Zeit des Umbruchs: Der Verlust der Selbstverständlichkeiten

Als im Oktober 2017 die erste Version meines Artikels über die Worthaus-Mediathek online ging, konnte ich nicht ahnen, was das alles auslösen und nach sich ziehen würde. 5 Jahre später scheint mir die Debatte intensiver denn je zu sein. Im Dezember 2022 durfte ich meine Perspektive einem Kreis von rund 100 Leitern aus dem allianzevangelikalen Umfeld im Rahmen des Allianz-Symposiums “Verbindende Glaubensschätze” darlegen. Da die Videoaufnahme nicht ganz vollständig ist, stelle ich hier zusätzlich mein Skript zur Verfügung. Was ist Ihre Meinung dazu? Schreiben Sie mir gerne einen Kommentar oder eine persönliche Nachricht.

Ich empfinde es als unglaubliches Vorrecht, dass ich heute zu euch / zu Ihnen sprechen darf. Ich freue mich sehr auf alle Gespräche und Begegnungen. Einige, die hier sind, kennen mich bereits. Aber da ich noch nicht allen bekannt, will ich mich noch einmal kurz vorstellen:

Mein Name ist Markus Till. Ich gehöre zur evangelischen Landeskirche. Gemeinsam mit meiner Frau bin ich in meiner Heimatgemeinde in Weil im Schönbuch aktiv. Ich komme aus dem schwäbischen Pietismus. Und diese tiefe, nüchterne Verwurzelung in der Bibel, die ich da mitbekommen habe, prägt mich bis heute. Aber wer mich kennt weiß, dass ich auch durch charismatische Einflüsse geprägt worden bin. Es gibt eine Lobpreis-CD von mir. Man findet meinen Namen in den Feiert Jesus-Büchern. Und ich habe einen Glaubenskurs entwickelt: Aufatmen in Gottes Gegenwart. Vor kurzem ist mein überarbeitetes Buch dazu erschienen und eine Homepage mit vielen Videos und Materialien ist online gegangen.

Im Jahr 2017 ist noch etwas dazu gekommen, was mich seither sehr beschäftigt. Auf meinem Blog hatte ich einen Artikel veröffentlicht über die Worthaus-Mediathek. Der Artikel ist viral gegangen. IDEA hat eine Kurzversion davon abgedruckt. Etwas später hat mich SCM gebeten, ein Buch über Postevangelikalismus zu schreiben, das 2019 erschienen ist unter dem Titel „Zeit des Umbruchs“. Und in der Folge wurde ich dann auch immer öfter angefragt, Artikel zu schreiben und Vorträge zu halten. Ulrich Parzany hat mich eingeladen, beim Netzwerk Bibel und Bekenntnis mitzuwirken, was ich seither sehr gerne tue. Und seit etwas mehr als 1 Jahr mit ich mitverantwortlich für die Mediathek offen.bar.

Eine Lebensfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Ein großes Thema, das sich durch mein ganzes Glaubensleben zieht, ist die Frage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt? Das liegt zum einen daran, dass ich eine sehr schmerzhafte Spaltung durchlitten habe. Da sind viele persönliche Freundschaften zu Bruch gegangen. Für mich und meine Frau war das ein echtes Trauma. Zum anderen habe ich aber vor allem in den letzten 10 Jahren auch viele Versöhnungsprozesse erleben dürfen. Insgesamt hatte ich lange Zeit den Eindruck: Die Einheit wächst! Ich habe früher oft gelitten unter dieser Spaltung zwischen charismatisch und pietistisch geprägten Christen. Nie werde ich vergessen, wie ich 1991 beim Gemeindekongress in Nürnberg dabei sein durfte, als Klaus Eickhoff und Friedrich Aschoff sich gegenseitig um Vergebung baten für alle Vorurteile, für alles gegenseitige Misstrauen. Ich habe buchstäblich geweint an diesem Abend vor Freude. Und ich habe in den Folgejahren erleben dürfen, dass dieser tiefe Graben tatsächlich immer mehr überwunden wurde.

Wachsende Risse im evangelikalen Umfeld

Nur leider hat sich dieser Einheitstrend nicht verfestigt. Ulrich Eggers hat vor einiger Zeit in AUFATMEN geschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“ Und ich denke, wir merken alle: Das stimmt! Und meine Wahrnehmung ist: Wir haben etwas verloren im evangelikalen Umfeld: Wir haben eine Selbstverständlichkeit verloren. Was meine ich damit?

Ein selbstverständlicher verbindender Glaubenskern

Im Jahr 1994 waren meine Frau und ich in Berlin beim Marsch für Jesus. Gemeinsam mit etwa 70.000 Christen sind wir singend und betend durch Berlin gezogen. Wir haben dort gemeinsam ein Bekenntnis gesprochen: „Ich nehme die Bibel an als das heilige und ewige Wort Gottes. Die ganze Schrift ist inspiriert durch den Heiligen Geist; sie ist Gottes verbindliche Offenbarung.“ Ich habe das damals als völlig normal empfunden. Dass man sich auf einer evangelikalen Großveranstaltung zur Autorität und zum Offenbarungscharakter der Bibel bekennt, das war für mich etwas Selbstverständliches. Und für mich war klar: In den allianzevangelikalen Kreisen sind wir zwar in vielen Dingen sehr verschieden. Aber wenn es um die Bibel und ihre zentralen Aussagen geht, da sind wir ganz selbstverständlich beieinander. Das verbindet uns miteinander über alle Unterschiede hinweg.

Jürgen Mette hat das in seinem Buch „Die Evangelikalen“ einmal so formuliert: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ Einfach ausgedrückt: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Das ist zwar keine Garantie für Einheit – das wissen wir alle. Aber jedenfalls wird Einheit möglich. Und der Aufbruch der Evangelikalen im letzten Jahrhundert hat gezeigt: Diese Einheit ist tatsächlich immer wieder in beeindruckender Weise gelungen, wenn ich da nur an die Lausanner Bewegung denke und an so viele übergemeindliche evangelikale Werke und Initiativen, die da gegründet aufgebaut worden sind.

Eine Grundlage für Einheit in Vielfalt: Konsens im Kern, Weite in Randfragen

Wie hat diese Einheit in Vielfalt funktioniert? Ich habe versucht, dieses Prinzip, das auch Jürgen Mette hier formuliert hat, einmal grafisch darzustellen. Die Kernaussage ist: Im Kern brauchen wir Konsens. Aber je randständiger die Themen sind, umso mehr Weite brauchen wir. Bei Paulus können wir das auch erkennen: Paulus war bei kulturellen Fragen enorm flexibel. Er hat geschrieben: Ich bin allen alles geworden, damit ich einige retten kann. Aber im Kern, wenn es ums Evangelium ging, da konnte der gleiche Paulus plötzlich enorm scharf werden. Da hat er sich nicht gescheut, sogar Petrus namentlich öffentlich anzugreifen. Den Galatern hat er geschrieben: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Welch harte Worte! Wenn es ums Evangelium ging, war Paulus absolut kompromisslos.

Bekenntnisse fassen den unaufgebbaren Kern unseres Glaubens in Worte

Die große Frage ist aber jetzt: Was ist denn das Evangelium? Was ist der Kern unseres Glaubens, an dem wir unbedingt festhalten müssen? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wie gut ist es da, dass wir dieses Rad nicht neu erfinden müssen! Denn diese Frage hat ja schon so viele Christen vor uns beschäftigt. Sie haben hart gearbeitet, intensiv die Bibel gelesen und hart miteinander gerungen, bis sie diese wundervollen Bekenntnisse formuliert hatten. Das waren keine langen Texte. Aber zu diesen wenigen Sätzen haben sie gesagt: Das sind Aussagen, die aus der Bibel vollkommen klar und eindeutig hervorgehen. Deshalb kann und darf es zu diesen Aussagen unter uns keine zwei Meinungen geben.

Dass wir solche Bekenntnisse brauchen, haben Christen schon immer gespürt. Wir finden sie schon in der Bibel selbst. Wir kennen alle diese wunderbaren altkirchlichen Bekenntnisse. Und bis heute werden immer wieder solche bekenntnisartigen Texte formuliert. Einer der wichtigsten Texte aus der Neuzeit ist für mich die Glaubensbasis der größten Einheitsbewegung unserer Zeit, der evangelischen Allianz. Und ich muss ehrlich sagen: Ich liebe diesen Text! Wenn ich das lese, dann sagt mein Herz: Ganz genau! Da wird wunderbar zusammengefasst, was mich bewegt und trägt. Und wo das geglaubt wird, da sind meine Brüder und Schwestern, egal aus welcher Kirche und welcher Prägung sie kommen. Da ist meine Familie. Da ist meine geistliche Heimat.

Nichtevangelikale Theologie zunehmend auch im evangelikalen Umfeld

Und gerade deshalb, weil mir diese Heimat und diese Einheit in Vielfalt so kostbar ist, deshalb treibt es mich auch so um, wenn ich sehe: Diese gemeinsame Glaubensgrundlage ist heute leider bei weitem nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es einmal war. Als ich mich vor 5 Jahren so intensiv mit Worthaus beschäftigt habe, da bin ich ja nicht so sehr über die Theologie erschrocken, die mir da begegnet ist. Ich bin evangelisch. Ich kenne diese Art von Theologie seit langem. Wir Evangelikale wollten aber immer ganz bewusst einen anderen theologischen Weg gehen. Deshalb ging ich damals fest davon aus: Ganz bestimmt werden evangelikale Leiter jetzt deutlich machen: Diese Art von Theologie passt nicht zu uns passt. Aber meine Beobachtung war eher: Viele Leiter schweigen. Oder sie machen einfach weiter damit, postevangelikale Formate und ihre Vertreter populär zu machen. Auch in Publikationen im evangelikalen Umfeld wird Werbung für Worthaus und dazu noch für viele andere nichtevangelikale Theologen wie z.B. Dorothee Sölle.

Mir begegnet das zum Beispiel in Büchern wie „glauben lieben hoffen“ oder in der Buchreihe „TheoLab“. Das sind ja nicht irgendwelche Bücher. Das sollen theologische Grundlagenwerke sein für die Jugendarbeit im freikirchlichen bzw. im landeskirchlich/pietistischen Umfeld. Diese Bücher sollen also unsere Jugend und damit unsere Zukunft theologisch prägen. Und meine Beobachtung ist: Das funktioniert! Diese Art von Theologie kommt an! Sie belegt oft Spitzenplätze bei den Klickzahlen im Internet. Sie ist attraktiv. Sie umgibt sich gern mit der Aura von Aufgeklärtheit, von Toleranz, von intellektueller Überlegenheit. Sie entlässt uns aus Konflikten zwischen biblischen Aussagen und den Werten unserer Kultur. Sie verspricht gesellschaftliche und akademische Anerkennung. Kein Wunder, dass diese Art von Theologie meine evangelische Kirche schon längst im Sturm erobert hat. Und deshalb versetzt es mir immer einen Stich ins Herz, wenn ich sehe, wie auch unter uns Evangelikalen immer wieder so völlig unkritisch dafür Werbung gemacht wird. Denn diese Theologie hat nun einmal Konsequenzen. Was meine ich damit?

Der Verlust der verbindenden Gemeinsamkeiten

Im Jahr 2020 lag auf der Theke meiner christlichen Buchhandlung in Dutzendware ein Buch über Ostern auf dem Tisch. Ich kannte den Autor sehr gut, ich war selbst immer wieder persönlich mit ihm im Gespräch. Und in dem Buch fand ich den Satz: „Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“ Das klingt weitherzig und großzügig. Aber was ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist: Wir haben wieder etwas von dem verloren, was uns bisher ganz selbstverständlich miteinander verbunden hat. Unsere gemeinsame Basis ist wieder kleiner geworden. Und wisst ihr: Solche relativierende und subjektivierende Aussagen sind mir so oft begegnet in den letzten Jahren, nicht nur zur Jungfrauengeburt sondern zum Bibelverständnis. Zur Kreuzestheologie. Zur Auferstehung. Zur Wiederkunft Jesu. Also zu all den Themen, über die in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz so viel ausgesagt wird!

Es geht ans Eingemachte – und um weitreichende Konsequenzen

Thorsten Dietz hat in seinem Buch „Menschen mit Mission“ geschrieben: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Und ja, ich glaube: Das stimmt. Aber wenn das so ist, dann heißt das auch: Wenn nun selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert und subjektiviert werden, dann driften wir nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander. Nein, dann geht es wirklich ans Eingemachte. Dann geht es um den innersten Kern unseres Glaubens. Und ich bin überzeugt: Wenn wir diesen gemeinsamen Glaubenskern verlieren, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in unserer Mitte immer mehr Tendenzen sehen, die ich aus meiner evangelischen Kirche zur Genüge kenne: Wir haben keine gemeinsame Botschaft mehr. Wir haben keine Einheit mehr. Wir haben keine missionarische Dynamik mehr. Stattdessen verzetteln wir uns in politischen Botschaften, die die Spaltung nur noch mehr vorantreiben. Liebe Freunde: Das kann doch niemand von uns wollen!

Ein alternatives Narrativ zur Ursache der Spaltungstendenzen

In letzter Zeit habe ich oft ein anderes Narrativ gehört zu der Frage, warum es unter uns Evangelikalen wachsende Gräben gibt. Immer wieder habe ich gelesen, es gäbe da zwei Strömungen, die in Spannung zueinander stünden. Auch Thorsten Dietz spricht in seinem Buch von den sogenannten „Bekenntnis-Evangelikalen“ auf der einen Seite und den “Allianzevangelikalen” auf der anderen Seite. Und er sagt: Die Allianzevangelikalen, das sind die, die „stärker um Vermittlung und Dialog bemüht“ sind. Sie könnenunterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“ Und auf der anderen Seite nennt er auf der letzten Seite seines Buchs das Netzwerk Bibel und Bekenntnis. Und er sagt, dieses Netzwerk strebe an, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Und die Frage ist: Ist das so? Ist damit die Landkarte der Evangelikalen richtig beschrieben?

Worum es tatsächlich geht: Die verbindenden Glaubensschätze bewahren

Ich möchte es heute abend wagen, eine Gegenthese zu formulieren. Ich glaube: Wir Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Wir haben doch schon immer betont, dass wir an den zentralen Bekenntnissen festhalten wollen und müssen. Und deshalb tut es mir weh, wenn hier ein Widerspruch aufgebaut wird. Denn Christen wie mir geht ja gar nicht darum, in rechthaberischer Weise etwas durchzusetzen! Die Bekenntnisse muss man nicht durchsetzen. Die sind bekannt, die sind veröffentlicht, auf die muss man sich nicht mehr einigen. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen, sondern etwas zu bewahren. Etwas, das überaus wertvoll ist! Es geht um unsere verbindenden Glaubensschätze, die uns helfen, Einheit in Vielfalt ganz praktisch zu leben und gemeinsam missionarisch zu sein.

Wir Evangelikale wollten doch schon immer zweierlei: Wir wollen die Liebe zu Christus stärken! Denn das verbindende Zentrum unseres Glaubens ist nicht eine Lehre, sondern die Person Jesus Christus, darin sind wir uns einig. Aber gerade um dieser Christusmitte willen wollen wir zugleich auch festhalten an der Autorität der Bibel. Denn über diesen Jesus Christus, dem wir gemeinsam folgen wollen, über seine Lehre, sein Erlösungswerk, über das Evangelium wissen wir ja nichts außer das, was die Bibel uns sagt! Ohne die Autorität und die Klarheit der Schrift wird „Christus“ zur Hülse wird, die jeder subjektiv mit etwas anderem füllt. Aber eine Hülse kann uns nicht miteinander verbinden.

Was jetzt zu tun ist: Unsere Glaubensbasis verteidigen und zum Leuchten bringen

Und deshalb bin ich überzeugt, liebe Freunde: Wir haben eine große Aufgabe vor uns, die wir nur gemeinsam schaffen können. Wir müssen wieder sprachfähig werden in Bezug auf die Grundlagen unseres Glaubens. Wir müssen neu lernen, zu begründen, warum wir diese Glaubensbasis haben und warum sie für uns unaufgebbar wichtig ist. Und ja, ich glaube, dazu gehört eben auch, dass wir wieder lernen müssen, zu widersprechen, wenn diesen Glaubensgrundlagen in unserer Mitte widersprochen wird. Ich weiß: Das ist nicht cool. Das ist in unserer postmodernen Gesellschaft überhaupt nicht schick. Und trotzdem bin ich überzeugt: Es ist notwendig und im besten Sinne not-wendend.

Denn so viel ist doch klar: Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht schon die Apostel und die frühen Kirchenleiter Position bezogen hätten gegen die Häresien, wenn da zum Beispiel ein Marcion auftritt, wenn da Gnostiker auftreten, wenn da Ablasshandel betrieben wird und, und, und. Die Kirche Jesu musste sich zu allen Zeiten gegen Lehren wenden, die ihre Einheit und ihre Botschaft unterwandern wollten. Und glauben wir denn wirklich, dass wir das ausgerechnet heute nicht mehr bräuchten? Ich glaube: Doch, wir brauchen das. Gerade auch heute. Und deshalb ist meine Bitte: Lasst uns wieder lernen, unsere Glaubensgrundlagen zu verteidigen. Freundlich. Respektvoll. Klug. Gebildet. Aber auch leidenschaftlich und klar. Damit Menschen Orientierung finden und sich verwurzeln können in der freimachenden Wahrheit von Gottes Wort. Wir tun es nicht um des Rechthabens willen. Wir tun es nicht, weil wir Angst vor Neuem haben. Wir tun es aus Liebe zu den Menschen, die ohne dieses rettende Evangelium verloren gehen. Wir tun es aus Liebe zu den Gemeinden, die ohne Gottes kraftvolles Wort nicht wachsen und gedeihen können. Und wir tun es um der Einheit willen, die ohne eine gemeinsame Glaubensbasis zerfällt und zerbricht. Lasst uns gemeinsam unsere verbindenden Glaubensschätze hochhalten, zum Leuchten bringen und auch gegen Widerspruch verteidigen. Ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen und mit euch über dieses wichtige Thema ins Gespräch zu kommen.

Vom Ringen um Einheit – Eindrücke vom Allianz-Symposium „Verbindende Glaubensschätze“

Drei extrem intensive Tage liegen hinter mir. Das lag nicht nur am Programm, das mit 17 Kurzvorträgen und diversen Diskussionsrunden mehr als vollgepackt war. Dazu kamen die Sitzungen der Vorbereitungsgruppe sowie viele spannende Gespräche mit überaus wertvollen Mitchristen (insgesamt waren fast 100 Leiter aus den verschiedensten Bereichen der evangelikalen Welt zusammengekommen). Die größte Herausforderung war für mich, dass eben auch eine gewisse Spannung in der Luft lag, die hier und da auch in offene Kontroversen mündete. Aber dazu später mehr.

Worum ging es bei diesem Symposium?

Die Überschrift machte es deutlich: Es ging um unsere „verbindenden Glaubensschätze” sowie um die aktuell immer drängender werdende Frage: “Wie gelingt Einheit in Vielfalt?“ Erläuternd war dazu im Programmablauf zu lesen:

„Die Zukunft der Allianzbewegung und die Gültigkeit ihrer theologischen Basis als gemeinsame Vertrauens-Plattform. Ziel: Glaubensgrundlagen stärken, Begegnung ermöglichen, Unterschiedliche Sorgen verstehen und ernst nehmen, das Miteinander stärken, gemeinsam Jesus-gemäße Wege in die Zukunft erkunden“

Ein absolutes Highlight des Symposiums waren für mich dabei die vielen großartigen Vorträge, die diese Fragestellung ausleuchteten. Noch nie wurde mir so deutlich, wie viel Potenzial wir in unseren evangelikalen Reihen haben: Kluge Denker. Kühne Evangelisten. Gründliche Theologen. Aufopferungsvolle Beter. Visionäre Gemeindebauer. Allesamt durchdrungen von spürbarer Liebe, Leidenschaft und Herzlichkeit. Das habe ich in dieser Dichte und Vielfalt noch nie erlebt.

Die Vorträge waren in 4 Blöcke eingeteilt:

Im 1. Block unter dem Titel „Die Herausforderung in den Blick nehmen“ ging es um eine Bestandsaufnahme der IST-Situation. Wie steht es um unsere „fromme Landschaft“ im landes- und freikirchlichen Bereich? Darüber sprachen Volker Gäckle, Alexander Garth und Ansgar Hörsting. Mein Vortrag befasste sich dazu mit der Frage: Wie gestaltet sich das Miteinander? Welche theologischen Spannungen gibt es und wie sollten wir darauf reagieren? Und welche Rolle spielen dabei die Bekenntnisse, insbesondere die Glaubensbasis der evangelischen Allianz?

Der 2. Block war überschrieben mit dem Titel „Der Blick zurück – Was lehrt uns die Geschichte?“ Prof. Roland Werner und Rainer Harter sprachen über die frühe Kirche: Welche Prinzipien haben sie zur Bewegung werden lassen? Wie gingen sie mit falschen Lehren um? Welche Rolle haben ethische Fragen gespielt? Welche Bedeutung hatten die Bekenntnisse? Rainer Harter machte deutlich: Das Nicäno-Konstantinopolitanum ist ein wunderschöner Glaubensschatz, der bis heute weltweit zahllose Kirchen miteinander verbindet. Ulrich Parzany blickte in seinem Vortrag auf den Aufbruch der Evangelikalen im 20. Jahrhundert zurück – eine beeindruckende Innenansicht, die zeigte: Viele äußere Erfolge waren auch hart umkämpft.

Im 3. Block ging es um die Kernfrage dieses Symposiums: „Einheit in Vielfalt – Was ist unser verbindender Kern?“ Die Vorträge von Johannes Röskamp, Martin P. Grünholz und Nicola Vollkommer-Sperry gaben dazu drei eindrückliche Antworten: Der Offenbarungscharakter der Bibel! Der stellvertretende Opfertod Jesu! Und die Leidenschaft für Jesus Christus, wie er uns in der Bibel offenbart wird! Aber genügt diese Übereinstimmung für echte Einheit? Ulrich Eggers wies in seinem Vortrag auf notwendige Herzenshaltungen hin, die für Einheit unverzichtbar sind.

Der 4. Block am Freitagabend unter dem Titel „Der Blick nach vorne: Was wir jetzt brauchen!“ war zunächst geprägt von einem beeindruckenden Vortrag von Dr. Fabian Grassl zur dringenden Notwendigkeit der (verlorenen) Kunst der Apologetik. In einem Podiumsgespräch wurde herausgearbeitet: Wir müssen die Kunst der theologischen Debatte wieder ganz neu lernen! Der Abend mündete in einen Aufruf zum Gebet um Erweckung und zum notwendigen Miteinander zwischen Betern, Bibel- und Bekenntnisleuten sowie Praktikern in Gemeinden und Werken.

Der 5. Block am Samstagmorgen war überschrieben mit dem Titel: „Einheit im Spannungsfeld“. Stephanus Schäl sprach konkret über „Einheit im Spannungsfeld zwischen Gesetzlichkeit und Beliebigkeit“. Armin Baum nahm sich des Themas an, das die ganze Zeit über immer wieder aufblitzte, weil es faktisch so oft im Zentrum der laufenden Auseinandersetzungen steht: Wie gelangt man von den biblischen Aussagen zur ethischen Praxis? Dirk Scheuermann, Reinhard Spincke und Gernot Elsner machten deutlich, dass alles notwendige theologische Ringen kein Selbstzweck ist, sondern am Ende zur missionarischen Praxis führen muss. Die äußerst ermutigenden Berichte aus der erwecklich gewachsenen Kirchengemeinde Nierenhof sowie von den missionarischen Einsätzen am Ballermann in Mallorca haben sicher bei vielen Symposiumsteilnehmern bleibenden Eindruck hinterlassen.

Die gesamte Playlist mit allen Vorträgen findet sich hier auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Allianz.

Und was war das Ergebnis?

Über der gesamten Veranstaltung schwebten letztlich 2 Grundfragen, die nach meiner Wahrnehmung wie große Elefanten im Raum standen. Die erste Frage hieß: Wie gehen wir um mit der Glaubensbasis der evangelischen Allianz? In meinem Vortrag hatte ich dazu Thorsten Dietz zitiert mit dem Satz: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Damit hat er sicher recht. Aber wenn das so ist, dann heißt das eben auch: Wenn selbst diese wenigen, allerzentralsten Sätze hinterfragt, relativiert oder subjektiviert werden, dann driften wir eben nicht mehr nur bei Randfragen des Glaubens auseinander, sondern dann geht es wirklich ans Eingemachte, um den innersten, verbindenden Kern unseres Glaubens.

Umso mehr bin ich überaus dankbar dafür, dass die Vorbereitungsgruppe des Symposiums (Ekkehart Vetter, Reinhardt Schink, Ulrich Eggers und ich) zu dieser Frage eine klare Antwort fand, die wir auch gemeinsam öffentlich bekanntgaben:

„Als Vorbereitungsgruppe des Symposiums sind wir dankbar für unsere intensive Tagung, bekräftigen und feiern die theologische Basis der EAD und halten fest, wie wichtig persönliche Begegnung und vertrauensvolles Gespräch für die Erfüllung unseres Auftrags ist. Gemeinsam wünschen wir uns mitten in den drängenden Fragen und Nöten unserer Zeit einen Neuaufbruch unserer Gemeinden und Werke zu vermehrtem Gebet und missionarischem Christus-Zeugnis in Wort und Tat.“

Diese Aussage haben wir unterstrichen durch einen Bekenntnisakt am Ende des Symposiums, den Ekkehart Vetter in IDEA wie folgt beschrieb:

„Ich bin Jahrzehnte im Kontext von Evangelischer Allianz unterwegs, aber das Symposium, prall gefüllt mit 17 Kurzreferaten, Diskussion, Gebet, viel Begegnung bis tief in die Nacht, endete mit einem für mich anfangs nicht geplanten Novum: Das versammelte Plenum des Symposiums las, ja proklamierte die Glaubensbasis der EAD als gemeinsames Bekenntnis. Ein fast historischer Moment, der nach meinem Eindruck nicht ohne Folgen bleiben wird.“

Diese Worte kann ich nur dick unterstreichen. Ich bin deshalb auch sehr ermutigt aus diesem Symposium herausgegangen. Gleichwohl steht natürlich immer noch eine zweite große Frage im Raum: Wie gehen wir damit um, wenn in unserer Mitte der Glaubensbasis widersprochen wird? Sollten wir wieder neu lernen unsere Glaubensgrundlagen leidenschaftlich zu verteidigen? Oder sollten wir unsere theologische Position nur möglichst bescheiden vertreten oder gar ganz zurückstellen, um keine Spaltung zu verursachen? Diese wichtige Frage wurde zwar andiskutiert, aber sie ist nach meinem Empfinden nach wie vor unbeantwortet.

Das Überwinden von Klischees als erster Schritt?

Ich hoffe aber, dass das Symposium zumindest geholfen hat, ein paar Klischees zu überwinden, die das Gespräch zu dieser Frage bisher belastet haben. Oft wird ja behauptet, hier stünden sich 2 Lager gegenüber: Die einen hätten ihre Priorität auf Einheit, ihr Denken sei von Offenheit geprägt, sie lesen die Bibel von Jesus her, sie glauben einander den Glauben, sie sind lernbereit im Umgang mit anderen Christen, ihre Priorität ist Gemeindebau und Mission aus Liebe zu den Menschen und um dieser Prioritäten willen sind sie offen für neue Impulse und Entwicklungen. Diesem „offenen“ Lager stünden die sogenannten „Bekenntnisevangelikalen“ gegenüber, die die Priorität auf die Durchsetzung eigener Überzeugungen legen, deren Denken von Grenzen geprägt ist, die dem Buchstaben und ihrer persönlichen Bibelauslegung folgen, deren Priorität der theologische Streit ist, die neue Entwicklungen als angsteinflößende Gefahr für die rechte Lehre empfinden und sich kulturpessimistisch von der „Welt“ abkapseln.

Das Symposium hat hoffentlich gezeigt: Auch diejenigen, die dafür eintreten, dass wir unsere Glaubensgrundlagen hochhalten, begründen und verteidigen sollten, haben in vielen Fragen der Theologie und Prägung eine große Weite. Auch sie stellen Christus ins Zentrum. Es geht ihnen gerade nicht ums Rechthaben sondern um eine gesunde Grundlage für Einheit, Gemeindebau und Mission. Sie verstecken sich nicht hinter dogmatischen Mauern, sondern sie sind leidenschaftliche Beter, Gemeindebauer, Evangelisten und Missionare. Aber sie sehen eben im schwindenden Konsens zu den Kernfragen unseres Glaubens eine Hauptursache dafür, warum unsere Einheit und unsere missionarische Dynamik schwindet. Gerade um der Einheit und der Mission willen ringen sie um diese Themen. Das angebliche Gegeneinander von „Allianzevangelikalen“ und „Bekenntnisevangelikalen“ ist aus ihrer Sicht ein Mythos, denn: Allianzevangelikale waren doch schon immer zugleich auch Bekenntnisevangelikale. Mehr noch: Für das historische Christentum haben Bekenntnisse schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. „Allianz“ und „Bekenntnis“ gehörte schon immer untrennbar zusammen. Wer die Bekenntnisse auflöst, untergräbt auch die Einheit. Die Bekenntnisse hochzuhalten und zum Leuchten zu bringen ist deshalb ein aktiver Dienst für unsere Einheit und das missionarische Miteinander.

Wie geht es weiter?

Vielleicht wird es ja möglich sein, auf einer klischeebereinigteren Grundlage die Gespräche auf einer breiteren Basis fortzusetzen. Das würde ich mir zumindest sehr wünschen. Die Vorträge des Symposiums könnten dafür eine solide Gesprächsgrundlage sein. Sie werden aktuell nachbearbeitet und in Kürze online gestellt. Ich empfehle dringend, am besten sämtliche Vorträge anzuschauen. Ich hoffe, dass zukünftig noch mehr Christen sich in diese so wichtige Debatte einbringen. Und lasst uns gemeinsam dafür beten, dass die Kirche Jesu insgesamt auf eine Spur findet, die zu wachsender Einheit und zu einem erwecklichen, missionarischen Aufbruch führt.

Macht – Die dreifache Versuchung für christliche Leiter

Die Bibel berichtet, dass Jesus sich vor dem Beginn seines öffentlichen Dienstes einer besonderen Prüfung unterziehen musste. Nach einer 40-tägigen Fastenzeit in der Wüste wurde er dreifach vom Teufel versucht (Matthäus 4, 1-11; siehe auch Lukas 4, 1-13). Diese kurze Geschichte ist vor allem für christliche Leiter von enormer und grundlegender Bedeutung. Denn die Strategien des „Versuchers“ (in der Bibel eine andere Bezeichnung für den Teufel) sind bis heute die gleichen geblieben:

1. Missbrauch der eigenen Macht

Als Jesus nach der langen Fastenzeit überaus hungrig war, machte ihm der Teufel einen verführerischen Vorschlag: „Wenn du der Sohn Gottes bist, befiehl doch, dass die Steine hier zu Brot werden!“ Keine Frage: Jesus hätte das gekonnt! Wer Wasser in Wein verwandeln kann, kann auch Steine in Brot verwandeln. Aber er wusste, dass er seine Macht nicht beliebig für die eigene Bedürfnisbefriedigung missbrauchen durfte.

Missbrauch der eigenen Macht ist bis heute eines der größten Probleme in unseren Gemeinden. Kirchen- und Gemeindeleiter missbrauchen ihre Macht, um ihre eigene Position und die eigenen Kirchen- und Gemeindestrukturen abzusichern. Wie viele Aufbrüche wurden abgewürgt, weil sie nicht die bestehenden Strukturen gestützt haben, sondern weil der neue Wein neue Schläuche gebraucht hätte? Wie viele Aufbrüche wurden bekämpft, weil sie den Wünschen der Mächtigen in Kirchen und Gemeinden widersprachen? Wie viele Gottesdienste und Gemeinden sind routiniert und kraftlos, weil Kirchen- und Gemeindeleiter ihre Macht missbrauchen, um Veränderung zu unterdrücken? Wie viel kraftvolles Gotteswort ist verloren gegangen, weil die Mächtigen in Kirchen und Gemeinden das Kanzelrecht aufgrund von Ämtern und Ausbildung vergeben statt aufgrund von Gabe und Berufung?

Jesus antwortet mit einem Schriftwort: „In der Heiligen Schrift steht: Der Mensch lebt nicht nur von Brot. Nein, vielmehr lebt er von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ Wo geistliche Leiter nur ihre eigenen Brötchen backen, verhungern Kirchen und Gemeinden. Geistliches Leben entsteht dort, wo wir dem kraftvollen Wirken von Gottes Wort Raum geben, auch wenn wir die Wirkungen dieses Wortes nicht kontrollieren können.

2. Missbrauch der Nähe zur Macht Gottes

Im zweiten Anlauf versucht der Teufel, Jesus mit seiner Nähe zur Macht Gottes zu verführen: „Wenn du der Sohn Gottes bist, spring hinunter! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Er wird seinen Engeln befehlen: Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.‹“ Jesus war sich der Macht Gottes sicher bewusst. Gott sandte ihm immer wieder Engel, so auch am Ende dieser Geschichte in der Wüste. Und was wäre das für eine Show gewesen! Ein Mann, der vom Dach des Tempels springt und von Engeln aufgefangen wird, bräuchte nicht mehr mühsam um Respekt und Aufmerksamkeit kämpfen.

Auch heute noch ist die (gefühlte oder angemaßte) Nähe zur Macht Gottes eine gewaltige Versuchung für christliche Leiter. Ich denke an manche charismatische Frontleute, die eine emotional aufgeladene Atmosphäre, Wunder und Geistesgaben nutzen, um Aufmerksamkeit und Spendenaufkommen zu generieren. Ich denke an manche Christen, die vorschnell persönliche Meinungsäußerungen mit „So spricht der Herr“ oder „Die Bibel sagt“ unterlegen, um Widerspruch von vornherein auszuschließen. Ich denke an manche Kirchen- und Gemeindeleiter, die ihr Amt missbrauchen, um Dinge und Handlungen zu segnen, die Gott niemals segnen würde. Ich denke an manche Pfarrer, Pastoren und Prediger, die ihr Amt missbrauchen, indem sie wahllos jedem das Heil, den Segen und die Vergebung Gottes zusprechen, ohne zugleich über die Realität der Sünde und die Notwendigkeit zur Umkehr zu sprechen. Und ich frage mich, wie oft ich selbst schon in solche Fallen getappt bin.

Die Antwort Jesu ist klar: „Es steht aber auch in der Heiligen Schrift: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen!“ Gott vor den eigenen Karren zu spannen, hat immer katastrophale Folgen.

3. Missbrauch der Nähe zur weltlichen Macht

Im dritten Anlauf lenkt der Teufel den Blick Jesu auf die weltliche Macht: „Er zeigte ihm alle Königreiche der Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit. Er sagte zu ihm: »Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest!«“ Damit ließ der Teufel Jesus spüren: In diesem Augenblick bist Du mit der zentralen Schaltstelle der weltlichen Macht in Verbindung. Ein kurzes Gebet – und die Macht gehört Dir! Du könntest sie für großartige Dinge einsetzen: Kriege beenden. Für soziale Gerechtigkeit sorgen. Übeltäter stoppen…

Ich sehe das überall in der kirchlichen Welt: Die Nähe zur politischen Macht und zu den intellektuellen Eliten ist überaus verführerisch. Da lohnt es sich doch scheinbar, das Evangelium ein wenig zeitgeistiger zu formulieren, um von Steuertöpfen profitieren zu können, um in den Medien Beifall zu bekommen, um in der akademischen Welt Anerkennung zu finden. Und es lohnt sich doch scheinbar, sich nicht mit der Kirchenleitung anzulegen, ganz egal, wie sehr sie sich auch verirrt. Wenn ich mich mit der Kirchenleitung gut stelle, dann darf ich vielleicht ein wenig mitreden. Dann kann ich vielleicht eher die eigenen Interessen einbringen. Dann bekommt meine Organisation vielleicht ein paar mehr Stellen und ein wenig mehr Geld aus den Kirchensteuer- bzw. Spendentöpfen. Und damit könnte man doch so großartige Dinge bewegen…

Auf solche Spielchen ließ Jesus sich nicht ansatzweise ein: „Da sagte Jesus zu ihm: »Weg mit dir, Satan! Denn in der Heiligen Schrift steht: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihn allein verehren!‹« Daraufhin verließ ihn der Teufel. Und es kamen Engel und sorgten für ihn.“ Die Grundlage für den Dienst Jesu lag darin, all diesen Versuchungen zur Macht gründlich zu widerstehen. Stattdessen behielt er den Fokus auf Gottes Macht und Souveränität. Seine feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift war dafür von entscheidender Bedeutung.

Wir müssen uns bewusst machen, wie verführbar wir sind

Die Botschaft dieser biblischen Episode ist drastisch: Wehe uns, wenn wir selbst die Macht in den Gemeinden und Kirchen übernehmen, statt Christus das Haupt der Kirche sein zu lassen. Wehe uns, wenn wir Gott für unsere eigenen Ziele missbrauchen. Wehe uns, wenn wir das Evangelium beschneiden, um von weltlicher oder kirchlicher Macht profitieren zu wollen. Ja, natürlich sollen wir unsere Talente und unseren Einfluss weise nutzen. Natürlich sollen wir Gottes Macht endlos viel zutrauen. Natürlich sollen Christen auch die Welt mitgestalten und dafür gerne auch politische Macht anstreben. Aber wir müssen uns dabei jederzeit unserer enormen Verführbarkeit bewusst sein. Wir müssen uns immer wieder klar machen: Die Versuchung zum Machtmissbrauch ist gigantisch. Das gilt besonders dann, wenn wir persönlichen Mangel erleben und gerade durch eine Wüstenzeit gehen.

Es gibt für uns nur einen Schutz: Die Anbetung Gottes. Die feste Verwurzelung in dem Vertrauen, dass ER uns versorgt und sein Werk in der Kirche Jesu und in der Welt tut, so dass wir ihm nicht mit eigenen Machtmitteln vorgreifen müssen. Und die feste Verwurzelung in der Heiligen Schrift. Dieser Fokus, dieses Vertrauen und diese Verwurzelung war die unverzichtbare Grundlage für den Dienst Jesu. Wir sollten nicht glauben, dass wir diesen Versuchungen entgehen können, wenn wir diesen Fokus und diese Verwurzelung nicht haben.

Es sollte uns in eine gesunde Unruhe versetzen, wenn wir sehen, wie viele geistliche Leiter in eine oder mehrere dieser Fallen getappt sind und dadurch schlimmen Schaden für sich selbst und für die Kirche Jesu verursacht haben. Immer wieder will ich mir deshalb bewusst machen: Ich bin nicht besser als sie! Ich bin genauso verführbar! Die Versuchung klopft genauso auch an meine Tür! Und ich habe selbst oft genug versagt. Ich brauche Gottes Gnade, das Aufschauen zu Jesus und die feste Verwurzelung in seinem Wort, um so wie Jesus bestehen zu können und dadurch bereit zu werden für einen gesegneten Dienst.

Mein Traum geht in die Verlängerung (2)

Im Juli 2020 habe ich einen Artikel veröffentlicht, an den ich in den letzten Tagen immer wieder denken musste. Er befasste sich mit meinem großen Lebenstraum „von einer fröhlichen, bunten und vielfältigen Jesus-Bewegung, die gemeinsam für diese eine Botschaft steht: Jesus ist Herr! Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben! Sein Blut reinigt uns von unserer Schuld! Komm und lass Dich von ihm retten!“ Ich habe in diesem Artikel meine Enttäuschung darüber geschildert, dass unter uns Christen in den letzten Jahren nicht nur alte Spaltpilze überwunden wurden, sondern leider auch der verbindende Konsens in zentralen Glaubensfragen dahingeschmolzen ist – und damit auch die Basis für unsere Einheit.

Besonders bewegt haben mich die immer lautstärkeren Rufe nach einer “Öffnung” im Bereich der Sexualethik. Das hat mich zu der Frage geführt: „Sollte ich mir vielleicht doch einen Ruck geben und mit auf den Zug aufspringen? Offenkundig steigen nicht wenige geschätzte Mitchristen ein in diesen Zug, der jetzt wieder einmal lautstark zum Mitfahren lockt. Aber nein. Ich werde nicht mitfahren. Es zerreißt mir zwar das Herz, dass sich dadurch wohl auch Wege trennen müssen. Aber ich kann trotzdem nicht anders.“ Denn ich kann mein Gewissen vor Gott nicht kompromittieren. Und ich kann zudem absolut nicht erkennen, dass dieser Zug in Richtung Einheit und Erweckung fährt.

Der Zug ist in rasantem Tempo weitergefahren

Seither ist der Zug der progressiven Sexualethik in rasantem Tempo weitergefahren. Neben zahlreichen Worthausvorträgen, Podcasts und Büchern gab es 2021 das erste größere Treffen der Initiative „Coming-In“. Schon der Name vermittelt das Bild: Wer praktizierte Homosexualität nicht gutheißt, der glaubt nicht, dass bei Gott alle Menschen willkommen sind. In meinem Kommentar zur Gründung von „Coming-In“ hatte ich drei Bitten an die Unterstützer formuliert: Bitte sprecht anderen Christen nicht von vornherein die Liebe ab! Baut selbst Gemeinden statt andere Gemeinden umdrehen zu wollen! Und helft doch bitte mit, dass in unserem Land eine Atmosphäre echter Toleranz bewahrt bleibt, in der auch Gemeinschaften mit einer konservativen Position respektiert werden, so dass es ein respektvolles Nebeneinander und vielleicht sogar zumindest punktuell ein Miteinander geben kann. „Vielleicht gelingt das ja eines Tages, dass wir gelassen sagen können: We agree to disagree. Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Aber wir unterstellen dem Anderen deshalb keine bösen Motivationen.“

Zum „Coming-In“ gesellt sich das „Get out“

Ein weiteres Jahr später sehe ich: Meine Bitten werden nicht gehört. Auf der diesjährigen Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt verglich Michael Diener seine Hinwendung zur progressiven Sexualethik mit dem biblischen Saulus/Paulus-Ereignis. Früher habe er andere Menschen „diskriminiert, falsch beraten, ihnen so Schaden zugefügt“ und „die Gnade, die Liebe Gottes, das Evangelium […] viel kleiner gemacht“. Christliche Gemeinschaften, die seinen Weg nicht mitgehen wollen, bezeichnet er als „abgeschlossene Gruppen“, in denen ein „Zeitgeist von vorgestern“ herrscht, und die „ohne Impuls von außen nicht in der Lage sind, sich dem Wirken des lebendigen Geistes Gottes […] zu öffnen”. “Mit aus dem Zusammenhang gerissenen Bibelzitaten wollen sich manche durch eine komplexe Zeit navigieren. Die Bibel wird so aber überfordert und ungeistlich missbraucht.“ Auf der Tagung ist davon die Rede, dass die Sünde der Ausgrenzung aufhören müsse. Ein guter Freund von mir reagierte mit den Worten: Wenn er Recht hat, bin ich ein selbstgerechter, verdammter Irrlehrer. Eine schärfere Infragestellung habe ich noch nie erlebt.“ Der Blogger Matt Studer erkennt in der Tagung gar ein „polemisches Storytelling”. Stillschweigend werde „Willkommenskultur“ (die alle wollen!) mit „Gutheissungskultur“ gleichgesetzt (was niemand durchhalten kann, weil jeder Toleranzgrenzen hat). Konservativen werde unterstellt, nicht die ganze Bibel bei der Auslegung zu berücksichtigen. Sie werden als wissenschaftsfeindlich und realitätsfern dargestellt. Studers Fazit: „Inklusion kommt für Progressive auch an ihre Grenze, wenn es um uns Konservative geht. Denn uns könnt ihr ja unmöglich inkludieren, es sei denn wir tun Busse und denken um!“

Für mich bestätigt sich hier, was ich schon früher beobachtet habe: „Ambiguitätstoleranz“ war gestern. Jetzt werden auch im freikirchlichen Bereich Stimmen laut, die ich aus der evangelischen Kirche schon lange kenne. Die evangelische Pastorin Sandra Bils (die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt) schrieb schon 2015 in ihrem Blog, dass sie der Gedanke stört, dass man der konservativen Position noch eine Daseinsberechtigung zuspricht. Die Nordkirche (die ev. Landeskirche in Schleswig Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern) hat 2019 nicht nur beschlossen, gleichgeschlechtliche Paare zu trauen, sondern zugleich auch die Gewissensfreiheit für Pastoren in dieser Frage abzuschaffen – womit Konservative dort keinen Pfarrdienst mehr anstreben können, wenn sie ihr Gewissen nicht kompromittieren wollen. 2020 hatten die Tübinger Theologieprofessoren die konservative Position als „unerträglich“ bezeichnet. Der Trend ist klar: Zum „Coming-In“ gesellt sich rasch das „Get out“ an alle, die diesen Weg nicht mitgehen wollen.

Noch 3 weitere Beobachtungen aus den vergangenen Jahren verfestigen sich:

1. Die progressive Sexualethik geht einher mit einem veränderten Bibelverständnis

So sagt Michael Diener: Er sei gebunden gewesen an eine bestimmte Lesart der Bibel. Heute begreife er die Bibel immer noch als Heilige Schrift und Gottes Wort, “aber zugleich so, dass sie die in ihr steckende Kraft nicht im Buchstaben allein, sondern durch Gottes Geist und in die Zeit hinein entfaltet”. Nun war Michael Diener als Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes sicher noch nie ein radikaler Biblizist. Aber auch ein grundsolides evangelikal-/pietistisches Bibelverständnis ist offenkundig nicht mehr vereinbar mit den Thesen, die heute im Umfeld von Coming-In vertreten werden.

2. Progressive Christen missionieren mit Vorliebe konservative Christen

Michael Diener ruft dazu auf, gemeinsam zu glauben, zu hoffen, zu lieben und zu “arbeiten für christliche Gemeinden, in denen Menschen nach ihrem Coming Out ein herzliches Coming In erfahren egal, ob lesbisch, schwul, bi, trans, hetero oder anders queer”. Nun gibt es ja bereits massenhaft Gemeinden, in denen gleichgeschlechtliche Paare getraut werden, vor allem in der evangelischen Kirche, zu der Michael Diener gehört. Trotzdem wird bei Coming-In in Workshops über notwendige Change-Prozesse nachgedacht, damit Gemeinden sich für die LSBTIQ-Community öffnen und „Hartnäckige Missverständnisse“ überwinden. Ich finde es immer noch wenig fair und überzeugend, mit missionarischem Eifer lebendige Gemeinden umdrehen zu wollen, die Christen mit einer anderen Position zum Blühen gebracht haben, während zugleich liberale Gemeinden massenhaft zugrunde gehen. Und auffällig ist: Während Konservative bei jeder Äußerung zum Thema Sexualethik mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden nur um das Thema Sex kreisen, wird auf der anderen Seite dieses Thema mit immer größerer Frequenz auf die Tagesordnung gesetzt. Es werden sogar spezielle Tagungen zu diesem Thema abgehalten.

3. Es ist naiv, zu glauben, dass es Einheit gibt, wenn Konservative die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare tolerieren

Die Agenda der progressiven Sexualethik ist lang. Erst kürzlich habe ich begründet, warum ich – gerade auch als Christ – niemals gendern werde. Michael Diener forderte hingegen bereits in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“ die Durchsetzung von Gendersprache und Frauenquoten, und zwar „auch gegen eine eher fundamentalistische oder biblizistische Minderheit. Und bitte halten Sie das nicht für ein Nebenthema!“ (S. 206)

Direkt nach der Coming-In-Tagung lud Michael Diener leidenschaftlich ein zur Tagung: “Zurück zur »natürlichen« Ordnung? Theologische und theopolitische Dimensionen des Anti-Gender-Diskurses”, veranstaltet vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen. Auf der Rednerliste der Tagung steht unter anderem Thorsten Dietz, der über „Heteronormative Geschlechterpolitik im Evangelikalismus und seine Probleme“ spricht. Höhepunkt der Tagung ist der öffentliche Abendvortrag von Neil Datta, dem Generalsekretär des „European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (EPF)“ und zugleich Vorkämpfer für das “Recht auf Abtreibung” und gegen verpflichtende Beratungsgespräche. Aus seiner Sicht ist Deutschland noch lange nicht im grünen Bereich, was das “Recht auf Abtreibung” betrifft, wie dieser WELT-Online-Artikel zeigt.

Dass die progessive Sexualethik und Genderbewegung auch Abtreibung mit im Gepäck hat, mag manche überraschen. Neu ist die Öffnung in der Abtreibungsfrage im kirchlich-progressiven Umfeld aber nicht. 2018 wurde in der evangelischen Kirchenzeitschrift Chrismon aktiv für die Abschaffung des §219a geworben. 2019 rechtfertigte die US-amerikanische Pastorin Nadia Bolz-Weber (laut dem christlichen Medienmagazin PRO „so etwas wie der Star der Emergenten und progressiven Evangelikalen“) ihre eigene Abtreibung mit der These, dass das Leben mit dem Atem beginne – ein wahrhaft verstörender Satz. Denn als Christ und als Biologe muss ich sagen: Auch im Mutterleib sind Kinder bereits Kinder – mit einer gottgegebenen Würde und einem Recht auf Leben. Wer daran zweifelt, dem empfehle ich den Gang durch eine Frühgeborenenstation. Wie Christen sich mit Kräften gemein machen können, die die geltenden Regelungen zum Thema Abtreibung in Deutschland aufkündigen und ein “Recht auf Abtreibung” vorantreiben wollen, ist mir schleierhaft. Ganz sicher ist: Zu solchen Positionen werde ich niemals Brücken bauen können.

Zwei unvereinbare Positionen stehen im Raum

Umso mehr bin ich froh, dass ich 2020 nicht in diesen Zug eingestiegen bin. Die “Öffnung” beim Thema Sexualethik hat zu vieles im Gepäck, was ich nicht teilen kann, darunter auch eine liberalere Theologie, die weltweit Kirchen schrumpfen lässt, wie Alexander Garth in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“ eindrücklich dargelegt hat. Wie spaltend progressive Sexualethik wirkt, macht im Moment auch der synodale Weg” in der katholischen Kirche vor. Es ist zwar traurig, aber wir müssen realistisch sein: Hier stehen sich zwei unvereinbare Positionen gegenüber. Auf beiden Seiten handelt es sich nicht nur um eine Meinung, sondern um eine Gewissensfrage. Diesen Dissens kann man vielleicht auf Kongressen übergehen, aber in jeder Gemeinde muss zwangsläufig eine Entscheidung getroffen werden. Wenn sich ein Gemeindebund nicht dazu positionieren will, dann wird der Konflikt auf die Ebene der lokalen Gemeinden verschoben und damit vielfach multipliziert – mit allen zerstörerischen Folgen, die das für die Gemeinden mit sich bringen kann.

Umso mehr bin ich dankbar für alle, die sich mutig, sensibel und kenntnisreich dafür einsetzen, dass wir gemeinsam an dem Konsens festhalten, der in der historischen Kirche durchgehend galt und bis heute für den allergrößten Teil der Weltkirche gilt, wie jüngst der Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz Prof. Thomas Schirmacher bekräftigt hat. Johannes Traichel hat in seinem Buch “Evangelikale und Homosexualität” wunderbar beschrieben: An der Schönheit und Kraft biblischer Sexualethik dürfen wir nicht nur aus soliden biblischen Gründen fröhlich festhalten. Wir müssen diese Sexualethik auch aktiv einüben. Wir müssen lernen, wie sie in unseren Gemeinden praktisch gelebt werden kann. Der Versuch, das Thema um des scheinbaren lieben Friedens willen einfach totzuschweigen, kann also aus vielen Gründen keine Option sein.

Mein Traum ist lebendiger denn je

Mein Traum von Einheit in Vielfalt ist zwar immer noch in der Verlängerung. Aber er ist lebendiger denn je! Ich sehe viele Anzeichen, dass jenseits des Postevangelikalismus eine neue Einheit unter Jesusnachfolgern wächst. Das Bewusstsein wird geschärft, wie wichtig und unersetzbar die Hochschätzung der biblischen Autorität für die Einheit der Kirche Jesu ist. Wo die Liebe zu Jesus gelebt wird und die gemeinsame Schrift- und Bekenntnisgrundlage feststeht, da können große Differenzen in der Prägung und in theologischen Randfragen ausgehalten werden. Dort gelingt es auch, Menschen gemeinsam zur Nachfolge Jesu einzuladen. Dort wachsen Gemeinden auch gegen den Trend.

Deshalb werbe ich leidenschaftlich dafür, dabei zu bleiben: Christen sind Christusnachfolger. Sie folgen den Worten ihres Meisters, die sie in der Bibel finden. Ja, diese Worte bestehen aus Buchstaben. Die Buchstaben entfalten ihre Kraft nur durch den Heiligen Geist. Aber der Heilige Geist wird sich niemals gegen den Buchstaben stellen. Nur im Einklang mit Gottes Wort hat die Kirche Jesu Zukunft.

Die Artikel, die in diesem Artikel erwähnt werden:

Untergehen oder umkehren

Eine dramatische Analyse – Ein Ruf zur Umkehr – Ein Mutmacher für einen neuen Aufbruch

„Wir stehen auf der Schwelle in eine neue Ära der Kirche. Die Volkskirche, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen, gibt es bald nicht mehr.“(S. 149)

Diese Grundthese des Buchs „Untergehen oder Umkehren“ begründet der Autor Alexander Garth mit zwei nicht aufzuhaltenden Megatrends: „Der Niedergang institutioneller Religiosität bzw. geerbter Religion und der Aufschwung individueller Religiosität bzw. gewählter Religion.“ (S. 69) Die Zeiten sind demnach vorbei, in denen es genügte, irgendwie mit der Kirche zu glauben. „Die Menschen brauchen ihren persönlichen Zugang, ihr eigenes Erweckungserlebnis.“ (S. 25)

Bekehrung rückt in den Fokus

Für die großen Kirchen bringt dieser Wandel eine dramatische Konsequenz mit sich: „Eine Kirche, die aus dem volkskirchlichen Betreuungsmodell nicht gewählter Religion hin zu einer Kirche der Zukunft aufbrechen will, wo gewählte Religion zur Normalität wird, muss dem Thema Konversion (früher sagte man »Bekehrung« dazu) höchste Priorität einräumen. Denn die Übermorgenkirche wird aus Menschen bestehen, die Glaube und Kirche gewählt haben.“ (S. 153) Dabei ist diese zentrale Bedeutung von „Bekehrung“ für Garth nichts Neues: „Das Thema Bekehrung zieht sich wie eine Leuchtspur durch die ganze Kirchengeschichte. In den dynamisch wachsenden Kirchen Afrikas, Asiens und Leinamerikas ist Bekehrung ein Massenphänomen. Und bei uns? Es wird wieder ein wichtiges Thema in der Kirche, oder aber es gibt sie nicht mehr.“ (S. 177)

Volkskirche ist von Haus aus antimissionarisch

Der grundlegende Wandel in Richtung gewählter Religiosität stellt die großen Volkskirchen vor eine doppelte Herausforderung. Einerseits ist sie seit der konstantinischen Wende geradezu antimissionarisch aufgestellt, denn: „Wenn alle Bürger schon irgendwie Christen sind, dann ist Mission eigentlich überflüssig, ja sogar schädlich, weil es dann Christen gibt, die etwas Besseres sein wollen, bekehrter, echter, hingegebener. Es genügt dann, dass die Kirchenmitglieder in ihrem (Minimal)-Glauben betreut und gestärkt werden. Sie werden parochialisiert (Gemeinden zugeordnet), sakramentalisiert, aber nicht missioniert.“ (S. 45/46) Den getauften Kirchenmitgliedern wieder zu sagen, dass sie sich bekehren müssen, würde einen grundlegenden Paradigmenwechsel bedeuten, der momentan nicht erkennbar ist. Stattdessen ist Garth‘s Beobachtung: „Mission ist für die liberalen Kirchen des Westens peinlich. Sie gilt als übergriffiger Akt, der das emanzipierte, mündige Gegenüber nicht ernst nimmt. … Es geht nicht mehr um Konversion, sondern um Entwicklungshilfe, um Dialog, um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Der Missionsauftrag Jesu, alle Völker zu Jüngern zu machen, wird auf die Ethik reduziert.“ (S. 99/100)

Auch die Kirche selbst hat die Bevölkerung gegen den Glauben immunisiert

Hinzu kommt ein zweites Problem: Während überall in der Welt der christliche Glaube an Dynamik gewinnt, scheint in Deutschland geradezu eine „Herdenimmunität“ gegenüber dem christlichen Glauben zu bestehen. Aber warum ist das eigentlich so, dass die „Menschen bei uns weithin allergisch auf den christlichen Glauben reagieren“ (S. 55)? Garth nennt 5 Faktoren:

  1. Die über sehr lange Zeit währende Verbindung von staatlicher Macht und Kirche hat die Menschen misstrauisch gemacht.
  2. Das volkskirchliche Minimalchristentum macht immun gegen den echten christlichen Glauben.
  3. Der Religionsmonopolismus eines religiösen Anbieters kann nicht genügend Zugänge zum Glauben anbieten, was aber in einer offenen, diversen Gesellschaft erforderlich ist.“
  4. Reduktive Theologien … haben die Volksfrömmigkeit beschädigt“.
  5. DieMoralisierung des Glaubens führt dazu, dass Menschen sich sagen: Glauben brauche ich nicht, denn ich kann auch ohne ein guter Mensch sein.“ (S. 51/52) „Religion, die sich in sozialem Engagement, Klimarettung, Geschlechtergerechtigkeit und Weltverantwortung erschöpft, schafft sich ab.“ (S. 81)

Anpassung ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Die gängige Frömmigkeit, die man in den Kirchen antreffen kann, beschreibt Garth in deutlichen Worten: „Statt des Glaubens, wie ihn z.B. die altkirchlichen Bekenntnisse bezeugen, finden wir eine diffuse Religiosität an einen Kuschelgott, der für das persönliche Wohlergehen zuständig ist und die Freiheit nicht einschränken darf.“ (S. 60) „Dass im Zentrum des christlichen Glaubens der Erlösungsgedanke steht, ist komplett außerhalb des Blickfeldes.“ (S. 78)

Aber ist es nicht zwangsläufig notwendig, dass die Kirche sich an die Menschen anpassen muss, wenn sie nicht noch mehr Mitglieder verlieren möchte? Garth schreibt dazu: „Liberale Christen vereint eine Illusion: Sie glauben, dass moderne Zeiten eine moderne Religion erfordern. … Die Religion der Zukunft muss sanft und moderat sein, pluralistisch und nicht exklusiv, spirituell, aber nicht dogmatisch, den Menschen bestätigend, nicht hinterfragend, eine gefällige Religion, die sich an die Erwartungen der Gesellschaft anpasst und keine Forderungen an die Gläubigen stellt. Dean M. Kelleys Studie und auch andere religionssoziologischen Erhebungen kommen zu dem gegenteiligen Schluss, nämlich dass diese Form von Softreligion das sicherste Rezept für Erfolgslosigkeit ist.“ (S. 112/113)

Aber warum ist das so? Garth beschreibt die selbstzerstörerische Dynamik der kirchlichen Anpassung so: Das Resultat der Anpassung ist ein weichgespültes Evangelium und eine profillose Kirche. … Dennoch verstärkt sich der Trend zum Kirchenaustritt. Die Logik geht nicht auf. Der Nivellierungskurs führt zu einer Banalisierung des Glaubens. Kaum einer weiß noch, wofür die evangelische Kirche eigentlich steht – außer natürlich für das, wofür auch der gesellschaftliche Mainstream steht. Aber dafür braucht es keine Kirche. Wer in der Kirche auf Anpassung setzt, schafft sie ab. … Eine an die Allgemeinheit angepasste Kirche produziert Langeweile und Gleichgültigkeit. Und sie trägt bei zur Immunisierung gegenüber dem Evangelium, erworben durch den schleichenden Kontakt mit einem harmlosen, verdünnten Christentum.“ (S. 61/62)

Die Entstehung einer „reduktiven Theologie“

Eine große Rolle spielen für Garth dabei die Entwicklungen an den theologischen Fakultäten in den letzten 200 Jahren: „Unter den Bedingungen einer Staats- und Volkskirche, in der man Mission nicht nötig hatte, weil alle dazu gehörten, konnte sich ein theologisches Denkmodell entwickeln, das … den missionarischen Aufbruch des Glaubens behindert und verhindert: Das liberale Denkraster. Die sogenannte liberale Theologie des Westens – global betrachtet ein Randphänomen – hat mit ihrem Erkenntnisreduktionismus, der einem materialistischen Weltbild verpflichtet ist, das Fundament des christlichen Glaubens in einen Sumpf verwandelt und die missionarische Kraft der Kirchen beschädigt. Das ist das geistliche Drama des Westens mit der Folge einer desaströsen geistlichen Frucht- und Vollmachtslosigkeit.“ (S. 26/27) Diese „reduktive Theologie, die den Zweifel zum normativen Prinzip erhob, hat einen großen Anteil an der Immunisierung vieler Menschen gegen den christlichen Glauben.“ (S. 77) Garth spricht dabei lieber von „reduktiver“ statt von „liberaler“ Theologie, denn: „Das liberale reduktive Denkraster ist das Resultat einer reduktiven Vorannahme, nämlich der wissenschaftlich nicht begründbaren Entscheidung, Wunder, Offenbarungen und göttliches Eingreifen von vornherein auszuschließen. … Dieser Grundsatz dominiert bis heute als methodisches Axiom die exegetischen Wissenschaften und entzieht damit den anderen theologischen Disziplinen ihr biblisches Fundament.“ (S. 84)

Die entscheidende Rolle der Theologie

Heute ist oft der Ruf zu hören: Lasst uns doch nicht um Theologie streiten, sondern gemeinsam evangelisieren! Garth macht hingegen deutlich: Gerade um der Mission willen muss dringend um Theologie gestritten werden, denn: „Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ (S. 108) Umgekehrt ist für Garth ebenso klar: „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“ (S. 174) Diese Aussage ist umso erstaunlicher, da Garth sich selbst gar nicht unbedingt als Evangelikaler sieht. Seine Selbstbeschreibung lautet vielmehr: „Heute bin ich vielleicht so etwas wie ein evangelikal-liberaler Lutheraner mit katholischen und pentekostalen Neigungen.“ (S. 206)

Aber warum führt „reduktive Theologie“ zur Schrumpfung der Kirchen? Garth erklärt: „Dieser fundamentalistische Rationalismus macht aus der großen Geschichte Gottes mit der Menschheit ein armseliges Trauerspiel der Auflösung des Glaubens in lauter harmlose Existenzialismen und Moralismen. Das ist nicht nur eng, das ist langweilig.“ (S. 90) Er ist zudem „ein Commitment-Killer erster Güte. Eine Kirche mit einer beschädigten Christologie vermag nicht das Commitment zu generieren, das für einen missionarischen Aufbruch des Glaubens notwendig ist.“ (S. 147) Warum trotz dieser klaren Fakten ein Teil der freikirchlichen Evangelikalen ernsthaft mit der Theologie der großen Kirchen flirtet, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Was sich ändern muss: Die Bibel hochhalten und eine gesunde Christologie entwickeln

Trotz der harten Diagnose ist Garth keineswegs ein Pessimist in Bezug auf die Zukunft der Kirche, im Gegenteil: Er ist überzeugt, dass der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat. Aber was muss denn nun aus seiner Sicht nun geschehen, damit Kirche Zukunft hat? Sie muss zunächst einen anderen Umgang mit der Bibel finden: „Die Kirche der Zukunft wird auf jeden Fall die Bibel als einzigartiges Dokument der Offenbarung Gottes hochhalten.“ (S. 92) Denn: „Das Christentum ist wesensmäßig eine Offenbarungsreligion.“ (S. 97)

Garths Ausführungen zum Thema Bibelverständnis bleiben allerdings ein wenig vage. Wichtiger scheint ihm zu sein, dass die Kirche wieder eine solide Christologie (Lehre von Christus) entwickelt. Denn im Moment ist seine Wahrnehmung: „In der evangelischen Kirche ist überhaupt nicht mehr klar, wer Jesus Christus ist.“ (S. 152) Wenn aber „der Christus der Verkündigung nicht mehr der Christus der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse ist (vom Apostolischen Glaubensbekenntnis bis zum Bekenntnis von Barmen), dann sind die Folgen leere Kirchen, frustrierte Prediger, gelangweilte Menschen, keine Bekehrungen. Dann wird das ganze Christentum müde und farblos. Der Grund? Gottes Geist macht sich rar. … Der Heilige Geist sagt: »Nicht mein Jesus! Da bleib ich zu Hause.«“ (S. 118/119) Deshalb ist Garth überzeugt: „Die Neuformatierung von einer Volkskirche zu einer missionarischen Kirche benötigt eine gesunde, biblische, und gemäß den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen geformte Christologie.“ (S. 26)

Die Jungfrauengeburt ist entscheidend

Eine gesunde Christologie macht Garth ganz besonders auch an der Jungfrauengeburt fest: „Dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, findet seinen unüberbietbaren Ausdruck in der Jungfrauengeburt. Nur ein paar Theologen des Westens, welche eine unglaublich arrogante Skepsis zur norma normans, zum normierenden Prinzip gemacht haben und in ihrer Gefolgschaft einige von Zweifeln beseelte Abendländler, meinen, dass der Glaube unbeschadet bleibt ohne »Jungfrau.«“ (S. 96) Hier muss die Kirche also zwingend zurück zu ihren Bekenntnisgrundlagen, denn: „Ohne eine von reduktiver Überfremdung gereinigte Christologie gibt es keinen Aufbruch des Glaubens.“ (S. 157) Punkt. Auch seine vielen internationalen Erfahrungen bestärken Garth in dieser Sichtweise: „Ich war öfters in Afrika, Indien und in anderen Teilen der Welt und habe dort studiert, wie Gemeinden sich entwickeln, welche missionarischen Konzept sie vertreten und was ihre Theologie ausmacht. Ich habe von verschiedenen Pastoren und Gemeindegründern mehrfach einen Satz gehört: »Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt und dass dein Dienst ohne Frucht bleibt, dann übernimm die Theologie Europas!«“ (S. 160) Umso wichtiger ist es Garth, dass das Christentum in Deutschland endlich von den weltweit wachsenden Kirchen lernt.

Konservativ ist auch keine Lösung

Die Lösung besteht für Garth aber keineswegs darin, einfach nur konservativ zu werden. Stattdessen schreibt er: Die globale religionssoziologische Perspektive zeigt: Wachsende Gemeinden sind nicht einfach nur konservativ. Sie haben eine Doppelstrategie. Einerseits haben sie eine konservative Christologie verbunden mit dem Enthusiasmus, Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen. Im Bereich Moral sind diese Gemeinden zumeist sehr konservativ. Besonders in Sachen Sexualmoral vertreten sie Ansichten, die – zumindest aus westlicher Sicht – unerträglich streng und gestrig sind. Andererseits sind diese Gemeinden auffällig progressiv. Sie sind digital gut vernetzt bei Facebook, Youtube, Instagram und Twitter. … Überhaupt ist das ganze Erscheinungsbild aufstrebender Kirchen auffällig zeitgemäß.“ (S. 199) Parallelen dazu sieht Garth auch schon in der frühen Kirche: „In unserer heutigen sexualisierten Kultur fällt auf, dass in der frühen Kirche eine strenge Sexualmoral gelebt wurde, die sich von der Moral der Heiden unterschied. Sex außerhalb der Ehe galt als Unzucht.“ (S. 37) Kulturelle Differenzen sind für Garth aber kein Problem, sondern eine Chance auch für die heutige Kirche: „Ich sehe im Niedergang des Systems Volkskirche, der sicher ein schmerzhafter Prozess ist, die enorme Chance, dass Kirche wieder das werden kann, wozu sie berufen ist: eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft, ein göttlicher Gegenentwurf zur Welt, eine Einladung Christi, Gottes Alternative zu leben.“ (S. 27/28) Eine Kirche, die sich so auf den Weg macht, wird aus Garth’s Sicht auch keine finanziellen Probleme haben, denn: „Wo der Heilige Geist ist, da ist auch Geld. Finanzielle Großzügigkeit verrät immer, dass da etwas geschieht, was Menschen begeistert.“ (S. 190)

Hat die Umkehr schon begonnen?

Garths Analyse und Ruf zur Umkehr spricht mir insgesamt sehr aus dem Herzen. Sein Optimismus, dass in der evangelischen Kirche nicht nur in einzelnen Gemeinden sondern auf breiter Front eine Umkehr stattfinden wird, kann ich im Moment allerdings noch nicht wirklich teilen. Ich bin eher skeptisch, wenn Garth schreibt: „Auch die universitäre Theologie wird in einen Prozess der Erneuerung eintauchen, wenn nämlich immer mehr Studenten nach der Aneignung missionarischer und kybernetischer Kompetenz verlangen.“ (S. 164) Garth sieht sogar schon erste zarte Pflänzchen wachsen: „Die neue Pfarrergeneration, die viele Ideen für einen Aufbruch der Kirche hat, organisiert sich bereits in dem Netzwerk Churchconvention. Sie wollen eine »Mission-Shaped Church«, eine missionsgeformte Kirche.“ (S. 158) Ich wünschte, er hätte recht. Aber meine Beobachtung ist eher: Die auch von Garth erwähnte „Evangelikalenphobie“ in kirchlichen Fakultäten und Gremien ist ungebrochen und nimmt sogar eher noch zu. Auch der Niedergang der Kirche oder der Pfarrermangel ändert daran bisher überhaupt nichts. Wie strikt die Abwehrhaltung gegenüber evangelikal ausgebildeten Theologen selbst in der als vergleichsweise konservativ geltenden württembergischen Landeskirche noch ist, musste ich jüngst in meiner eigenen Gemeinde schmerzhaft erleben.

Die Kirche wird nicht durch die Konzentration auf Kirchenrettung gerettet

Lange Jahre war ich Teil der Initiative „Network XXL“, die stark inspiriert war von der anglikanischen Gemeindegründungsbewegung „Fresh Expressions of church“, die auch im Garths Buch thematisiert wird. Die Berichte aus England hatten mich begeistert und die Hoffnung geweckt, dass „Fresh X“ auch in Deutschland ein Motor der Erneuerung werden könnte. Inzwischen bin ich tief enttäuscht. Der deutsche Fresh X-Zweig hat sich progressiven und teilweise sogar tief liberalen theologischen Vertretern geöffnet. Die „reduktive Theologie“ führt auch hier dazu, dass theologisches Profil verloren geht.

Wer aber nur die Formen, nicht aber die theologischen Fundamente der Kirche erneuert, bleibt letztlich verhaftet in einem „Ekklesiozentrismus“, denn man daran erkennt, „dass die Kirche zu sich einlädt, statt zu Jesus, von sich schwärmt, aber nicht von Jesus.“ (S. 186) Garth hingegen stellt klar: „Es geht nicht um Mitgliedergewinnung. Es geht darum, dass Menschen sich rufen lassen, Jünger und Jüngerinnen Christi zu werden.“ (S. 170) Damit das gelingt, benötigt die Kirche der Zukunft im Kern ein solides Bibelverständnis, aus dem eine gesunde Christologie und damit auch eine dynamische, geisterfüllte, missionarische Gemeindearbeit in vielfältigen Formen erwachsen kann. Dann wird die Kirche Jesu in der Lage sein, unsere vielfältige Gesellschaft mit dem Evangelium zu erreichen. Eine Abkürzung oder ein alternativer Weg existiert nicht. Die Alternative wäre Untergang. Ich bin Alexander Garth sehr dankbar, dass er das in diesem Buch so eindrücklich deutlich gemacht hat.

Das Buch “Untergehen oder Umkehren – Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat” von Alexander Garth ist hier erhältlich.

Herr, was brauchen wir?

Die letzten Tage war ich in Corona-Quarantäne (keine Sorge, es geht mir gut). Und ich war sehr nachdenklich. Immer wieder hatte ich den Impuls, etwas in den sozialen Medien zu posten. Aber dann dachte ich: Ist DAS jetzt wirklich wichtig? Sollten wir uns wirklich DAMIT beschäftigen? Aber wenn nein, womit sollten wir uns denn dann beschäftigen? Was brauchen wir jetzt wirklich? Worauf sollten wir unsere kleine Kraft konzentrieren?

Heute morgen nun ist dieser kurze Text aus mir herausgeflossen. Mich würde interessieren: Was denkst Du dazu?


Herr, was brauchen wir?

Für den kommenden Aufbruch werden wir ein Netzwerk von Menschen brauchen, die täglich im Gebet eng mit Gott verbunden sind. Menschen, die von der Ehrfurcht vor Gottes heiligem Wort geprägt sind. Menschen, die leiden unter der Zerbrochenheit und Schwäche der Kirche Jesu. Menschen, die nicht aufhören können, an die Verlorenen zu denken, die so dringend das rettende Evangelium brauchen. Menschen mit einer heiligen Sehnsucht nach Erweckung.

In diesem Netzwerk werden wir Beter brauchen, die vor allem anderen jeden Tag Gott suchen. Wir werden Bibellehrer brauchen, die uns helfen, all unser Tun an Gottes heiligem Maßstab auszurichten. Wir werden Praktiker brauchen, die wissen, wie man etwas aufbaut und ins Laufen bringt. Wir werden Propheten brauchen, die uns helfen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und die unser Herz anzünden mit dem, was jetzt auf Gottes Agenda steht. Wir werden Hirten brauchen, die ein feines Gespür haben für die Schwachen, die Verletzten, die Vergessenen. Menschen, die auch diesem einen verlorenen Schaf mit unendlicher Geduld und Liebe nachgehen. Wir werden apostolische Gemeindegründer brauchen, die uns helfen, an allen Orten Tempel aus lebendigen Steinen zu bauen, in denen Menschen dem Vater begegnen können und bei ihm das Leben finden. Wir werden Evangelisten brauchen, die uns helfen, furchtlos und leidenschaftlich das rettende Evangelium zu den Menschen zu bringen.

Dieses Netzwerk kann und wird nur bestehen, wenn jeder Einzelne eng mit Christus verbunden bleibt. Dieses Netzwerk kann und wird nur bestehen, wenn Gottes heiliges Wort unsere gemeinsame Liebe und unser gemeinsamer Maßstab ist. Denn im Reich Gottes kann nichts wachsen, das nicht auf Christus gebaut ist und unter seiner Herrschaft steht.

Wer träumt mit von dieser neuen Armee, die unser Land für Christus gewinnt? Wer betet und arbeitet mit dafür, dass diese Armee sich formiert und ihren Stand einnimmt – für den König und für das Lamm, das sein Leben für uns und für alle Menschen gab? Gehen wir doch heute auf die Knie und lassen wir uns berufen, Teil dieses Leibes zu sein, in dem jedes Glied miteinander verbunden wird durch das Haupt Jesus Christus. Fangen wir an, unseren Gott zu suchen und ihn zu fragen nach seinen Plänen. Fangen wir an, laut zu sprechen über seine Herrschaft und fröhlich davon zu singen, dass er der Sieger ist. Hören wir doch nicht auf zu glauben, dass unser Gott kommt, dass ihn nichts und niemand aufhalten kann. ER ist der Herr der Geschichte. ER allein ist unsere Hoffnung.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission? 10 Fragen – und ein persönliches Fazit

„Schon der griechische Philosoph Platon wusste, dass den Geschichtenerzählern die Welt gehört“, schreibt Markus Spieker in Übermorgenland. Thorsten Dietz ist ohne Zweifel ein Meister darin, historische Puzzlestücke zu einem Bild zusammenzufügen und daraus ein „Narrativ“, d.h. eine Geschichtsdeutung zu entwickeln. Einige dieser Bilder sind ihm m.E. gut gelungen. Sie können dazu beitragen, dass Menschen, die von außen auf die Evangelikalen schauen, ein sehr viel differenzierteres und positiveres Bild bekommen als die platt evangelikalenfeindlichen Bilder, die man immer wieder in den Medien findet. Dafür bin ich Thorsten Dietz dankbar. Andere Geschichten hingegen empfinde ich eher als misslungen. Schiefe Narrative können leider selbst wieder ein Grund für Polarisierung sein.

Bei der Frage, wie gelungen die Dietz’sche Landkarte eigentlich ist, war für mich am Ende eine Frage von besonderer Bedeutung: Wo verorte ich mich eigentlich selbst auf dieser Landkarte der Evangelikalen, die Thorsten Dietz gezeichnet hat? Die Antwort fällt mir nicht leicht. Ich habe starke Wurzeln im Pietismus, die mir sehr kostbar sind. Ich habe mich zugleich viele Jahre im charismatischen Umfeld bewegt und die „Lobpreisszene“ mit meinen Liedern mit beleben dürfen. Ich bin Landeskirchler und schätze unser evangelisches Erbe bis heute sehr. Ich habe aber auch eine freikirchliche Phase hinter mir und bin nach wie vor oft und gerne im freikirchlichen Bereich unterwegs. In den letzten Jahren habe ich mich stark im Umfeld bekenntnisorientierter Christen bewegt und dort viele kostbare Geschwister kennen gelernt. Zugleich bin ich ein leidenschaftlicher Allianz-Evangelikaler geblieben. Es hat mich schon immer begeistert, wenn Christen unterschiedlichster Prägung und Herkunft zusammenkommen, um Jesus gemeinsam anzubeten und dieses eine Evangelium zu bezeugen. Wenn ich den Text der Lausanner Verpflichtung von 1974 lese, geht mir das Herz auf. Da mein ältester Bruder und seine Frau seit vielen Jahren in der Mission tätig sind, hat mich dieser Fokus auf Mission durch Wort und Tat stark geprägt. Zugleich verstehe und teile ich die Sorge, dass die auf Bekehrung zielende Mission aus dem Fokus gerät, wenn sozialpolitische Themen immer mehr in den Vordergrund rücken. Ich teile eine eher pessimistische Sicht auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und bin überzeugt, dass vor allem der zunehmende Verlust des Leitbilds der traditionellen Familie bittere Konsequenzen haben wird. Zugleich bin ich aber auch sehr hoffnungsvoll und zuversichtlich in Bezug auf die weitere Entwicklung der Kirche Jesu. Gott hat immer wieder neue Aufbrüche geschenkt. Ich glaube, dass er das wieder tun kann.

Mir scheint: Mit dieser Merkmalskombination passe ich zu keiner Region auf der Dietz’schen Landkarte so richtig. In meinem Umfeld kenne ich viele Christen, die über sich ganz Ähnliches berichten könnten. Mein Eindruck ist deshalb, dass insbesondere dieser angebliche Gegensatz zwischen einheitsgesinnten Allianz-Evangelikalen und streitbaren „Bekenntnisevangelikalen“ so nicht existiert. Viele Christen sind der Tradition von Allianz und Lausanne völlig treu geblieben. Sie spüren aber zugleich, dass entscheidende Grundlagen dieser gesunden Mischung aus bibelorientierter Verkündigung und praktischer Nächstenliebe wegzubrechen drohen. Gerade aus Liebe zur Allianz und aufgrund ihrer Leidenschaft für Mission in Wort und Tat engagieren sie sich für die Bewahrung der gemeinsamen, verbindenden Glaubensgrundlagen.

Im Verlauf dieser Artikelserie habe ich 10 Fragen gestellt, über die wir uns dringend gemeinsam klar werden sollten. Ich möchte sie hier noch einmal etwas zugespitzt formulieren:

  1. Stehen wir weiter fröhlich zu den Kernmerkmalen, die uns als Evangelikale verbunden haben?
  2. Sehen wir weiterhin unser „Erfolgsgeheimnis“ darin, dass wir in erster Linie eine Bibel- und Gebetsbewegung sind?
  3. Halten wir daran fest, dass die Bibel nicht nur Menschenwort, sondern auch ganz offenbartes Wort Gottes ist?
  4. Betreiben wir Wissenschaft weiterhin bewusst auf der Basis eines biblischen Weltbilds, auch wenn uns das die eine oder andere akademische Türe verschließt?
  5. Wollen wir widersprechende Lehren integrieren oder sprechen wir es offen an, wenn eine Lehre zentralen biblischen Aussagen und Bekenntnissen widerspricht?
  6. Versuchen wir, unsere Gesellschaft durch Anpassung zu gewinnen oder durch die Kombination aus profilierter Eigenständigkeit und aufopferungsvoller Liebe?
  7. Wollen wir uns trotz politischer Differenzen um Jesus und das Evangelium sammeln und dabei eine respektvolle Debattenkultur vorleben?
  8. Wollen wir Mission und Evangelisation in Wort und Tat als zentralen Auftrag der Kirche Jesu im Fokus behalten?
  9. Lassen wir es zu, dass die neuen bekenntnisorientierten Sammlungsbewegungen die evangelikale Welt befruchten dürfen?
  10. Wollen wir Einheit durch immer mehr Pluralität gewinnen oder halten wir gerade um der Einheit willen an unseren zentralen Bekenntnissen fest?

Ich hoffe, dass sich die Gespräche über diese Fragen weiter intensivieren. Denn ich glaube tatsächlich: Wir Evangelikale stehen hier vor echten Weichenstellungen, deren Bedeutung wir kaum überschätzen können.

Das letzte Wort will ich aber Thorsten Dietz überlassen. Ein Zitat aus diesem Buch hat mich so ermutigt, dass ich damit diese Artikelserie gerne beschließen möchte. Ich werde dieses Zitat auch zukünftig gerne all denen vorhalten, die heute ein Ende der evangelikalen Bewegung prognostizieren, weil sie angeblich zu weltfremd, zu naiv und zu eng ist:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese. (S. 92)

Wie ermutigend! Eine Kirche, die auf Gott und sein Wort vertraut und sich von ihm zu den Menschen senden lässt, hat immer Zukunft!

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Wie bleiben wir Menschen mit Mission 10: Wie kann angesichts wachsender Pluralität heute noch Einheit in Vielfalt gelingen?

Das Wort »evangelikal« verliert an Trennschärfe. (S. 449) Diese Beobachtung von Thorsten Dietz hat Konsequenzen im Gepäck. Ein Verlust an „Trennschärfe“ bedeutet ja immer auch ein Verlust an Profil. Damit wird zwangsläufig auch das gemeinsame, verbindende Anliegen unschärfer.

Dietz berichtet, dass es Billy Graham und John Stott noch in beeindruckender Weise gelungen war, das gemeinsame Anliegen deutlich zu machen und zugleich verbindend zu wirken: Graham konnte zuspitzen, ohne zu spalten. Stott konnte integrieren, ohne zu verwässern. (S. 79) Sehr verbindend wirkte auch die evangelischen Allianz: Die Evangelische Allianz war und ist im Ursprung kein Lager der völlig Gleichgesinnten, sondern eine ökumenische Bewegung, die unterschiedliche Gläubige mit gemeinsamen Anliegen, Zielen und Werten zusammenführen will. (S. 449) Das ist ohne Zweifel in den vergangenen Jahrzehnten in einem beeindruckenden Ausmaß gelungen. Die große Frage ist: Wie kann das angesichts wachsender Pluralität auch zukünftig gelingen?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Zur Strategie der Evangelischen Allianz schreibt Thorsten Dietz: Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat. (S. 40) Wer sich heute die Glaubensbasis der deutschen evangelischen Allianz durchliest, findet in der Tat nur wenige Sätze, die den verbindenden Kern knapp zusammenfassen: Der dreieinige Schöpfer. Der Mensch als Gottesebenbild, der als Mann und Frau geschaffen ist und eine unverwechselbare Würde hat. Der stellvertretende Opfertod Jesu für die Befreiung von Sünde und Freispruch im Gericht. Der auferweckte Jesus als einziger Weg zu Gott. Der Heilige Geist, durch den wir neu geboren werden, Gott erkennen und Dienstgaben empfangen. Die Gemeinde als Ort der Verkündigung des Evangeliums. Die sichtbare Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht. Die Bibel als geistinspirierte Offenbarungsurkunde und höchste Autorität.

Das heißt auch: Viele andere wichtige Fragen (z.B. zur Taufe oder zur „Ekklesiologie“) wurden um der Einheit willen ausgespart. Diese Mischung aus Klarheit im Kern und Weite in Randfragen ist ein Konzept, das von vielen Seiten befürwortet wird. So schreibt zum Beispiel Michael Diener in seinem Buch „Raus aus der Sackgasse“: Den evangelischen Landeskirchen … muss es ein Anliegen bleiben, das gemeinsam Identitätsstiftende so in den Mittelpunkt zu stellen, dass Unterschiede in einzelnen Sachfragen ausgehalten werden können.“ (S. 112) „Gerade weil die Grundsubstanz christlichen Glaubens, wie sie sich etwa in den altkirchlichen Bekenntnissen findet, uns vorgegeben ist, … gerade deshalb kann ich die Vielfalt annehmen und mich selbst als einen Teil davon verstehen.“ (S. 103) Ganz ähnlich formuliert auch Jürgen Mette in seinem 2019 erschienenen Buch „Die Evangelikalen“: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“ (S. 107) Beide sagen also: Um Differenzen aushalten zu können, brauchen wir eine starke Übereinstimmung im Kern. Die „Grundsubstanz christlichen Glaubens“, wie sie z.B. in den altkirchlichen Bekenntnissen festgehalten wird, ist eine unverzichtbare Basis für vielfältige Einheit.

Diesen Aussagen kann ich nur rundum zustimmen. Persönlich bin ich überzeugt, dass die Einheit der Kirche Jesu auf zwei Beinen steht: Wir brauchen zum einen eine authentisch gelebte Christusbeziehung, weil nur die Person Jesus Christus echte Herzenseinheit schafft. Eine dogmatische Übereinstimmung bei den zentralen Überzeugungen des christlichen Glaubens ist aber ebenso unverzichtbar. Entsprechend sind die ersten Bekenntnisse schon im Neuen Testament zu finden. Ganz offenkundig hat die junge Kirche von Beginn an gespürt: Wir müssen gemeinsam in Worte fassen, was wir glauben. Bekenntnisse hatten immer eine doppelte Funktion: Nach innen haben sie zur Vergewisserung des Glaubens beigetragen. Nach außen hatten sie eine abwehrende Funktion gegen falsche Lehren, die die Kirche unterwandern und spalten könnten. Deshalb waren Bekenntnisse zu den verbindlichen, gemeinsamen Kernüberzeugungen ohne Frage ein entscheidend wichtiger Beitrag zur einmaligen Erfolgsgeschichte der jungen christlichen Bewegung und zur Wahrung ihrer gemeinsamen Identität.

Es ist daher kein Wunder, dass die evangelische Kirche so viel an gemeinsamer Identität und Zusammenhalt verloren hat, da es ja gerade dort in Bezug auf die altkirchlichen Bekenntnisse schon lange keinen Konsens mehr gibt, im Gegenteil: Das Festhalten an der Jungfrauengeburt, an der leiblichen Auferstehung, an der Himmelfahrt oder an der sichtbaren Wiederkunft Jesu zum Heil und zum Gericht sind bestenfalls Minderheitspositionen an den kirchlichen theologischen Fakultäten.

Thorsten Dietz stellt sich auch die Frage, ob der Begriff „evangelikal“ verbindend wirken könnte: Evangelikal könnte ein Wort sein, das Menschen mit unterschiedlicher konfessioneller Identität verbindet. (S. 449) Die heutige Situation macht ihm allerdings diesbezüglich wenig Hoffnung: Wenn sich der nordamerikanische Trend verfestigt, dass „evangelikal“ überwiegend nicht mehr als religiöse, sondern primär als politische Kategorie verstanden wird, wäre das Konzept für weite Teile der Welt unbrauchbar. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass das in Deutschland längst der Fall ist. Es wäre eine ungeheure Aufgabe für die Trägergruppen, die man einst als pietistisch, erwecklich, evangelikal etc. bezeichnet hat, wieder so etwas wie ein gemeinsames Identitätsgefühl auch auf den Begriff zu bringen. (S. 457/458) Wenn Thorsten Dietz recht hätte und der Begriff „evangelikal“ tatsächlich nachhaltig beschädigt wäre, dann hätte das laut dem Direktor der Internationalen Hochschule Liebenzell Volker Gäckle traurige Konsequenzen: »Wenn diese Selbstbezeichnung verschwindet, … dann gibt es nur noch Pietisten, Charismatiker, Freikirchler und konservative Protestanten, die aber nichts mehr verbindet und die sich folglich weiter atomisieren. Plötzlich wären wir alle wieder sehr klein und allein.« (S. 301) Sollten wir also darum kämpfen, dass der Begriff „evangelikal“ zukünftig wieder stärker verbindend wirken kann?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Es gibt meines Erachtens gute Gründe, anzunehmen, dass es noch nie der Begriff, sondern schon immer primär das gemeinsame Anliegen war, das die Evangelikalen verbunden hat. Ich plädiere leidenschaftlich dafür, den Begriff „evangelikal“ ganz bewusst hochzuhalten aus den Gründen, die Volker Gäckle genannt hat. Aber es würde keinen Sinn machen, krampfhaft am gemeinsamen Etikett zu kleben, wenn das gemeinsame Anliegen erodiert.

Deshalb werde ich skeptisch, wenn Thorsten Dietz schreibt: Für die evangelikale Theologie der Gegenwart ist das eine Schlüsselfrage: Werden die Evangelikalen lernen, ihre geschichtlich gewachsene Vielfalt in theologischen Ansätzen zu akzeptieren? Oder wird sich die neuere Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit des gemeinsamen Bekennens in möglichst vielen Fragen durchsetzen? (S. 189)

Wir sind damit bei der zentralen Kernfrage angelangt, mit der diese Artikelserie eröffnet wurde und die Thorsten Dietz auch ganz ans Ende seines Buchs stellt: Finden wir Einheit vor allem durch die Akzeptanz von Vielfalt oder eher durch die Stärkung gemeinsamer Bekenntnisse? Diese entscheidende Kernfrage und Weichenstellung hat Thorsten Dietz ganz am Ende seines Buchs (S. 458/459) konkretisiert und personifiziert. Er schreibt:

  • Die Evangelikalen können sich entweder für den Kurs von Michael Diener entscheiden, den Dietz so beschreibt, dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen“.
  • Oder die Evangelikalen begeben sich auf den Kurs des „Netzwerks Bibel und Bekenntnis“, das laut Dietz darauf drängt, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Persönlich positioniert sich Thorsten Dietz so: Mein Herz schlägt für diejenigen, die lieber versöhnen, statt zu spalten. (S. 205) Wer mag ihm da nicht zustimmen? Jeder evangelikale Christ, der auch nur einigermaßen in der Tradition der Lausanner Bewegung steht und sich mit der evangelischen Allianz verbunden fühlt, wird diesen Satz von Herzen unterschreiben. Die große Frage ist nur: Welcher der beiden Wege bringt denn wirklich mehr versöhnte Einheit? Und welcher Weg führt am Ende zu mehr Spaltung?

Damit hängt auch die Frage zusammen: Hat Thorsten Dietz die finale Weggabelung auf seiner großen Landkarte richtig dargestellt? Hat er das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis richtig charakterisiert? Und geht es denn nur Michael Diener darum, dass wir Unterschiede zugunsten des missionarischen Zeugnisses aushalten sollen?

Klare Antwort: Nein. Und zwar aus drei Gründen:

Erstens will natürlich auch das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, dass Christen Differenzen aushalten, um den missionarischen Auftrag gemeinsam erfüllen zu können. Es ist ja ausgerechnet der Vollblutevangelist Ulrich Parzany, der das Netzwerks leitet und zugleich in den vergangenen Jahrzehnten wie niemand sonst Christen unterschiedlichster Couleur für gemeinsame Mission gewonnen hat. Ein Evangelist bemerkt ganz offenkundig zuerst, wie sehr die Mission erlahmt, wenn das Schriftvertrauen schwindet und Christen sich nicht mehr über ihre Kernbotschaft einigen können.

Zweitens stehen Michael Diener und Thorsten Dietz ja keineswegs immer für das Ziel, „unterschiedliche moralische Überzeugungen auszuhalten“. Man kann die Anzahl an Publikationen, Podcasts und Vorträgen inzwischen kaum noch überschauen, in denen beide intensiv dafür kämpfen, dass sich auch konservative Evangelikale doch endlich für die Gleichbehandlung gleichgeschlechtlicher Paare öffnen sollen. Auf der Homepage der Initiative „Coming-In“ schrieb Michael Diener: Es ist 20 nach 12, dass gerade konservative Kirchen und Gemeinschaften umkehren. Dafür setze ich mich ein – mit aller Kraft.” Das passt zu den Bußrufen, die (z.T. in Kombination mit beißender Polemik) bei Worthaus seit langem zu diesem Thema zu hören sind. Das beobachte ich generell: Wo in der Kirche nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen hoch bei ethischen und politischen Fragen. Die Vorstellung, dass man Einheit in Vielfalt gewinnt, wenn man theologische Differenzen für nebensächlich erklärt, ist eine Illusion.

Und drittens: Es geht bekenntnisorientierten Christen ja nicht darum, dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und … durchsetzt. Das ist gar nicht nötig. Die evangelikalen Werke haben sich ja längst auf Bekenntnisse geeinigt, die man im Internet leicht nachlesen kann. Es geht bekenntnisorientierten Christen nicht darum, etwas durchsetzen. Es geht ihnen darum, etwas zu bewahren. Gerade weil die Allianz das gemeinsame Bekenntnis um der Einheit willen so knapp wie möglich formuliert hat, ist es ihnen umso wichtiger, an diesen wenigen, allerzentralsten Aussagen wirklich festzuhalten!

Bekenntnisorientierte Christen leiden also nicht so sehr an einer „Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit“. Gleich gar nicht sind sie getrieben von Angst, diese Eindeutigkeit zu verlieren, wie es ihnen fast mantraartig unterstellt wird. Es geht ihnen vielmehr darum, unserer vielfältigen Jesusbewegung die gemeinsame Basis, die gemeinsame Botschaft und das gemeinsame Anliegen zu erhalten. Deshalb arbeiten und beten sie dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann.

Es ist traurig, dass dieses zentrale Anliegen heutiger bekenntnisorientierter Christen in dem langen Buch von Thorsten Dietz im Grunde nirgends direkt thematisiert wird. An keiner Stelle wird darüber gesprochen, dass Aussagen des Apostolikums, des Nicäno-Konstantinopolitanums oder auch der Glaubensbasis der evangelischen Allianz auch mitten im allianz-evangelikalen Raum offen in Frage gestellt oder zumindest subjektiviert werden. Auch die Kernanliegen nach Bebbington wie z.B. die Notwendigkeit der Bekehrung werden vielfach öffentlich angezweifelt. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ und in meinem Blog habe ich diese Entwicklung anhand zahlreicher Beispiele beschrieben. Ich bin überzeugt: Die Frage, ob die Evangelikalen auch zukünftig Menschen mit Mission bleiben, wird sich gerade auch daran entscheiden, ob sie an ihren gemeinsamen Kernüberzeugungen festhalten, die dieses Wunder der Einheit in Vielfalt erst ermöglicht haben.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Welche zentralen, verbindenden Glaubensüberzeugungen sind uns unaufgebbar wichtig? Wollen wir uns neu verpflichten, diese Kernüberzeugungen, wie sie in den zentralen Bekenntnissen des Christentums oder in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz festgehalten werden, leidenschaftlich zu vertreten und im Bedarfsfall auch gegen Widerspruch zu verteidigen?

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit einem sehr persönlichen Fazit, 10 Fragen – und warum ich fest an die Zukunft der Evangelikalen glaube

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 9: Stehen „Bekenntnis-Evangelikale“ für eine Profilierung durch Abgrenzung?

Thorsten Dietz berichtet von inneren Spannungen der evangelikalen Bewegung in Deutschland … zwischen den auf Abgrenzung setzenden Bekenntnis-Evangelikalen und den stärker um Vermittlung und Dialog bemühten Allianz-Evangelikalen. Die bekennenden Evangelikalen definierten sich selbst in sehr starkem Gegensatz zur Entwicklung der evangelischen Landeskirchen. In ihrer Wahrnehmung wurde in den großen Kirchen das Zeugnis des Evangeliums zunehmend verdrängt von sozialer und diakonischer Tätigkeit. (S. 120)

In der Folge entstanden zahlreiche evangelikale Parallelstrukturen: Aufgrund ihrer apokalyptischen Weltwahrnehmung verfolgten die Bekenntnis-Evangelikalen in Deutschland auch keine grundsätzlich dialogoffene Linie wie die Lausanner Bewegung. Stattdessen setzten sie auf eine starke Verselbstständigung der eigenen Arbeitsbereiche in sogenannten Parallelstrukturen zu den etablierten kirchlichen Arbeitsbereichen. Die Entwicklung von Kirche und Gesellschaft erschien ihnen als unumkehrbar im Horizont eines endzeitlichen Gefälles. Daher verschwand auch jedes Interesse an Kooperation, Ausgleich oder Kompromiss mit den kirchlichen Gegnern. (S. 228)

Im 21. Jahrhundert sieht Dietz ähnliche Tendenzen auch im freikirchlichen Bereich: Insgesamt sind die miteinander verbundenen Bekenntnis-Initiativen im Raum der evangelikalen Bewegung heute nicht mehr primär gegen die Liberalisierung von Kirche und Gesellschaft gerichtet. Das wird vielmehr als nicht mehr zu ändernde Tatsache akzeptiert. Der Bekenntnisprotest der Gegenwart richtet sich gegen vermeintliche Tendenzen in freikirchlichen und pietistischen Werken. (S. 444)

Entsprechend bilden sich auch hier zunehmend Parallelstrukturen: »Freikirchlich« und »evangelikal« gehören vor allem in Deutschland längst nicht mehr zusammen. Sind die Freikirchen liberaler geworden? Ohne Frage haben viele die Entwicklungen der Gesamtgesellschaft mitvollzogen. Es sind vor allem konservative Gruppierungen, die diese Tendenzen als große Bedrohung empfinden. Paradoxerweise empfinden sie solche langjährigen Entwicklungstendenzen als spaltend, obwohl es in der Regel sie selbst sind, die Netzwerke, Organisationen oder Plattformen gründen, die die Abgrenzung von anderen Gruppierungen der gemeinsamen Gemeindewelt vorantreiben. (S. 443)

Ich habe mich beim Lesen dieser Absätze gefragt: Wurde denn das Zeugnis des Evangeliums in den Kirchen tatsächlich nur subjektiv in der Wahrnehmung bekenntnisorientierter Christen verdrängt? Schließlich berichtet ja auch Dietz von einer Selbstsäkularisierung der Kirchen, in der gewichtige Stimmen … ein Ende jeder auf Bekehrungen ausgerichteten Mission fordern (S. 72). War dann die Bildung evangelikaler Parallelstrukturen denn wirklich die Folge eines dialogzerstörenden, apokalyptischen Endzeitdenkens? Geht es neueren Bekenntnisgruppen wirklich nur um „vermeintliche Tendenzen“ in freikirchlichen und pietistischen Werken? Und sind die Gründer und Leiter von Bekenntnisgruppen denn wirklich verantwortlich für Spannungen und Spaltungen?

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Dass es immer wieder Christen gab und gibt, die einseitig immer nur auf einen Abwehrkampf fokussiert sind und darüber zunehmend ihre Ausstrahlung und damit auch ihren Einfluss verlieren, ist ohne Zweifel richtig. Nach meiner Beobachtung ist es für Christen jeglicher Prägung eine ständige Versuchung, aus Ersatzidentitäten heraus zu agieren und sich primär aus der Abgrenzung zu definieren, statt von der Liebe Christi motiviert zu sein. Man kann zurecht fragen, ob nicht der Postevangelikalismus insgesamt seine Identität primär aus der Abgrenzung zum Evangelikalismus zieht.

Richtig ist auch, dass in den letzten hundert Jahren eine wachsende Kluft entstanden ist zwischen Evangelikalen einerseits und der universitären Theologie samt der von ihr geprägten Werke andererseits. In der Folge sind zahlreiche evangelikale Parallelstrukturen entstanden. Viele davon haben bis heute große Ausstrahlung und Einfluss. Es waren jedoch bei weitem nicht nur spezielle „Bekenntnis-Evangelikale“ sondern Evangelikale jeglicher Couleur, die Medien und Verlage ins Leben riefen, kirchentagsähnliche Großveranstaltungen veranstalteten, eigene Ausbildungsstätten und freie Gemeinden gründeten und auch innerhalb der Landeskirchen zunehmend selbständige, gemeindliche Strukturen entwickelten.

Aber was waren die Motive dieser evangelikalen Pioniere? Waren sie stur auf Abgrenzung aus? Thorsten Dietz schreibt: Evangelikale haben es in Deutschland mit einer großen Anzahl studierter Theologen zu tun, die zum großen Teil Evangelikale kaum kennen oder explizit ablehnen. (S. 63) Wer sich jedoch in den Veröffentlichungen universitärer Theologie auf die Suche nach einer Auseinandersetzung mit evangelikaler Theologie macht, wird so gut wie nichts finden. (S. 192) Vor allem die universitäre Theologie scheint das Phänomen komplett ignorieren zu wollen. Raedel spricht von einer regelrechten „Ekelschrank“, die jedes Ernstnehmen evangelikaler Ansätze zu verbieten scheint. (S. 199/200) Evangelikale wurden im letzten Jahrhundert also zunehmend damit konfrontiert, dass eine evangelikalendistanzierte oder sogar -feindliche universitäre Theologie sämtliche kirchliche Leiter prägen durfte.

Diese Theologie hat sich zudem vollständig von Fragen der persönlichen Frömmigkeit gelöst: In den historisch-protestantischen Kirchen kann man von einer fast abgeschlossenen Entwicklung sprechen, dass die wissenschaftliche Theologie und der Glaube der normalen Christen so gut wie keine Berührungspunkte mehr haben. Persönliche Frömmigkeit und universitäre Reflexion des Glaubens gehören zu völlig unterschiedlichen Sphären. (S. 201) Eine Theologie, die nichts mit dem persönlichen Glauben zu tun hat, ist für Evangelikale auch deshalb so schmerzhaft, weil sie überzeugt sind: Wenn die Worte des Predigers nicht das zum Ausdruck bringen, was er mit seiner Existenz verkörpert, wird sein Zeugnis keine Durchschlagkraft haben. (S. 436)

Es gab also gute Gründe, warum evangelikale Pioniere sagten: Solange eine Theologie die Kirche dominiert, mit der die Kirchen leergepredigt wurden und die unsere Anliegen ignoriert oder gar verächtlich macht, bleibt uns kein anderer Weg, als uns in Parallelstrukturen zu sammeln und eigene Orte zu schaffen für gegenseitige Ermutigung und für den (missionarischen) Dienst an Anderen. Sie haben diese Strukturen mit größtem Engagement weitgehend ohne den Geldsegen aus den üppig bestückten Kirchensteuertöpfen geschaffen. Ich bin ihnen dafür in höchstem Maße dankbar! Ich fände es empörend, die großartigen Pioniere dieser enorm segensreichen evangelikalen Parallelstrukturen als Spalter darzustellen.

Ein gewaltiges Problem ist für die Evangelikalen dabei immer gewesen, dass die Kirchen ausgerechnet im entscheidenden Zukunftsfeld der Pfarrerausbildung sämtliche Bemühungen um Anerkennung alternativer Strukturen mit aller Härte blockiert haben. Das ist bis heute so – trotz Pfarrermangel und trotz der zunehmenden Akademisierung freier Ausbildungsstätten. Dass so viele Evangelikale trotz dieses fest zementierten Machtmonopols in der Landeskirche geblieben sind, beweist gerade ihren enormen Einheitswillen.

Angesichts der zentralen Zukunftsbedeutung der Ausbildungsstätten ist es keine Randnotiz, wenn Thorsten Dietz schildert, dass einige freie Ausbildungsstätten sich zunehmend der universitären Theologie annähern: Faktisch aber gibt es inzwischen zunehmend Spannungen zwischen Ansätzen, die für einen produktiven Austausch mit der wissenschaftlichen Theologie offen sind, und solchen Positionen, die sich als radikaler Gegenentwurf zu allen Erscheinungen der Universitätstheologie verstehen. (S. 201) In den meisten Werken der Konferenz der missionarischen Ausbildungsstätten“ gilt: Ein fundamentaler Gegensatz zur Universitätstheologie wird nicht mehr behauptet. (S. 268)

Angesichts der Schlüsselrolle, die die theologische Entwicklung an den Ausbildungsstätten zur Entwicklung in den Landeskirchen gespielt hat, muss man Thorsten Dietz zustimmen, wenn er schreibt: Für die Entwicklung der Evangelikalen in Deutschland ist es eine Schlüsselfrage, ob und wie sich der Umgang mit der Theologie weiterentwickeln wird. (S. 203) Ja, es stimmt ohne Zweifel: Die theologische Entwicklung in den freien Ausbildungsstätten, in den evangelikalen Verlagen und Medien sowie in den Gremien der evangelikalen Werke und Verbände muss die Evangelikalen unbedingt interessieren! Theologische Verschiebungen kann man eine Zeit lang ignorieren oder marginalisieren. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie durchschlagen auf die praktische Gemeindearbeit. Exemplarisch deutlich wurde das im letzten Jahr durch Aussagen im Buch „glauben lieben hoffen“ (einer Handreichung für die freikirchliche Jugendarbeit), die letztlich den Kern des Evangeliums umdeuteten. Das zeigt erneut: Theologie ist wichtig! Wer Debatten um theologische Fragen pauschal als spalterische Rechthaberei abtut und fordert, dass die Evangelikalen sich doch lieber auf Evangelisation und Nächstenliebe konzentrieren sollen, der übersieht, dass genau hier zentrale Weichen für die Zukunft gestellt werden.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Leider wird im Buch nicht klar, wer mit dem Begriff „Bekenntnis-Evangelikale“ eigentlich gemeint sein soll? Einige der Bekenntnisinitiativen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind und besonders stark auf Abgrenzung bedacht waren, wollten ja ganz bewusst gar keine Evangelikale sein! Zugleich waren alle Evangelikale natürlich schon immer bekenntnisorientiert in dem Wissen: Die zentralen Bekenntnisse sind eine unaufgebbare Grundlage des Christentums. Viele der Evangelikalen, die sich heute für die Gültigkeit und Bewahrung zentraler Bekenntnisse engagieren, schätzen sich selbst als klassische Allianz-Evangelikale ein (siehe dazu auch das Fazit zu dieser Artikelserie). Der Begriff ist also schon prinzipiell problematisch – weshalb ich ihn auch nicht übernommen habe.

Meine Erfahrung ist auch nicht, dass die heutigen inneren Spannungen der evangelikalen Bewegung“ zwischen „Bekenntnis-Evangelikalen“ und „Allianz-Evangelikalen“ bestehen. Ich beobachte vielmehr: Die Spannungen wachsen vor allem dort, wo postevangelikale und progressive Strömungen ins evangelikale Spektrum integriert werden sollen, obwohl diese sich von den evangelikalen Kernüberzeugungen distanzieren.

Thorsten Dietz versucht, die „Bekenntnis-Evangelikalen“ bzw. die „konservativen Evangelikalen“ nicht nur über ihre Positionen, sondern auch über ihre Motive zu definieren: Konservative Evangelikale des Westens sind zutiefst umgetrieben von der wachsenden Säkularisierung ihrer Länder. Sie sehen in der Hinwendung zu sozialen und politischen Fragestellungen eine Weichenstellung, die viele Kirchen zunehmend auf einen Weg der Selbstsäkularisierung gebracht hat. Sie kämpfen für den eindeutigen Vorrang der evangelistischen Verkündigung, weil sie sich darin einen Damm erhoffen gegen Verweltlichung in den eigenen Reihen. (S. 126) Die Spannung zur Mehrheitsgesellschaft wird nicht nur in Kauf genommen, sondern immer wieder stark betont, um eine christliche Identität in Abgrenzung zur Welt aufrecht erhalten zu können. (S. 350) Die Ablehnung von Feminismus und gesellschaftlichem Mainstream dient konservativen Evangelikalen nach wie vor zur Profilierung als Gegenkultur zu weltlichen Entwicklungen. (S. 418, Hervorhebungen nachträglich)

Sind „konservative Evangelikale“ also getrieben vom Wunsch nach Abgrenzung und Profilierung? Ich frage mich bei solchen Sätzen: Woher will Thorsten Dietz das eigentlich wissen? Schließlich kann niemand in die Herzen schauen. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen sich von niedrigen Motiven leiten lassen oder sich schlicht deshalb für den Vorrang der evangelistischen Verkündigung engagieren, weil im Missionsbefehl nun einmal der Kernauftrag der Kirche liegt. Niemand weiß, wie viele Christen sich aus Liebe zur Kirche für die Wahrung der Bekenntnisse engagieren, weil sie der Überzeugung sind, dass es Kirche und Christentum ohne Bekenntnisse schlicht nicht geben kann. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen die wachsende Distanz ihrer Positionen zur Mehrheitsgesellschaft zwar schmerzvoll und mit Trauer zur Kenntnis nehmen, aber trotzdem ihre Liebe zu den Menschen behalten. Niemand weiß, wie viele bekenntnisorientierte Christen ihre Differenzen zu gesellschaftlichen Trends zwar offen ansprechen, weil sie davon überzeugt sind, dass das Evangelium menschenfreundlichere Positionen bietet als zum Beispiel das Credo der „sexuellen Vielfalt“, aber dass es ihnen dabei nicht um Profilierung durch Abgrenzung sondern um ein zutiefst positives Anliegen geht: Die Vision einer leidenschaftlichen Jesus-, Gebets- und Bibelbewegung, die auch schon im Neuen Testament in Teilen eine Gegenkultur zur sie umgebenden Gesellschaft bildete – gerade auch im Feld der Sexualethik.

So gut und wichtig es ist, Gefahren und Fehlentwicklungen offen anzusprechen, so problematisch ist es, über niedrige Motive zu spekulieren. Das trägt doch immer zu Klischeebildung und Polarisierung bei – und ist das Gegenteil von Brückenbau. Wer möchte, dass das wachsende Phänomen der neuen Sammlungsbewegungen nicht zu wirklichen Spaltungen führt, der muss sich vielmehr auf die Frage konzentrieren: Haben diese Bewegungen auch berechtigte Anliegen, auf die wir hören und die wir aufnehmen sollten? Das fehlt mir leider im Buch von Thorsten Dietz.

Umso mehr freue ich mich darüber, dass nach meiner Wahrnehmung immer mehr evangelikale Leiter offen nach den Motiven und Anliegen der neuen Sammlungsbewegungen fragen und verstehen, dass diese Leute eben nicht nur randständige, abgrenzungssüchtige „Fundamentalisten“ sind, sondern vielfach ganz in der Tradition von Lausanne und der evangelikalen Aufbrüche des letzten Jahrhunderts stehen. Sie bestätigen, dass diese Gruppen nicht nur auf „vermeintliche Tendenzen“, sondern auf reale theologische Verschiebungen hinweisen, die nicht nur Randthemen sondern den innersten Kern des Glaubens betreffen. Sie nehmen wahr, dass die aus dem universitären Raum altbekannte Verächtlichmachung evangelikaler Positionen durch Formate wie „Worthaus“ jetzt auch im freikirchlichen Raum angekommen ist. Auf der Basis dieser Offenheit entstehen fruchtbare Gespräche und ein hilfreiches Ringen um einen gesunden Kurs der evangelikalen Werke und Gemeinschaften. Diese Entwicklung erfüllt mich mit Hoffnung.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie gehen wir mit neuen bekenntnisorientierten Sammlungsbewegungen um? Stempeln wir sie ab durch Klischees über niedrige Motivationen oder hören wir offen auf ihre Erfahrungen und Anliegen? Lassen wir es zu, dass diese Bewegungen die evangelikale Bewegung befruchten können?

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 10: Wie kann angesichts wachsender Pluralität heute noch Einheit in Vielfalt gelingen?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

Wie bleiben wir Menschen mit Mission 8: Fremdeln die Evangelikalen mit ihrem sozialen Auftrag?

Worin liegt eigentlich der Auftrag der Kirche Jesu? Der „Missionsbefehl“ in Matthäus 28 stand schon immer im Zentrum, wenn es um diese Frage ging. Es gibt jedoch auch Texte im Neuen Testament, die einen anderen Schwerpunkt legen. In Matthäus 25, 31-46 lehrt Jesus, dass das entscheidende Kriterium im letzten Gericht die Frage sein wird, wer sich Menschen in Not zugewandt und ihnen praktisch geholfen hat. Seitdem hat immer wieder die Frage für Spannungen gesorgt, wie die Themen Evangelisation, Gemeindebau und praktische Hilfe zu gewichten sind? Thorsten Dietz berichtet von Konflikten schon im 19. Jahrhundert:

Nun wurden die Gräben tiefer, aus vielfältigen Gründen. Das vom baptistischen Theologen Walter Rauschenbusch (1861-1918) entwickelte Konzept des Social Gospel, dem zufolge sich die Kirchen ausdrücklich um Gesellschaftsreformen zugunsten der Armen bemühen sollten, stieß unter den Evangelikalen auf starke Ablehnung. Noch stärker gilt das für eine moderne Theologie, die die Anerkennung der Naturwissenschaften einschließlich der Evolutionslehre und die Anwendung der Methodologie der modernen Geschichtswissenschaften auch für die Bibelauslegung verbindlich machen wollte. Die zunehmenden Gräben zwischen den Frömmigkeitsprägungen führen nun zu vielen Trennungen und Spaltungen in Gemeinden, Kirchen, Ausbildungsstäten und Missionswerken. (S. 31)

Im 20. Jahrhundert berichtet Thorsten Dietz von einer Öffnung und Selbstsäkularisierung der Kirchen: In der Ökumene setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein erweiterter Missionsbegriff durch. Zunehmend gilt auch der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit als Teil der Mission. Sozialpolitische Schwerpunkte treten zunehmend ins Zentrum Kirchlicher Kommunikation. … Gewichtige Stimmen fordern ein Ende jeder auf Bekehrungen ausgerichteten Mission. (S. 72)

Der Lausanner Kongress unter der Leitung von Billy Graham und John Stott wollte diese Fehlentwicklungen korrigieren und klarstellen: Evangelisation und Mission ist der Auftrag, dem die Kirche zuallererst verpflichtet ist. Jedoch darf die Wortverkündigung nicht gegen praktische Hilfe für Menschen in Not ausgespielt werden. Beides ist unaufgebbar wichtig. Wort und Tat gehören zusammen.

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Dietz arbeitet gut heraus, was ich selbst auch aus der Geschichte des württembergischen Pietismus kenne: Viele Evangelikale waren auch Sozialreformer. (S. 106) Es waren oftmals pietistisch geprägte Unternehmer, die sich besonders um die sozialen Belange ihrer Mitarbeiter gekümmert und dadurch neue Standards für eine soziale Marktwirtschaft gesetzt haben. In aller Welt haben Missionare Waisenhäuser, Schulen und Krankenhäuser gegründet, Brunnen gebaut und auf vielfältige Weise für bessere Lebensverhältnisse gesorgt. Markus Spieker berichtet im Buch „Übermorgenland“ von deutschen Missionaren, die bis heute in fernen Ländern für ihr Lebenswerk in höchstem Ansehen stehen: „Es waren … christliche Missionare, die in Indien und anderen asiatischen Ländern die ersten Mädchenschulen eröffneten. Gleichberechtigung ist deshalb eine christlich-abendländische Errungenschaft.“ (S. 136) In seinem Buch „Jesus. Eine Weltgeschichte“ schildert er in beeindruckender Weise, wie die frühen Christen die teils menschenverachtende antike Kultur grundlegend transformiert haben. Werte wie Nächstenliebe oder der Einsatz für den Schutz der Schwächeren, die auf uns heute wie selbstverständlich wirken, waren eine christliche Innovation!

Thorsten Dietz berichtet zudem, dass Billy Graham höchstpersönlich bereits in den 1950er-Jahren Rassentrennung bei seinen Veranstaltungen unterbunden hat. Und1974 übte der konservative Evangelikale Francis Schaeffer massive Kritik an jeder Form von Rassismus. Diese Linie zieht sich durch die Lausanner Geschichte. (S. 290) Auch die Pfingstbewegungen waren in vielen Ländern, vor allem in Südamerika, offensichtlich Teil eines positiven gesellschaftlichen Wandels. (S. 152) Die Abschaffung der Sklaverei, die durch den tiefgläubigen William Wilberforce vorangetrieben wurde, ist ein weiteres leuchtendes Beispiel für gesellschaftstransformatorisches Wirken von Christen.

Äußerst beeindruckend waren für mich auch die Schilderungen des indischen Philosophen Vishal Mangalwadi, der in seinem „Buch der Mitte“ berichtet, wie die Verbreitung eines von der Bibel geprägten Glaubens auch zu weitreichenden gesellschaftlichen Transformationen geführt und letztlich den heutigen Westen sehr wesentlich geprägt hat. Diese wunderbare Segensspur darf die Kirche Jesu niemals aus dem Blick verlieren.

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Thorsten Dietz berichtet, dass es auch nach Lausanne bis in die Gegenwart hinein immer wieder Konflikte zur Frage nach der richtigen Gewichtung von „Wort und Tat“ gab: Auf einer Jahrestagung des Arbeitskreises für evangelikale Mission (AeM) prallten die Positionen aufeinander. Der Evangelist Ulrich Parzany bekannte sich grundsätzlich zum Lausanner Konsens, dass »Wort und Tat gleichermaßen zur Sendung Gottes« gehören. In den Landeskirchen aber sei eine klare Tendenz zu beobachten: Im Namen eines umfassenden Missionsverständnisses wird die Diakonie immer weiter professionalisiert und ausgebaut, während missionarische und evangelistische Stellen abgebaut werden. Im Blick auf die neue evangelikale Betonung ganzheitlicher Mission habe er ein Déjà-vu-Erlebnis angesichts der kirchlichen Ersetzung der Mission durch Diakonie und den Wunsch, »dass die evangelikale Bewegung nicht 50 Jahre später das Gleiche macht.« Tobias Faix hingegen stellte klar, dass es gar nicht um eine solche Konkurrenz gehe. Da gehöre »beides rein, sowohl die Evangelisation, die Wortverkündigung, als auch die soziale Tat.« (S. 121)

Parzany und Faix sind sich also völlig einig darin, dass Wort und Tat zusammengehören. Man fragt sich deshalb beim Lesen: Warum wird die Äußerung von Faix eigentlich mit dem Wort „hingegen“ eingeleitet? Insgesamt scheint mir die Darstellung der Debatte um das Miteinander von Wort und Tat einen falschen Drall zu haben. Die zentrale Auseinandersetzung, die schon seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zu ähnlichen Konflikten geführt hat, drehte sich ja kaum um die Frage, ob zum Missionsauftrag auch praktische Hilfe, Diakonie und Engagement für Mensch und Umwelt gehört. Ich kenne persönlich niemand, der das bestreitet. Die zentrale Auseinandersetzung dreht sich immer wieder um die Frage: Verlieren wir die Balance, weil wir die auf Bekehrung ausgerichtete Mission und Evangelisation aus dem Fokus verlieren?

Thorsten Dietz stellt die moderne „Transformationstheologie“ indirekt in die Tradition der Lausanner Bewegung. Aber wird von dieser theologischen Denkschule wirklich die Lausanner Ausgewogenheit zwischen auf Bekehrung ausgerichtete Mission und Engagement für praktische Hilfe weitergeführt? Es liegt nicht an mir, das abschließend zu bewerten. Die Lektüre des „Handbuchs Transformation“ (herausgegeben von Tobias Faix und Tobias Künkler von der CVJM Hochschule Kassel) lässt bei mir jedochFragen aufkommen:

  • Ist die dort vorzufindende apokalyptische Ausgangsbasis nicht genau das, was Thorsten Dietz an den angeblich so pessimistischen Evangelikalen kritisiert, wenn z.B. Jürgen Harder schreibt: „So ist »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten« keine ferne Dystopie, sondern bereits jetzt im Gange.“ (S. 33/34)
  • Wird hier nicht genau die Zusammenarbeit mit politischen und gesellschaftlichen Kräften zur Umformung der Gesellschaft gesucht, die Thorsten Dietz bei den Evangelikalen als so gefährlich ansieht? Gerhard Wegner formuliert in diesem Buch Sätze wie die folgenden: „Transformation … setzt wichtige gesellschaftliche Kräfte voraus, die nicht nur entschieden etwas Neues schaffen, sondern ebenso entschieden Altes zerstören. … Zudem gilt, dass die beharrenden Kräfte, wie schon die leninistische Revolutionstheorie behauptete, nicht mehr die Schalthebel der Macht bedienen können.“ Reformen reichen nicht für das „Ziel der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur.“ (S. 277 ff.) Mir läuft bei solchen Sätzen ein kalter Schauer über den Rücken. Ich bin immer noch ein wenig fassungslos, dass so etwas Eingang gefunden hat in ein Buch, das von Dozenten einer CVJM-Hochschule herausgegeben wurde.

Am wichtigsten ist mir aber die Frage: Kann man die im Handbuch Transformation favorisierte „Öffentliche Theologie“ im Stile des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm wirklich in die Tradition der Lausanner Bewegung stellen? Im Buch „Mission Zukunft“ schrieb Bedford-Strohm: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ (S.72) Damit ist aber Mission im Sinne der Lausanner Bewegung tot. Denn evangelikale (und christliche!) Mission muss immer das Ziel haben, dass mit dem Herzen geglaubt und mit dem Mund bekannt wird, dass Jesus der auferstandene Herr ist (Römer 10,9-10). Es verwundert deshalb nicht, dass Alexander Garth im gleichen Buch berichtet: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ (S.292) Es ist genau dieses Absterben der missionarischen Dynamik, vor der Evangelikale immer wieder warnen. Sie werden diesen Weg niemals mitgehen können, weil es dabei um ihr innerstes Kernanliegen geht. Dabei ist ihnen bewusst: Mit politischen Apellen und Moralismus allein ist aus neutestamentlicher Sicht ohnehin keine echte Transformation zu erreichen. In vielen Erweckungsbewegungen war Gesellschafts­transformation nur eine sekundäre Folge davon, dass immer mehr Menschen Erneuerung in Christus erfahren haben. Diese Herzenstransformation hat sich dann ausgewirkt auf das diakonische Engagement und auf die Ethik des Miteinanders in Familien, Unternehmen, Organisationen und Administrationen.

Evangelikale haben immer im Blick: Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens, das in Sünde verstrickt ist und Erlösung braucht. Zur Lösung dieses Problems hatte die Kirche noch nie politische Agitation im Fokus, sondern immer die Herzenstransformation von Menschen in Christus mithilfe all der Dinge, die mir im „Handbuch Transformation“ leider viel zu kurz kommen: Evangelisation, Gebet, Verkündigung von Gottes Wort, persönliche Christusnachfolge und Aufbau christuszentrierter Gemeinschaften.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wollen wir auch zukünftig Mission und Evangelisation als zentralen Auftrag der Kirche im Fokus behalten und dabei die enge Verbindung zwischen Wortverkündigung und praktischer Hilfe bewahren?

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Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 9: Stehen „Bekenntnis-Evangelikale“ für eine Profilierung durch Abgrenzung?

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