Dieser Artikel ist in etwas kürzerer Form zuerst erschienen in IDEA Spektrum Ausgabe Nr. 49.2020 vom 2.12.2020
Ich liebe Einheit in Vielfalt. Es begeistert mich, wenn Christen aus verschiedenen Kirchen, Generationen und Prägungen zusammen kommen, um gemeinsam Jesus zu feiern und ihren Glauben zu bezeugen. Jesus selbst hat intensiv für Einheit gebetet. Und er hat dabei deutlich gemacht: Die Glaubwürdigkeit unseres Christuszeugnisses hängt auch von unserer Einheit ab (Johannes 17, 23).
Deshalb habe ich mich immer sehr darüber gefreut, dass wir Evangelikale bei aller Vielfalt ein paar zentrale Glaubensüberzeugungen haben, die wir ganz selbstverständlich gemeinsam glauben, feiern und bekennen können. Dazu gehörten für mich zum Beispiel:
- Der Glaube, dass Gott in der Geschichte übernatürlich eingreift und sich übernatürlich offenbart hat.
- Der Glaube an die Leiblichkeit der Auferstehung und die Historizität des leeren Grabs.
- Der Glaube an den Kreuzestod Jesu als ein stellvertretendes Opfer für die Vergebung unserer Sünden.
- Das Vertrauen, dass die biblischen Texte Offenbarungscharakter haben.
Ohne es mir bewusst zu machen habe ich mich immer ganz selbstverständlich darauf verlassen, dass diese Punkte klar sind, wenn ich zum Christustag oder auf einen Willow-Kongress gehe, wenn ich einen Prediger einlade, der von einer KBA-Ausbildungsstätte kommt, wenn ich für ein evangelikales Missionswerk spende, wenn ich ein Buch des Hänssler-Verlags kaufe, wenn ich ERF höre oder wenn ich unsere Gemeindejugend auf ein Event des CVJM schicke. Diese Punkte waren selbstverständliche Ankerpunkte meiner evangelikalen Identität und Heimat. Und ich habe es immer als etwas höchst Verbindendes empfunden, zu wissen: Das bezeugen wir gemeinsam. Dafür können wir fröhlich unsere Differenzen zurückstellen, denn am wichtigsten ist doch, dass alle Welt von uns als große Gemeinschaft hört: Unser Gott ist kein ferner, kein schweigender Gott. Das Grab war leer. Jesus hat den Tod besiegt. Er ist am Kreuz stellvertretend für unsere Schuld gestorben. Und wir haben mit der Bibel ein verlässliches Zeugnis darüber, wer und wie Gott ist.
Der Verlust der gemeinsamen Kernüberzeugungen
In den letzten 3 Jahren musste ich im Rahmen meiner Beschäftigung mit Formaten wie Worthaus aber feststellen: Alle diese Kernüberzeugungen werden inzwischen auch mitten in der evangelikalen Welt lautstark inhaltlich in Frage gestellt, subjektiviert oder offen verneint. Ich schreibe bewusst „inhaltlich“, weil die Begrifflichkeiten ja oft noch beibehalten werden und man erst bei genauem Hinhören merkt, dass die Inhalte völlig anders sind. Und mit „subjektiviert“ meine ich: Vielleicht lässt man die evangelikale Position noch gelten, aber eben nicht mehr als gemeinsame Grundüberzeugung sondern nur noch als persönliche Glaubensoption, die jemand für sich persönlich haben kann, falls das für ihn hilfreich ist, die man doch aber bitte nicht zum Maßstab für Alle machen soll.
Auch im evangelikalen Umfeld sind somit ganz offenkundig die Zeiten vorbei, in denen Christen ganz selbstverständlich gemeinsame Antworten auf die zentralen Fragen des Glaubens geben konnten. Kein Wunder, dass christliche Leiter immer öfter die Frage stellen: Wie können wir dann noch beieinander bleiben? Wie kann angesichts der wachsenden Differenzen heute noch Einheit in Vielfalt gelingen? Auf welcher gemeinsamen Basis stehen zukünftig die evangelische Allianz und all die vielen evangelikalen Werke und Initiativen, die auf Einheit in Vielfalt existenziell angewiesen sind?
Wie umgehen mit dem verloren gegangenen Konsens?
Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Strategien für den Umgang mit einem verloren gegangenen Konsens: Man kann entweder versuchen, um den Konsens zu ringen und ihn wiederherzustellen. Oder man kann den verlorenen Konsens bewusst loslassen und stattdessen zu Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Standpunkten aufrufen. Je nachdem, welche Strategie man für richtig hält, wird man ganz unterschiedliche Menschen als Brückenbauer empfinden:
- Anhänger der Konsensstrategie sehen Brückenbauer dort am Werk, wo um die Gültigkeit zentraler gemeinsamer Glaubenswahrheiten gerungen wird.
- Anhänger der Toleranzstrategie werden hingegen gerade dieses Festhalten an gemeinsamen Glaubensüberzeugungen als einheitsgefährdend ansehen, weil das ja alle die ausschließt, die an diese Überzeugungen nicht (mehr) glauben können oder wollen. Stattdessen werden sie solche Menschen als Brückenbauer empfinden, die die Verbindlichkeit von Glaubenswahrheiten in Frage stellen (die also Glaubenswahrheiten subjektivieren), um damit Raum für sich widersprechende Positionen zu schaffen.
Meine Beobachtung ist: Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansätzen wird zunehmend scharf geschossen, auch mitten im evangelikalen Umfeld. Umso mehr müssen wir uns die Frage stellen: Welche Sichtweise stimmt? Brauchen wir mehr Konsens? Oder mehr Toleranz? Und was verbindet uns noch, wenn wir keine gemeinsamen theologischen Positionen mehr formulieren können?
Die Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern eine Person
Anhänger der Toleranzstrategie antworten auf diese Frage oft in etwa wie folgt: Die verbindendende Mitte des Christentums ist keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Seine grenzenlose Liebe und Annahme hilft uns, Enge und Rechthaberei zu überwinden, uns einander in aller Unterschiedlichkeit anzunehmen, uns gegenseitig unseren Glauben zu glauben und Raum zu geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse.
Ich halte diese Sichtweise im Prinzip für absolut richtig. Jesus selbst, die Wahrheit in Person, ist das Haupt der Gemeinde, das die Glieder miteinander verbindet (Epheser 4, 15-16). Echte Einheit lebt immer von der gemeinsam gelebten Christusbeziehung und von der erlebten Liebe, Gnade und Vergebung, die uns auch gnädig und barmherzig füreinander machen kann. Ein theologischer Buchstabenkonsens wird die verbindende Kraft einer gelebten Christusbeziehung niemals ersetzen können. Zudem bin ich der Meinung: Natürlich brauchen wir in Randfragen Weite für respektvolle, unverkrampfte Debatten. Christen werden niemals in allen Fragen einer Meinung sein. Für Einheit in Vielfalt dürfen und müssen wir deshalb unterschiedliche Positionen aushalten lernen. Und meine Erfahrung ist: Wo die Liebe zu Jesus im Mittelpunkt steht, da gelingt das in aller Regel auch.
Trotzdem müssen wir uns der Tatsache stellen, dass die immer öfter und lauter formulierten Forderungen nach mehr Weite und Toleranz nicht geholfen haben, im Gegenteil: Der Riss, der oft mitten durch die evangelikal geprägten Werke und Gemeinschaften geht, scheint stetig tiefer zu werden. Woran liegt das?
Politische Polarisierung statt theologischem Streit
Zum einen stelle ich fest: Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion. Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue moralistische Trennmauern aufgerichtet. Wo es keine theologischen Häresien mehr gibt, da treten ethische und politische Häresien an ihre Stelle. Und da zeigt sich: Auch „liberale“ Positionen können äußerst intolerant, aggressiv und herablassend gegenüber anderen Standpunkten auftreten und spaltend wirken.
Wer und wie ist Christus eigentlich?
Das zweite, noch größere Problem ist aus meiner Sicht: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ subjektiv vollkommen unterschiedlich gefüllt werden kann. Denn die Fragen stellen sich ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der unsere verbindende Mitte sein soll? Was hat er gelehrt? Was hat er für uns getan? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wie können wir mit ihm in Verbindung treten? Unsere einzige Informationsquelle zu solchen Fragen ist die Bibel. Wenn die Bibel aber kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird alles subjektiv. Dann ist es letztlich unmöglich, auf solche Fragen gemeinsame Antworten finden zu können.
Ohne gemeinsame Antworten auf diese innersten Kernfragen des Glaubens haben wir als Kirche Jesu aber auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann gibt es letztlich nichts mehr, was wir trotz aller Unterschiedlichkeit ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und bezeugen können. Dann fällt die Kirche Jesu auseinander – wenn nicht im Streit um theologische Fragen, dann doch (was noch wesentlich schlimmer ist) in einem schleichenden Prozess der inneren Entfremdung. Hinzu kommt: Ohne gemeinsame Botschaft verliert die Kirche Jesu ihr Profil – und marginalisiert sich dadurch selbst. Denn wo alles gleich gültig ist, da wird am Ende alles gleichgültig. Und da kann es dann auch keine Einheit mehr geben.
Der Schatz der gemeinsamen Bekenntnisse
Deshalb bin ich überzeugt, dass Einheit in Vielfalt nur gelingen kann, wenn zur gelebten Christusmitte auch gemeinsam geteilte Glaubensüberzeugungen hinzukommen. Ganz offenkundig haben das auch die frühen Christen gespürt. Sie haben extrem viel Energie investiert, um auf Basis der biblischen Schriften gemeinsame Bekenntnisse zu formulieren. Das nicäno-konstantinopolitanische Bekenntnis gilt größtenteils bis heute in den protestantischen, in der katholischen, in der anglikanischen und sogar in den orthodoxen Kirchen als Glaubensgrundlage. Und ich frage mich: Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn ausgerechnet wir Christen im Westen es heute nicht mehr für wichtig halten, ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist und ob er von einer Jungfrau geboren wurde oder nicht? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt ein gewaltiger Schatz, wenn alle Christen wenigstens diese wenigen Sätze ganz selbstverständlich gemeinsam glauben und bezeugen könnten?
Die missionarische Dynamik geht verloren
In meiner evangelischen Kirche fällt mir das besonders auf: Ohne gemeinsame Botschaft gibt es nichts mehr, wofür man sich gemeinsam engagieren und Opfer bringen möchte. Da verlieren wir die gemeinsame Leidenschaft, und damit auch die missionarische Dynamik.
Kaum jemand weiß das so gut wie Ulrich Parzany. Evangelisationen wie Pro Christ leben davon, dass unterschiedlichste christliche Gruppen ihre Differenzen zurückstellen und sich gemeinsam engagieren für dieses eine Evangelium. Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet ein Vollblutevangelist, der schon so viele verschiedene Christen zusammengeführt hat, sich heute so intensiv dafür einsetzt, dass wir unsere zentralen Bekenntnisse und Glaubensüberzeugungen bewahren. Ein Evangelist bemerkt nun einmal zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.
Grenzzieher werden ausgegrenzt
Auch den Schreibern des Neuen Testaments war es wichtig, den Menschen nicht nur das Evangelium vor Augen zu malen, sondern es auch deutlich gegen falsche Lehren abzugrenzen. Heute fällt mir jedoch auf: Wer als „Grenzzieher“ auftritt, weil er den Konsens in den Kernfragen des Glaubens verteidigen und bewahren möchte, wird eher gemieden und ausgegrenzt. Statt sachlicher Debatte steht schnell der Vorwurf der „Rechthaberei“ oder die Unterstellung von „Angst“ oder gar „Denkfeindlichkeit“ im Raum. Man weist auf (ohne Zweifel vorkommende) fragwürdige und lieblose Äußerungen hin. Aber man redet kaum über berechtigte Impulse, die von solchen Leuten kommen.
Kein Teamgeist ohne Toreschießen
Das finde traurig. Denn die Verteidigung der christlichen Kernüberzeugungen ist aus meiner Sicht ein unverzichtbarer Dienst an der Einheit der Christenheit. Kirche ohne theologische Grenzen wirkt auf mich wie ein Fußballteam, das nicht nur über Taktik und Aufstellung diskutieren will, sondern auch darüber, ob es überhaupt richtig ist, Tore schießen zu wollen. Das kann man ja machen. Man kann es sogar sympathisch finden, wenn alles offen zur Diskussion steht und wenn man der anderen Mannschaft nicht wehtun will. Aber es hat dann halt nichts mehr mit Fußball zu tun. Und wenn das Team dann absteigt und auseinanderfällt ist das nicht die Schuld derer, die an die Regeln erinnern und Tore schießen wollen.
Anders ausgedrückt: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht eben nicht nur der Konsens in Randfragen verloren, sondern auch der zentrale Grund, der uns überhaupt zusammen geführt hat. Da verlieren wir unser gemeinsames Ziel, unsere gemeinsame Leidenschaft und die Bereitschaft, uns trainieren zu lassen und miteinander für diese Leidenschaft Opfer zu bringen. Genau dieser Abwärtstrend ist heute in so vielen liberal geprägten Kirchen schmerzlich spürbar.
Große Brücken brauchen starke Pfeiler
Dabei geht es doch auch anders. Ich habe in den letzten Jahren viel Versöhnung unter Christen erlebt. Ich freue mich heute über freundschaftliche Verbindungen zu ganz unterschiedlich geprägten Christen mit verschiedenen theologischen Positionen in ganz unterschiedlichen Fragen. Fröhliche Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich! Sie wächst ganz offenkundig um eine gemeinsame Leidenschaft für einen starken, gemeinsamen Kern herum. Da wird „Kirche“ lebendig. Da kommt sie in Bewegung. Wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum einen starken, fest gegründeten Pfeiler, der diese Brücken tragen kann. Diese verbindende Mitte kann nur Jesus Christus sein. Damit der Begriff „Christus“ aber nicht zur beliebig füllbaren Formel verkommt, brauchen wir die Autorität der Heiligen Schrift und das Festhalten an den Bekenntnissen. Sonst bricht dieser Pfeiler schnell zusammen.
Lassen Sie uns deshalb aus Liebe zur Kirche und zu den Menschen gemeinsam dafür beten und arbeiten, dass dieser gemeinsame, verbindende Kern nicht verloren geht sondern ganz neu wertgeschätzt, verteidigt und hochgehalten wird.
Könnten Sie bitte einmal biblische Belege anführen, wo etwas über die bunte Vielfalt zu finden ist? Die Gemeinde sollte dieselbe Einheit haben, wie sie der Vater mit dem Sohn hat!
Aber auch der Vater und der Sohn und der Heilige Geist zeigen ja, dass Gott schon in sich selbst nicht gleichförmig ist sondern vielfältig. Und die ganze bunte und vielfältige Schöpfung weist darauf hin, dass dieser Gott Vielfalt liebt und schätzt.
Ja, Einheit ist Gottes Wille, aber auch die Vielfalt, da er von Anfang an unterschiedliche Gaben anlegt:
Epheser 4:11-13: Und so hat Christus denn auch seine Gemeinde beschenkt: Er hat ihr die Apostel gegeben, die Propheten und Verkündiger der rettenden Botschaft, genauso wie die Hirten und Lehrer, welche die Gemeinde leiten und im Glauben unterweisen. SIE ALLE sollen die Christen für ihren Dienst ausrüsten, damit die Gemeinde, der Leib von Christus, aufgebaut und vollendet wird. Dadurch werden wir im Glauben immer mehr eins werden und miteinander den Sohn Gottes immer besser kennen lernen. Wir sollen zu mündigen Christen heranreifen, zu einer Gemeinde, DIE IHN IN SEINER GANZEN FÜLLE WIDERSPIEGELT.