Evangelikale Bewegung – wohin?

Der Vortrag “Evangelikale Bewegung – wohin?” wurde am 24.09.2022 beim Arbeitskreis bekennender Christen in Bayern gehalten. Der Vortragstext kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Die sogenannte evangelikale Bewegung bedeutet mir ungeheuer viel. Diese Bewegung ist meine geistliche Heimat. Seit ich denken kann liebe ich es, Teil dieser so ungeheuer vielfältigen Bewegung zu sein. Evangelikale findet man in Landes- und Freikirchen. Sie haben teils sehr unterschiedliche Prägungen, Frömmigkeitsstile und sehr verschiedene Überzeugungen zu durchaus wichtigen theologischen Fragen wie z.B. zur Kinder- und Erwachsenentaufe. Und trotzdem sammeln sie sich um Jesus Christus herum, um Bibel und Gebet, um das Evangelium, von dem sie gemeinsam der Überzeugung sind: Jeder Mensch soll es hören, dass Jesus lebt! Jesus ist für unsere Schuld gestorben! Wenn wir an ihn glauben, empfangen wir Vergebung und ewiges Leben. Dieser uralte Glaube, der seit 2000 Jahren um die Welt geht, fasziniert uns gemeinsam. Er tröstet und trägt uns. Er setzt unsere Herzen in Brand. Und er verbindet uns. Weil Jesus unser gemeinsamer Herr ist, sind wir gemeinsam auch Glieder an seinem Leib, auch wenn wir so verschieden sind.

Die Evangelikalen sind meine Familie

Evangelikale sind deshalb für mich mehr als nur eine interessante Bewegung. Sie sind für mich auch mehr als nur Gleichgesinnte. Sie sind Schwestern und Brüder! Geschwister sucht man sich manchmal nicht aus. Manchmal ärgert man sich über sie. Aber sie sind und sie bleiben trotzdem meine Geschwister. Ich fühle mich mit ihnen allen aufs herzlichste verbunden. Die Frage nach der Zukunft der evangelikalen Bewegung kann ich deshalb nicht wie ein nüchterner Dozent behandeln, der ein paar Fakten zusammengetragen hat. Ich bin ja ein zutiefst Beteiligter, der leidenschaftlich in dieses Thema involviert ist. Es geht hier um meine Familie! Die Liebe und Verbundenheit mit meinen evangelikalen Geschwistern prägt alle meine Gedanken, die mich zu dieser Frage umtreiben.

Unsere Gesellschaft braucht eine lebendige Jesusbewegung

Ein weiterer Grund, warum mich die Frage nach der Zukunft der Evangelikalen so umtreibt, ist meine Liebe zu den Menschen um mich herum und die Überzeugung: Was unsere Gesellschaft und unser Land dringender denn je braucht, ist eine lebendige, kraftvolle Jesusbewegung. Es braucht lebendige, christuszentrierte Gemeinden und Gemeinschaften, damit die Menschen um uns herum zu Jesus finden können und mit ihm das ewige Leben.

Zudem braucht es eine lebendige evangelikale Bewegung als Salz und Licht dieser Gesellschaft, die in immer turbulenteres Fahrwasser gerät, die immer polarisierter und orientierungsloser wird. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass kraftvolle christliche Bewegungen ganze Nationen prägen und verändern konnten. Denken wir nur an die Great Awakenings in Amerika. Denken wir an den Pietismus in Süddeutschland. Wer das „Buch der Mitte“ von Vishal Mangalwadi gelesen hat, der weiß: Letztlich hat die Bibel ganz Europa und die westliche Welt geprägt und überaus viel Segen gebracht. Deshalb bin ich überzeugt: Unser Land braucht heute mehr denn je dieses Salz und Licht einer lebendigen, kraftvollen Kirche Jesu, die auf dem Fundament der Bibel steht.

Was sind die Wurzeln der Evangelikalen?

Bevor wir uns der Frage stellen, wo es mit dieser evangelikalen Bewegung hingehen soll, sollten wir zunächst einmal genauer auf die Frage schauen: Was ist das eigentlich, die evangelikale Bewegung? Zu dieser Frage ist dieses Jahr ein interessantes Buch erschienen. In „Menschen mit Mission“ erläutert Prof. Thorsten Dietz, dass die Wurzeln der evangelikalen Bewegung äußerst bunt und vielfältig sind. Er nennt täuferische und freikirchliche Impulse, er nennt den Pietismus und den Methodismus, er weist auf pfingstliche und charismatische Aufbrüche hin. Und er sagt: Letztlich lassen sich die Spuren bis zur Reformation zurückverfolgen.

Für mich wird spätestens an dieser Stelle klar: Letztlich wollen wir Evangelikalen nichts anderes sein als die heutige Konkretion des historischen Christentums. Wir folgen von Herzen diesem Jesus von Nazareth, wie ihn die Bibel bezeugt. Die Lehre der Apostel und Propheten, die wir in der Bibel finden, soll für uns genau wie für die allerersten Christen Richtschnur und Maßstab sein. Der Heilige Geist, der seit Pfingsten in der Kirche Jesu wirkt, soll uns erfüllen.

Aber gerade im letzten Jahrhundert haben sich diese Strömungen stärker denn je formiert, um eine gemeinsame, stärker sichtbare Jesusbewegung zu bilden. Einige Organisationen haben sich gebildet, die evangelikale Frömmigkeit in besonderer Weise bündeln. Thorsten Dietz nennt dazu vor allem die Lausanner Bewegung und die Evangelische Allianz. Zudem sind viele evangelikal geprägte Gemeinden und Gemeinschaften entstanden. Und dazu wurden im 20. Jahrhundert eine Reihe von Verlagen, Medien, Ausbildungsstätten, Großveranstaltungen und noch einiges mehr gegründet.

Was verbindet die Evangelikalen?

Trotz all der Vielfalt evangelikaler Organisationen betont Thorsten Dietz zurecht: „Sie haben kein gemeinsames Lehramt. Sie haben keine liturgischen Traditionen, die sie verbinden.“ Und sie haben „keinerlei kirchliche Struktur.“ Umso erstaunlicher ist es, dass aus dieser bunten, unstrukturierten, führungslosen Menge an Gruppierungen eine gemeinsame Bewegung entstanden ist. Der britische Historiker David Bebbington hat 4 Merkmale identifiziert, die man trotz aller Vielfalt in sämtlichen evangelikalen Strömungen vorfinden kann:

  1. „Bekehrung“ meint die starke Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Hinwendung zu Jesus Christus.
  2. „Aktivismus“ meint: Nicht nur Priester oder Pastoren, sondern alle Gläubigen sind aufgerufen, sich zu engagieren, vor allem für Gemeindebau, Evangelisation und (Welt-)Mission.
  3. Was mit „Biblizismus“ gemeint ist, kann man am besten mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz in Deutschland erklären. Da heißt es: „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“
  4. Auch die Bedeutung von „Kreuzeszentrierung“ kann man gut mit einer Passage aus der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz zeigen: „Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

Bebbington sagt: Diese 4 Punkte sind Grundüberzeugungen, die alle Evangelikalen einen, quer durch alle Gruppierungen hindurch. Das ist nicht viel. Das Band, das die Evangelikalen eint, ist dünn. Und doch war es stark genug, eine dynamische, weltweite Bewegung zu formen.

Steht die evangelikale Bewegung am Scheideweg?

Heute fragen sich allerdings Manche, ob diese Erfolgsgeschichte zu Ende geht. Es gibt Beobachter, die sagen: Es gibt Spaltungstendenzen unter den Evangelikalen. Ulrich Eggers hat dieses Problem in der Zeitschrift AUFATMEN wie folgt beschrieben: „Wir alle merken: Gemeinsam – das fällt in diesen Zeiten, in denen sich viele gewachsene Traditionen auflösen, selbst Einheits- oder Allianz-gewillten Christen zunehmend schwer! … Zunehmend zieht Misstrauen und Entfremdung ein, bedroht Einheit – und damit auch die gemeinsame Arbeitsplattform für missionarische Bewegung.“

Ich teile diese Beobachtung. Solange ich denken kann, war für mich die evangelische Allianz das, was Ulrich Eggers in diesem Artikel als eine „sichere Burg der Freunde” bezeichnet hat. Ich war mir einfach sicher: In den Allianz-Kreisen, da sind wir zwar bei vielen Themen sehr vielfältig. Aber im Kern, da sind wir eins. Wenn es um das Evangelium geht, da stehen wir zusammen. Dieses Evangelium können wir ganz selbstverständlich gemeinsam feiern, besingen und aller Welt bezeugen.

Aber genau diese Selbstverständlichkeit scheint gerade jetzt verloren zu gehen. Und die große Frage ist: Woran liegt das? Warum gelingt scheinbar plötzlich das nicht mehr, was doch so viele Jahre lang weitgehend gelungen ist? Natürlich kann man dafür schnell einige Gründe finden:

  • Christen nehmen Anteil an der wachsenden Polarisierung der Gesellschaft. Wir erleben das an den heißen Diskussionen auch unter Christen zu Themen wie Corona, zum Umgang mit Flüchtlingen im Mittelmeer oder zur Klimaproblematik. Befeuert werden die Differenzen durch die Echokammern und Filterblasen in den sozialen Medien.
  • Und dann ist da natürlich dieses große Thema Sexualethik und die Frage nach dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Dieses Thema ist im Moment in der weltweiten Christenheit DER Spaltpilz. Und es wird auch bei evangelikal geprägten Christen immer mehr zum Streitpunkt.

Ohne Fragen sind diese Themen wirklich belastend für die Einheit in vielen Gemeinden, in Verbünden und christlichen Werken. Thorsten Dietz sieht jedoch noch einen tieferen Grund für die auseinanderlaufenden Tendenzen in der evangelikalen Welt. Im Verlauf seines fast 500 Seiten langen Buchs stellt Dietz die These auf, dass es zwei verschiedene Grundströmungen unter den Evangelikalen gibt, die sich zunehmend schwer miteinander tun: Die eine Gruppierung nennt Dietz die „Allianzevangelikalen“. Auf der anderen Seite identifiziert Thorsten Dietz eine Gruppe, die er als „Bekenntnisevangelikale“ bezeichnet. Auf den letzten beiden Seiten identifiziert Dietz diese beiden Gruppen mit konkreten Personen, die für zwei verschiedene Umgangsweisen mit der Pluralität in der evangelikalen Bewegung stehen. Er sagt:

  • Auf der einen Seite stehe Michael Diener, der ehemalige Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbands und ehemalige Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz. Sein Vorschlag sei, mit Pluralität so umgehen, „dass die Evangelikalen, Pietisten etc. unterschiedliche moralische Überzeugungen aushalten und ihren gemeinsamen missionarischen Auftrag ins Zentrum stellen.“
  • Auf der anderen Seite stehe das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, das laut Dietz anstrebt, „dass man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf“.

Die Konfliktfrage: Wie gelingt Einheit in Vielfalt?

Tatsächlich beobachte auch ich, dass unter Evangelikalen mit wachsender Schärfe diskutiert wird, wie denn heutzutage noch Einheit in Vielfalt unter Evangelikalen gelingen kann. Grundsätzlich gilt ja: Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen darauf reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen bzw. zu bewahren.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Warum mehr Toleranz nicht unbedingt zu mehr Einheit führt

In den letzten Jahren war meine Beobachtung: Scheinbar neigen immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über mehr Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums, das sei keine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir doch Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Die große Frage ist nur: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen beobachte ich: Christen, die sich theologisch liberal geben, können in ethischen oder politischen Fragen zugleich sehr intolerant sein. Das gilt in sehr unterschiedlichen Bereichen, vor allem aber natürlich im Feld der Sexualethik. Der Postevangelikale David P. Gushee war jüngst Hauptredner bei der Coming-In-Tagung in Niederhöchststadt. Er schrieb schon im Jahr 2016: „Neutralität ist keine Option. Ebenso wenig wie eine höfliche Halbakzeptanz. Genauso wenig wie das Vermeiden des Themas. Wie sehr Sie sich auch verstecken mögen, das Thema wird Sie finden.“ Und die evangelische Pastorin Sandra Bils, die inzwischen an der CVJM-Hochschule Kassel lehrt, hat schon 2015 in ihrem Blog geschrieben: „Ich freue mich, wenn sich mein Landesbischof öffentlich äußert und stolz auf die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Hannoverschen Landeskirche hinweist und gleichzeitig merke ich, dass es mir nicht weit genug geht, weil er im gleichen Atemzug anderen Meinungen eine Daseinsberechtigung zuspricht.“ Da ist also keinerlei Toleranz für die traditionelle Position spürbar, die heute immer noch von der übergroßen Mehrheit der weltweiten Christenheit geteilt wird.

Meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir auch keine gemeinsame Botschaft mehr. Dann verlieren wir unser Profil. Dann weiß niemand mehr, wofür wir stehen. Dann marginalisiert sich die Kirche. Und dann gibt es auch nichts mehr, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Dann gibt es zwar vielleicht keinen Streit mehr, aber es gibt etwas, was noch schlimmer ist: Wir entfremden uns voneinander. Unsere Jesusbewegung trocknet langsam aus.

Wenn mehr Toleranz nicht die Lösung ist, was ist es dann?

Der Autor Jürgen Mette hat in seinem Buch „Die Evangelikalen“ folgende These aufgestellt: „Wer sich in Christologie und Soteriologie in der Mitte findet, der kann sich Differenzen an der Peripherie des Kirchenverständnisses, des Taufverständnisses, der Eschatologie leisten.“

Einfach ausgedrückt sagt Jürgen Mette: Wer sich darin einig ist, wer Jesus ist und warum er am Kreuz für uns gestorben ist, der kann Differenzen bei Fragen zur richtigen Kirchenstruktur, zur Tauffrage oder zu Endzeitfragen aushalten. Wenn wir im Kern beieinander sind, dann trennen uns die Differenzen in den Randfragen nicht.

Ich bin überzeugt: Das stimmt! Genau das war das Erfolgsgeheimnis der Evangelikalen! Diese starke Übereinstimmung im Kern und beim Evangelium ermöglicht es ihnen, die enorme Vielfalt an Prägungen, an Kulturen und an Strukturen auszuhalten.

Flexibilität und Intoleranz: 2 Pole im Neuen Testament

Genau diese doppelte Ausrichtung finden wir auch im Neuen Testament. Die junge Christenheit war eine sehr bunte Bewegung, die enorm viele, teils krasse Differenzen aushalten musste. Da kamen Juden mit Nichtjuden unterschiedlichster Hintergründe zusammen. Da gab es gesellschaftliche Differenzen: Gutsherren, Sklaven, Männer, Frauen und Kinder kamen zusammen. Das war damals absolut revolutionär. Und Paulus war er der Meinung: Es ist so wichtig, dass wir uns da nicht trennen lassen. Von sich selbst hat er gesagt: Ich bin allen alles geworden, damit ich so viele wie möglich gewinnen kann. Da hatte Paulus also eine enorme Weite und eine große Flexibilität.

Aber wenn es um das Evangelium ging, da wurde Paulus plötzlich absolut kompromisslos. Da ging er scharf gegen falsche Lehre vor. Den Galatern schrieb er sogar: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ Er scheute nicht einmal davor zurück, Petrus öffentlich anzugreifen, wenn es um das Evangelium geht.

Genau diese Haltung sehen wir später auch bei den apostolischen Vätern und den Kirchenvätern. Die junge Christenheit musste sich gegen viele falsche Lehren erwehren: Gesetzlichkeit, Gnosis, Doketismus, Marcionismus… Das Abwehren von falscher Lehre gehörte von Beginn an zur Aufgabe von christlichen Leitern dazu. Und die Kirche hat überhaupt nur überlebt, weil die christlichen Leiter diese Aufgabe ernst genommen haben.

Die wichtige Funktion der Bekenntnisse

Für die Abwehr falscher Lehre haben die frühen Christen solch wundervolle Bekenntnisse wie das Apostolikum und das Nicäno-Konstantinopolitanum formuliert, die bis heute die Christenheit miteinander verbinden. Schon immer hatten diese Bekenntnisse auch die Funktion, falsche Einflüsse zurückzuweisen und deutlich zu machen, was Christen miteinander verbindet.

Auch den Christen, die die evangelische Allianz gegründet haben, war das wichtig. Die Deutsche evangelische Allianz hat ihre Glaubensbasis erst vor kurzem wieder aktualisiert, um sagen zu können: Trotz aller Vielfalt und Differenzen sind es diese Überzeugungen, die uns einen. Diese wenigen Sätze beschreiben einen gemeinsamen Kern, der uns verbindet und der uns die Kraft gibt, die Differenzen bei vielen anderen Fragen auszuhalten. Thorsten Dietz schreibt dazu zurecht: „Die Allianz ist eine ökumenische Bewegung, die gerade darum das gemeinsame Bekenntnis so knapp wie möglich formuliert hat.“ Wie wahr! Aber gerade deshalb ist es ja so ungeheuer wichtig, wenigstens diese wenigen Sätze zu schützen und zu bewahren! Und meine Beobachtung war in den letzten Jahren leider, dass leider auch diese ganz zentralen Grundbekenntnisse der Evangelikalen in Frage gestellt werden – nicht nur von außen, sondern auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld.

Entscheidende Differenzen beim Bibelverständnis

Um zu zeigen, was ich meine, möchte ich gerne mit Ihnen genauer auf diesen letzten Satz in der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz schauen. Er lautet:

„Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

Hier wird mit wenigen Worten ein Bibelverständnis zusammengefasst, das oft als konservativ oder auch als biblizistisch oder fundamentalistisch bezeichnet wird. Ich persönlich bezeichne dieses Bibelverständnis lieber als das „historische Bibelverständnis“. Historisch deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass sich dieses Bibelverständnis in der ganzen Kirchengeschichte immer wieder nachweisen lässt, gerade auch in der Reformation, aber auch bei den Kirchenvätern, bei den apostolischen Vätern und vor allem – und das ist natürlich am wichtigsten – in der Bibel selbst.

Die Frage ist jetzt aber: Ist dieses historische Bibelverständnis denn heute noch Konsens unter Evangelikalen? Nach meiner Beobachtung muss ich diese Frage mit einem ganz klaren „nein“ beantworten. Meine Beobachtung ist, dass heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld ein konkurrierendes Bibelverständnis vertreten wird, das zwar oft mit ähnlichen Worten beschrieben wird, das aber im Kern vollkommen anders ist und zu völlig anderen Konsequenzen führt.

Dieses konkurrierende Bibelverständnis hat verschiedene Bezeichnungen. Ich bezeichne es gerne als „progressives Bibelverständnis“. Das Problem ist: Vielen Christen fällt gar nicht auf, wie grundsätzlich anders dieses Bibelverständnis ist, denn oft werden nur die Gemeinsamkeiten zwischen dem historischen und dem progressiven Bibelverständnis betont. Und tatsächlich gibt es diese Gemeinsamkeiten:

  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel ganz Menschenwort ist, dass hier Menschen geschrieben haben und dass ihr Charakter und ihre Erfahrungen ihre Texte geprägt haben.
  • Beide Bibelverständnisse sind sich einig, dass die Bibel auslegungsbedürftig ist. Bibelstellen müssen immer im biblischen Gesamtkontext verstanden werden. Die Textgattung, die Reichweite, die Adressaten sowie das historische und heilsgeschichtliche Umfeld müssen differenziert beachtet werden! Und zum richtigen Verstehen der Texte wird der Heilige Geist benötigt.
  • Und beide Bibelverständnisse sagen übereinstimmend:
    Die Bibel ist Gottes Wort im Menschenwort.
    Die Bibel ist inspiriert.

Sind sich die Evangelikalen im Kern also doch einig? Meine Beobachtung ist: Nein, überhaupt nicht. Denn trotz dieser Übereinstimmungen gibt es ganz gravierende Unterschiede, die weitreichende Konsequenzen haben:

Der wichtigste Unterschied betrifft das Wesen und den Charakter der biblischen Texte. Das Bibelverständnis der Evangelischen Allianz sagt dazu: „Die Bibel IST Offenbarung des lebendigen Gottes.“ Das progressive Bibelverständnis sagt hingegen: Die Bibel ist ein Zeugnis der Offenbarung des lebendigen Gottes. So heißt es zum Beispiel in einem aktuellen Grundsatztext der EKD: „Die biblischen Texte werden gehört und ausgelegt als Gottes Wort im Menschenwort, das das endgültige Wort Gottes in Person und Wirken Jesu Christi bezeugt.“

Im historischen Bibelverständnis wird also gesagt: Die Bibel IST Offenbarung. Die Texte sind so, wie sie dastehen, offenbarte Worte Gottes. Im progressiven Bibelverständnis wird hingegen gesagt: Die Bibel bezeugt die Offenbarung. Was sich so unscheinbar anhört, hat in Wahrheit gewaltige Konsequenzen. Gerade die Formel „Gotteswort im Menschenwort“ hat dann eine ganz unterschiedliche Bedeutung. Im historischen Bibelverständnis heißt diese Formel: Die Bibel ist ganz Menschenwort UND zugleich ganz Gotteswort. Im progressiven Bibelverständnis bedeutet diese Formel hingegen: Die Bibel ist ganz Menschenwort und sie kann Gottes Wort enthalten bzw. vermitteln. So schreibt zum Beispiel Siegfried Zimmer: „Der Satz ‚Die Bibel ist Gottes Wort‘ meint: Gott kann und will durch die Bibel zu uns reden.“ Oder der Theologe Udo Schnelle schreibt: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“

Damit wird der Unterschied im progressiven Bibelverständnis deutlich: Hier ist die Bibel nicht an sich Gotteswort, sondern sie kann es beim Lesen individuell für uns werden! Daraus leitet sich dann auch ein unterschiedliches Inspirationsverständnis ab. Im historischen Bibelverständnis wird die Inspiration der Bibel stark auf die Entstehung der Texte bezogen. Man sagt also: Der Heilige Geist hat bei der Entstehung der Texte mitgewirkt, so wie Petrus zum Beispiel sagt: „Vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ Im progressiven Bibelverständnis hingegen sagt man: Die Inspiration der Texte bezieht sich primär auf unser heutiges Lesen und Verstehen der Bibeltexte. Wenn wir die Bibel lesen, dann kann der Heilige Geist diese Texte für uns individuell zu inspirierten Gottesworten machen.

Der Knackpunkt: Das progressive Bibelverständnis ermöglicht Sachkritik

Damit kommen wir zum entscheidenden Unterschied dieser beiden Bibelverständnisse: Wenn die Bibel Gottes Offenbarung IST, wie es in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz festgehalten wird, dann können wir diese Bibelworte natürlich unmöglich inhaltlich kritisieren! Wir können zwar unterscheiden lernen, wie diese Texte gemeint sind und wie sie einzuordnen sind. Aber wenn es Gott ist, der in den biblischen Texten zu Wort kommt, dann können wir die Aussagen, die wir aus den biblischen Texten ableiten, letztlich nicht kritisieren, sondern dann haben wir sie als Gotteswort demütig zu hören. Wenn Gott spricht, dann kann nur Vertrauen und Gehorsam unsere Antwort sein.

Im progressiven Bibelverständnis hingegen ist das anders. Da sagt man ja: Die Bibeltexte sind zunächst einmal nur Menschenwort. Sie sind nur ein Zeugnis der Offenbarung. Aber ein Zeugnis kann auch fehlerhaft sein. Es kann auch widersprüchlich sein. Und deshalb kann man diese Texte natürlich auch kritisieren. Dazu noch einmal Siegfried Zimmer: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“

Und da haben wir die ganz entscheidende Differenz schwarz auf weiß: Wenn der biblische Text die Offenbarung nur bezeugt aber nicht selbst IST, dann können wir diese Texte natürlich heute auf Basis unserer Vernunft auch inhaltlich kritisieren. In der Theologie würden wir dann von „Sachkritik“ sprechen. Und genau hier laufen die Wege auseinander. Denn Sachkritik, also inhaltliche Kritik an biblischen Gesamtaussagen, wird im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses für etwas völlig Normales gehalten.

Das wird beispielhaft deutlich im Buch „glauben lieben hoffen“, das von Vertretern der freikirchlichen Jugendarbeit im SCM-Verlag herausgegeben wurde. Knapp zusammengefasst wird da zum Beispiel gesagt:

  • In den prophetischen Texten wird keine Zukunft vorhergesagt.
  • Jesus wird nicht im Alten Testament vorausgesagt.
  • „Die Bibel ist von einer Entwicklung hin zum Monotheismus geprägt.“ Das heißt also: Die Bibel enthält veraltete Gottesbilder.
  • Die „Vorstellungen“ von Teufel, Himmel und Hölle haben sich wohl erst nach dem babylonischen Exil entwickelt, vermutlich durch den Einfluss des Zoroastrismus und des griechischen Denkens
  • Matthäus, Lukas und Paulus seien von einer biologischen Vaterschaft Josefs ausgegangen.

Natürlich widersprechen diese Aussagen komplett den Aussagen, die die Texte selbst machen wollen. Aber derartige Bibelkritik wird möglich, wenn die Bibel die Offenbarung Gottes nur bezeugt, aber nicht selbst ist. Das Problem ist: Etwas, das ich auf Basis meiner Vernunft kritisieren kann, das kann natürlich nicht mehr so wie in der Glaubensbasis der evangelischen Allianz als „zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung“ gelten. Diesen Wert als Norm des Glaubens hat die Bibel dann verloren.

Die Folge: Widersprüchliche Lehren bei den Kernfragen des Glaubens

In der Praxis zeigt sich: Mit der Öffnung für Sachkritik wird die Tür geöffnet für Lehren, die nicht mehr mit durchgängigen Aussagen der Bibel zusammenpassen. Wie drastisch sich dieses Bibelverständnis selbst auf die innersten Kernfragen des Glaubens auswirkt, sieht man besonders gut bei der Frage, warum denn eigentlich Jesus am Kreuz gestorben ist. Schauen wir doch einmal, was das Bekenntnis der evangelischen Allianz zu dieser Frage sagt und was wir im Vergleich dazu im Buch „glauben lieben hoffen“ lesen:

Aus der Glaubensbasis der
evangelischen Allianz
Zitat aus „glauben lieben hoffen“
„Der Mensch … ist durch Sünde und Schuld von Gott getrennt.

Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht.“

„So wurde und wird häufig argumentiert: Infolge des Sündenfalls ist der Mensch getrennt von Gott, und nur ein vollkommenes Opfer kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder in Ordnung bringen. … Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung  … dies erreichen können soll? … Gott vergibt, weil er ein gnädiger Gott ist, ohne dass Gott durch Töten und Blutvergießen milde gestimmt werden müsste. … um die Sünde der Menschen hinweg zu nehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“ (S. 69, M. Drodofsky)

Ohne Zweifel steht die Kreuzestheologie mitten im Zentrum unseres Glaubens. Und es ist nun einmal ein riesengroßer Unterschied, ob…

… Gott uns einfach so vergibt oder ob er uns verurteilt, dann aber selbst die Strafe übernimmt.

… wir uns nur subjektiv schuldig fühlen oder ob wir objektiv schuldig sind und von Gott eigentlich im Gericht verurteilt werden müssten.

… Jesu Tod nur ein Akt der Solidarität und Hingabe ist oder ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld.

… wir nur belastete Menschen sind, die Zuspruch und Ermutigung bekommen sollen oder ob wir ohne das Kreuz verloren sind und Rettung brauchen.

Wir müssen es so deutlich sagen: Es handelt sich bei dieser progressiven Deutung der Kreuzestheologie letztlich um ein anderes Evangelium.

Die missionarische Dynamik geht verloren

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Differenzen beim Evangelium? Im Buch „Mission Zukunft“ hat der Präses des Bundes der Freien evangelischen Gemeinden Ansgar Hörsting geschrieben: „Ich kenne keine missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren.“ Die Kirche Jesu verliert also ihre missionarische Dynamik, wenn sie Botschaft vom Kreuz verliert oder umdeutet.

Und Pfarrer Swen Schönheit, Theologischer Referent der Geistlichen Gemeindeerneuerung schreibt: „Die „Botschaft vom Kreuz“ ist im Raum der Kirche verblasst. Damit verliert sich „Gottes Kraft“ und Kirche reduziert sich selbst zu einer Agentur der Mitmenschlichkeit.“

Das heißt also: Das veränderte Bibelverständnis führt zu einer veränderten Theologie, die wiederum ganz direkte Auswirkungen hat auf die missionarische Kraft und Ausstrahlung der Kirche. Der evangelische Pfarrer Alexander Garth schreibt dazu in seinem Buch „Untergehen oder umkehren“:

„Es besteht ein Zusammenhang zwischen liberaler westlicher Theologie und dem Niedergang von Gemeinden. Es sind fast ausschließlich liberale Kirchen, die teilweise dramatisch Mitglieder verlieren.“ „Wenn man in der Welt aufstrebende Gemeinden und Bewegungen bestimmen möchte, die nicht evangelikal sind, so würde man kaum etwas finden. Zumindest gehört das zu den gesicherten Forschungsergebnissen der Religionssoziologie.“

Das Ringen um gesunde Theologie ist von entscheidender Bedeutung

Dieses Zitat macht etwas deutlich, was aus meiner Sicht auch für den weiteren Weg der evangelikalen Bewegung ganz entscheidend ist: Theologie zählt! Ich höre heute auch mitten im allianzevangelikalen Umfeld häufig die These: Lasst uns doch nicht über Theologie streiten. Lasst uns lieber gemeinsam evangelisieren und Gemeinde bauen. Das hört sich schön an. Und ich würde sofort zustimmen, wenn die Praxis nicht zeigen würde: Unsere Theologie ist ganz offenkundig ein entscheidender Faktor dafür, ob wir miteinander fruchtbar evangelisieren und Gemeinde bauen können oder nicht. Theologie kann Einheit, Evangelisation und Gemeindebau befruchten, sie kann aber auch Einheit, Evangelisation und Gemeindebau unterwandern und zerstören. Deshalb müssen wir gerade um der Evangelisation, der Mission und des Gemeindebaus willen, ringen, streiten um die zentralen theologischen Fragen.

Stellen Sie sich einmal diese Situation vor: Da steht jemand auf dem Feld mit einer stumpfen Sense und kommt kaum voran bei der Ernte. Und ein anderer rennt hin und sagt: Mensch, der Bauer hat doch gesagt, wir sollen zum Ernten den Mähdrescher nehmen. Und der erste sagt: Jetzt mecker nicht rum. Schnapp Dir die Sense und hilf mit!

Genau so empfinde ich diese Aufrufe, nicht über Theologie zu streiten, obwohl doch das Ringen um die richtige Theologie schon in der Bibel eine enorm wichtige Rolle spielt. Die Bibel macht immer wieder deutlich: Wir können und dürfen nicht einfach schweigend zusehen, wenn Leute in unserer Mitte aufstehen und Dinge lehren, die nicht zum biblischen Evangelium passen. Gerade um der Mission willen, gerade um der Einheit willen, gerade um des Gemeindebaus willen müssen wir ganz neu lernen, um die richtige Theologie zu streiten. Es gäbe uns heute nicht, wenn nicht die Apostel, die Kirchenväter oder die Reformatoren intensiv um theologische Fragen gestritten hätten! Streit ist zwar Mist, wenn es um Randfragen geht, wenn es ums pure Rechthaben geht, wenn der Streit lieblos und arrogant geführt wird. Aber wo unser Herz brennt für das Evangelium und für die verlorenen Menschen, da wird Gott mit uns sein, wenn wir sagen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Ich muss widersprechen, um des Wortes Gottes und des Evangeliums willen. Das wünsche ich mir, dass das wieder viel häufiger geschieht.

Allianzevangelikale sind immer auch Bekenntnisevangelikale

Aber was bedeutet das jetzt für die Zukunft der Evangelikalen? Das war ja die Frage dieses Vortrags: Evangelikale Bewegung, wohin? Das Bild, das Thorsten Dietz gezeichnet hat, hatte die Botschaft: Da gibt es eine Weggabelung und die evangelikale Bewegung muss sich entscheiden: Folgen wir den Allianzevangelikalen? Oder folgen wir den Bekenntnisevangelikalen? Die Frage ist nur: Ist das wirklich die Weggabelung, vor der die evangelikale Bewegung steht? Ich bin der Meinung, dass das tatsächliche Bild etwas anders aussieht.

Ich glaube nicht, dass es zu dieser Aufspaltung kommt. Das tatsächliche Bild, das ich wahrnehme sieht so aus: Es gibt keine Differenz zwischen Allianz- und Bekenntnisevangelikalen. Ohne Bekenntnis kann es keine Allianz geben. Deshalb waren Allianzevangelikale immer schon zugleich auch Bekenntnisevangelikale! Die Glaubensbasis der evangelischen Allianz, das Apostolikum, das Nicäno-Konstantinopolitanum, das sind feststehende Bekenntnisse, die grundlegend sind für die Evangelikalen, für die Lausanner Bewegung und für die evangelische Allianz. Deshalb brauchen wir beides, wenn wir auch in Zukunft noch Einheit in Vielfalt wollen: Wir brauchen Toleranz in den Randfragen. Und wir brauchen Konsens in den zentralen Bekenntnisfragen.

Es geht um die Bewahrung unserer verbindenden Glaubensschätze

Thorsten Dietz hat deshalb auch das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis leider falsch dargestellt. Er meint, das Netzwerk Bibel und Bekenntnis wolle, dass „man sich verbindlich auf eindeutige Bekenntnisse einigt und entsprechend auf allen Ebenen durchsetzt, was in der jeweiligen Gemeinde, Kirche oder Allianz vertreten werden darf.“ Nichts könnte verkehrter sein als das. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist nicht, dass man sich auf etwas Neues einigt. Es geht nicht darum, etwas durchzusetzen. Es geht vielmehr darum, etwas zu bewahren! Auf die Bekenntnisse muss man sich nicht einigen, die sind ja längst vorhanden und veröffentlicht. Das Anliegen des Netzwerks Bibel und Bekenntnis ist: Die Liebe zu Christus zu stärken und zugleich Festhalten an den veröffentlichten Bekenntnissen, die unverzichtbar sind für die Einheit der Evangelikalen. Wir arbeiten und beten dafür, dass die veröffentlichten Bekenntnisse und Glaubensgrundlagen nicht zu Papiertigern verkommen, sondern das bleiben, was sie schon immer waren: Verbindende Glaubensschätze, die man über alle Unterschiede hinweg ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Lassen Sie uns das gemeinsam weiter tun!

Kurs halten auf der einzigartigen Erfolgsspur der Evangelikalen!

Ich möchte diesen Vortrag abschließen mit einem Zitat aus dem Buch „Menschen mit Mission“, über das wir heute so viel gesprochen haben. Ich nehme wahr, dass manche Evangelikale heute entmutigt sind. Man hat das Gefühl: Wir sind Wenige. Wir sind auf dem Rückzug. Wir werden in der Gesellschaft immer mehr an den Rand gedrängt. Niemand nimmt uns mehr ernst. Das spannende ist: Genau dieses Gefühl hätten die Evangelikalen auch für einem halben Jahrhundert haben können. Der Lausanner Kongress ist jetzt beinahe 50 Jahre her. Auch damals waren die Evangelikalen eine Randgruppe. Aber Thorsten Dietz schreibt:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.

Evangelikale Bewegung wohin? Aus meiner Sicht kann es darauf nur 1 Antwort geben: Weiter hinter Jesus her! Weiter auf der Spur, die sein Wort uns zeigt! Lassen wir uns nicht entmutigen. Lassen wir uns nicht einschüchtern. Lassen wir uns nicht aus der Segensspur drängen. Machen wir uns eins mit so vielen evangelikalen Geschwistern auf der ganzen Welt, die Jesus folgen, oft unter großen Opfern, die sein Wort weitertragen bis an die Enden der Erde und die gemeinsam mit uns darauf warten, dass unser Herr wiederkommt und sein Reich aufrichtet. Lassen wir es zu, dass diese Hoffnung neu unser Herz erfüllt. Lassen Sie uns gemeinsam mutig dafür beten und arbeiten, dass sein Reich schon jetzt unter uns Gestalt gewinnt.