken und wie ihre Äußerungen gemeint sind, sollte man deshalb unbedingt mal die eigene Blase verlassen, bevor man urteilt.

6. Unterstellungen und Einseitigkeit: Die Versuchung ist so groß: Da hat man ein paar Puzzleteile, die in ein vorgefertigtes Bild passen. Dann ergänzt man einfach schnell die fehlenden Teile mit ein paar Unterstellungen, Übertreibungen oder mit dem Verschweigen anderer Puzzleteile, die nicht in unser Bild passen – und fertig ist das Bild vom Irrlehrer, auf das man genüsslich eindreschen kann.

Ich habe all das wohlgemerkt nicht nur einmal gesehen und erlebt. Darum gilt: Wer andere prüft, der prüfe auch sich selbst, und zwar regelmäßig – am besten mit Hilfe von denen, über die man spricht. Wenn ich mich vor dem direkten Gespräch mit denen fürchte, über die ich spreche, dann wäre das für mich ein klares Signal, dass meine Argumente vermutlich zu dünn und/oder meine Motivationen fragwürdig sind.

In den Sattel steigen statt auf die Anderen zeigen

In vielen Diskussionen begegnet mir immer wieder das gleiche Phänomen: Die Leute, die auf der einen Seite vom Pferd gefallen sind zeigen auf die, die auf der einen Seite unten liegen. Anhänger von „Einheit um jeden Preis“ zeigen auf die geistlosen Irrlehrenjäger und umgekehrt. Ist ja auch viel bequemer, liegen zu bleiben und sich dabei mit dem Irrtum der Anderen zu rechtfertigen, statt sich selbst zu hinterfragen.

Ich will es deshalb noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Bei aller hier dargestellten gebotenen Vorsicht ist das Verschweigen von Irrlehre absolut keine Alternative. Wir versündigen uns an den Schwachen, die dringend Orientierung brauchen, wenn wir das Feld den lautstarken Irrlehren und Irrlehrern überlassen. Den Irrtum einer Person zu benennen heißt ja nicht unbedingt, die Person selbst abzulehnen sondern zunächst einmal nur, eine notwendige Debatte anzustoßen. Petrus hat Paulus offenbar verziehen (2.Petr.3,15), nachdem Paulus öffentlich und namentlich seinen Irrtum angesprochen hatte (Gal.2,11ff.). Genauso sollten auch wir uns nicht daran stören, wenn Andere einen Lehrunterschied klar und deutlich benennen und ihre Meinung aus der Schrift heraus begründen. Unsere Kritiker sind oft die besten Berater, die wir haben. Gute, geschwisterliche, gerne auch kantige Auseinandersetzungen auf Basis der Schrift sind etwas, was wir heute wieder dringend brauchen. Die Reformation hätte es nicht gegeben, wenn die Nachfolger Jesu solchen Auseinandersetzungen aus dem Weg gegangen wären.

Damit die fromme Landschaft aber nicht in zahllose kleine Papsttümer zerfällt müssen wir dabei unbedingt unser demütiges, liebevolles und geisterfülltes Herz bewahren. Niemals dürfen wir vergessen, wie beschränkt und fehlerhaft wir selber sind. Wer den schwierigen aber wichtigen Dienst der Unterscheidung übernimmt sollte zugleich immer mit einstimmen in das sehnsüchtige Gebet Jesu, dass seine Nachfolger eins sein sollen wie er und der Vater eins sind, damit die Welt erkennt, dass er vom Vater gesandt worden ist (Joh. 17, 20-24).

Lasst uns um der Einheit der Kirche willen endlich dieses Pferd besteigen und mit Gottes Hilfe fest im Sattel sitzen bleiben!

Siehe dazu auch:

 

Geliebtes Feindbild – Geliebter Feind?

Wir Menschen scheinen Feindbilder zu lieben. Das sieht man nirgends so gut wie in Facebook:

Da gibt es ein Milieu, in dem Nachrichten über kriminelle Flüchtlinge förmlich aufgesaugt werden. Jeder Bericht über einen Diebstahl, eine Vergewaltigung oder eine islamistische Äußerung eines Flüchtlings wird fleißig gelesen, geteilt und kommentiert. Positive Nachrichten über Flüchtlinge, die sich für Hilfe bedanken, die freiwillig soziale Tätigkeiten übernehmen oder gefundene Wertsachen zurückbringen werden hingegen ignoriert oder für unglaubwürdig erklärt. Wer sie in diesem Milieu verbreitet gilt schnell als naiver Gutmensch, den man nicht wirklich ernst nehmen kann.

Da gibt es ein anderes Milieu, in dem Nachrichten über rechtsradikale Tendenzen bei der AfD förmlich aufgesaugt werden. Jeder Bericht über eine unflätige Äußerung, eine Beteiligung an einer Anti-Ausländerdemo oder Nähe zur NPD wird fleißig gelesen, geteilt und kommentiert. Positive Nachrichten über AfD-Politiker, die differenzierte Ansichten vertreten, sich für Flüchtlinge engagieren oder gar überzeugte Christen sind werden hingegen ignoriert oder für unglaubwürdig erklärt. Wer sie in diesem Milieu verbreitet gilt schnell als herzloser Reaktionär, den man nicht wirklich ernst nehmen kann.

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Scheinbar lieben wir unsere Feindbilder, ob es nun Flüchtlinge, Evangelikale, Muslime, Juden, Linke oder Rechte sind. Mit Feindbildern können wir die Welt in schwarz und weiß, Gut und Böse einteilen. Und es fühlt sich ja so gut an, auf der Seite der Guten zu sein! Komme mir bloß keiner damit, dass die Wahrheit immer viel komplizierter wird, wenn man sich die Mühe macht, in ein fremdes Milieu einzutauchen und die Welt mit deren Augen zu sehen (wie es z.B. jüngst ein Journalist im AfD-Milieu tat und darüber einen hochspannenden Bericht geschrieben hat).

Wie gut, dass Gott so vollkommen anders ist! Obwohl wir seine Feinde waren hat er uns immer schon geliebt. Er ist ganz in unser irdisches Milieu eingetaucht und hat sogar sein Leben für uns gegeben. Er hat das Böse in uns nicht ignoriert. Aber er hat es überwunden. Und jetzt lehrt er uns, ebenso unsere Feinde zu lieben.

Die Bibel bestätigt zwar, dass es schwarz und weiß, Gut und Böse gibt. Aber die Grenzlinie läuft anders: Gott allein ist gut. Wir Menschen sind alle mit dem Keim des Bösen infiziert. ALLE. Und wir leben ALLE davon, dass Gott uns liebt, obwohl er uns kennt. Wir leben ALLE aus seiner Gnade und Vergebung.

Also seien wir realistisch: DIE Bösen sind weder DIE Flüchtlinge, DIE AFD’ler, DIE Evangelikalen, DIE Linken, DIE Rechten, DIE Muslime oder wen wir auch immer in unsere Schubladen schieben wollen. ALLE Menschen brauchen Erlösung wie wir selber auch. Wir sollen zwar das Böse nicht verdrängen oder kleinreden. Aber wir sollen uns auch nicht darauf fixieren oder uns gar hämisch daran ergötzen, denn „die Liebe freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles.“ (1. Kor. 13, 4-7)

Lernen wir, den Daumen nicht so schnell zu senken über Andere. Lernen wir, Hoffnung für alle Menschen zu haben – so wie Jesus sogar im rebellischen Versager Simon schon von Anfang an Petrus, den Felsen sah, auf den er seine Gemeinde bauen kann. Fragen wir uns doch mal: Wie viel Potenzial sieht Gott wohl in den Menschen, die wir momentan mit so viel kritischer Distanz beäugen?

Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Seine Gnade reicht aus – für Dich, für mich und für alle die, die wir schon lange verurteilt und aufgegeben haben. ER liebt diese Menschen – deshalb sollten wir es auch tun!

Siehe auch: