Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons – Einsichten in das Bibelverständnis von Thorsten Dietz

Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift “Glauben & Denken heute” erschienen in der Ausgabe 2/2021. Er kann hier auch als PDF heruntergeladen werden.

Welcher Prozess hat dazu geführt, dass Christen heute eine Sammlung von genau 27 Büchern als Neues Testament bezeichnen und als Wort Gottes bzw. Heilige Schrift betrachten? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser Bibelverständnis? Inwieweit können die biblischen Texte heute noch als inspiriert gelten und autoritativer Maßstab für den christlichen Glauben sein? Über diese grundlegenden Fragen spricht Thorsten Dietz in seinem Worthausvortrag „Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons“[1]. Seine Antworten machen theologische Entwicklungen sichtbar, die zweifelsohne im Hintergrund vieler aktueller innerchristlicher Konflikte stehen.

Leitend ist für Thorsten Dietz zunächst die Frage: Welcher Faktor hat denn eigentlich den Prozess der Kanonbildung maßgeblich geprägt und beeinflusst? Dietz stellt dazu drei häufig vertretene Antwortmöglichkeiten vor:

  1. Die neutestamentlichen Schriften selbst waren entscheidend. Der Kanon hat sich selbst durchgesetzt bzw. „imponiert“.
  2. Die Kirche und ihr Lehramt war die entscheidende Autorität, die über den Umfang des neutestamentlichen Kanons entschieden hat.
  3. Der Kanon ist das Ergebnis menschlicher Überlegungen und gegebenenfalls auch Machtkämpfe.

Früh stellt Thorsten Dietz klar: „Ich halte diese Deutungen der Kanonwerdung alle drei für irreführend.“ (16:30) Stattdessen ist er überzeugt: „Diese Dinge hängen ineinander und alle Versuche von einer Seite her, die Bibel dem Evangelium oder Jesus oder der Kirche radikal überzuordnen oder die Kirche dem Evangelium oder der Bibel überzuordnen, sind immer Versuche, es in irgendeiner Weise in den Griff zu kriegen, es irgendwie verfügbar zu machen, handhabbar zu machen und das Ganze in irgendeiner Weise so richtig eindeutig auch festzustellen.“ (ab 1:08:50)

Wie kommt Thorsten Dietz zu dieser Sichtweise?

Lang andauernde Unklarheiten beim Kanonumfang

Ausführlich spricht Thorsten Dietz darüber, dass es neben den heute als kanonisch geltenden Büchern noch viele weitere Anwärter auf diesen exklusiven Status gab. Konkret nennt er eine Reihe weiterer Evangelien und sonstiger Schriften, die angeblich von Aposteln oder von frühen Kirchenvätern stammten. Umgekehrt wurden einige der heute als kanonisch anerkannten Bücher bis in die Reformationszeit hinein immer wieder angezweifelt oder sogar offen abgelehnt. Zwar gab es schon früh Kriterien, um die Kanonizität eines Texts zu beurteilen. Dietz nennt konkret die „Ursprungsnähe zu Jesus, die „apostolische Autorität des Anfangs“, die Übereinstimmung mit den Lehren Jesu, der Apostel und den zentralen Bekenntnissen der Christen (die sogenannte Glaubensregel oder „regula fidei“) und schließlich die Anerkennung in den Gemeinden. Jedoch hätten auch diese Kriterien nicht zu einer schnellen, abschließenden Definition des Kanons geführt.

Dietz weist zudem darauf hin: Auch bei der Frage, welche Schriften denn zum Alten Testament gehören, gab es Unklarheiten. Autorität hatte für die Apostel damals die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die für viele Juden und Christen als „inspiriert“ galt, die aber einige Bücher und Zusätze enthält, die unter evangelischen Christen heute weithin nicht mehr als kanonisch gelten.

Damit hat Thorsten Dietz ohne Zweifel recht. Aber sprechen diese historisch belegten Unsicherheiten beim Kanonumfang denn wirklich gegen die Auffassung, dass die Autorität der kanonischen Texte selbst der entscheidende Faktor für die Kanonbildung waren?

Frühe Klarheit bei den Kernbeständen

Thorsten Dietz betont selbst, dass man bereits „Mitte des zweiten Jahrhunderts sagen kann: Die vier Evangelien … waren früh am Start und früh anerkannt und früh unumstritten. Soweit das Auge reicht, sind diese vier Evangelien eine wesentliche Quelle für alle Christen.“ (33:40) Und er ergänzt: 20 neutestamentliche Schriften (4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 Paulusbriefe, 1. Petrus- und 1. Johannesbrief) „waren im Grunde nie umstritten. … Ein Großteil des Neuen Testaments wächst rein in diese Rolle, kanonische Schriften zu sein.“ (56:05)

Tatsächlich machen die genannten 20 Schriften bereits mehr als 85% des heutigen neutestamentlichen Textbestands aus. Wie früh ein großer Teil der neutestamentlichen Texte bereits als autoritativ galten, zeigt zudem ein Blick in die Schriften von Kirchenleitern der ersten nachapostolischen Generation. Bischof Polykarp von Smyrna zitiert in seinem Brief an die Philipper, der grob auf das Jahr 120 datiert wird, bereits aus 19 der 27 neutestamentlichen Bücher, darunter auch aus dem Jakobusbrief und dem 2. Johannesbrief. Deutlich wird dabei: Schon Polykarp misst diesen Schriften genau die gleiche Schriftautorität bei wie den alttestamentlichen Schriften.[2] Und sie haben für ihn genau wie für Bischof Ignatius von Antiochien[3] eine unfehlbare Autorität, die kein Text späterer Kirchenleiter mehr für sich in Anspruch nehmen konnte.[4] Zurecht schrieb deshalb der Neutestamentler Theodor Zahn: Die Möglichkeit, „dass ein Apostel in seinen an die Gemeinden gerichteten Lehren und Anweisungen geirrt habe könnte, hat offenbar im Vorstellungskreis der nachapostolischen Generation keinen Raum gehabt.“[5] Lange bevor begrifflich von einem „Neuen Testament“ die Rede war und lange bevor über den endgültigen Kanonumfang entschieden wurde, stand somit der größte Teil des Neuen Testaments den frühen Christen bereits als Urkunde und Maßstab des Glaubens zur Verfügung, ohne dass dazu eine Synode tagen oder auf andere Weise um Entscheidungen gerungen werden musste.

Man kann Thorsten Dietz deshalb nicht zustimmen, wenn er äußert: Wir finden keinen Beleg dafür, dass sie [d.h. die Kirchenväter] die [Jesusworte oder Paulusworte] genau so als Fortsetzung des Alten Testaments empfinden“ (27:10) „In den ersten 80 bis 100 Jahren gibt’s diese ganze Kategorie Kanon, Heilige Schrift, Neues Testament nicht“ (56:25). Es stimmt zwar, dass der Begriff „Neues Testament“ erst später aufkam. Aber die Einordnung der Evangelien und der Apostelbriefe in die Kategorie „Heilige Schrift“ und die Unterscheidung dieser Schriften von allen anderen Texten (was ja die Basis des Kanongedankens darstellt) ist bereits ab dem ersten Jahrhundert zu beobachten[6] und letztlich schon im Neuen Testament selbst angelegt.[7] Das räumt auch Thorsten Dietz ein: „Man kann doch im Neuen Testament selbst schon eigentlich sehen, dass diese Schriften kanonischen Anspruch erheben.“ (18:25) Dietz belegt das durch die Ähnlichkeit des Beginns des Johannesevangeliums mit dem Beginn der Genesis, durch den autoritativen Selbstanspruch von Paulus sowie durch den Umstand, dass schon Paulus einem Jesuswort die gleiche Autorität gab wie der Tora.[8]

Umso mehr stellt sich die Frage: Warum hält Dietz denn dann die Sichtweise von der Selbstdurchsetzung der kanonischen Schriften für „irreführend“? Was wäre denn die Alternative? Das von Dietz vorgeschlagene „Ineinander“ von Textautorität, kirchlichem Lehramt und menschlichen Interessen kann in dieser frühen Phase noch nicht in Frage kommen. Es gab ja noch gar keine institutionalisierten kirchlichen Gremien, in denen etwas beschlossen oder mit menschlichen Machtmitteln durchgesetzt werden konnte. Andere Erklärungen für diesen historisch extrem ungewöhnlichen (und somit erklärungsbedürftigen) Vorgang der Herausbildung einer Sammlung autoritativer heiliger Schriften liefert Thorsten Dietz in seinem Vortrag nicht.

Das Ringen drehte sich eigentlich um die Ränder des Kanons

Auch das spätere Ringen zur endgültigen Definition des neutestamentlichen Kanons drehte sich nie um das Grundprinzip, dass es sich bei den authentischen apostolischen Texten um einzigartig autoritative Schriften handelt. Stattdessen ging es schon früh nur um zweifelhafte Wackelkandidaten, also um die Frage nach den Rändern des Kanons.

Diese Frage nach den Kanonrändern hat die Christenheit zu allen Zeiten beschäftigt. Sie war und ist in einigen Kirchen bis heute akut in Bezug auf die Apokryphen des Alten Testaments, die von manchen Kirchen anerkannt, von anderen abgelehnt werden. Und alle Kirchen leben zum Beispiel mit dem Problem, dass die Kanonizität des langen Endes des Markusevangeliums unklar ist.

Solche Unschärfen beim Kanonrand ändern aber nichts daran, dass die Kirche in Bezug auf den weitaus größten Teil der Heiligen Schrift von Beginn an einen großen Konsens hatte, der nicht aus Machtkämpfen, Vernünfteleien oder Synodenentscheidungen resultierte, sondern letztlich nur auf die Autorität der Texte und ihrer Autoren zurückgeführt werden kann. Unschärfen an den Kanonrändern ändern zudem überhaupt nichts am Konsens über das Grundprinzip, dass diesen Schriften eine unfehlbare Autorität zukommt. Auch Martin Luther hatte zwar Zweifel an der Kanonizität mancher Schriften. Aber er hat die volle Autorität der unzweifelhaft kanonischen Schriften nicht in Frage gestellt[9] sondern ausdrücklich dem Kirchenvater Augustinus zugestimmt, der von der Irrtumslosigkeit der kanonischen Schriften ausging.[10]

Aber was folgt für Thorsten Dietz nun aus seiner Darstellung der Geschichte der Kanonentstehung? Welche Konsequenzen zieht er für sein Bibelverständnis? Sein Vortrag wirft bei vier Themen grundlegende Fragen auf:

1. Ist die Bibel ein Maßstab des Glaubens?

Ein zentrales Thema der Reformation war das Ringen um den Status der Bibel. Für Martin Luther war allein die sich selbst auslegende Schrift die letzte Instanz, der sich alle anderen Instanzen unterordnen müssen („Sola Scriptura“). Die Kammer für Theologie der EKD schreibt dazu in ihrer Publikation „Die Bedeutung der Bibel für kirchenleitende Entscheidungen“: „Die biblischen Texte sind das erste und grundlegende Wort, auf das Kirche, Theologie und Glaubensleben immer wieder rückgebunden sind, als Texte, die den kritischen Maßstab bilden und an dem die Traditionen und Lehrbildungen der Kirche zu prüfen sind. Der Kanon der biblischen Schriften ist allen anderen Traditionen als norma normans, das heißt als kritischer Maßstab vorgeordnet, so dass diese – wenn nötig – kritisiert werden können.“ (S. 49, Hervorhebung nachträglich).

Diese Formulierungen knüpfen an das Bibelverständnis der frühen Kirche an. Schon im zweiten Jahrhundert wurden die allgemein anerkannten apostolischen Schriften als Maßstab zur Prüfung anderer Lehren und Schriften verwendet. Irenäus hatte um 180 die „regula fidei“ (Regel oder Norm des Glaubens), die sich bei ihm schon weitestgehend mit dem später formulierten Apostolikum deckte, aus den apostolischen Schriften abgeleitet. In seinen Schriften gegen die Häresien (Irrlehren) zitierte er aus fast allen neutestamentlichen Büchern abgesehen von Philemon, 2. Petrus, 3. Johannes und Judas.[11]

Thorsten Dietz äußert hingegen: „Man kriegt die Bibel nicht als Knüppel oder Maßstab oder Vereindeutigungsinstrument gegen alle Instanzen eindeutig in den Griff.“ (1:09.30) Der Gewinn, dass man in der Bibel eine hilfreiche Autorität sehen darf, „wird nicht selten so verspielt, dass man durch seine eigene Bibeltreue … meint zu wissen, die Wahrheit in der Tasche zu haben. Anders als die anderen, die irgendwie häretisch oder abgeirrt oder zu selbstbewusst oder zu verführt oder zu irregegangen oder wer weiß was sind. Hier wird Autorität bisweilen zum Autoritarismus, zum Anspruch absoluter Wahrheit, die sich nur durchdrücken kann, die unterdrückt, die nur auf Befehl und Gehorsam geeicht ist.“ (1:12.00)

Richtig ist natürlich: Auch mit einer völlig vertrauenswürdigen Bibel haben wir die „Wahrheit nicht in der Tasche“. Und tatsächlich gab und gibt es unter Christen immer wieder das Phänomen eines toxischen „Autoritarismus“, der Bibelstellen als Machtinstrument missbraucht. Die Kirchengeschichte kennt leider zahllose Beispiele, in denen viel zu schnell aufgrund einer speziellen Bibelauslegung eine andere Position als Irrlehre ausgegrenzt und die Christenheit damit unnötig gespalten wurde.

Trotzdem stellt sich bei diesem Zitat die Frage: Macht man denn die Bibel immer zum „Knüppel“, wenn man in ihr einen Maßstab sieht, den man so wie Irenäus auch zur Entlarvung falscher Lehren verwendet? Ist die Identifikation von falscher Lehre durch den Vergleich mit dem Maßstab der Lehre Jesu und der Apostel schon per se ein Ausdruck von „Autoritarismus“? Wurde denn die Warnung vor falscher Lehre nicht sowohl in der frühen Kirche als auch im Neuen Testament als wichtige Aufgabe kirchlicher Leiter angesehen?

Ja, es ist wichtig, vor vorschnellen und selbstherrlichen Irrlehrenjägern zu warnen. Aber angesichts der traurigen Tatsache, dass heute in der evangelischen Kirche[12] und bis tief in evangelikale Kreise hinein der öffentliche Hinweis auf falsche Lehre weitgehend zum Tabu geworden ist, wäre es ebenso wichtig gewesen, den dringend notwendigen und Orientierung gebenden Unterscheidungsdienst auf Basis des biblischen Maßstabs zu würdigen. Diese Würdigung fehlt leider im Vortrag von Thorsten Dietz.

2. Dürfen biblische Aussagen bezweifelt werden?

Thorsten Dietz unterstützt die Auffassung, dass Christen der Bibel „Autorität“ beimessen sollten. Aber was versteht er unter diesem Begriff? Dazu sagt er ab 1:15:20: „Ein Mensch hat Autorität, wenn er eine Sache besser kennt, wenn er einen Weg besser kennt, wenn er einen Zusammenhang durchschaut. Und wenn man ihm das abkauft, wenn man ihm das abnimmt, na ja, dann hört man auch auf ihn, dann lässt man sich auch was sagen. Und dann ist es auch hilfreich. Und ich denke, das ist das Besondere bei Jesus, bei Paulus, bei den Aposteln, dass Menschen hier spüren: Sie hören Jesusworte und sagen: Das hätte ich jetzt nicht besser gewusst, gar nicht. Und ich merke, dass er es aus einer Gewissheit sagt und aus einer Überzeugung heraus, die ich so nicht habe. Und ich merke, dass es mich anspricht und dass es mich fasziniert.“

Entsprechend ordnet Dietz auch den Charakter der Paulusbriefe ein: „Paulus ist nicht in diesem Sinne autoritär, sondern er sagt: Denkt nach, prüft, fragt. Prüfet alles. Behaltet das Gute. Er ist sehr stark in seinen Überzeugungen. So, und er sagt: Wenn ihr das noch anders seht, wird Gott es euch anders lehren. So aber er lässt sich auf Gespräch, auf Diskussion ein. Er ist nicht von einem falschen Autoritarismus, sondern seine Autorität ist befreiend, anregend, fördernd. Sie will befähigen zum Nachdenken, Anstöße geben.“ (ab 1:13:30) Sollen wir die Briefe von Paulus also prüfen und nur das in unseren Augen Gute behalten? Und was machen wir dann mit Bibeltexten, die wir erst einmal überhaupt nicht als einleuchtend und ansprechend, geschweige denn als faszinierend empfinden?

Zur Verteidigung seiner Sichtweise einer guten Autorität, die sich primär aus einem spürbaren Informationsvorsprung nährt und sich selbst zur Diskussion stellt, verwendet Dietz ein Beispiel aus dem Bauwesen: „Man ist gut beraten, bei allerlei Baumaßnahmen und handwerklichen Dingen schon auch mehr auf die zu hören, die sich mit diesem Sachverhalt auskennen. Mehr als auf das eigene Bauchgefühl.“ (ab 1:16:35) Das ist wahr. Jeder Planer weiß, dass im Bau sämtliche sicherheitsrelevante Fragen zur Statik, zum Brandschutz, zum Arbeitsschutz usw. anhand von feststehenden Normen entschieden werden müssen, die gelten – auch dann, wenn Planer und Bauherren so manche Norm für wenig sinnvoll halten mögen. Das Beispiel, das Dietz verwendet, zeigt also eher das Gegenteil dessen, was Dietz sagen will: Auch in Alltagsfragen funktioniert unsere Gesellschaft eben gerade nicht so, dass Autorität immer diskutierbar ist und vom zustimmenden Empfinden der Menschen abhängt.

Entsprechend sind auch die Aussagen in den Paulusbriefen keinesfalls so gemeint, dass ihre Autorität von unserem Empfinden abhängt und diskutiert werden können. Das räumt Thorsten Dietz in seinem Vortrag zuvor auch selbst ein: „Paulus schreibt ja nicht so seine Briefe, dass er sagt: Hier, ich möchte mal ein Gesprächsgang anstoßen, ich habe ein paar Ideen. Können wir uns vielleicht drüber austauschen. Ich lerne auch gern dazu, bin auch gern bereit, mich auf völlig neue Ideen bringen zu lassen, wie alles gewesen sein könnte. Also nehmt das jetzt nicht zu ernst, was ich schreibe. Es sind Vorschläge oder so. Macht er ja nicht.“ (ab 0:19:05) In der Tat. Wenn es um das Evangelium geht, kannte Paulus keine Kompromisse. Da zögerte er auch nicht, Petrus öffentlich anzugreifen (Gal.2,11ff.). Drastisch formulierte er im Brief an die Galater: „Wer euch eine andere Gute Nachricht verkündet als die, die ihr bereits angenommen habt, soll verflucht sein!“ (Gal.1,9). Von Diskussionsbereitschaft keine Spur. Dazu bestätigt Petrus in 2. Petr. 3,16: Auch wenn in den Paulusbriefen manche Dinge schwer zu verstehen sind (und dem Leser somit zunächst einmal gar nicht einleuchten wollen), ist es keinesfalls erlaubt, an diesen Aussagen herumzuschrauben. Eine Wertschätzung von Zweifeln an Aussagen der Schrift und der Apostel findet sich weder in der Bibel noch in der frühen Kirche.

Trotzdem assoziiert Thorsten Dietz eine Infragestellung von Zweifeln eher mit einem autoritären Leitungsstil: „Also wenn du Zweifel hast, darfst Du die äußern, kannst du zu deinem Seelsorger gehen ist okay. Wir wollen da menschenfreundlich mit umgehen. Aber eigentlich ist das Ziel immer den Zweifel wieder loszuwerden. Der Zweifel ist eigentlich schlecht. Der Zweifel ist eigentlich gefährlich. Versuch es loszuwerden. Sprich mit Seelsorgern. Der hört dir liebevoll zu. Aber eigentlich, weil die Texte inspiriert sind, sind sie wahr. Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss. Alles andere braucht kein Mensch.“ (ab 1:18:20) Ist bleibender Zweifel an biblischen Aussagen in den Augen von Thorsten Dietz also etwas Normales und Gutes, das nicht in Frage gestellt werden sollte?

Richtig ist natürlich, dass wir immer bedenken müssen, dass die Bibel ausgelegt werden muss. Da unsere Auslegung niemals fehlerfrei ist, kann unser Verständnis und unsere Auslegung biblischer Aussagen natürlich auch bezweifelt werden. Kein sorgfältiger Theologe oder Seelsorger dürfte deshalb einem zweifelnden Bibelleser einfach so entgegenschleudern: „Höre, glaube, gehorche, handle. Schluss.“ Gerade der Zweifel an einer Interpretation biblischer Aussagen kann ja oft auch dazu führen, dass man mehr darüber lernt, wie diese Bibelstelle im gesamtbiblischen Kontext richtig auszulegen ist. Zudem hat Thorsten Dietz natürlich vollkommen recht, dass biblische Autorität nicht klein, unmündig und hörig machen darf, sondern zu Mündigkeit, Eigenständigkeit und Reife führen muss. Paulus will, dass der Glaube der Epheser zur vollen Reife gelangt“, damit sie nicht länger wie Kinder sind (Eph. 4, 13+14). Das steht aber für Paulus ganz offenkundig gerade nicht im Widerspruch zu einem apostolischen und biblischen Offenbarungs- und Wahrheitsanspruch, der von den Hörern letztlich Glauben und Vertrauen statt Zweifel und Widerspruch erwartet. Sowohl die innerbiblische wie auch die urkirchliche Sichtweise steht somit in einem deutlichen Gegensatz zu einer Sichtweise, nach der die Autorität gründlich untersuchter und sorgfältig ausgelegter biblischer Texte eher vom Empfinden des Lesers abhängt und bleibend bezweifelt werden könnte.

3. Bezieht sich die Inspiration der Bibel primär auf die Rezeption statt auf die Entstehung ihrer Texte?

Die Autorität der biblischen Texte hängt eng mit der Frage nach ihrer Inspiriertheit zusammen. Wer könnte den biblischen Texten mit Vorbehalten oder Zweifeln entgegentreten, wenn die Inspiration der Bibel bedeutet, dass hier letztlich Gott selbst spricht?

Thorsten Dietz stellt dazu einerseits klar: Für die frühe Kirche waren die kanonischen Texte auch inspirierte Texte: „Bibel unterscheidet sich von nicht in Bibel wie Inspiration von nicht Inspiration.“ (59:10) Jedoch meint er zugleich, dass der Begriff „Inspiration“ damals nur als „ein weiterer Terminus“ (59:55) für die Gültigkeit eines Textes verwendet worden sei (er habe damals z.B. auch für die Übersetzung der Septuaginta gegolten). Die Inspiriertheit eines Textes habe man ja auch nicht „messen“ können. Zugleich wendet er sich mit scharfen Worten gegen ein aus seiner Sicht völlig falsches Inspirationsverständnis (ab 1:18.05): Ein falsches Verständnis von Inspiration ist die Inspiriertheit als feststehende Tatsache einer bestimmten Gruppe von Schriften, wo man sagt: Die sind von Gott inspiriert. Das heißt, die sind absolut wahr. Das heißt, du musst das alles glauben. Das heißt, du darfst nicht nachdenken dabei großartig. Du darfst das nicht verstehen wollen, Du lieber Himmel! Darfst auch eigentlich nicht Zweifel haben.Ein solches Verständnis von Inspiriertheit ist durchtränkt von einem autoritären Geist, der menschenfeindlich und freiheitszerstörend sein kann und ist so dem Geist Gottes, wie ihn die Bibel uns vor Augen malt, schlicht nicht gemäß.“

Aber hätten nicht auch Jesus und Paulus einem Inspirationsverständnis zugestimmt, das beinhaltet, dass die Schriften „absolut wahr“ sind und dass wir das „alles glauben“ sollen? Schließlich sagt Thorsten Dietz selbst: „Paulus ist klar: Die Texte des Alten Testaments, die Heilige Schrift, klar, das ist von Gott, das sind Gottes Worte. Das ist Gottes Reden. Das ist aus dem Geist Gottes.“ (ab 01:20:29) So ist es. Und ganz eindeutig galt für die Autoren des Neuen Testaments: Wenn Gott spricht, dann ist es wahr. Und auf Gottes Worte kann nur Glaube und Gehorsam die angemessene Reaktion sein.

Zudem stellt sich die Frage: Warum sollte ein solches Grundvertrauen denn bedeuten, dass man über den Text nicht richtig nachdenken, ihn nicht verstehen wollen und keine Zweifel haben darf? Ist nicht vielmehr genau das Gegenteil wahr? Gerade, wenn man die Bibel für absolut wahr hält, muss doch der Wunsch besonders groß sein, intensiv über den Text nachzudenken und immer wieder daran zu zweifeln, ob man ihn bisher auch richtig verstanden hat. Warum also verknüpft Dietz hier das in weiten Teilen der Kirchengeschichte ganz selbstverständliche Vertrauen auf die völlige Wahrheit und Glaub-Würdigkeit der inspirierten Schrift mit einer plumpen Denkfeindlichkeit?

Thorsten Dietz fährt fort mit den Worten: „Ein solches Verständnis von Inspiriertheit beschreiben die biblischen Texte schlicht auch gar nicht. Es gibt ja letztlich nur diesen einen Vers, wo es von der Schrift heißt, sie sei theopneustos, gottdurchgeistet, gottbegeistet [gemeint ist 2. Tim. 3,16]. Gemeint ist hier völlig eindeutig die Septuaginta, ist das Alte Testament, von der wird es gesagt, wie es im hellenistischen Judentum üblich war. Das ist an dieser einen Stelle so, ansonsten heißt es von den Propheten: Sie haben getrieben vom Heiligen Geist geredet, was auch von David…, also da gibt’s mehr Stellen, das ist völlig klar. Inspiriertheit der Texte, aber letztlich dieser eine einzige Vers, aus dem in manchen Teilen des Christentums ein völlig maßloser Bibelglaube konzipiert worden ist, der als solcher gar nicht biblisch ist.“ (ab 1:19:15)

Hier stellt sich die Frage, auf welches Inspirationsverständnis Dietz mit dieser Kritik denn eigentlich zielt? Ist es denn wirklich ein „völlig maßloser“ und nur auf einem einzigen Vers basierender Bibelglaube, wenn man von der völligen Wahrheit und Glaubwürdigkeit der biblischen Texte ausgeht? Thorsten Dietz macht hier selbst klar, dass es ja noch zahllose weitere Bibelstellen gibt, die deutlich machen, dass Jesus und die Autoren des NT (genau wie die Kirchenväter) ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass in den biblischen Texten Gott bzw. der Heilige Geist selbst redet. Schließlich haben sie die Wendung „die Schrift sagt“ und „Gott sagt“ letztlich als austauschbare Autoritätsformel benutzt. Es gibt zudem keinerlei Hinweise, dass Jesus, die Apostel oder die Kirchenväter von einem Kanon im Kanon ausgegangen wären oder dass sie auf eine sonstige Weise zwischen Gottes- und Menschenwort in den biblischen Texten unterschieden hätten. Insofern steht 2. Timotheus 3,16 im Neuen Testament keineswegs alleine da, sondern fügt sich vielmehr nahtlos ein in ein biblisch breit bezeugtes Bibel- und Inspirationsverständnis. Was wäre also „maßlos“ daran, als Nachfolger Jesu und als Schüler der Apostel von der völligen Wahrheit und Glaub-Würdigkeit dieser Texte auszugehen? Und was wäre „maßlos“ daran, Menschen dabei helfen zu wollen, diesen Worten wirklich zu vertrauen, statt beim Zweifel stehen zu bleiben?

Nach seiner Zurückweisung einer aus seiner Sicht falschen Inspirationslehre spricht Thorsten Dietz über sein eigenes Verständnis von Inspiration. Dabei bezieht er die Inspiration der biblischen Texte weniger auf ihre Entstehung, sondern vielmehr auf ihre Rezeption (ab 1:22:15): „Inspiration ist insofern keine Inspiriertheit, keine mechanische Theorie, so und so sind diese Schriften entstanden. Inspiration ist ein Mitteilungs- und Erkenntnisraum, ein Mitteilungs- und Erkenntniszusammenhang, in dem gehört, gelesen, verstanden, bezeugt und gelebt wird. Dieses Verständnis von Inspiration ist sehr wesentlich, sehr wertvoll, wird oft erstickt durch ein Inspiriertheitsdogma, was in dieser Form gar nicht biblisch ist.“

Richtig ist: Natürlich ist Inspiration keine „mechanische Theorie“. Christen glauben nicht, dass die biblischen Autoren beim Schreiben zu roboterhaften Marionetten wurden. Sie haben ganz offenkundig ihren persönlichen Stil und ihre Perspektive eingebracht. Die Bibel ist somit auch ganz Menschenwort. Die Art und Weise, wie der Heilige Geist dafür gesorgt hat, dass die Worte der Apostel und Propheten trotzdem zugleich auch zu Gottesworten wurden, bleibt wohl ein Geheimnis. Das ändert nichts daran, dass gemäß dem biblischen Selbstzeugnis der Heilige Geist gleichermaßen für das Verständnis UND für die Entstehung der biblischen Texte eine entscheidende Rolle spielt. Eine Verengung des Geisteswirkens auf die Rezeption der biblischen Texte[13] würde sowohl dem innerbiblischen wie auch dem historischen und dem reformatorischen Bibelverständnis vollständig entgegenstehen.

4. Ist die Bibel fehlerhaft?

Wenn die ganze Bibel in ihrer Entstehung von Gottes Geist inspiriert ist, dann müsste sie natürlich auch eine Einheit bilden und als unfehlbar angesehen werden. Gott macht schließlich keine Fehler. Und er widerspricht sich nicht selbst. An dieser Sichtweise der Unfehlbarkeit der Schrift arbeitet sich Thorsten Dietz jedoch immer wieder ab. Von einer unfehlbaren Bibel auszugehen, hält er für „irreführend (15:15 / 16:40). Wer die Unfehlbarkeit der Schrift für wichtig hält, der spiele die Bibel gegen Christus aus (1:05:30)[14]. Die Annahme, dass man eine unfehlbare Bibel brauche, um von ihr zu Jesus geführt zu werden, sei auch „nicht das, was die frühen Christen gemacht haben.“ (1:05:50) Diese hätten ja vielmehr Christus als „Maßstab und Prinzip der Bibel“ gesehen. Auch Paulus habe die Schriften immer von Jesus her und auf ihn hin ausgelegt. Die Annahme der Unfehlbarkeit der Schrift sei hingegen der Versuch, „Jesus in den Griff zu kriegen.“ (1:06:28)

Damit baut Thorsten Dietz aber einen Scheinwiderspruch auf. Jesus als Mitte und Auslegungs­richtschnur der Bibel steht ja in keinem Widerspruch zu der Annahme, dass die Bibel über eine unfehlbare Autorität verfügt. Im Gegenteil: Ohne die verlässlichen kanonischen Aufzeichnungen über Jesus hätten wir ja gar keine Möglichkeit, die Schrift von Jesus her auszulegen.

Der Vorwurf, man wolle mit der Unfehlbarkeit der Schrift Jesus „in den Griff bekommen“, ist dementsprechend ein Strohmann. Auch die meisten konservativen Theologen sind sich natürlich bewusst, dass man in Bezug auf Jesus, seine Lehre, das Ausmaß seiner Liebe und die Größe seines Erlösungswerks niemals auslernt. Auch mit einer unfehlbaren Bibel bekommen wir Jesus natürlich nicht „in den Griff“. Jesus ist Wahrheit in Person. Als Christen hoffen wir darauf, dass diese Wahrheit uns immer mehr in den Griff bekommt, nicht umgekehrt. Aber gerade dafür ist es doch von entscheidender Bedeutung, dass sein in der Bibel dokumentiertes Handeln und Reden unsere Fehler kritisieren und korrigieren darf, statt dass wir umgekehrt der Bibel Fehler unterstellen.

Nun ist die Frage nach der Unfehlbarkeit der Bibel natürlich komplex. Sie erfordert eine differenzierte Antwort, weil genau definiert werden muss, in welcher Hinsicht die biblischen Texte denn fehlerlos sein können.[15] Fakt ist jedoch: Auch wenn die Bibel Begriffe wie „Irrtumslosigkeit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Unfehlbarkeit“ selbst nicht gebraucht, so spricht sie doch in Bezug auf ihre heiligen Schriften erst recht nie von Fehlern oder dergleichen. Auf Basis einer sauberen Definition lässt sich sehr wohl ein biblischer Selbstanspruch auf Unfehlbarkeit nachweisen. So wird den Schriften des Alten Testaments im Neuen Testament durchgängig eine uneingeschränkte Autorität beigemessen. Für die Autoren des Neuen Testaments galt das Prinzip: Wenn die Schrift etwas sagt, spricht Gott! In den Schriften reden Menschen getrieben vom Heiligen Geist (2.Petr.1,20+21, Mark.12,36). Paulus sah aber auch seine eigene Botschaft als von Gott offenbart und als Gottes Wort an (Galater 1,11-12; 1. Thessalonischer 2, 13). An zwei Stellen werden biblische Texte sogar unter ein gerichtsbelegtes Veränderungsverbot gestellt, dabei stellt Petrus die Briefe des Paulus den „Schriften“ gleich (2. Petrus 3, 15-16, Offenbarung 22, 18-19).[16] Es ist also durchaus gerechtfertigt, die Irrtumslosigkeit des Neuen Testaments auch als ein Konzept des Neuen Testaments zu bezeichnen.[17]

Fazit: Eine fehlerhafte Bibel verliert ihre Orientierung gebende Kraft

Der Vortrag hinterlässt ein gemischtes Bild. Es gibt gute Passagen, die neben interessanten Informationen auch zurecht missbräuchliche Fehlhaltungen ansprechen, die es unter Christen leider tatsächlich gibt. Problematisch ist dabei jedoch oft die unsaubere Definition, welches Spektrum an Positionen von der Kritik denn eigentlich ins Visier genommen werden. So kann leider der Eindruck entstehen, dass der Glaube an eine Fehlerlosigkeit und völlige Vertrauenswürdigkeit der Bibel per se autoritär, denk- und vernunftfeindlich sein könne.

Welches Bibel- und Inspirationsverständnis Thorsten Dietz selbst im Einzelnen vertritt, wird oft nicht abschließend klar. Hält Thorsten Dietz daran fest, dass die Bibel eine Offenbarung des dreieinen Gottes ist (und nicht nur bezeugt) und damit auch als verbindlicher Maßstab („Norma normans“) des Glaubens angesehen werden muss, wie es z.B. die deutsche evangelische Allianz in ihrer Glaubensbasis bekennt?[18] Einige Passagen in diesem Vortrag können den Eindruck erwecken, dass Dietz ein solches Bekenntnis nicht nur in seinen extremen Ausformungen verwirft, sondern grundsätzlich in Frage stellt.

Ganz eindeutig ist hingegen: Thorsten Dietz wendet sich gegen den Gedanken an eine Unfehlbarkeit im Sinne einer Fehlerlosigkeit der Bibel.[19] Und in der Praxis zeigt sich oft: Wo entgegen dem biblischen Vorbild die Rede von Fehlern in der Bibel ermöglicht wird, da öffnet sich die Tür zu einem sachkritischen Umgang mit der Bibel, in dem irgendwann auch durchgängige, klare und zentrale Aussagen des christlichen Glaubens bezweifelt und kritisiert werden können. So fällt bei Thorsten Dietz auf: Er kann sich trotz der durchgängigen biblischen Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualpraxis rückhaltlos hinter die Position Martin Grabes stellen, dass gleichgeschlechtliche Paare getraut werden sollen.[20] In Folge 10 seines viel beachteten Podcasts „Das Wort und das Fleisch“ über „Die neuen Evangelikalen“ stellt er einzig die Postevangelikale Rachel Held Evans als uneingeschränkt vorbildlich dar.[21] In einem Worthaus-Vortrag distanziert er sich deutlich erkennbar vom stellvertretenden Sühneopfer.[22] Und er kann zu einem Buch mit einem äußerst liberalen Bibelverständnis[23] ein uneingeschränkt begeistertes Vorwort schreiben.[24] Diese Beispiele verdeutlichen: Auch ein konservativ klingendes Bibelverständnis, das von der Autorität und Inspiration der Bibel redet, kann in der Praxis zu fundamental anderen exegetischen Ergebnissen führen, wenn es die Kritisierbarkeit der als fehlerhaft angesehenen biblischen Texte ermöglicht.[25]

Die Bibelfrage stand nicht umsonst im Zentrum der Reformation. Sie steht erkennbar auch heute im Zentrum der wachsenden Spannungen unter Christen. Gerade um der Einheit willen ist es deshalb so wichtig, dass verantwortliche christliche Leiter das Thema Bibelverständnis nicht zur Randfrage erklären, sondern sich im Gegenteil intensiv damit auseinandersetzen, welches Bibelverständnis in ihrem Umfeld vertreten wird und welche praktischen exegetischen Konsequenzen es hat.


[1] Thorsten Dietz: Entstehung und Autorität des neutestamentlichen Kanons | 9.11.2, Worthaus Pop-Up 2019 – Heidelberg: 30.12.2019, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/entstehung-und-autoritaet-des-neutestamentlichen-kanons-9-11-2/

[2] So schreibt Polykarp: „Ich vertraue zu euch, dass ihr in den heiligen Schriften wohl bewandert seid; … Nur das sage ich, wie es in diesen Schriften heißt: „Zürnet, aber sündiget nicht“, und: „Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne.“ (Polykarp 12,1) Dabei bezieht sich das erste Schriftzitat auf Psalm 4,5, das zweite Schriftzitat auf Epheser 4,26.

[3] In seinem Brief an die Trallianer schreibt Ignatius: Nicht soweit glaubte ich (gehen zu dürfen), dass ich, ein Verurteilter, wie ein Apostel euch befehle.“ (3,3b)

[4] „Denn weder ich noch sonst einer meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus gleichkommen, der persönlich unter euch weilte und die damaligen Leute genau und untrüglich unterrichtete im Worte der Wahrheit, der auch aus der Ferne euch Briefe schrieb, durch die ihr, wenn ihr euch genau darin umsehet, erbaut werden könnt in dem euch geschenkten Glauben.“ (Polykarp 3,2)

[5] Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd. 1: Das Neue Testament vor Origenes, Teil 1, Erlangen 1888, S. 805.

[6] Bemerkenswert ist dazu z.B. ein gemischtes Bibelzitat im 1. Clemensbrief (ca. 98 n.Chr.), das eingeleitet wird mit der Formel „…was geschrieben steht; es sagt nämlich der Heilige Geist: …“. Das Zitat enthält eine Kombination von Worten aus Jeremia 9, 23+24 und der typischen Paulusformulierung „Wer sich rühmt, rühme sich im Herrn“ (1.Kor.1,31; 2.Kor.10,17). Offenbar sah also schon Clemens (etwa in den Jahren 91-101 Bischof in Rom) die Paulusbriefe als inspirierte „Schrift“ an.

[7] Thorsten Dietz erwähnt in diesem Zusammenhang die Bemerkung in 2. Petrus 3, 16, dass in den Paulusbriefen einiges schwer zu verstehen ist, „was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.“ Dietz kommentiert: „Der eigentliche Punkt ist ja hier: Die werden verdreht, genauso wie andere Schriften. Das ist schon eine sehr auf Wohlwollen setzende Exegese zu sagen: Da sieht man ja, dass hier die Paulusbriefe längst auf der Ebene der Tora gehandhabt werden.“ (23:30) M.E. entkräftet Dietz damit jedoch die von Petrus intendierte Gleichsetzung der Paulusbriefe mit der Tora nicht. Insbesondere durch die Bemerkung „zu ihrem eigenen Verderben“ stellt Petrus ja klar, dass das Verdrehen der Paulusbriefe genauso Gottes Gericht zur Folge hat wie das Verdrehen der Tora.

[8] In 1. Timotheus 5, 18 zitiert Paulus nach der Autoritätsformel „Die Schrift sagt“ zunächst aus 5. Mose 25,4 und dann ein Jesuswort aus Lukas 10,7. Thorsten Dietz sagt also zurecht: „Offensichtlich ist das für Paulus so: Tora und Jesus, das sind autoritative Setzungen Gottes, Jesu, die einfach gelten.“ (20:10)

[9] Siehe dazu Clemens Hägele: „Mit Christus gegen die Apostel? Beobachtungen zur Deutung zweier Lutherworte“. Erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 10 /2016

[10] So schrieb Luther in seiner „Assertio“: „Wieviele Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden! Wie oft widersprechen sie sich selbst! Wie oft sind sie untereinander verschiedener Meinung! … Keiner hat der Heiligen Schrift Vergleichbares erreicht … Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche … [Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“ Aus: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung (wie Anm. 83), S. 26 f.

[11] Siehe dazu Christian Haslebacher 2021 in: https://danieloption.ch/featured/plaedoyer-fuer-das-apostolische-glaubensbekenntnis-den-zeitlosen-klassiker/

[12] Was leider noch lange nicht heißt, dass die evangelische Kirche heute keine „Knüppel“ gegen ihr nicht genehme Lehre mehr auspacken würde. Wenn es zum Beispiel um die Lehre geht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht gesegnet oder getraut werden können oder dass die Bibel nur zwei biologische Geschlechter kennt, dann zeigt sich leider immer wieder, dass die zur Schau getragene Toleranz rasch enden kann. So schreibt Martin Grabe: „In vielen evangelischen Landeskirchen ist die vollständige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit heterosexuellen inzwischen vollzogen. Pfarrer, die aufgrund ihres Gewissens immer noch nicht mitziehen, werden sanktioniert.“ (In: „Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama“, Francke 2020, S. 17)

[13] Ein solches Inspirationsverständnis würde sich jedoch gut decken mit einem Bibelverständnis, wie es beispielsweise der Theologe Udo Schnelle formuliert: „Natürlich ist die Bibel das Wort Gottes. Sie ist es aber nicht an sich, sondern immer dann, wenn sie für Menschen zum Wort Gottes wird. In dem Moment, wo es Menschen erreicht und zum Glauben an Jesus Christus führt, wird die Bibel zum Wort Gottes.“ Karsten Huhn im Gespräch mit Armin Baum und Udo Schnelle: Wie entstand das Neue Testament, in: idea Spektrum 23/2018, S. 19

[14] „Das sagen manchmal auch sehr konservative Christen. Die sagen: Man darf nicht Jesus gegen die Bibel ausspielen. Es gibt konservative Christen, die das so sagen, es aber machen. Weil sie sagen: … Jesus ist natürlich der wichtigste Inhalt der Bibel. Ist ja klar. Aber man muss die Bibel anerkennen. Und nur wer die Bibel als unfehlbar anerkennt, der hat überhaupt eine Basis, auch zum biblischen Christus zu kommen. Naja, für mich ist das leider auch eine Weise, Jesus gegen die Bibel auszuspielen, nur umgekehrt. Denn so wird die Bibel ja letztlich Jesus übergeordnet in einer Weise, dass man sagt: Du musst zunächst einmal ein bestimmtes Bibelverständnis anerkennen, du musst die Bibel als unfehlbar und irrtumslos und absolut anerkennen, dann wirst du von ihr auch zu Jesus geführt.“ (ab 1:04:40)

[15] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ AiGG-Blog 2018 blog.aigg.de/?p=4212

[16] Siehe dazu Markus Till: „Das biblische Bibelverständnis“, AiGG-Blog 2021 blog.aigg.de/?p=5853

[17] Empfohlen sei dazu z.B. Armin D. Baum: „Is new testament inerrancy a new testament concept? A traditional and therefore open minded answer“ In: JETS 57/2 (2014) 265-80; online unter: www.etsjets.org/files/JETS-PDFs/57/57-2/JETS_57-2_265-80_Baum.pdf

[18] „Die Bibel, bestehend aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments, ist Offenbarung des dreieinen Gottes. Sie ist von Gottes Geist eingegeben, zuverlässig und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

[19] Das erinnert an die jüngst veröffentlichte Erklärung zum Schriftverständnis der evangelischen Hochschule Tabor, in der Adolf Schlatter zitiert wird mit den Worten: „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, dass er vor uns den Beweis führt, dass er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, dass er Menschen so mit sich verbindet, dass sie als Menschen sein Wort sagen […] Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, dass sie uns zu Gott beruft.“ In: „Die Bibel verstehen – der Schrift vertrauen – mit Christus leben“, Erklärung zum Schriftverständnis der ev. Hochschule Tabor vom 09.08.2021, https://www.eh-tabor.de/sites/default/files/die_bibel_verstehen_-_der_schrift_vertrauen_-_mit_christus_leben.pdf

[20] Am 16.07.20 würdigte Thorsten Dietz auf Facebook gemeinsam mit Michael Diener das Buch „Homosexualität und christlicher Glaube – ein Beziehungsdrama“ von Martin Grabe mit den Worten: „Das Buch von Martin Grabe, dem Vorsitzenden der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, ist eine sehr persönliche und erfahrungsgesättigte Darstellung dessen, was schwule und lesbische Gläubige in evangelikalen Kreisen erlebt und erlitten haben. Und er beschreibt den langen Weg, den es gebraucht hat, dass er am Ende selbst sagen kann. “Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen. (S. 76)”

[21] Das Bild der (leider inzwischen verstorbenen) US-Amerikanerin Rachel Held Evans ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge (wort-und-fleisch.de/die-neuen-evangelikalen/). Eine ausführliche Darstellung ihrer theologischen Positionen und ihres Bibelverständnisses liefern die Artikel „Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?“ (blog.aigg.de/?p=5447) sowie „Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?“ (blog.aigg.de/?p=5460) von Markus bzw. Martin Till im AiGG-Blog.

[22] Siehe dazu der Artikel „Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung“ in GuDh 1/2020, in dem auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ besprochen wird.

[23] Sein Bibelverständnis erläutert der FeG-Pastor Sebastian Rink in seinem Buch „Wenn Gott reklamiert“ (Neukirchener, 2021) wie folgt: „Warum entstehen überhaupt Bibeltexte? Ich stelle mir das so vor: Menschen machen Erfahrungen. … Irgendwann beginnen sie, über all das nachzudenken. … Sie suchen nach einer Sprache, die den Geheimnissen der Welt und des Lebens angemessen ist. Und sie (er-)finden Worte dafür. Das größte unter ihnen heißt „Gott“. … Irgendwann denken und erzählen sie nicht mehr nur, sondern schreiben. … Sie halten fest, wie sie Gott erfahren. Menschen notieren, wie sie sich die geheimnisvolle Wirklichkeit des Göttlichen vorstellen. Sie schreiben, diskutieren, korrigieren. Sie machen neue Erfahrungen und alte Ideen verändern sich. Und sie schreiben weiter. Und schreiben anders. Und schreiben neu. Sie bewahren nicht alles auf, denn nicht alle Ideen passen in jedes Leben. Deshalb entwickelt jede Gemeinschaft eigene Vorstellungen. So bilden sich nach und nach Sammlungen der wichtigsten Texte. Das Beste setzt sich durch. Dokumente, an denen Menschen sich gemeinsam orientieren und die ihnen zum Maßstab (griechisch: Kanon) werden für ihren Umgang mit dem Geheimnis Gottes. So stelle ich mir das vor und biete an, einmal auf diese Weise an die Texte heranzugehen. Nicht in tiefster Ehrfurcht vor ihrer vermeintlichen Heiligkeit, sondern höchst ergriffen von ihrer schamlosen Menschlichkeit.“ (S. 25-26)

[24] Das Vorwort von Thorsten Dietz zum Buch „Wenn Gott reklamiert“ kann nachgelesen werden in der online verfügbaren Leseprobe unter www.scm-shop.de/media/import/mediafiles/PDF/156757000_Leseprobe.pdf

[25] Siehe dazu Markus Till: „Zwei Bibelverständnisse im Kampf um die Herzen der Evangelikalen“, AiGG Blog 2021, blog.aigg.de/?p=5749

Mehr Toleranz oder mehr Konsens? Was dient der Einheit?

Wie gehen wir mit den wachsenden Spannungen unter Christen um? Welche Rolle spielt die Internetmediathek Worthaus dabei? Brauchen wir mehr Konsens oder mehr Toleranz, um den Riss zu überbrücken? Wie können wir zu tragfähiger Einheit in Vielfalt finden? Mit diesen Fragen habe ich mich in meinem Vortrag bei der Leiterkonsultation des Netzwerks Bibel und Bekenntnis am 14. November 2020 befasst. Er ist jetzt auf YouTube verfügbar. Das Vortragsskript mit allen Quellenangaben dokumentiert dieser Artikel.

In vielen Äußerungen von christlichen Leitern nehme ich immer stärker eine zentrale Grundfrage wahr: Wie können wir beieinander bleiben? Ganz offenkundig wird quer durch alle Werke und Gemeinschaften eines immer spürbarer: Wir werden unterschiedlicher. Wir driften auseinander. In einer kleinen Umfrage vor dieser Leiterkonsultation hat uns Andreas Späth von der KSBB Bayern geschrieben: „Leider geht der Riss quer durch Gemeinden.“ Und spürbar ist dabei: Die Differenzen betreffen nicht nur Fragen der Prägung oder des Musikgeschmacks. Sie betreffen gerade auch theologische Themen. Dr. Jens-Peter Horst von der landeskirchlichen Gemeinschaft Eschwege hat uns geschrieben: „Ich sehe hier eher keinen grundsätzlichen Unterschied zu der bestehenden Kontroverse mit der liberalen Theologie in der Kirche bzw. insgesamt. Die Kontroverse hat nun nur … auch innerhalb der evangelikalen Bewegung Fuß gefasst.“ Das heißt also: Die theologischen Konflikte, die wir beobachten, sind inhaltlich gar nichts Neues. Aber sie treten jetzt eben auch mitten in unserem evangelikalen Umfeld auf. Kein Wunder, dass sich dann immer dringender die Frage stellt: Wie kann heute noch Einheit in Vielfalt gelingen, wie es z.B. so lange Zeit in der evangelischen Allianz oder bei Evangelisationen wie Pro Christ gelungen ist?

Wenn ein Konsens verloren geht, dann kann man prinzipiell auf 2 verschiedene Weisen reagieren:

Reaktionsmöglichkeit 1: Wir müssen den Konsens in den Kernfragen verteidigen und – wo er verloren gegangen ist – wieder neu gewinnen.

Reaktionsmöglichkeit 2: Wir müssen den Konsens bewusst loslassen und uns stattdessen üben in gelebter Toleranz. Oft ist da die Rede von sogenannter „Ambiguitätstoleranz“.

Wer die Reaktionsmöglichkeit 1 für richtig hält, der sieht die Einheit dort bedroht, wo Menschen den Konsens in Frage stellen. Für den gelten die als Brückenbauer, denen es gelingt, in zentralen Fragen einen Konsens unter Christen herzustellen.

Wer hingegen die Reaktionsmöglichkeit 2 für richtig hält, für den sind die Feinde der Einheit die, die unbedingt am Konsens festhalten wollen. Brückenbauer sind hingegen solche Leute, die zwar einen Standpunkt haben, die aber anderslautende Standpunkte als genauso richtig anerkennen und somit eher nur subjektive statt objektive Wahrheiten vertreten.

Meine Wahrnehmung ist: Immer mehr Leiter von christlichen Werken, Gemeinschaften und Gemeinden neigen dazu, dass Einheit in Vielfalt nicht über Konsens sondern über Toleranz funktionieren müsse. Da wird dann zum Beispiel gesagt: Die verbindende Mitte des Christentums sei keine Lehre sondern die Person Jesus Christus. Deshalb sollten wir Enge und Rechthaberei überwinden, uns gegenseitig unseren Glauben glauben und Raum geben für unterschiedliche Sichtweisen und Erkenntnisse. Das klingt weitherzig und versöhnlich. Aber die Frage ist: Funktioniert das auch? Gewinnen wir so tatsächlich Einheit in Vielfalt? Aus zwei Gründen bin ich skeptisch:

Zum einen haben gerade die letzten Wochen wieder gezeigt: Wo in der Kirche Jesu nicht mehr um theologische Fragen gestritten wird, da schlagen die Wellen stattdessen hoch bei anderen Fragen: Wie stehst Du zu Trump? Wie stehst Du zum Klimawandel? Wie stehst Du zur Flüchtlingsrettung im Mittelmeer? Wo die theologischen Kernfragen nicht mehr polarisieren, da nimmt die Kirche umso mehr teil an der gesellschaftlichen Polarisierung in tagesaktuellen Fragen. Wo in Bekenntnisfragen Grenzen eingerissen werden, da werden neue politische und moralistische Trennmauern aufgerichtet.

Und meine zweite Beobachtung ist: Einheit auf Basis einer Christusmitte funktioniert nicht, wenn der Begriff „Christus“ nur noch eine Hülse ist, die jeder subjektiv ganz unterschiedlich füllen kann. Denn die Frage ist ja: Wer und wie ist denn dieser Christus, der uns verbinden soll? Was hat er getan? Was hat er gelehrt? Worin liegt sein Erlösungswerk? Wir haben nur eine einzige Informationsquelle zu solchen Fragen: Die Bibel. Wenn aber die Bibel kein verbindlicher Maßstab mehr ist, dann wird es letztlich auch bei diesen allerzentralsten Fragen des Glaubens unmöglich, gemeinsame Antworten geben zu können. Dann haben wir schlicht keine gemeinsame Botschaft mehr.

An dieser Stelle höre ich oft: Aber so schlimm ist es doch gar nicht! Natürlich haben wir gerade in unseren evangelikal geprägten Kreisen noch sehr viel Gemeinsames über Jesus Christus und über das Evangelium zu sagen. Auch ich habe lange Zeit so gedacht. Aber ich muss sagen: Diese Sichtweise hat sich bei mir in den letzten drei Jahren sehr geändert. Und diese Veränderung begann, als ich angefangen habe, mich intensiv mit Worthaus auseinanderzusetzen.

Die Worthaus-Mediathek

Die Worthaus-Mediathek umfasst aktuell mehr als 150 Vorträge von 27 ganz verschiedenen Referenten. Bei der letzten kleineren Worthaustagung war zum Beispiel Dr. Eugen Drewermann der Hauptredner. Bei einer solchen Vielfalt ist natürlich auch die Theologie, die dort vermittelt wird, ziemlich bunt. Allerdings gibt es bei Worthaus 2 prägende Personen, die schon rein zahlenmäßig die allermeisten Worthaus-Vorträge halten und deswegen natürlich auch die Theologie von Worthaus prägen: Das ist zum einen der emeritierte Theologieprofessor Siegfried Zimmer und zum anderen der Dozent der evangelischen Hochschule Tabor Prof. Thorsten Dietz. Gerade auch bei der letzten großen Worthaus-Tagung („Worthaus 9“) haben sich Prof. Zimmer und Prof. Dietz mit den allerzentralsten Fragen des Christentums beschäftigt: Wer war und wer ist Jesus Christus? Was bedeutet sein Tod am Kreuz? Ist Jesus wirklich leiblich auferstanden? Ich habe dieses Jahr eine ausführliche Analyse aller Vorträge dieser Worthaus-Tagung vorgelegt[1]. Lassen Sie mich aus dieser Analyse kurz einige Schlaglichter herausgreifen, zunächst zu einer absoluten Knackpunktfrage der Theologie:

War Jesus von Nazareth nicht nur wahrer Mensch sondern auch wahrer Gott?

Bei Worthaus 9 sagte Siegfried Zimmer zu diesem Thema folgendes:[2]

„Gehört bitte nicht zu den Christen, die gleich den Flatterich kriegen, wenn ich sage: Jesus war vielleicht selber der Überzeugung, dass er selber gar nicht der Menschensohn ist, dass das ein späterer christlicher Eintrag war … Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. … Er ist schon ein normaler Mensch, bitte! … In einem Mitarbeiterheft für tausende von Sonntagsschulmitarbeitern hat eine Frau einen Artikel über Jesus geschrieben … : „Jesus war der Gottessohn und der Retter der Welt. Er kam, um zu sterben und er hat viele Wunder getan und konnte übers Wasser laufen.“ Das schreibt eine Frau für tausende von Mitarbeitern in der Sonntagsschule. Da muss ich fast kotzen. Ich kann’s nicht anders sagen. … Ich habe dann dem Vorstand von diesem Verlag geschrieben: Sie könnten doch mit gleicher Buchstabenzahl … sagen: „Jesus war aufmerksam für die Armen, er schätzte die Frauen höher als es damals üblich war und er liebte die Kinder. Das ist doch Millionen mal mehr als dieses Titelgeklapper.“

Ich bekomme keinen „Flatterich“ bei diesen Aussagen. Aber ich stelle einfach nüchtern und sachlich fest, dass sich meine Theologie hier an zentralster Stelle fundamental von der Theologie Siegfried Zimmers unterscheidet. Denn bei der Aussage, dass Jesus der Gottessohn und Retter der Welt war, der gekommen ist, um für uns zu sterben, da steigt in mir nun einmal kein Würgreiz auf sondern ein lautes „Ja, so ist es!“. Was mich aber wirklich verstört ist der Umstand, dass Zimmer diesen Text tatsächlich ersetzen möchte durch eine Beschreibung, die genauso auf Mutter Theresa oder Mahatma Gandhi zutreffen könnte

Was bedeutet nun der Tod Jesu am Kreuz?

Dazu sagt Siegfried Zimmer[3]:

„Im Englischen unterscheidet man zwischen „victim“ … und „sacrifice“. „Victim“ ist ein Opfer VON etwas: Verkehrsopfer, Kriminalitätsopfer. Und „sacrifice“ ist ein Opfer FÜR etwas. Wir müssen Jesu Tod erst mal als „victim“ würdigen. Jesus ist erst mal ein Opfer der römischen Militärbehörde geworden und er ist gefoltert worden. Wenn wir sofort mit „sacrifice“ arbeiten, dann haben wir ein Modell, da muss Jesus halt ans Kreuz. … So hat man in den Jahrhunderten des Abendlands das Christusverständnis und das Gottesverständnis hineingezwängt in eine Straflogik, als ob Gott die Strafe nötig hätte. … Aus diesem Modell, ihr Lieben, müssen wir, dürfen wir – jubilate – ganz aussteigen. Dieses Modell verdirbt das Evangelium und den liebenden Gott im Kern.“

Zimmer lehnt die biblische Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer also in einer grundlegenden Weise ab. Auch Thorsten Dietz äußert sich bei Worthaus 9 zu diesem Thema. Und zu der Frage, was denn die Botschaft des Kreuzes ist, sagt er[4]:

„Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! … Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein großes „Für Dich“! Ein großes „Ja“!“

Natürlich geht es beim Kreuzestod um eine Liebesbotschaft. Aber ich bin überzeugt: Es geht im Kern eben auch um Sündenvergebung und um die Tatsache, dass Jesus stellvertretend sein Blut vergossen hat, damit meine Schuld bezahlt und mein Schuldsein getilgt wird.

Wie wird die Frage nach der leiblichen Auferstehung bei Worthaus gesehen?

Sowohl Siegfried Zimmer wie auch Thorsten Dietz betonen immer wieder, dass sie an die leibliche Auferstehung Jesu glauben. Allerdings betont Thorsten Dietz in seinem Vortrag über dieses Thema auch[5]:

„Hier ist nichts, kein Paragraph, keine These, kein Abschnitt, nichts, wo Du sagen kannst: Hier rechts unten bitte unterschreiben. Dann hältst Du das feste für wahr und das ist dann Deine Lebensversicherung für die Unendlichkeit.“

Also gibt es für ihn auch in der Osterbotschaft nichts, was letztlich für alle Christen eine selbstverständliche gemeinsame Glaubensgrundlage darstellt. Auch die Frage nach dem Charakter der Auferstehung darf man also gerne unterschiedlich sehen.

Dazu passt, was Thorsten Dietz in Worthaus 9 ganz grundsätzlich über sein Bibelverständnis sagt[6]:

Es ist doch unendlich viel besser zu akzeptieren, dass solche Verstehensweisen biblischer Texte immer wieder neu und immer wieder anders und immer wieder frisch sich ereignen müssen. Es kann da keinen ewigen und absoluten Schlüssel geben.“

Kann man also gar keine bleibenden, objektiv für alle richtigen theologischen Erkenntnisse aus der Bibel gewinnen? Dazu muss man wissen, dass es quer durch Worthaus hindurch als selbstverständlich gilt, dass der Bibeltext selbst keine Offenbarung darstellt, sondern nur von Gottes Offenbarung in Jesus Christus ZEUGT. Der Bibeltext selbst ist aber fehlerhaft, menschlich und kritisierbar. Wenn in Worthaus von „Bibelkritik“ die Rede ist, dann ist damit nie nur eine unterscheidende Bibelkritik gemeint im Sinne einer genauen Ermittlung der Textgattung und der Textaussage im Rahmen seines geschichtlichen Umfelds. Es geht immer auch um Sachkritik, also an echter inhaltlicher Kritik an der Aussageabsicht der biblischen Texte. Siegfried Zimmer geht davon aus, dass Jesus das Alte Testament kritisiert hat und dass wir deshalb auch heute noch mit Jesus die Bibel kritisieren könnten. Zu den Gesetzestexten in den Mosebüchern äußert er[7]:

„In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“

Siegfried Zimmer bekundet immer wieder, dass für ihn die Bibel natürlich Wort Gottes sei. Diese Äußerung macht für mich jedoch deutlich, dass er damit etwas völlig anderes meint als ich. Denn ich gehe davon aus, dass tatsächlich die ganze Bibel von Gottes Geist inspiriert und „durchhaucht“ ist.

Lassen Sie mich aber auch dazu sagen: Es geht hier überhaupt nicht darum, Prof. Dietz oder Prof. Zimmer persönlich zu kritisieren. Es geht um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Und natürlich sind auch diese wenigen Zitate viel zu kurz, um sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Ich möchte Sie deshalb ermutigen, sich die Zeit zu nehmen, einmal die ganze Analyse der Worthausvorträge durchzulesen und sich auch die wichtigsten Vorträge einmal selbst anzuschauen. Machen Sie sich selbst ein Bild! Ich finde es wichtig, dass wir uns als Leiter damit auseinandersetzen, welche Botschaften in unserer Mitte wirken und Einfluss ausüben.

Denn so viel ist sicher: Diese Botschaften haben tatsächlich großen und wachsenden Einfluss in unserer Mitte. Schon 2018 hatte Siegfried Zimmer berichtet: Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Mir fällt auf, dass Siegfried Zimmer und Thorsten Dietz immer wieder auch evangelikale Leiter schulen dürfen, so zum Beispiel Gemeinschaftsverband Württemberg, den Apis. Thorsten Dietz gehört zum Gnadauer Arbeitskreis Theologie. Er spricht bei evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. beim Gnadauer Upgrade-Kongress oder jüngst bei der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft für missionarische Dienste. Er ist beim ERF zu hören und zu sehen. Und Thorsten Dietz macht natürlich auch Werbung für andere theologisch progressive Formate wie zum Beispiel Hossa Talk mit Gottfried Müller und Jakob Friedrichs. Im neuesten Buch von Jakob Friedrichs ist mir unter anderem dieser Satz aufgefallen [8]:

„Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig.“

Auch hier sehen wir wieder die gleiche Botschaft: Einheit geht nicht mehr über Konsens in den zentralen Glaubensfragen sondern über Toleranz. Alles soll gleichermaßen akzeptabel sein.

Aber gewinnen wir so wirklich Einheit in Vielfalt? Peter Hahne einmal gesagt hat: „Wenn alles gleich gültig ist, ist auch schnell alles gleichgültig.“[9] Und genau das ist doch das Drama meiner evangelischen Kirche: Sie ist weder anziehend. Sie ist aber auch nicht abstoßend. Sie ist für die allermeisten Leute schlicht egal geworden. Deshalb glaube ich: Eines unserer großen Probleme ist die falsche Vorstellung, dass wir Einheit in Vielfalt gewinnen können, indem wir uns vom biblisch begründeten Konsens verabschieden. Die Wahrheit ist: Wo wir uns von Bibel und Bekenntnis verabschieden, da geht nicht nur der Konsens verloren, sondern auch unsere gemeinsame Basis, unsere gemeinsame Botschaft und unsere missionarische Dynamik. Einheit in Vielfalt ist auch heute noch möglich. Aber sie steht und fällt mit der hohen Wertschätzung von Bibel und Bekenntnis.

Ich bin ein großer Anhänger von Einheit in Vielfalt. Ich liebe es, wenn zum Beispiel bei ProChrist ganz unterschiedlich geprägte Christen zusammen kommen, um gemeinsam das Evangelium weiter zu geben. Ich bin sehr dafür, dass wir in Randfragen ganz viel Weite haben. Aber wo große Brücken gebaut werden sollen über zunehmend unterschiedlich geprägte christliche Landschaften, da brauchen wir umso mehr im Zentrum starke, fest gegründete Pfeiler. Da brauchen wir im Kern den Jesus Christus, den die Heilige Schrift uns bezeugt und den die Christen zu allen Zeiten in ihren Bekenntnissen festgehalten haben. Deshalb ist das Engagement für Bibel und Bekenntnis heute mehr denn je aktiver Einsatz für die Einheit und für die missionarische Dynamik der Kirche Jesu.

Lassen Sie mich am Ende noch einmal zwei Impulse aus unserer Umfrage aufgreifen: Pfarrer Bernhard Elser hat uns geschrieben: „Mir scheint die Ermutigung zum öffentlichen Bekenntnis, auch angesichts von Widerstand und Anfechtung, für absolut zentral.“ Und Dr. Joachim Cochlovius hat geschrieben: „Dieser Verführungskraft ist letztlich nur geistlich mit Gebet beizukommen.“ In der Tat: Öffentliches Bekenntnis und Gebet: Beides wird unbedingt notwendig sein, um die zentralen Glaubensschätze, die uns verbinden und auf denen die Kirche Jesu gebaut ist, zu bewahren und ganz neu zu stärken.


[1] Markus Till: „Quo vadis, Worthaus? Quo vadis, evangelikale Bewegung?“ In: “Glauben & Denken heute” Ausgabe 1 /2020, S. 18, online unter https://blog.aigg.de/wp-content/uploads/2020/06/QuoVadis_MarkusTill_GuDh1_2020.pdf

[2] Siegfried Zimmer: „Der Prozess vor Pilatus (Mk 15, 1-15)“, Worthaus 9, Tübingen 10.06.2019, ab Min. 53.12, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-vor-pilatus-mk-15-1-15-9-4-2/

[3] Siegfried Zimmer: „Gibt es einen strafenden Gott?“ Worthaus Pop-Up Wipperfürth, 3.08.2018, ab Min. 1:03:58, online unter: https://worthaus.org/worthausmedien/gibt-es-einen-strafenden-gott-8-6-1/

[4] Thorsten Dietz: „Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?“ Worthaus 9, Tübingen, 10.6.2019, ab Min. 47:15, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-prozess-warum-ist-jesus-gestorben-9-4-3/

[5] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 1:06:24, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[6] Thorsten Dietz: „Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 51:50, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/der-lebendige-die-begegnung-mit-dem-auferstandenen-9-5-1/

[7] Siegfried Zimmer: „Jesus und die blutende Frau (MK 5, 21-43)“ Worthaus 9, Tübingen, 11.6.2019, ab Min. 36.57, online unter https://worthaus.org/worthausmedien/jesus-und-die-blutende-frau-mk-5-25-34-9-5-2/

[8] Jakob Friedrichs: „Ist das Gott oder kann das weg?“ Asslar, 2020, S. 18.

[9] Peter Hahne in: „Schluss mit lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft“ Lahr, 2004

Quo vadis Worthaus? Quo vadis evangelikale Bewegung?

11 Vorträge von Worthaus 9 – zusammengefasst und kommentiert

Dieser Artikel ist zuerst im Online-Magazin “Glauben & Denken heute” Ausgabe 1 /2020 des Martin Bucer Seminars erschienen. Er kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Woran liegt es, dass die Spannungen, Gräben und Risse unter Evangelikalen scheinbar immer größer werden? Leiden wir an schlechter Streitkultur, Enge, Rechthaberei und fehlender „Ambiguitätstoleranz“? Ja, auch das spielt eine Rolle. Aber zugleich bin ich überzeugt: Man kann die wachsenden Spannungen in „Evangelikalien“ nicht verstehen, wenn man nicht die Inhalte und dazu den wachsenden Einfluss von „Worthaus“ und seinen Referenten kennt und versteht.

2018 hatte Siegfried Zimmer berichtet: Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle (!) anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Sein Eindruck sei: „Die Pastorenfortbildung läuft eigentlich über Worthaus.“[1] Seither ist der Einfluss von Worthaus unter Evangelikalen nach meinem Eindruck noch einmal deutlich größer geworden. Die beiden Hauptreferenten, Siegfried Zimmer und Thorsten Dietz, schulen immer wieder evangelikale Leiter (z.B. von ICF, von den Apis, vom Bund evangelischer Gemeinschaften, vom CVJM oder von Gnadau). Thorsten Dietz gehört zum Gnadauer Arbeitskreis Theologie, er spricht bei evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. beim Gnadauer Upgrade-Kongress, ist bei evangelikalen Medien wie z.B. beim ERF zu hören und zu sehen, und er hat natürlich Einfluss auf die freikirchlichen Ausbildungsstätten, z.B. die IHL, die IGW und selbstverständlich auf die evangelische Hochschule Tabor, an der Dietz selbst lehrt und die bis vor kurzem noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten gehörte. Für die kommende Worthaus-Tagung 10 wurden mit Volker Rabens und Sandra Bils gleich 2 Dozenten der CVJM-Hochschule als Referenten eingeplant.

Wer die freien Ausbildungsstätten prägt, prägt die zukünftigen Verantwortlichen und Multiplikatoren und damit auch die Zukunft der freien Gemeinden und Gemeinschaften. Wer die evangelikalen Medien prägt, prägt schon jetzt die Ausrichtung der evangelikalen Bewegung insgesamt. Umso wichtiger ist die Frage: Welche Theologie wird da vermittelt? Findet da eine gesunde Weitung traditioneller evangelikaler Positionen statt? Macht sich die evangelikale Bewegung damit fit für die Herausforderungen einer modernen, gewandelten Gesellschaft? Oder ist zu befürchten, dass damit wachsende Spannungen und Spaltungen in die evangelikale Bewegung hineingetragen werden, weil sich die theologischen Positionen zu deutlich und zu grundlegend von evangelikalen Bekenntnissen und Grundüberzeugungen unterscheiden? Weil diese Frage für die Zukunft der evangelikalen Bewegung insgesamt so enorme Bedeutung hat, sollten sich eigentlich alle Verantwortlichen im evangelikalen Umfeld fundiert damit auseinandersetzen. Genau dafür will dieser Artikel Hilfestellung geben.

Die Vorträge von Worthaus 9, die im Juni 2019 in Tübingen gehalten wurden, eignen sich besonders gut, um die Ausrichtung von Worthaus genauer kennen zu lernen. Denn sie beschäftigen sich nicht mit Randfragen, sondern mit echten „Knackpunkt-Themen“, die den innersten Kern des Christentums berühren:

  • Hat Gott immer wieder wundersam in die Geschichte eingegriffen?
  • War Jesus von Nazareth nicht nur ganz Mensch, sondern auch ganz Gott?
  • Starb Jesus am Kreuz einen stellvertretenden Opfertod?
  • Ist Jesus leiblich auferstanden?

Acht der elf Vorträge von Worthaus 9, die in diesem Artikel betrachtet werden, werden von Thorsten Dietz und Siegfried Zimmer gehalten. Sie zeigen in besonderer Weise zentrale Züge der Theologie und Christologie der beiden prägenden Worthaus-Hauptreferenten auf. Von zentraler Bedeutung sind vor allem die Vorträge 9 und 10 von Thorsten Dietz zur Kreuzestheologie und zur Auferstehung. Sie werden deshalb besonders ausführlich betrachtet.


Elf Vorträge von Worthaus 9 in der Übersicht[2]:

  1. Thorsten Dietz: Die Nachfolge – Wie kann man heute an Jesus Christus glauben?
  2. Christine Jacobi: Der aktuelle Stand der historischen Jesus-Forschung
  3. Siegfried Zimmer: Das besondere Evangelium – Wie unterscheidet sich das Johannes-Evangelium von den drei anderen Evangelien?
  4. Thorsten Dietz: Der Sohn – Wer ist und wer war Jesus Christus?
  5. Siegfried Zimmer: Das nächtliche Verhör vor dem Hohen Rat (Mk 14, 53-65)
  6. Peter Wick: Das Mys­te­ri­öse – Von der rationalen Wunderkritik über den postmodernen Wunderglauben zurück zu Jesus
  7. Peter Wick: Warum musste Jesus sterben?
  8. Siegfried Zimmer: Der Prozess vor Pilatus (MK 15, 1-15)
  9. Thorsten Dietz: Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?
  10. Thorsten Dietz: Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen
  11. Siegfried Zimmer: Jesus und die blutende Frau (MK 5, 25-34)

Originalzitate aus den Vorträgen sind nachfolgend in blau dargestellt.


1. Vortrag 9.1.1: Prof. Dr. Thorsten Dietz am 7. Juni 2019

Die Nachfolge – Wie kann man heute an Jesus Christus glauben?

Der Eröffnungsvortrag von Thorsten Dietz verspricht „eine kleine Brillologie“ basierend auf Markus 8, 27-30. In diesem Text fragt Jesus seine Jünger: „Für wen halten mich die Leute?“ Damals wie heute wird diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet (wenn man sich denn überhaupt für sie interessiert). Die Antworten machen deutlich, wie sehr Jesus aus der damaligen Tradition heraus gesehen wurde. Und für Thorsten Dietz gilt auch heute noch: Wie wir Jesus sehen oder auch nicht, hat sehr viel zu tun damit, welche Brille wir auf der Nase tragen. Denn „Gott ist kein Gegenstand, kein Sachverhalt, kein Etwas oder jemand, den man an für sich beschreiben kann in einer objektiven Einstellung völlig abgesehen von dir und deiner Geschichte und deiner Haltung dazu, kein Ding, auch nichts, das du begreifen, ergründen, durchrechnen, erschließen kannst, sondern er bleibt ein ewiges, undurchdringliches, ganz präsentes, dir ganz nahes aber am Ende doch faszinierendes Geheimnis.“ (ab 48:11) Dietz kommt schließlich auf den „Segen der Bibelwissenschaft“ zu sprechen. Sie könne Menschen geradezu „heilen“, wenn sie unter der Spannung zwischen biblischen Aussagen und der modernen Weltsicht leiden. Denn sie könne zeigen, dass die bisherige Art, die Bibel zu lesen, nur eine bestimmte Brille ist, die Bibel zu betrachten. Die Bibelwissenschaft könne aber auch „Spannungskopfschmerz“ erzeugen, wenn sie einen Gläubigen zwingt, die Bibel nicht durch seine bisherige Glaubens- sondern durch die Wissenschaftsbrille zu lesen. So sei es auch ihm selbst gegangen. Aber das könne uns reifen lassen. „Die Bibelwissenschaften nehmen Dir Deinen Jesus weg“ (1:10:52), damit man lernen könne, „dass Jesus nie Dein Jesus ist, dass er immer größer ist, immer anders.“ (1:11:26) Das sei ein schmerzhaftes „Rütteln und Schütteln“ an Dingen, die für manche zentral sind. Aber darin liege der „Segen, Voreinstellungen zu entdecken, die der Sache nicht gerecht werden.“ (1:13.05) Natürlich sind auch die Bibelwissenschaften ständig bedroht, durch ideologische Färbung verblendet zu werden. Genau darin liege aber auch ihre Stärke. Es sei ja seit Generationen ihr Alltagsgeschäft, ideologische Einflüsse zu hinterfragen und aufzudecken. Bibelwissenschaft sei ein kollektives, kämpferisches, kritisches Unternehmen zur gegenseitigen kritischen Überwachung und Kontrolle, weshalb sie helfen könne, „Dinge zu hinterfragen, zu überprüfen und sie nochmal ganz neu und anders wahrzunehmen.“ (1:16:26)

Kommentar:

Thorsten Dietz legt hier einen großen Wissenschaftsoptimismus an den Tag. Ist die universitäre Bibelwissenschaft wirklich so selbstkritisch, dass sie sich von ihren Brillen befreien kann? Tatsache ist, dass auch in den Naturwissenschaften bestimmte Leitparadigmen vorherrschen und sich trotz starker Gegenargumente hartnäckig halten. Das beste Beispiel ist das Paradigma, dass grundsätzlich nur das als wissenschaftlich gelten darf, was innerhalb der Naturgesetze verstehbar ist – auch bei den Ursprungsfragen. Das postaufklärerische Wissenschaftsparadigma des methodischen Atheismus wurde auch in Worthaus 8 vertreten[3]. Eine kritische Gegenstimme zu dieser „Brille“ liefert bei Worthaus 9 nun der Vortrag 6 von Peter Wick (siehe unten). Darin bestätigt Wick aber auch: Das Paradigma des Wunderausschlusses ist nach wie vor weit verbreitet an den Universitäten, gerade auch in den theologischen Fakultäten. Es ist also eine steile Behauptung, dass die universitäre Bibelwissenschaft besonders vorurteilsfrei arbeiten würde, zumal sich der Wunderausschluss ja nicht nur auf den Umgang mit mirakulösen Texten auswirkt, sondern grundlegende Konsequenzen für das Offenbarungsverständnis und für die Glaubwürdigkeit der Bibel insgesamt mit sich bringt.[4]

Zudem habe ich mich beim Hören des Vortrags gefragt: Braucht man wirklich Heerscharen von Wissenschaftlern, um der Bibel vorurteilsfreie Botschaften und objektive Aussagen entnehmen zu können? Muss ich mir meinen Jesus wirklich zuerst von der universitären Bibelwissenschaft wegnehmen lassen, weil er ohnehin nur ein Ergebnis meiner persönlichen Brillen ist? Welchen der immer neuen Jesusbilder aus der akademischen Jesus-Forschung (siehe Vortrag 2!) wird mir die Bibelwissenschaft zurückgeben? Wenn es stimmen würde, dass sich nur der akademische Wissenschaftsbetrieb einigermaßen von Brillen befreien könnte, dann wären jedenfalls alle Laien verloren. Dann gäbe es keine Klarheit der Schrift mehr. Dann wäre es Luthers größter Fehler gewesen, mit seiner Bibelübersetzung den Laien die Bibel in die Hand zu geben und sie auch noch aufzufordern, die Lehre der Theologen auf Basis der Schrift zu prüfen.

Ja, ich lasse mir „meinen Jesus“ von der Bibel selbst gerne hinterfragen. Ich lasse ihn mir auch gerne von Theologen hinterfragen, wenn sie mir zeigen, dass sie aus der Schrift heraus argumentieren und sich selbst der Bibel als Maßstab und Autorität unterordnen. Solange aber wunder-, offenbarungs- und sachkritische Paradigmen im akademischen Bibelwissenschafts­betrieb eine wichtige Rolle spielen, sollten wir keinesfalls Laien dazu ermutigen, sich von dieser Art von Bibelwissenschaft ihren Jesus wegnehmen zu lassen.


2. Vortrag 9.2.1: Dr. Christine Jacobi am 8. Juni 2019

Der aktuelle Stand der historischen Jesus-Forschung

Die Theologin Dr. Christine Jacobi distanziert sich in diesem Vortrag von früheren liberaleren Sichtweisen, die stark zwischen dem historischen Jesus und angeblichen nachträglichen mythischen Deutungen trennen wollten. Der Satz: „Jesus hat nicht an Jesus geglaubt“ sei so nicht mehr haltbar. Die Darstellung Jesu in den Evangelien zeige, dass er verwurzelt war im Geschichts- und Gottesbild sowie den messianischen Erwartungen des Alten Testaments, weshalb seine Selbstauslegung, sein Selbstverständnis gar nicht so weit entfernt wäre von den späteren Darstellungen der Evangelien – nicht so weit jedenfalls wie ältere Forschungen es annahmen.“ (25:30) Somit könne man „nicht strikt zwischen den historischen Ereignissen und ihrer mythischen Deutung unterscheiden. … Es gibt eben eine fortgesetzte Linie zwischen dem Wirken, dem Sendungsbewusstsein des irdischen Jesus, seiner Wahrnehmung durch Zeitgenossen …, durch Anhänger und dann seiner Deutung nach Ostern.“ (ab 1:04:17) Zwar distanziert sich Jacobi von der rein metaphorischen Auferstehungsdeutung der liberalen Theologie, zugleich weist sie aber auch die Sichtweise von N.T. Wright zurück, der die Auferstehung als historisches Ereignis belegen möchte, denn in den Evangelien stünde ja die theologische Deutung der Auferstehung im Vordergrund, nicht das historische Ereignis. Historische Jesusforschung sei für den Glauben relevant, denn auch die Evangelien haben ja historisch gearbeitet, um ihre Vorstellungen von Christus als dem Gottessohn zu vermitteln. Die Jesusbilder der historischen Jesusforschung blieben immer auf die biblischen Texte bezogen. Die Jesusbilder seien aber auch immer ein Kind ihrer Zeit, denn die Jesusforschung „partizipiert an den aktuellen Weltbildern und am Wirklichkeitsverständnis ihrer Zeit und bezieht von dort aus ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Und auf diese Weise, indem sich die Jesusforschung immer selbst auch weiter entwickelt, entstehen immer neue Jesusbilder.“ (ab 1:25:57) Diese Erkenntnis habe einst zu einer Krise der historischen Jesusforschung geführt. Jetzt würde man das aber gelassen sehen, denn die historische Jesusforschung sei selbst Teil der Wirkungsgeschichte Jesu.

Kommentar:

Der Vortrag wirkte auf mich konservativer als der frühere Worthausvortrag zur historischen Jesusforschung von Stefan Schreiber, weil der Textbezug stärker betont wird und weil Frau Jacobi keine „strikte“ Unterscheidung zwischen der Evangeliendarstellung und dem historischen Jesus verfolgen möchte. Aber wirklich überwunden wird diese Trennung auch hier nicht, wie in vielen Formulierungen deutlich wird. So erwähnt Frau Jacobi zum Beispiel, dass „die Geburt- und auch die Kindheitsgeschichten bei Lukas legendarisch“ seien. Nur die Taufe sei wohl eine der wenigen wirklich gesicherten Daten seines Wirkens.“ (27:40) Jacobi möchte theologisch gedeutete Berichte der Evangelien nicht als historische Daten behandeln, denn „das hieße nämlich, den Glauben an Jesus letztlich von historisch-kritischer Exegese abhängig zu machen“ (ab 1:21:20). Dabei war die historische Tatsächlichkeit der in den Evangelien geschilderten Ereignisse für die ersten Christen noch von grundlegender Bedeutung (z.B. Apg. 4, 20)! Wenn diese jetzt keine Rolle mehr spielen soll, dann ändert sich natürlich auch die theologische Aussage. Dieses Problem zeigt sich besonders bei der Kritik Jacobis an N.T. Wrights Apologetik für die Historizität der Auferstehung. Jacobi hat zwar recht, dass in den Evangelien das eigentliche Auferstehungsgeschehen im Grab nicht dargestellt wird und dass das Osterereignis AUCH theologisch gedeutet wird. Aber das ändert ja nichts daran, dass der physisch-leibliche und damit auch der historische Charakter der Begegnungen mit dem Auferstandenen im Neuen Testament eine entscheidende Grundlage für alle weiteren theologischen und praktischen Konsequenzen ist (siehe dazu auch der Kommentar zu Vortrag 10).

Ich finde deshalb die Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Jesus der Evangelien bzw. des Glaubens weder fruchtbar noch attraktiv. Wer möchte schon sein Jesusbild und seinen Glauben auf eine historische Jesusforschung beziehen, die ausdrücklich ein Kind ihrer Zeit sein will und ständig neue Jesusbilder hervorbringt, die dann zwangsläufig nur zeitlich befristete Gültigkeit haben können? Wie soll man zu einem Jesus mit Ablaufdatum eine persönliche Vertrauensbeziehung entwickeln? Da bleibe ich doch besser bei dem Vertrauen, dass die Evangelienschreiber zurecht versprochen haben, seriös und verlässlich den historischen Jesus dargestellt zu haben (Lukas 1, 1-4), so dass mein Glaube primär von der Schrift statt von aktuellen Urteilen der historisch-kritischen Exegese oder der historischen Jesusforschung abhängen kann.


3. Vortrag 9.2.2: Prof. Dr. Siegfried Zimmer am 8. Juni 2019

Das besondere Evangelium – Wie unterscheidet sich das Johannes-Evangelium von den drei anderen Evangelien?

Siegfried Zimmer begründet in diesem Vortrag ausführlich seine Sichtweise, dass im Johannes-Evangelium an vielen Stellen nicht der historische Jesus, sondern der Auferstandene spricht mit Worten, die durch den „Parakleten“, also den Heiligen Geist nachösterlich offenbart wurden. Dies werde zum einen deutlich durch zahlreiche inhaltliche und stilistische Unterschiede zu den Reden Jesu bei den Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas. Das werde auch deutlich durch seine hoheitlichen Aussagen oder die Lehre der Präexistenz (die nur in den Evangelien vorkomme, die nicht von der Jungfrauengeburt sprechen) oder in den Abschiedsreden. Es sei „abstrus“, sich vorzustellen, Jesu habe solche Dinge vor Ostern geäußert. Geradezu „bizarr“ und „kannibalisch“ sei die Vorstellung, der historische Jesus habe zu den Juden gesagt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ (Joh. 6, 54).

Kommentar:

Leider verschweigt Siegfried Zimmer, dass Johannes ja selbst ausführlich von den verstörten Reaktionen der jüdischen Zuhörer berichtet: „Da stritten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? … Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören? … Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm.“ (Joh.6, 52+60+66) Hat Johannes das dann auch dazu erfunden, damit es wie eine Erzählung aus dem vorösterlichen Leben Jesu aussieht? Eine ausführliche, wissenschaftlich fundierte Gegendarstellung zu Zimmers Sichtweise findet sich z.B. in der Einleitung in das Neue Testament von Armin Baum auf den Seiten 691 – 712. Baum sieht dort keinen wesentlichen inhaltlichen Unterschied zwischen der Christologie der Synoptiker und des Johannes-Evangeliums: „Die implizite Christologie der Synoptiker und die explizite Christologie des Johannes unterscheiden sich zwar im Wortlaut, sind aber inhaltlich auf derselben theologischen Hochebene angesiedelt.“ (S. 711). „Jesus beansprucht in allen vier Evangelien, die einzigartige göttliche Macht und Identität zu besitzen, etwa gegenwärtig ewiges Heil zu schenken und am Jüngsten Tag das Endgericht zu halten.“ (S. 712) Die Jesusreden habe Johannes zwar „dynamisch-äquivalent in eine für seine Leserschaft leichter verständliche Sprache übersetzt“ (S. 711). Aber ein Historiker war auch gar „nicht verpflichtet, den Wortlaut historischer Reden zu reproduzieren. … Andererseits erwartete man aber von ihm, dass er den Inhalt historischer Reden korrekt wiedergab.“ Die Jesusreden im Johannesevangelium inhaltlich dem historischen Jesus zuzuschreiben ist für Armin Baum möglich, denn: „Der umfangreiche Redestoff des vierten Evangeliums enthält neben einer begrenzten Zahl johanneisch-synoptischer Wortlautparallelen eine sehr große Zahl johanneisch-synoptischer Konzeptparallelen. Gemessen an den synoptischen Jesusworten erweist sich die (seit Bretschneider vertretene) These, die johanneischen Jesusreden seien im Wesentlichen als unauthentisch zu beurteilen, auf der inhaltlichen Ebene als weit überzogen.“ (S. 699) Baum nennt weitere prominente Befürworter der Historizität der johanneischen Jesusreden wie z.B. Friedrich Schleiermacher, Theodor Zahn, Adolf Schlatter oder der Brite John Robinson. Es sind also nicht nur die von Zimmer immer wieder beklagten konservativen Kreise, die sich Zimmers Sichtweise nicht anschließen wollen.


4. Vortrag 9.2.3: Prof. Dr. Thorsten Dietz am 8. Juni 2019

Der Sohn – Wer ist und wer war Jesus Christus?

Im ersten Teil seiner Christustrilogie befasst Thorsten Dietz sich mit der Frage: War Jesus wirklich wahrer Gott und wahrer Mensch? Wie hat sich dieses Bekenntnis entwickelt? Und wie sehen wir das heute? In der „Volksfrömmigkeit“ werde die Perspektive der Menschlichkeit Jesu heute durchaus öfter vernachlässigt. Das sei aber gemäß dem Bekenntnis von Chalzedon, mit dem Dietz sich hier ausführlich befasst, Häresie. Und auch aus heutiger Sicht sagt Dietz: Man darf 0,0 davon abstreichen, dass Jesus wirklich Mensch war! Und zwar so sehr, „dass es wirklich auf dem Spiel stand, ob er Gott die Treue hält und ob er diesen Glauben durchhalten kann, dass Gott sein Vater ist trotz allem.“ (ab 1:06:14) Aber war Jesus auch wahrer Gott? Hier geht Dietz sehr viel vorsichtiger zu Werke. Er weist zwar darauf hin, dass Jesus bereits unter den allerersten Christen als menschgewordener Gott angesehen wurde, was biblisch eindeutig belegt sei (z.B. Philipper 2, 5-11 oder Johannes 1). Er macht zudem Werbung dafür, das alte Glaubensbekenntnis, dass Jesus wahrer Gott war, in „kritisch-kreativer Treue“ weiter zu entfalten. Allerdings warnt er auch ausführlich vor dem Zwang, dass man diese „Formel“ unbedingt so nachsprechen müsse. Es sei keine Häresie, wenn man – so wie der theologische Mainstream – in Jesus einen Menschen sehe, der von Gott voll und ganz angenommen, durch die Auferstehung von ihm bestätigt wurde und in dem Gott sein Wesen für uns sichtbar macht.

Kommentar:

Die Frage, ob Jesus nicht nur wahrer Mensch, sondern auch wahrer Gott war, ist ein absolutes Knackpunktthema in der Theologie. Hier entscheidet sich Jesu Exklusivität, sein Herrschaftsanspruch und seine Fähigkeit, uns zu erlösen. Ohne das Gottsein Jesu ist das stellvertretende Sühneopfer am Kreuz kein Akt der Selbsthingabe und Liebe Gottes, sondern ein Gericht eines grausamen Gottes, der Menschenopfer will. Kein Wunder, dass die Abkehr von der Göttlichkeit Jesu in der Mainstreamtheologie auch die Abkehr vom stellvertretenden Sühneopfer im Gepäck hat – und damit letztlich katastrophale Konsequenzen für den innersten Kern des christlichen Glaubens. Schade, dass diese weitreichenden Konsequenzen in diesem Vortrag nicht erwähnt werden sondern dass es phasenweise fast wie eine Geschmackssache wirkt, inwieweit man die Göttlichkeit Jesu nun ernst nehmen möchte oder nicht.

Der Vortrag macht nach meinem Eindruck besonders deutlich, welche Zielgruppe Thorsten Dietz primär vor Augen hat und in welche Richtung er Brücken bauen möchte. Den gegenüber der Göttlichkeit Jesu mehrheitlich skeptischen akademischen Theologen sagt er: Wenn das mit Deinem Intellekt im Moment nicht vereinbar ist, dann musst Du das ebenso wenig glauben wie die Geschichte, dass Jona von einem Fisch verschluckt wurde. Den „Volksfrömmigen“, bei denen er eine Tendenz zur Vernachlässigung der Menschlichkeit Jesu sieht, sagt er aber: Das geht heute auf gar keinen Fall mehr! Da ist plötzlich keine Rede mehr von Geheimnis, Mysterium, von missverständlichen Begriffen und Brillen angesichts von wechselnden Weltanschauungen, sondern da zeigt Dietz klare Kante: Er fordert strikt die Menschlichkeit Jesu, und zwar in einem Ausmaß, das auch mir schon fragwürdig erscheint. Denn ich glaube zwar auch, dass Jesus wirklich Mensch war und große Angst kannte. Aber ich glaube nicht, dass irgendwann ernsthaft die Heilsgeschichte auf dem Spiel stand.

So sehr ich dafür bin, Zweiflern Raum zu lassen, damit sie ihren Anfragen gründlich nachgehen können und so sehr ich es begrüße, dass Dietz in der theologischen Welt Werbung für einen etwas konservativeren Kurs macht: Die Einseitigkeit, mit der Dietz hier vorgeht, kann ich nicht nachvollziehen. Gerade angesichts des gewaltigen Flurschadens, den der Verlust der Göttlichkeit Jesu in der Theologie hinterlassen hat, müssen wir es meines Erachtens doch wieder viel deutlicher sagen: Es ist im christlichen Glauben keine Geschmacksfrage, ob Jesus  der präexistente, von der Jungfrau geborene Gott war oder nicht. Die Göttlichkeit Jesu war – wie Dietz in diesem Vortrag schön berichtet – für die Väter eine Selbstverständlichkeit, und sie ist in der Bibel klar bezeugt. Dietz macht zudem in diesem Vortrag sehr schön deutlich, dass es für die Väter noch entscheidend war, jedes vorgeschlagene Jesusbild mit der Bibel zu vergleichen und es zu verwerfen, wenn es mit den biblischen Texten nicht zusammenpasst. Die Klarheit, die Dietz gegenüber denen an den Tag legt, die die Menschlichkeit Jesu vernachlässigen, brauchen wir in der anderen Richtung ebenso, denn gerade hier hatte und hat der Verlust einer zentralen Lehre der Bibel und eines zentralen Bekenntnisses der Kirchenväter in den letzten beiden Jahrhunderten katastrophale Konsequenzen für die Theologie und für die Kirche.


5. Vortrag 9.3.2: Prof. Dr. Siegfried Zimmer am 9. Juni 2019

Das nächtliche Verhör vor dem Hohen Rat (Mk 14, 53-65)

Siegfried Zimmer stellt in diesem Vortrag die Frage nach der historischen Wahrheit der Schilderung des Evangelisten Markus zur Verurteilung Jesu vor dem Hohen Rat. Dabei werden viele interessante Hintergründe zur damaligen politischen Situation beleuchtet. Besonders spannend ist die Frage nach der Historizität der Verse 61-62: „Wieder fragte ihn der Hohepriester und spricht zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin es! Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels.“ Zimmer wendet sich hier ausdrücklich gegen die liberale theologische Behauptung, dass die Aussage Jesu zu seiner Messianität eine nachträgliche christliche Einfügung sei. Sein Hauptargument ist: Jesus macht hier in Bezug auf seine Wiederkunft eine prophetische Ankündigung, die bis zur Abfassung der Evangelien nicht eingetroffen ist. So etwas hätte niemand erfunden.

Kommentar:

Der Vortrag lohnt sich, weil er viele interessante Informationen zu den historischen Hintergründen enthält. Erfreulich fand ich zudem, dass Zimmer entgegen der liberalen Sichtweise ausdrücklich an der Historizität der messianischen Aussage Jesu festhält. Aber 2 Fragen sind bei mir nach dem Vortrag offen geblieben:

  1. Zimmer betont immer wieder, dass diese Erkenntnisse das Ergebnis jahrzehntelanger intensiver Forschungsarbeit seien. Wenn diese Erkenntnisse wichtig sind für unser Verständnis des Kreuzestodes Jesu: Wie soll sich dann ein Laie noch ein Bild davon machen können, warum Jesus eigentlich gestorben ist?
  2. Hier wird ja deshalb an der Historizität der Aussage Jesu festgehalten, weil sie sich gut in den alttestamentlichen Zusammenhang fügt, ins jüdische Denken passt und eine christlich motivierte nachträgliche Einfügung unplausibel ist. Aber was wäre denn, wenn das nicht so wäre? Wäre dann die Historizität fraglich, obwohl die Aussageabsicht des Textes dies klar behauptet?

6. Vortrag 9.3.3: Prof. Dr. Peter Wick am 9. Juni 2019

Das Mys­te­ri­öse – Von der rationalen Wunderkritik über den postmodernen Wunderglauben zurück zu Jesus

Der Stil und das Thema dieses Vortrags lässt sich am besten durch ein Zitat vom Vortragsanfang beschreiben (ab 02:55): „Wenn ein Universitätsprofessor zu Jesus und Wundern befragt wird, steht da sofort ein Elefant im Raum, nämlich der Elefant der Wunderkritik, der Aufklärung und des Rationalismus. Der Elefant heißt: Es kann keine Wunder geben, auch nicht bei Jesus, weil es nicht vernünftig ist. Vernünftigerweise muss man davon ausgehen, dass Jesus keine körperlichen Wunder getan hat. In den letzten Jahrzehnten breiteten sich die Populationen dieser Elefantenrasse nicht mehr aus. Aber es finden sich immer noch große Herden vor allem an den Universitäten, gerade auch in theologischen Fakultäten. Viele angehende Pfarrer oder auch heutige Pfarrer, Theologiestudenten, Religionslehrer wurden von diesem Rüsseltier stark beeindruckt, zum Teil für ihr ganzes Leben und ihre ganze Theologie.“ Wick zeigt auf: Auch die Bibel bestätigt ein Weltbild, in dem in der Natur alles nach festgefügten Gesetzen funktioniert. Aber die Bibel zeigt eben auch, dass Gott in seiner Gnade immer wieder übernatürlich eingreift. Und wenn Gott Gott ist, warum sollten wir damit ein Problem haben? Wick spricht sich für die Historizität der Wunder aus, zumal ihre Tatsächlichkeit immer eine wichtige theologische Botschaft enthält. Zugleich warnt er vor Gesetzmäßigkeiten im Feld der Wunder, wenn z.B. behauptet wird, korrekter Glaube müsse zwangsläufig immer eine Heilung nach sich ziehen, was dann bei einem ausbleibenden Wunder den Verdacht weckt, der Kranke glaube nicht richtig.

Kommentar:

Ein inhaltlich wie rhetorisch großartiger Vortrag, dem ich nur rundum zustimmen kann! Bislang waren bei Worthaus zu diesem Thema eher ganz andere Meinungen zu hören. Genannt seien hier insbesondere die Vorträge von Thomas Breuer zur Auferstehung Jesu oder der Vortrag von Stefan Schreiber zum historischen Jesus, in denen u.a. die Leiblichkeit der Auferstehung Jesu bestritten wird. In Worthaus 8 bekennt sich Dr. Patrick Becker ausführlich zu einem Wissenschaftsbegriff, der im Gegensatz zu den Ausführungen von Wick gerade nicht mit göttlichen Eingriffen von außen ins Weltgeschehen rechnet (siehe das Zitat in Fußnote 3). Gut, dass Wick hier widerspricht.


7. Vortrag 9.4.1: Prof. Dr. Peter Wick am 10. Juni 2019

Warum musste Jesus sterben?

Wick führt in diesem Vortrag aus, dass das Neue Testament auf diese Frage eine „multiperspektivische“ Antwort gibt. Es erzählt, wie er einmal seinen Sohn aus verschiedenen Richtungen auf sein altes, klobiges Handy schauen ließ und fragte, was er da sieht. Die Antworten waren je nach Perspektive sehr unterschiedlich: Ein Tastaturfeld. Eine ebene Fläche. Eine Gürtelschnalle… Seine erwachsenen Studenten hingegen hätten aus jeder Richtung immer nur ein Handy gesehen. Das NT würde diesen Syntheseblick aber nicht mitmachen. Wick schildert 5 verschiedene „Zugänge“ zum Kreuzesgeschehen, die sich z.T. auch gegenseitig beißen würden: Jesus musste sterben, um (1) mit uns Menschen eins zu werden, um (2) Stellvertreter an unserer Stelle zu sein, um (3) einen „fröhlichen Tausch“ zu ermöglichen (Jesus erniedrigt sich, damit wir erhöht werden), um (4) uns Menschen eine Teilhabe an seinem Tod und seinem Auferstehungsleben zu ermöglichen und um (5) ein radikales Vorbild zu geben dafür, was hingebungsvolle Liebe bedeutet. Zudem schildert Wick ausführlich die Darstellung Jesu als das wahre Passalamm im Johannesevangelium sowie als Hohepriester und abschließendes wahres Opfer im Hebräerbrief. Seine These ist: Niemand könne alle diese Zugänge gleichzeitig im Blick haben. Es genüge, sich zunächst auf einen Zugang zu konzentrieren und im Rahmen der eigenen Gottesbeziehung nach und nach die Schätze der anderen Zugänge zu entdecken.

Kommentar:

Eigentlich ein guter Vortrag, der aber leider der Debatte, die bei diesem Thema tobt, nicht gerecht wird. Ich kenne niemanden, der der Meinung ist, dass das Sühneopfer das einzige relevante Bild für die richtige Deutung des Geschehens am Kreuz wäre. Die Debatte dreht sich ja vielmehr darum, dass viele Theologen das Sühneopfer und die Stellvertretung generell in Frage stellen. So äußerte z.B. Dr. Breuer bei Worthaus, das Sühneopferbild stehe für einen blutigen Rachegott und somit für ein Gottesbild, das er heute nicht mehr akzeptieren könne.[5] Zudem wird auch bei Worthaus in Frage gestellt, dass Jesu Tod „sein musste“, um uns zu erlösen. Dr. Breuer erwähnt in seinem Vortrag, dass er sich mit Siegfried Zimmer darin einig sei, dass Jesus frühestens in Jerusalem zu der Überzeugung gelangte, dass sein Tod offenbar unausweichlich sei. Gut, dass Wick hier klarstellt, dass dieses „MUSS“ durchgängig im NT bezeugt wird.

Ein Knackpunkt in Wicks Vortrag ist ein Bericht ganz am Ende: Er erzählt, wie ihm jemand nach einem Vortrag zu diesem Thema geantwortet habe, dass er ausschließlich mit dem Zugang 5 („radikales Vorbild“) etwas anfangen könne. Damit nimmt diese Person genau die Position ein, auf die die weit verbreitete Sühneopfer- und Stellvertretungskritik oft hinausläuft, weil alle anderen Zugänge letztlich etwas mit Stellvertretung zu tun haben. Wicks Antwort: Das ist gut, dann konzentrieren Sie sich doch jetzt einmal auf diesen einen Zugang. Dazu formuliert er die Hoffnung: Das könnte ja dann ein Eintritt in eine Gottesbeziehung sein, die dann schrittweise auch offen macht für die anderen Zugänge. In einem persönlichen Seelsorgegespräch mag das vielleicht tatsächlich ein sinnvoller Zwischenschritt sein. Aber theologisch müssen wir angesichts der laufenden Debatte doch dringend klarstellen: Die Stellvertretung spielt letztlich in fast allen neutestamentlichen „Zugängen“ eine zentrale Rolle[6] (siehe dazu auch der Kommentar zu Vortrag 9). Die Reduktion des Kreuzesgeschehens auf einen Vorbildcharakter beraubt Jesu Tod im Kern seinen Erlösungscharakter und beschädigt deshalb das neutestamentliche Evangelium elementar. Schade, dass das in diesem Vortrag nicht deutlich wird.


8. Vortrag 9.4.2: Prof. Dr. Siegfried Zimmer am 10. Juni 2019

Der Prozess vor Pilatus (MK 15, 1-15)

Siegfried Zimmer schildert in diesem Vortrag den aktuellen Forschungsstand zur Frage, wie es letztlich zum Todesurteil für Jesus kam. Zimmer betont: Die historischen Ereignisse geben keinerlei Anlass, die Schuld an der Verurteilung Jesu „den Juden“ zuzuschieben. Während der jüdische Prozess des Hohen Rats absolut korrekt und nachvollziehbar gewesen sei, habe Pilatus hingegen inkorrekt taktiert und sich dabei schließlich verrechnet, weil die Zeloten (nicht das jüdische Volk!) bei der Festtagsamnestie ihren Mann „herausgeklatscht“ hätten. Es sei wichtig, zukünftig bei diesem Thema keinerlei Anlass für antijüdische Reflexe zu bieten. Nebenbei befasst sich Zimmer mit der Frage, wie Jesus sich eigentlich selbst gesehen hat. Dazu sagt er ab 53:12: „Gehört bitte nicht zu den Christen, die gleich den Flatterich kriegen, wenn ich sage: Jesus war vielleicht selber der Überzeugung, dass er selber gar nicht der Menschensohn ist, dass das ein späterer christlicher Eintrag war, dass er aber über das Kommen und was da geschieht verblüffend Bescheid weiß. Was man mindestens sagen kann: Jesus wusste sich mit dem Menschensohn sehr fest verbunden. Das auf jeden Fall. Aber ob er sich selber als Menschensohn gesehen hat, lassen wir mal offen. … Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. Meint ihr, dass Jesus alle Details, alles klar war? Er ist schon ein normaler Mensch, bitte! Jesus hat schon einen messianischen Anspruch gehabt, aber wie viele messianische Ansprüche gab es? … Ich glaube erst einmal, dass für Jesus Titel sowieso gar nicht das wichtigste sind. Er hat überhaupt nie mit Titeln groß gearbeitet. … In einem Mitarbeiterheft für tausende von Sonntagsschulmitarbeitern hat eine Frau einen Artikel über Jesus geschrieben, den habe ich einmal zufällig gelesen. Da schreibt die Frau so einen kleinen Steckbrief „Wer war Jesus?“: „Jesus war der Gottessohn und der Retter der Welt. Er kam, um zu sterben und er hat viele Wunder getan und konnte übers Wasser laufen.“ Das schreibt eine Frau für tausende von Mitarbeitern in der Sonntagsschule. Da muss ich fast kotzen. Ich kann’s nicht anders sagen. Also alles gleich Titel, er war der Sohn Gottes (was stellt sich ein 7-jähriger unter Sohn Gottes vor?), Retter der Welt, also alles nur Titel, ein Titelgeklapper. Ich habe dann dem Vorstand von diesem Verlag geschrieben: Sie könnten doch mit gleicher Buchstabenzahl … sagen: „Jesus war aufmerksam für die Armen, er schätzte die Frauen höher als es damals üblich war und er liebte die Kinder. Das ist doch Millionen mal mehr als dieses Titelgeklapper. Und wenn die Titel dann nicht kommen, dann werden die Leute ganz unruhig.“

Kommentar:

Nein, ich bekomme keinen „Flatterich“ bei diesen Aussagen. Aber ich stelle einfach nüchtern und sachlich fest, dass sich meine Theologie hier an zentraler Stelle fundamental von der Theologie Zimmers unterscheidet. Denn bei der Aussage, dass Jesus der Gottessohn und Retter der Welt war, der gekommen ist, um für uns zu sterben, steigt in mir nun einmal kein Würgreiz sondern ein lautes „Amen, Halleluja!“ auf. Was mich aber am meisten verstört ist der Umstand, dass Zimmer diesen Text tatsächlich ersetzen möchte durch eine Beschreibung, die genauso auf Mutter Theresa oder Mahatma Gandhi zutreffen könnte. Wie bereits erwähnt: Die Frage, ob Jesus von Nazareth nicht nur wahrer Mensch, sondern auch wahrer Gott war, ist ein absolutes Knackpunktthema in der Theologie. Die biblischen Belege, dass Jesus sich selbst als Gottessohn sah und dass er den Gang der Dinge vorhersah, sind Legion. Spätestens hier tut sich aus evangelikaler Sicht ein tiefer Graben auf, der nicht zuletzt auch durch Zimmers derbe Sprache unüberbrückbar wird.

Zumal auch dieser Vortrag wieder zeigt, welche Folgen es hat, Jesus derart zu vermenschlichen. Denn ich war bislang noch gar nie auf die Idee gekommen, zu überlegen, wer schuld war am Tod Jesu. Jesus war für mich noch nie ein Justizopfer oder ein Opfer von Intrigen oder Machtspielen. Schuld waren weder die Juden, noch die Römer. Schuld am Tod Jesu war aus meiner Sicht schon immer – ICH! Wegen meiner Schuld musste Jesus den Weg ans Kreuz gehen. Er hat es getan aus Liebe zu mir! Sobald das klar ist, wird es völlig absurd, irgendwelche historische Personen oder Volksgruppen zu beschuldigen. Siegfried Zimmer hat jedoch schon in Worthaus 8 deutlich gemacht, dass er die Lehre vom stellvertretenden Opfertod für „durch und durch unbiblisch“ hält, denn es verderbe das „Evangelium und den liebenden Gott im Kern.“ Deshalb müssten wir „Jesu Tod erst mal als ‚victim′ würdigen“, „Jesus sei erst mal ein Opfer der römischen Militärbehörde geworden“ (siehe dazu das ausführliche Zitat in Fußnote[7]). Erst vor diesem Hintergrund wird für mich verständlich, warum Zimmer die Todesursache Jesu so intensiv in innergeschichtlichen Zusammenhängen und historischen Realitäten sucht.


9. Vortrag 9.4.3: Prof. Dr. Thorsten Dietz am 10. Juni 2019

Der Prozess – Warum ist Jesus gestorben?

Im zweiten Vortrag seiner Christustrilogie geht Thorsten Dietz von der These aus: Ein einheitliches, durchgängiges Verständnis des Kreuzestodes Jesu habe es in der Kirche nie gegeben. Im ersten Jahrtausend sei eine Deutung weit verbreitet gewesen, die den Loskauf-Gedanken in den Mittelpunkt stellt. Dabei sei die Theorie vertreten worden, Gott habe die Menschen mit dem Blut Jesu vom Teufel losgekauft, der durch die Sünde der Menschen ein Anrecht auf sie hatte. Diese Sichtweise habe Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert durch eine Theorie abgelöst, in der Gott um seiner Gerechtigkeit und Ehre willen nicht auf eine Bestrafung des schuldigen Menschen verzichten kann. Die gerechte Strafe wird dann aber stellvertretend von Jesus am Kreuz getragen. Dietz kritisiert zwar, dass Anselm oft überzeichnet und zu Unrecht kritisiert wird. Anselms Sichtweise sei aber aus heutiger Sicht aus vier Gründen trotzdem problematisch:

  • Das „kultische Opferproblem“: Die Opferpraxis im Alten Testament sei die längste Zeit der Kirchengeschichte falsch verstanden worden. Erst seit ca. 50 Jahren habe die Bibelwissenschaft zunehmend Konsens darüber, dass die verschiedenen Opferriten im AT nicht bedeuten, dass die Menschen etwas bringen, um einen zornigen Gott zu versöhnen bzw. seinen Zorn zu besänftigen, sondern Gott selbst gewährt dem Menschen Versöhnung (siehe 3. Mose 10, 17[8] und 17, 11[9]).
  • Das Problem des gewandelten Rechtsverständnisses: Anders als im Mittelalter steht im heutigen Rechtsdenken nicht mehr Rache und Vergeltung, sondern Abschreckung, Resozialisierung und Schutz der Bevölkerung im Vordergrund. Eine Vergeltungslogik sei für Menschen mit moderner Rechtsauffassung deshalb nicht mehr nachvollziehbar, sie wirkt prämodern und abschreckend – und sie entspricht auch nicht dem biblischen Zeugnis.
  • Das „Kohärenzproblem“ liegt für Dietz darin, dass der Gedanke an einen gerechten Gott, der strafen muss, der Ethik Jesu widerspricht (und somit nicht mit ihr „kohärent“ ist). Denn diese fordert doch bedingungslose Vergebung und sogar Feindesliebe. Auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn habe der Vater doch bedingungslos und ohne jede Strafe vergeben. Jedes Lehrsystem, das derart grundsätzlich der Ethik Jesu widerspricht, müsse falsch sein.
  • Das „Osterproblem“ liegt für Dietz darin, dass in Anselms Perspektive Ostern für die Erlösung letztlich gar nicht mehr nötig sei. Das vielfache biblische Zeugnis, dass wir als Christen Anteil am Weg Christi durch Sterben und Auferstehung hindurch haben, würde komplett vernachlässigt.

Dietz berichtet: Eine breite Strömung in der neueren Theologie möchte aus diesen Gründen die Sprache des Rechtswesens komplett aus der Kreuzestheologie löschen und die biblische Botschaft auf eine reine Liebesbotschaft reduzieren. Dietz plädiert aber dafür, die Rechtssprache nicht aufzugeben, schließlich habe ein rechtsstaatliches System großen Wert. Und gerade dann, wenn die Gefühle etwas anderes sagen, seien rechtssichere Zusagen besonders wichtig. Sein Plädoyer lautet deshalb: „Macht doch Liebe und Recht nicht zu einem Gegensatz.“ (1:28:56) Insgesamt sei es aber wichtig, Lehre und Dogmatik „flüssig“ zu halten, das heißt: Unsere Lehre soll weder so starr werden, dass man damit einander schlagen kann, noch sich so gasförmig verflüchtigen, dass sich niemand mehr davon ernähren kann.

Kommentar:

Dietz verwendet ein schönes Bild in seinem Vortrag: Mehrfach hält er einen Blumenstrauß in die Kamera, mit dem er sagen will: Die biblische Lehre zum Kreuz ist bunt und vielfältig. Und sie lässt sich nicht in eine einheitliche Theorie pressen. Wo immer das versucht wurde, habe das dazu geführt, dass die bunten Blumen geknickt und verbogen werden mussten, um in ein Schema zu passen, das sich so nicht in der Bibel findet. Das führe immer zu einer Verengung und Verarmung der biblischen Botschaft. Dietz hat ohne Zweifel recht: Wir sollten nicht versuchen, das Verständnis des Kreuzestodes über die biblische Botschaft hinaus systematisieren zu wollen, wenn das die Bibel selbst nicht tut. In der Kreuzestheologie hat es immer wieder Einseitigkeiten und Auswüchse gegeben, die über die Schrift hinausgingen und die biblische Botschaft verfälscht haben, wie auch der große evangelikale Theologe John Stott berichtet.[10] Ein „Teufelsdeal“ ist nicht biblisch.[11] Auch eine „Höllenfahrt“ Jesu ist biblisch nicht klar belegt. Aber war deshalb auch die Lehre vom „Loskauf“ und von der stellvertretenden Sühne im Kern falsch? Und gab es wirklich gar keine Elemente in der Kreuzestheologie, die quer durch die Kirchengeschichte hindurch als Kern der biblischen Botschaft verstanden wurden?

Mir scheint: In diesem Vortrag schüttet Dietz immer wieder das Kind mit dem Bade aus. Anstatt die Blumen wieder gerade zu biegen und die Auswüchse zu stutzen, wählt Dietz Formulierungen, in denen Blumen komplett herausgerissen werden – was erst recht zu einer Verarmung und Verengung führt. Zudem kämpft er m.E. immer wieder an den falschen Fronten. Lassen Sie mich versuchen, diese Thesen genauer zu begründen, indem ich auf seine wichtigsten Einwände gegen die Anselm’sche Sichtweise genauer eingehe:

In seinen Ausführungen zum „kultischen Opferproblem“ sagt Dietz (ab 59:45): „Der erste wirkliche Fehlgriff ist, dass man glaubt, mit diesem juridischen Rahmen alles einfach adoptieren zu können, was in der Bibel mit Opfer, mit Sühne zu tun hat. Das war lange in der Kirchengeschichte. Ganz lange dachte man, Opfer und Sühne und das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, und der Hohepriester, das ist alles Anselm, das sind tausende von Belegen, die ganze Bibel, überall steht im Grunde unsere wunderbare Lehre, der ganze Opferkult ist im Grunde Darstellung, was wir gerade hatten. Das ist überhaupt nicht so! Überhaupt nicht so! Und das sind Sachen, die man erst in den letzten 50 Jahren der Exegese besser und besser und klarer herausgestellt hat: Der Opferkult in Israel ist viel komplexer.“

Dietz verweist hier zurecht auf eine Tatsache, die auch unter Evangelikalen weitestgehend so gesehen wird (weshalb ich mich gefragt habe: Gegen wen wendet sich Dietz hier eigentlich?): Weder im alttestamentlichen Opferkult noch am Kreuz wird Gott ein menschliches Opfer gebracht. Es ist immer Gott selbst, der handelt und der das Opfer gewährt. Gott selbst gewährt die Sühne und die Versöhnung. Wir Menschen können nichts dazu beitragen. Mit keiner religiösen Leistung, mit keiner menschlichen Gabe können wir Gottes Zorn „besänftigen“. Stattdessen sagt Gott: „Ich – ich allein – bin es, der deine Übertretungen um meiner selbst willen tilgt.“ (Jesaja 43, 25) Deshalb ist es ja auch von so entscheidender Bedeutung, dass Jesus am Kreuz nicht nur Mensch sondern eben auch voll und ganz Gott war. Wenn wir den historischen Jesus nur als Mensch sehen, dann machen wir aus Gottes Selbsthingabe ein menschliches und zudem grausames Menschenopfer.

Richtig ist auch: Wir sollten die neutestamentlichen Bildwelten zur Kreuzestheologie nicht blind miteinander vermischen. Dort gibt es einerseits Bilder aus der Welt des Gerichtsaals, bei denen es um Rechtfertigung unserer Schuld geht. Dort gibt es aber auch Bilder aus dem Bereich der kultischen Opfer und Tempelrituale. Die Bedeutung der Opfer ist nicht 1:1 mit Begriffen aus der Justiz erklärbar. Insofern kann ich teilweise nachvollziehen, warum Dietz äußert:

„Nicht Menschen versöhnen Gott, sondern Gott versöhnt Menschen. Und der Sühnekult ist ein von Gott gegebener Weg, sich vor Gott einzufinden, sich schuldig zu bekennen, und durch Gottes Barmherzigkeit getrennt zu werden von den Tatfolgen der Sphäre, die man sich als Sünder zugezogen hat. Das ist ein Versöhnungshandeln Gottes, ein Befreiungshandeln, es ist ein Heilshandeln. Und da ist 0,0 bei: Ja, jetzt musst Du Gott wieder versöhnen, der ist sauer, der kocht vor Wut, du musst den beschwichtigen. Das ist überhaupt nicht. Und hier müsste man viele Stellen im Neuen Testament, die kriegt man völlig falsch aufgedröselt, wenn man sie mit einer anselmistischen Brille betrachtet. Das machen gute Exegeten, ich weise darauf hin, das ist absoluter Konsens, dass man mit Anselm nicht einfach sagen kann, immer Blut, Sühne, Lamm, Opfer, alles Anselm, das ist diese Theorie. Es ist sie nicht, gar nicht.“ (ab 1:10:12)Diese stellvertretende Strafleidungstheorie, wo ist das im neuen Testament? Das ist nicht zu finden!“ (1:03:17)

Bei aller notwendigen Unterscheidung zwischen „juristischer“ Rechtfertigung und „kultischer“ Sühne: Entspricht es wirklich dem biblischen Zeugnis, der Verbindung von Bildern aus dem Opferkult mit Begriffen aus dem Strafrecht derart scharf die rote Karte zu zeigen? Stimmt es, dass das „0,0“ bzw. „gar nicht“ miteinander zusammenhängt? Ich meine: Eindeutig nein. In Römer 3, 23-26 bringt Paulus die Opferriten ganz direkt mit Rechtsbegriffen zusammen (Elberfelder Übersetzung): „denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. Ihn hat Gott hingestellt als einen Sühneort durch den Glauben an sein Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist.“ Der Begriff „Sühneort“ („hilastērion“) wird in der Septuaginta, der antiken griechischen Übersetzung des Alten Testaments, auch für den Deckel der Bundeslade benutzt, an dem der Hohepriester im Allerheiligsten die Bundeslade mit dem Opfertierblut bespritzt. In Römer 5, 9 schreibt Paulus zudem: „Vielmehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn vom Zorn gerettet werden.“ Hier werden also ganz eindeutig direkte Verbindungen zwischen Opferkult, Blut, Schuld, Strafe und Gottes Zorn gezogen. In Römer 5, 9 macht Paulus zudem deutlich: Am Kreuz versöhnt Gott nicht nur die Menschen sondern er versöhnt die Menschen mit sich selbst! „Es ist ein und derselbe Gott, der uns durch Christus vor sich selbst rettet“, schreibt John Stott und fügt hinzu: „Darum weisen wir jede Erklärung für den Tod Christi entschieden zurück, in deren Mittelpunkt nicht das Prinzip der „Genugtuung durch Stellvertretung“ steht, ja der göttlichen Genugtuung seiner selbst durch die göttliche Stellvertretung durch ihn selbst.“

Es ist deshalb problematisch, wenn Dietz es so darstellt, als müsse Gott überhaupt nicht versöhnt werden – vor allem, wenn damit die breite biblische Realität von Gottes Zorn und Gerichtshandeln in Frage gestellt werden soll. Der große Gedankengang von Paulus in Römerbrief basiert unter anderem auf Römer 1, 18: „Doch vom Himmel her wird Gottes Zorn sichtbar über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit ablehnen.“ Gerade wegen dem offenbar werdenden gerechten Zorn Gottes braucht es ja die Vergebung. Und auch die beiden Stellen im 3. Mose, die Dietz nennt, belegen: Es geht bei diesem von Gott gestifteten Opfer um eine „Sühnung“ bzw. „Wiedergutmachung“ von Sünde und Schuld. Wer das rechtliche Strafdenken vollständig aus der Kreuzestheologie verbannen will, schüttet deshalb das Kind mit dem Bade aus.

Das tut Dietz m.E. leider auch beim Problem des gewandelten Rechtsverständnisses, wenn er sagt (ab 1:10:14): „Das ist ein anselmistisches Problem, das die Reformatoren radikalisiert haben, gut kontextualisiert[12] in gewisser Hinsicht, aber heute abstoßend, abschreckend, kontraproduktiv, weil es nicht mehr auf der Höhe modernen straftheoretischen Denkens ist.“

Dietz grenzt sich hier scharf von der reformatorischen Kreuzestheologie ab. Dabei stellt sich für mich die Frage: Wer behauptet denn eigentlich, dass der Gott der Bibel einer Rache- und Vergeltungslogik folgt? Schon die kultische Opferung von Tieren durchkreuzt eine solche 1:1-Vergeltungslogik ja komplett, denn kein Tieropfer kann zwischenmenschliche Verbrechen je aufwiegen. Noch mehr gilt das für den Tod Jesu am Kreuz: Der eine Kreuzestod könnte ja niemals genügen, um das millionenfache grausame Unrecht aufzuwiegen, das Menschen sich im Lauf der Weltgeschichte gegenseitig zugefügt haben. So schlimm Jesu Tod auch war: Es gab zahllose Menschen, die noch schlimmer und länger gefoltert worden sind. Nein, niemand muss auf Basis der Bibel behaupten, dass Gott einer strikten Vergeltungslogik folgt. Aber Fakt ist doch auch: Selbst das moderne Strafrecht ist trotz seines gewandelten Denkrahmens immer noch ein Strafrecht! Auch wenn wir keiner Vergeltungslogik folgen, sind also auch wir moderne Menschen immer noch überzeugt: Strafe muss sein! Mit einer „Schwamm-Drüber-Logik“ könnte kein Rechtsstaat funktionieren. Trotzdem arbeitet sich Dietz auch in seinen Ausführungen zum „Kohärenzproblem“ weiter an der Straflogik ab (ab 1:16:32):

„Diese Logik, da muss aber Strafe sein, da gibt’s ein Kohärenzproblem, das Problem, das die anselmitische Ethik so ein paar Lichtjahre zurückbleibt hinter der jesuanischen Ethik. Im Zweifelsfall würde ich sagen: Jede Dogmatik, die nicht in irgendeiner guten Übereinstimmung mit der jesuanischen Ethik steht, kann nicht richtig sein, kann nicht stimmen. Da besteht ein großes Problem. … Manche Theorien …  machen Gott zu einem juridisch denkenden „Strafe-muss-sein-Fetischisten“ in einer Weise, wie es vielen Gleichnissen Jesu direkt widerspricht und wie es auch mit der jesuanischen Ethik der Feindesliebe nicht überein zu kriegen ist.“

Dietz scheint hier offenbar die Ebene des Menschen mit der Ebene Gottes durcheinanderzubringen. Natürlich lehrt Jesus uns Menschen bedingungslose Vergebung und sogar Feindesliebe. Wir Menschen werden maximal davor gewarnt, uns selbst auf den Richterstuhl zu setzen. Aber der gleiche Jesus hat die Warnung vor dem menschlichen Richten vielfach mit der Warnung vor Gottes Gericht verbunden: „Denn mit welchem Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.“ (Matthäus 7,2) Wenn wir die jesuanische Lehre zum Maßstab nehmen, dann doch bitte seine ganze Lehre und nicht nur Ausschnitte daraus! Wer behauptet, die “jesuanische Ethik” käme ohne Strafe aus, der muss doch einen erheblichen Teil seiner Reden und Gleichnisse streichen oder als nachträgliche Zuschreibung einstufen. Da hilft es leider auch wenig, wenn Dietz am Ende seines Vortrags dann doch wieder die Rechtssprache des Neuen Testaments verteidigt, daraus aber nur die Zusage der Vergebung herausgreift.

Aber was ist nun mit der Behauptung, es habe die ganze Kirchengeschichte hindurch keine durchgängige Sichtweise zum Kreuz gegeben? Tatsächlich wendet sich Thorsten Dietz nicht prinzipiell gegen historische kreuzestheologische Sichtweisen, aber er findet es grundfalsch, sie dominant ins Zentrum der Kreuzestheologie zu stellen (ab 1:18:19):

„Wenn man sagen würde, dass das anselm’sche Schema ja nur eine Perspektive unter ganz vielen ist, mir hat’s halt geholfen, dann sind wir sofort in einer anderen Welt. Wenn Leute sagen: Das gibt’s auch, und das gibt’s auch, und es gibt viele Perspektiven, und die Blume gibt’s auch noch, dann sind wir sofort in einer anderen Welt. Wir können dann noch diskutieren über Suboptimalitäten bei Anselm. Aber wenn man das reduziert auf eine mögliche historisch wirkungsvolle Perspektive wird alles anders. Der Anspruch war ja immer: Es ist DIE Theorie, DIE erschöpfende Theorie, die im Wesentlichen alle Bibelverse eigentlich verbraucht hat und Du sollst keine andere Theorie haben neben mir. … Dass das irgendwo ja große Wahrheitsmomente hat ist ja völlig klar. Aber der Ausschließlichkeitsanspruch dieser Perspektive ist einfach unmöglich.“

Bei dieser Warnung vor einem falschen Absolutheitsanspruch habe ich mich gefragt: Was meint Dietz an dieser Stelle eigentlich? Meint er die Anselm’sche Theorie? Dann würde die nächste Frage lauten: Wer behauptet denn, dass Anselms Theorie DIE Theorie sei, die alle Christen akzeptieren müssten? Auch John Stott hat sich gegen Einseitigkeiten und Übertreibungen in Anselms Theorie gewandt.[13] In meiner langen evangelikalen Karriere habe ich noch nie jemand sagen hören: Lies Anselms Buch, darin findest Du DAS Kreuzesverständnis, das wir alle glauben müssen. Das ist sicher auch Thorsten Dietz bewusst. Aber was meint er dann? Hat Dietz vielleicht das evangelikale Beharren auf der Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer vor Augen? Tatsächlich schrieb derselbe John Stott, der sich von Anselms Lehre distanziert hat: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“[14] Stott sagt also: Bei aller Vielfalt und Buntheit der biblischen Bildwelten zur Deutung des Kreuzes gibt es doch etwas gemeinsames, das vielen dieser Bilder zugrunde liegt: Und das ist das Prinzip der Stellvertretung. Tatsächlich findet sich dieses Prinzip bereits sehr deutlich in der altkirchlichen (und natürlich biblischen!) Kreuzesdeutung vom „Loskauf“. Genauso findet es sich in den Lehren Anselms und der Reformatoren. Einen so harten und grundsätzlichen Wechsel in der Kreuzesanschauung, wie Dietz es darstellt, hat es somit nie gegeben. Das wird schon dadurch deutlich, dass Dietz selbst davon berichtet, dass die altkirchlichen Bilder vom Loskauf auch bei Luther und C.S. Lewis weiterverfolgt wurden.

Tatsächlich zieht sich diese Aussage der Stellvertretung auch quer durch die ganze Bibel! Das beginnt schon in 1. Mose 22 in der Geschichte, in der Abraham beinahe seinen Sohn Isaak geopfert hätte. Aber im allerletzten Moment schickt Gott ein Schaf, das an der Stelle Isaaks geschlachtet wird. Gott hatte Abraham für dieses Ereignis extra nach Moria geschickt hat, also dem Ort des späteren Tempelbergs, bei dem auch Jesus gekreuzigt wurde! In 2. Mose 11-12 lesen wir von Gottes tödlichem Gericht, das kurz vor dem Aufbruch Israels aus Ägypten über die Erstgeborenen kommt. Aber die Israeliten sollen ein Lamm schlachten und sein Blut an die Tür ihrer Häuser streichen, damit der Todesengel an diesen Häusern vorbei geht. Auch hier gilt: Das Lamm stirbt an der Stelle des Kindes. In Johannes 1 wird dann der ganz direkte Bezug hergestellt: Jesus ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt. Und in Johannes 19 lesen wir, dass Jesus genau in dem Moment stirbt, als im Tempel die Passalämmer geschlachtet werden. Gleich 28 mal lesen wir in der Offenbarung von Jesus als dem geschlachteten Lamm, das mit seinem Blut die Gewänder der Heiligen rein gewaschen hat. Und in Hebräer 9, 14 lesen wir dazu in aller Deutlichkeit: „Wie viel mehr kann dann das Blut des Christus bewirken, denn durch die Kraft von Gottes ewigem Geist brachte Christus sich selbst Gott als vollkommenes Opfer für unsere Sünden dar. Er befreit unser Gewissen, indem er uns freispricht von unseren Taten, für die wir den Tod verdienen.

Da ist also ein großer roter Faden, der sich quer durch die ganze Bibel zieht. Der stellvertretende Charakter des Kreuzestods ist auch nicht nur einfach eine Deutung. Denn eine Deutung ist ja immer etwas Nachträgliches. Aber die Aussage, dass Jesus das geschlachtete Lamm ist, das stellvertretend für unsere Sünden stirbt, finden wir auch schon lange vor dem Kreuzestod in der Bibel, ganz besonders in diesem unglaublichen Kapitel 53 im Buch des Propheten Jesaja. Da lesen wir:

„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. … Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. …Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird … Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat … denn er trägt ihre Sünden. … dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat…“

Selbst wenn man – so wie Dietz in seinem Vortrag – über einzelne Wortbedeutungen diskutieren mag: Der stellvertretende Charakter des Todes Jesu wird hier vollkommen eindeutig, vielfach und klar zum Ausdruck gebracht – und das wohlgemerkt schon Jahrhunderte vor Jesu Tod! Die Bibel ist also vollkommen eindeutig in diesem Punkt. Der stellvertretende Charakter des Kreuzestodes ist ein gutes Beispiel für die „Klarheit der Schrift“ in ihren zentralen Heilsaussagen. Deshalb würde es tatsächlich eine brutale Verarmung und Verengung darstellen, diese durchgängige Sichtweise heute vom Tisch zu wischen oder sie auf eine mögliche, keinesfalls aber notwendige Sichtweise zu reduzieren.

Besonders fragwürdig ist für mich deshalb auch diese Aussage (ab 1:00:41):

„Die Kombination konservativ und biblisch, das haut nicht gut hin. Da muss man sich entscheiden. Wenn man konservativ möglichst etwas denken will, was mindestens 1000 Jahre alt ist, dann sollte man nicht zu oft in der Bibel lesen, man wird nur verwirrt, das ist nicht gut. Und wenn man Bibel viel liest, muss man damit rechnen, dass man ständig auf neue Gedanken kommt, ständig neue Entwicklungen. Man kann nicht gut konservativ und biblisch sein, da muss man sich ein bisschen entscheiden. Ich entscheide mich für biblisch, muss ich sagen.“

Ist das nicht sehr überheblich? Und muss es uns nicht viel eher skeptisch machen, wenn eine Theologie 2000 Jahre Theologiegeschichte in Frage stellt und dafür eine erst jahrzehntealte theologische Sichtweise für biblischer hält als alles, was zuvor gedacht wurde? Johannes Hartl schrieb vor einiger Zeit auf Facebook: „Im Zweifelsfall glaub ich, dass die Tradition es richtig gesehen hat; dass alle es 1900 Jahre lang falsch gesehen haben, bis auf einmal wir Erleuchteten kamen, halte ich für wenig plausibel.“ Exakt aus diesem Grund haben Luther und Calvin stets versucht, an die alten Kirchenväter anzuknüpfen und zu zeigen, dass sie nichts „Neues“, sondern etwas Vergessenes bzw. bewusst Verdrängtes, wieder neu zur Geltung bringen.

Die Gefahr der universitären Bibelwissenschaften, die unsere evangelischen Ausbildungsstätten und dadurch auch die evangelischen Gemeinden dominieren, ist doch schon längst nicht mehr, dass man dort zu sehr an bestimmten historischen theologischen „Theorien“ klebt. Die Gefahr ist doch vielmehr, dass wir die Er- und Bekenntnisse der Kirchenväter viel zu leichtfertig über Bord werfen, die Bibel selbst durch Sachkritik der menschlichen Vernunft unterordnen und dadurch abdriften in eine Subjektivität, in der am Ende kein biblischer Stein mehr auf dem anderen bleibt. Das sehe ich in meiner evangelischen Kirche überall.

Aber was ist denn neben aller Dekonstruktion nun die Meinung von Thorsten Dietz zu der Frage, was tatsächlich die biblische Kreuzesbotschaft im Kern besagt? Dazu sagt Dietz (ab 47:15):

„Was finden wir in der Bibel? Was finden wir da wirklich? Ich finde ja, das Nizäno-Konstantinopolitanum … macht das richtig gut. Denn was ist da die Botschaft? Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! Das sind die großen Bekenntnisse. Und kuckt euch an: Luthers kleinen Katechismus zu Jesus Christus. Kuckt euch den Heidelberger Katechismus an. Es ist immer dies: Jesus für uns! Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein großes „Für Dich“! Ein großes „Ja“! Und das findet man mit fast jeder Brille im Neuen Testament auf fast jeder Seite. Und das findet man aber so bunt wie diesen Blumenstrauß.“

Ja, es stimmt: Quer durch die Kirchengeschichte hindurch war der Christenheit bewusst, dass Jesus „für uns sterben musste“. Aber was bedeutet „für uns“? Und warum „musste“ Jesus denn sterben? Ich behaupte: Wer darin nur eine Liebesbotschaft sieht, hat eine sehr verengende Brille auf. Denn inwiefern kann denn ein grausamer Kreuzestod eine Liebeserklärung sein? Was würde wohl meine Frau sagen, wenn ich mich heute umbringen würde und ihr einen Brief hinterlasse, in dem ich ihr schreibe: Damit wollte ich Dir meine Liebe beweisen. Das wäre schrecklich! Für meine Frau mein Leben zu geben, würde nur Sinn machen, wenn mein Tod eine direkte, extrem positive Auswirkung auf ihr Leben hat, indem ich ihr zum Beispiel den letzten Platz im Rettungsboot überlasse und an ihrer Stelle sterbe. Oder indem ich mich grausamen Terroristen und Folterknechten ausliefere, damit sie fliehen kann. Dann könnte ich zurecht sagen: Ich musste sterben – damit Du an meiner Stelle leben kannst! Deshalb schreibt Gerhard Barth: „Das ‚für muss … nicht immer und überall den Gedanken der Stellvertretung einschließen, sondern kann auch einfach besagen: ‚zugunsten von′. Wird freilich weiter darüber reflektiert, inwiefern sein Tod zu unseren Gunsten geschehen sei, kommt man doch auf den Stellvertretungsgedanken.“ [15] Und viele historische Dokumente zeigen: Ganz eindeutig war der Christenheit zu allen Zeiten bewusst, dass das „für uns“ im Zusammenhang mit dem Kreuz im Kern etwas mit Stellvertretung zu tun hat.

Egal, wie offen und vieldeutig man die Kreuzestheologie des Neuen Testaments auch sehen mag, sie ist in keinem Fall mit einer Liebesbotschaft vollständig erklärt und charakterisiert. Eine zentrale Kernbotschaft der kompletten Bibel lautet ja: Der Mensch ist aus sich heraus nicht in der Lage, so zu leben, dass es Gottes Gerechtigkeit entspricht. Das ganze Alte Testament schildert wieder und wieder das Versagen der Menschen, Gottes Geboten zu folgen. Das hat in der Bibel immer fatale Konsequenzen: Zuerst die Trennung von diesem heiligen Gott und die Zerstörung der unmittelbaren Nähebeziehung zu ihm. Als zweite Konsequenz folgt immer, dass wir Menschen uns über Gott und andere Menschen erheben, uns gegenseitig verletzen und zerstören, was schließlich zurecht Gottes Zorn und Gericht zur Folge hat – man denke nur an die Sintflut oder an Israels Vertreibung. Final sieht die Bibel den Tod als Konsequenz unserer Sünde (Römer 6, 23). Dabei macht die Bibel immer wieder deutlich: Das Unheil, das der Sünde folgt, ist gerade nicht nur eine Tatfolge im Sinne einer natürlichen Konsequenz des falschen Handelns. Nein, Gott selbst ist der Verursacher der negativen Konsequenzen! Er selbst bringt das Gericht[16] oder er lässt es zumindest zu[17]. Und weil wir Menschen in diesem Gericht unsere Schuld niemals begleichen könnten, entschied Gott, selbst stellvertretend an unserer Stelle zu leiden. So fand Gott einen Weg zum Umgang mit unserer Sünde, der sowohl seiner Liebe und Gnade wie auch seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit entspricht. Er fand einen Weg, durch den wir leben können, ohne dass die tödlichen Konsequenzen unserer Sünde ignoriert werden.

Eine Kreuzestheologie, die sich nur in Zuspruch erschöpft, die uns aber nicht mit unserem Versagen konfrontiert und die Notwendigkeit des stellvertretenden Leidens verschweigt, verfehlt deshalb ein entscheidendes Element des Evangeliums. Sie beseitigt das Ärgernis des Kreuzes und verkommt zu einer rein emotionalen Selbstannahme, letztlich einer Selbsterlösung durch Selbstbejahung. Denn das Kreuz konfrontiert uns ja mit der Tatsache, dass wir Menschen so hoffnungslos mit der Sünde verstrickt sind, dass wir es unter keinen Umständen schaffen, durch Änderung unseres Lebensstils oder durch irgendeine religiöse Leistung in Gottes Augen „gut“ zu sein und uns selbst zu erlösen. Stattdessen muss ein anderer die Suppe auslöffeln, die wir eingebrockt haben. Wie demütigend! Damit stößt uns das Kreuz vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit. Wo unser Stolz und unser Ego stirbt, entsteht Raum für ein neues Leben, das uns aus Gnade unverdient geschenkt wird, das aus dem Geist geboren ist und von Christus bestimmt wird, so dass wir am Ende sagen: „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2, 20) Das Evangelium besagt gerade nicht, dass unsere verletzte Identität, unser verunsicherter Selbstwert und unser gekränkter Stolz einfach so getätschelt und ermutigt wird. Das Evangelium verheißt uns Erneuerung durch den Heiligen Geist für unser steinernes Herz, für unser altes Ego, das hoffnungslos unfähig ist, gottgefällig zu leben und das deshalb mit Christus am Kreuz sterben und in der Taufe begraben werden muss. Das Evangelium verspricht Begnadigung, weil wir auf das unverdiente Erbarmen Gottes angewiesen sind, obwohl wir gerechterweise Strafe und Beschämung verdient hätten.

Wo Gnade ohne die Notwendigkeit der Vergebung gepredigt wird, so dass sie uns nicht mehr unseren Stolz kostet, rutschen wir in ein Evangelium der billigen Gnade, das zwar seinen Anstoß aber damit auch seine erneuernde Kraft verloren hat. Was uns nichts kostet, ist uns auch nicht kostbar. Wem wenig vergeben wurde, der liebt wenig (Lukas 7, 47). Wenn Christen in unseren Gemeinden immer weniger leidenschaftlich, opferbereit und hingegeben sind, wenn die Liebe zu Jesus immer kühler wird, dann ist das immer auch eine direkte Folge eines verkürzten Evangeliums, das nur noch von der Liebe, aber nicht mehr von der Verlorenheit und Erneuerungsbedürftigkeit des Menschen spricht. Am Anfang der Umkehr zu Gott steht deshalb immer die Erkenntnis des verlorenen Sohnes (die Dietz in seinen lächerlich-machenden Ausführungen zu diesem Gleichnis leider nicht erwähnt): „Vater, ich habe gesündigt, gegen den Himmel und auch gegen dich, und bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.“ (Lukas 15, 21) Der Vater widerspricht nicht. Er sagt nicht: „Junge, das siehst Du völlig falsch, das war doch alles kein Problem für mich! Stattdessen verstärkt er die Aussage des Sohnes noch, indem er sagt: „Mein Sohn hier war tot. … Er war verloren.“ Das zeigt: Auf keinen Fall hätte der Sohn auf dem hohen Ross zurückreiten können, um dort einfach nur ermutigt und ermuntert zu werden. Und ich frage mich: Wo hören wir es heute noch von den Kanzeln, dass Menschen „tot“ und „verloren“ sind, wenn sie fern von Gott ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben führen (siehe Epheser 2, 1 ff.)?

Ich stimme Thorsten Dietz zu: Ja, unsere Lehre muss in dem Sinne „flüssig“ bleiben, dass wir unser Herz immer weich und demütig halten müssen, damit wir jederzeit durch die Bibel korrigierbar bleiben. Wir lernen nie aus beim Versuch, die ganze Höhe, Tiefe und Breite des Evangeliums auszuleuchten. Wir bleiben unser Leben lang Lernende. Wir dürfen beim Lesen der Bibel immer wieder neue Schätze heben. Aber in einer Kreuzestheologie, in der die Liebesbotschaft die einzige Konstante ist, haben sich entscheidende Grundlagen des Evangeliums, die unseren Durst nach Leben stillen können, verflüchtigt. Für die Reformatoren galt noch, dass der christliche Glaube mit der Rechtfertigungslehre steht und fällt.[18] Wir haben somit allen Grund, dieses Thema intensiv zu diskutieren.


10. Vortrag 9.5.1: Prof. Dr. Thorsten Dietz am 11. Juni 2019

Der Lebendige – Die Begegnung mit dem Auferstandenen

Im dritten Teil seiner Christustrilogie spricht Thorsten Dietz in der ersten Hälfte des Vortrags über die Frage: War die Auferstehung wirklich real? War sie ein historisches Ereignis? War sie „leiblich“? Hätte eine Kamera den Auferstandenen fotografieren können? Thorsten Dietz sagt dazu: Ja, Jesus ist wirklich auferstanden. Und wenn man „historisch“ mit „wirklich“ gleichsetzen würde (wovon er aus wissenschaftstheoretischen Gründen abrät), dann könne man auch sagen, dass die Auferstehung ein historisches Ereignis war. Zugleich zielen solche Fragen für Thorsten Dietz aber am eigentlichen Ereignis von Ostern vorbei. „Tatsächlichkeitsfragen sind schon real, sind relevant, aber Glaubensfragen gehen nie darin auf.“ (2:36) An Ostern gehe es nicht um die Wiederbelebung einer Leiche, sondern um den Anbruch von Gottes ewigem Reich. Diese tiefere Bedeutung von Ostern konnte man nicht sehen: „Das, was Du glaubst, … das sah keiner.“ (10:53) „Es ist ja für den Auferstehungsglauben der Christen immer wesentlich gewesen, dass da mehr geschieht als: Da war was zum Sehen und zum Anfassen.“ (6:11) „Der christliche Glaube ist nicht ein Glauben an das „Gesehen-haben“ irgendeiner physischen Gegebenheit.“ (7:16) Die Kategorie „leiblich“ sei zudem schwierig, weil der Auferstandene ja Dinge tut, die dazu nicht passen (durch Wände gehen, plötzlich verschwinden…). Die Ostertexte passen deshalb mehr zum paradoxen Begriff des „geistlichen Leibs“, den Paulus verwendet (1.Kor.15, 44). Diese paradoxe Realität ist für uns nicht greifbar, wir können sie nicht „scharfstellen.“ „Jede Beschreibung dieses Phänomens, die das ignoriert, die glaubt, es fassbar zu machen, verfehlt die Texte und hat auch nicht mehr das klassische Christentum vor Augen.“ (18:06) Deshalb sei auch das Kamerabeispiel eine „tragische Metapher“, denn Fragen nach real oder nicht real, messbar, greifbar, physisch oder nicht physisch seien letztlich falsch gestellt, sie zeugen von einer falschen, „positivistischen“ „Tatsachenbrille“. „Hier wird versucht, etwas, das von morgen ist, zu sehen mit einer Brille von gestern und heute.“ (11:56) Dietz meint aber auch: Zwar gab es Ideen über Ideen, wie die Ostergeschichten rational erklärt werden könnten, trotzdem bleibt es eine sehr wundersame, bleibend mysteriöse Geschichte, so dass rein naturalistische Ansätze zur Erklärung der Entstehung des Osterglaubens scheitern.

Im zweiten Teil des Vortrags legt Thorsten Dietz die Geschichte von den Emmaus-Jüngern aus (Lukas 24, 13-36). Er sieht in ihrem Ostererlebnis ein Vorbild für den Weg vieler Jesusnachfolger: Alte Glaubensgewissheiten (in diesem Fall die Hoffnung auf einen politisch wirksamen Messias) sind zerbrochen. Auf dem Weg formen sich neue Gedanken, die schließlich in eine neue Jesusbegegnung führen. Aber kaum wird Jesus erkannt, entzieht er sich schon wieder. Als sie den anderen Jüngern von ihrer Begegnung berichten wollen, überschlagen sich die Ereignisse schon wieder neu. Das zeigt: Glaube bedeutet immer, auf einem Weg zu sein, der niemals fertig ist. Die Wahrheit bleibt „liquide“. Es ist doch unendlich viel besser zu akzeptieren, dass solche Verstehensweisen biblischer Texte immer wieder neu und immer wieder anders und immer wieder frisch sich ereignen müssen. Es kann da keinen ewigen und absoluten Schlüssel geben.“ (51:50) Deshalb geht es nicht darum, etwas glauben zu müssen: „Hier ist nichts, kein Paragraph, keine These, kein Abschnitt, nichts, wo Du sagen kannst: Hier rechts unten bitte unterschreiben. Dann hältst Du das feste für wahr und das ist dann Deine Lebensversicherung für die Unendlichkeit. Das ist nicht das Ding. Sondern das ist eine ganz herzliche Einladung, sich auf Wege zu begeben. Und diese Wege zeichnen sich nicht dadurch aus, dass eine große genormte Tür für alle gleich da steht und da müssen wir durch und alles andere ist egal, sondern es gibt so viele Türen, so viele Einstiegsmöglichkeiten auf diesem Weg mit großem Abstand und in großer Nähe.“ (ab1:06:24)

Kommentar:

Bei meiner Beschäftigung mit theologischen Texten ist mir in den letzten Jahren immer wieder ein rhetorischer Trick aufgefallen, den man etwa so skizzieren könnte:

  1. Benenne eine traditionelle theologische Position und stimme ihr grundsätzlich zu.
  2. Zeige aber auf, dass diese Position nicht die ganze Wahrheit ist und dass es bei diesem Thema noch mehr zu beachten gibt. Stelle die traditionelle Position folglich als eine „falsche Verengung“ dar.
  3. Sprich ausführlich über die Aspekte, die über die eingangs dargestellte Position hinausgehen, so dass der Schwerpunkt immer mehr auf „falsch“ statt auf „Verengung“ liegt.
  4. Im Ergebnis wird die traditionelle Position dann nicht etwa beibehalten und um zusätzliche Aspekte ergänzt, sondern es läuft auf eine oder mehrere der folgenden vier Varianten hinaus:
    a) Die traditionelle Sichtweise ist falsch.
    b) Die traditionelle Sichtweise ist nicht bedeutsam für den christlichen Glauben.
    c) Die traditionelle Sichtweise ist nur eine von mehreren Alternativen.
    d) Die traditionelle Sichtweise täuscht eine irrtümliche Klarheit vor, während die Wahrheit doch unklar ist und ein Geheimnis bleibt.

In jedem Fall gilt: Die traditionelle Position kann so entweder nicht mehr vertreten werden oder es wäre zumindest völlig falsch, sie als gemeinsame Glaubensbasis aller Christen darzustellen.

Ich will Thorsten Dietz ausdrücklich nicht unterstellen, dass er bewusst mit rhetorischen Tricks arbeitet! Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass er ein sehr positives Anliegen hat und einfach nur gesunde, heilsame Theologie vermitteln möchte. Trotzdem wird mir bei diesem Vortrag wie bei kaum einem anderen deutlich, wie grundlegend und tiefgreifend sich meine Theologie von der Theologie von Thorsten Dietz unterscheidet. Denn inhaltlich folgt dieser Vortrag m.E. genau diesem Schema und er mündet letztlich in alle vier genannte Varianten. Man könnte die Argumentation in etwa so nachzeichnen:

  1. Die traditionelle Position, dass Jesus wahrhaftig und leiblich auferstanden ist, stimmt…
  2. … aber es ist nicht die ganze Wahrheit, denn es gibt noch mehr zu beachten: Der Auferstandene hat einen „geistlichen Leib“, der Dinge tun kann, die die Fähigkeiten eines normalen Leibs übersteigen. Der Fokus auf die sichtbare, greifbare leibliche Auferstehung wäre deshalb eine falsche Verengung…
  3. … zumal er am Kernanliegen von Ostern vorbeizielt, weil es hier ja um das Hereinbrechen der neuen Welt Gottes geht, nicht um die Überwindung des Todes durch einen Einzelnen.
  4. Das Ergebnis ist:
    a) Der Gebrauch der Kategorie „leiblich“ ist falsch, weil er auf einer falschen Brille basiert, die nicht von Gottes neuer Welt her schaut und weil unsere irdischen Kategorien für den Auferstandenen nicht passen.
    b) Die Leiblichkeit des Auferstandenen ist für die Osterbotschaft nicht bedeutsam, weil es dort im Schwerpunkt um das Anbrechen von Gottes neuem Reich geht.
    c) Weil in der Begegnung mit dem Auferstandenen nichts bleibend greifbar ist, gibt es viele alternative und immer wieder neue Zugänge. Kein Zugang kann als gültige Wahrheit für alle festgeschrieben werden.
    d) Die Wahrheit über die Auferstehung bleibt letztlich unscharf und ein Geheimnis, weil sie in paradoxen Begriffen beschrieben wird.

Die Annahme, Christen müssten an die leibliche Auferstehung glauben, ist deshalb ein ganz schlechtes Zeichen dafür, dass wesentliche Dinge von dem, was Glaube ausmacht, irgendwie nicht verstanden sind.“ (ab 1:06:13)

Folgerichtig hält Thorsten Dietz auch überhaupt nichts von glaubensverteidigender Apologetik, die Argumente sammelt für die Historizität der Auferstehung: „Es ist so wesentlich für den Glauben, dass er nicht in ein System gepresst wird, was mehr verspricht, irgendeine rational zwingende Apologetik, in irgend so ein Beweisverfahren, wo Du am Ende denkst: Gut, dass ich Christ bin, bin ich wenigstens schlau, alle anderen sind doof. … Das ist alles so Käse irgendwie, weil diese Spur der entzogenen Präsenz dabei im Grunde nicht mehr gehalten wird.“ (ab 58:40)

Führt das Sammeln von Argumenten für die Historizität der Auferstehung (wie es z.B. einer der meistgelesenen AiGG-Artikel[19] oder Lee Strobel im Millionenbestseller „Der Fall Jesus“ tut) somit in arrogante Rechthaberei, statt in eine ermutigende Glaubensvergewisserung? Ist die Rede von der „Historizität der Auferstehung“ ohnehin falsch, weil sie ein irriges Verständnis des Wesens historischer Forschung zugrunde legt und nicht versteht, dass seriöse Historiker sich auf Erklärungen beschränken müssen, die für Menschen jeglicher Weltanschauung nachvollziehbar und akzeptabel sind? Dietz meint, er „werde nicht anfangen, Gott jetzt zum Teil einer historisch greifbaren Welt zu machen. Das wäre ein Kategorienfehler.“ [20] Richtig daran ist: Natürlich ist Gott nicht Teil der Welt. Die Bibel trennt strikt zwischen Schöpfer und Schöpfung. Aber die Bibel läuft über von Berichten, dass Gott immer wieder wundersam in den Lauf der Geschichte eingegriffen hat (so wie Peter Wick es in Vortrag 6 ausführlich darlegt). Wer diesen „Gottesfaktor“ prinzipiell ausschließt, weil er für Atheisten nicht akzeptabel ist, muss beim Nachzeichnen der historischen Ereignisse zwangsläufig zu falschen Narrativen kommen, sofern die Bibel in ihrer Darstellung recht hat. Es geht bei dieser Debatte ja nicht um Joker für „UFO-Gläubige“ oder „Anhänger von sumerischen Göttern“, wie Dietz meint, sondern um eine simple Grundsatzfrage: Dürfen ausschließlich naturalistische Erklärungen als wissenschaftlich gelten? Ist die „Gotteskarte“ bei der Rekonstruktion historischer Entwicklungen grundsätzlich von vornherein verboten, so dass ich mich als Wissenschaftler bei der Frage nach der Entstehung des Osterglaubens oder der biblischen Texte prinzipiell auf innerweltliche Vorgänge beschränken muss, auch wenn sämtliche Zeichen, Spuren und Quellen dagegen sprechen? Auch wenn Thorsten Dietz sich dagegen wehrt: Eine Wissenschaft, die bei der Rekonstruktion historischer Abläufe von vornherein niemals mit Einflussfaktoren rechnen und argumentieren darf, die Atheisten nicht mittragen können, mündet zwangsläufig in genau diesen methodischen Atheismus, der in der Theologie so unendlich großen Schaden angerichtet hat und der in der Ursprungsforschung den Rückschluss von der Schönheit der Schöpfung auf die Größe des Schöpfers (Römer 1, 20) für naiv hält, wie Siegfried Zimmer es in Worthaus 8 formuliert hat.[21]

Trotzdem ist Thorsten Dietz in zwei Punkten natürlich zuzustimmen:

  1. Ja, selbstverständlich ist der auferstandene Jesus viel mehr als eine wiederbelebte Leiche.
  2. Ja, selbstverständlich erschöpft sich der Osterglaube bei weitem nicht im Fürwahrhalten der Leiblichkeit der Auferstehung Jesu.

Allerdings frage ich mich: Sind das nicht Binsen? Mir sind persönlich noch keine Christen begegnet, deren Osterglaube sich darin erschöpft, die Leiblichkeit der Auferstehung hochzuhalten. Aber obwohl Ostern natürlich viel, viel mehr ist als der Jubel über das leere Grab und das historische Ereignis der leiblichen Auferstehung, kommen trotzdem Millionen von Christen nicht auf die Idee, diesen historischen Kern der Ostergeschichte und die Leiblichkeit des Auferstehungsgeschehens für unklar oder unwichtig zu halten. Warum ist das so? Warum ist die „historische Tatsächlichkeit“ der berichteten Ereignisse offenkundig nicht so nebensächlich, wie heute immer öfter behauptet wird[22]? Lesen wir dazu doch noch einmal, was der Evangelist Lukas direkt im Anschluss an die Emmaus-Episode schreibt:

„Als sie aber davon redeten, trat er selbst mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Seht meine Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. Da sie es aber noch nicht glauben konnten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. Und er nahm’s und aß vor ihnen.“ (Lukas 24, 36-42)

Bemerkenswert ist, dass Lukas den Gedanken an eine nicht-leibliche Auferstehung ausdrücklich aufgreift und ausführlich widerlegt. Lukas berichtet sogar: Auch die Jünger „meinten, sie sähen einen Geist“. Kein Wunder, denn sie hatten ja soeben erlebt, dass dieser Jesus auch durch Wände gehen kann. Aber dann nimmt Lukas sich ausführlich Zeit, um dieses Missverständnis explizit zu widerlegen und zu zeigen: Jesus ist zwar verwandelt. Aber das Grab ist leer. Jesus hat immer noch diesen Leib mit den Narben, die ihm am Kreuz zugefügt wurden. Jesus bittet extra um etwas zu essen, weil es ihm wichtig ist, klarzustellen: Ich lebe! Und zwar nicht nur in eurer Predigt, in euren Herzen oder in einer vergeistigten Form sondern physisch, aus „Fleisch und Knochen“, anfassbar, greifbar und ganz real!

Warum betont Lukas diese Dimension der Leiblichkeit so ausführlich? Ganz einfach: Berichte von geisterhaften Erscheinungen gab es zu allen Zeiten. Damit rechneten die Menschen, auch die Jünger damals, wie Lukas beschreibt. Erst die Leiblichkeit macht das Osterereignis so einzigartig. Erst darin steckt eine radikale Hoffnungsbotschaft: Der Tod, der ultimative Feind des Menschen und des Lebens, ist ganz real besiegt worden! Dieser Jesus, der den Lazarus auferweckt hat, ist selbst wieder aus dem Grab gekommen. Wer die leibliche Dimension als historische Tatsächlichkeit aus diesen Berichten entfernt oder für unrelevant erklärt, nimmt ihnen deshalb ihre Spitze, ihren Glanz und ihre Wucht.

Im Neuen Testament wird die Hoffnung der Gläubigen auf eine eigene Auferstehung direkt mit der Auferweckung Jesu verknüpft (1. Korinther 6,14; 2. Korinther 4,14). Ohne diese Auferstehungs­hoffnung ist die gewaltige Opferbereitschaft der ersten Christen nicht erklärbar. Der leiblich auferstandene Jesus war und ist deshalb für den christlichen Glauben absolut zentral.[23] Natürlich ist richtig, dass die Osterbotschaft noch viel mehr enthält. Aber das heißt nicht, dass die Leiblichkeit deshalb nebensächlich oder irrelevant wäre. Im Gegenteil! Das Bekenntnis: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ (Lukas 24, 34) ist der Urschrei der christlichen Kirche. Wenn die Behauptung der biblischen Autoren von der historischen Tatsächlichkeit des leiblichen Charakters der Auferstehung in den Bereich des Subjektiven, Nebensächlichen und Beliebigen verschoben wird, dann wird die allerzentralste Botschaft der Kirche Jesu entkernt.

Es ist deshalb eine schwerwiegende Verengung, zu behaupten, der christliche Glaube sei „nicht ein Glauben an das „Gesehen-haben“ irgendeiner physischen Gegebenheit.“ Die Apostel sagten ja ganz im Gegenteil: „Wir können nicht aufhören, von dem zu erzählen, was wir gesehen und gehört haben.“ (Apg. 4, 20) Richtig ist zwar: Der christliche Glaube IST nicht ein Glaube an etwas, was physisch gesehen wurde. Aber er basiert nun einmal unter anderem genau darauf! Der bekannte US-ameri­kanische Theologe Timothy Keller schreibt: „Das christliche Evangelium ist kein gut gemeinter Rat, sondern es ist gute Nachricht. Es ist keine Handlungsanleitung, was wir tun sollten, um uns selbst zu retten, sondern vielmehr eine Verlautbarung, was bereits für unser Heil getan wurde. Das Evangelium sagt: Jesus hat in der Geschichte etwas für uns getan, damit wir, wenn wir im Glauben mit ihm verbunden sind, Anteil an dem bekommen, was er getan hat, und so gerettet werden.“ [24] Deshalb hängt für die Glaubwürdigkeit des biblischen Zeugnisses und somit letztlich auch für den christlichen Glauben insgesamt so unendlich viel daran, ob die Berichte über die großen Taten Gottes auch tatsächlich geschehen sind, wie die biblischen Autoren es uns berichten wollten, wie es in der Bibel selbst an keiner Stelle bezweifelt wird und wie es die Kirchenväter in Bekenntnisform gegossen haben. Ob man an die Leiblichkeit der Auferstehung glauben MUSS, um gerettet zu werden, kann ich nicht beurteilen, das möchte ich Gott überlassen. Aber Fakt ist: Diesen Glauben aufzugeben oder in den Bereich des Subjektiven und Beliebigen zu verschieben, hat gewaltige Konsequenzen für die Botschaft der Kirche. Wenn nicht einmal die Osterbotschaft irgendetwas enthält, was wir ganz selbstverständlich gemeinsam mit allen Christen weltweit fröhlich gemeinsam bekennen, besingen, feiern und weitergeben können, dann hat die Kirche ihren gemeinsamen Grund und ihre gemeinsame Botschaft verloren. Dann verlieren die kirchlichen Institutionen ihre Einheit, ihre missionarische Dynamik, ihre Mitglieder und ihre Zukunft, so wie es überall in den liberal geprägten Kirchen der westlichen Welt zu beobachten ist.


11. Vortrag 9.5.2: Prof. Dr. Siegfried Zimmer am 11. Juni 2019

Jesus und die blutende Frau (MK 5, 21-43)

In diesem Vortrag legt Siegfried Zimmer die miteinander verbundenen Berichte der Heilung der blutflüssigen Frau und der Auferweckung der Tochter des Jairus aus. Beide Frauen sind weder Ehefrau noch Mutter – ein Status, der weder in der damaligen Gesellschaft noch in der Kirche große Wertschätzung erfahren habe. Deshalb meint Zimmer (ab 19.23): „Beide Erzählungen haben irgendwie die gleiche Frage: Wie kann man als Frau glücklich leben in einer männerdominierten Welt. Irgendwie kreisen die Erzählungen um solche Fragen.“ Aufgrund der unmenschlichen Vorgaben des mosaischen Gesetzes sei die blutflüssige Frau als „Unreine“ und „Unberührbare“ umfassend aus der Gesellschaft ausgegrenzt und stigmatisiert worden, weil alles, was sie berührte, als unrein galt. Trotzdem muss diese Frau geahnt haben, dass Gott anders ist als das damalige destruktive religiöse System, auch „wenn es millionenmal in irgendeiner heiligen Schrift steht.“ (45:41) Deshalb brachte sie den Mut auf, sich heimlich „wie eine Diebin“ bei Jesus ihre Heilung zu holen, obwohl sie dabei viele Menschen berühren musste. Zu ihrer Überraschung nimmt Jesus wahr, was geschehen ist. Aber statt sie zu verurteilen nennt er sie eine „Tochter“ und zeigt ihr damit seine Nähe und bestätigt, dass sie alles richtig gemacht hat.

Kommentar:

Noch nie ist mir innerhalb einer Worthaustagung ein so direkter Gegensatz zwischen 2 Referenten aufgefallen. Während Peter Wick in Vortrag 6 den Wunderbegriff verteidigt, hält Zimmer ihn hier für eine „Nebelkerze“. Er möchte ihn sogar genauso wie den Begriff „übernatürlich“ am liebsten verbieten, denn: „Die Leute, die vom Übernatürlichen ein bisschen auffallend viel reden, unterschätzen in aller Regel das Natürliche.“ (3:31) Die Evangelien, in denen auch aus der Sicht Zimmers die Heilungsgeschichten eine große und wichtige Rolle spielen, hätten ganz bewusst nicht die üblichen griechischen Begriffe für spektakuläre, Nervenkitzel auslösende Wunder („Terata“ oder „Thaumata“) verwendet[25] sondern die Wunder Jesu zumeist als „Dynameis“ (Kraftwirkungen) bezeichnet – ein Begriff, der auch für Jesu Verkündigung verwendet wird, die somit auf das gleiche Niveau gehoben seien wie die Wunder. Zur Ursache des Blutflusses stellt er ausführliche Vermutungen über psychosomatische Ursachen an (v.a. eine gestörte, kalte, abwertende Vaterfigur).

Aber was bedeutet all das für die Frage nach der historischen Tatsächlichkeit der Wunder, die aus evangelikaler Sicht bedeutsam ist? Dazu sagt Zimmer nichts. Aber jedenfalls grenzt er sich ganz bewusst vom evangelikalen Wunderverständnis ab (ab 6.42): „Ich bin ja kein evangelikaler Theologe, ich bin aber auch überhaupt nicht ein liberaler Theologe. Ich halte beides für gleich problematisch.“

Noch viel schmerzlicher ist aus evangelikaler Sicht Zimmers derbe Disqualifizierung des mosaischen Gesetzes, wenn er z.B. ab 36:57 sagt: „In religiösen Dingen, da gibt es Systeme, da gibt es Reinigungsgesetze von äußerster Kälte und Frauenfeindlichkeit. Die können auch in der heiligen Schrift stehen. 3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien? Die Frau ist ja in ein Leben gezwungen, wo eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung unmöglich ist.“ Nun gibt es aus evangelikaler Sicht in Bezug auf die Regeln der Tora sicher einige anspruchsvolle Fragen zu bearbeiten. Immer wieder wurde aber auch schon gezeigt: Das mosaische Gesetz ist – vor allem im Vergleich mit dem Gesetz anderer Völker – außerordentlich human und segensreich für das jüdische Volk gewesen.[26] Davon höre ich bei Zimmer nichts. Stattdessen wirken auf mich die verschiedentlichen Bekundungen Zimmers, dass für ihn die Bibel Gottes Wort sei, als hohl und inhaltsleer, wenn er zugleich biblische Texte als „Männerphantasie“ abqualifiziert.


Fazit und Ausblick

Quo Vadis Worthaus? Am 29. Februar 2020 hat Worthaus ein besonderes Event veranstaltet, bei dem neben Siegfried Zimmer und Thorsten Dietz auch Eugen Drewermann gesprochen hat[27] – also ein Mann, der sämtliche in der Einleitung genannten „Knackpunkt-Fragen“ eindeutig und klar verneint hat.[28] Die Thesen Drewermanns werden von Worthaus leidenschaftlich und undifferenziert beworben. In einer einmaligen Aktion wurden extra noch Drewermanns Antworten auf die Fragen des Publikums nach dem Vortrag veröffentlicht. Das unterstreicht: Bei Worthaus sind zwar regelmäßig Abgrenzungen gegenüber evangelikalen Überzeugungen zu hören, aber auf der liberalen Seite des Spektrums werden keine wirksamen Grenzen gezogen.

Das führt zu der wichtigeren Frage: Quo vadis evangelikale Bewegung? Welche Konsequenzen wird es haben, wenn diese Theologie unsere evangelikale Welt immer stärker mitprägen darf? In den letzten Jahren begegnet mir auch innerhalb der evangelikalen Bewegung immer öfter die Klage, dass es den Konservativen an Toleranz fehle. Meine evangelische Kirche ist derweil schon längst einen Schritt weiter: Da sind die Konservativen immer öfter nicht mehr nur Störenfriede einer schönen Pluralität sondern grundsätzlich Störenfriede mit einer nicht zu duldenden Position.[29] Die theologische Liberalisierung hat meiner evangelischen Kirche gerade keine Pluralität sondern den immer weiter voranschreitenden Ausschluss konservativer Standpunkte gebracht. Worthaus 9 macht an vielen Stellen deutlich, woran das liegt, und damit meine ich nicht nur die übliche Polemik, die Siegfried Zimmer seit Jahren gegenüber Konservativen an den Tag legt. In Vortrag 9 ist Thorsten Dietz zwar bereit, das stellvertretende Sühneopfer (er nennt das das „anselm’sche Schema“) trotz all der von ihm empfundenen Unstimmigkeiten gelten zu lassen, wenn sie denn subjektiv als hilfreich erlebt wird – aber eben nur als „eine Perspektive unter ganz vielen“. So höre ich das oft in meiner evangelischen Kirche: Evangelikale werden zwar geduldet, aber nur, wenn sie ihre Position nicht mehr objektiv für Alle sondern nur noch subjektiv für sich persönlich für bedeutsam halten. Aber um diese Forderung zu erfüllen, müssten Evangelikale aufhören, Evangelikale zu sein.

Evangelikale sind nun einmal im Kern davon überzeugt, dass es für jeden Menschen entscheidend wichtig ist, sich auf das stellvertretend für uns vergossene Blut Jesu am Kreuz zu berufen und die darin angebotene Vergebung persönlich anzunehmen. Es war diese Überzeugung, die seit Jahrhunderten bibeltreue Christen motiviert hat, unter größten persönlichen Opfern als Missionare in die ganze Welt zu gehen und allen Menschen aller Religionen das rettende Evangelium zu bringen. Neben dem von kirchlichen Stellen immer härter geführten Kampf gegen evangelikale Sexualethik ist es genau dieser missionarische Eifer der Evangelikalen, der in einem unversöhnlichen Widerspruch steht zu einer Theologie, die evangelikale Kernbotschaften in Frage stellt und Mission insgesamt mit größter Skepsis begegnet.[30]

Evangelikale Leiter müssen sich deshalb bewusst sein, dass sie sich einen unlösbaren Konflikt mitten in ihre Gemeinschaften und Organisationen holen, wenn sie dieser Theologie Raum geben in ihren Ausbildungsstätten, ihren Medien und ihren Gemeinschaften. Die Frage, wie man mit Worthaus und ähnlichen theologischen Einflüssen zukünftig umgehen möchte, sollte deshalb unbedingt offen besprochen werden, wenn man nicht unvorbereitet in harte und schmerzhafte Spaltungen hineinschliddern möchte. Der Theologe Thomas Schirrmacher schrieb jüngst in einem bemerkenswerten Text: „Theologischer Streit muss sein!“ Es ist keine Lösung, theologische Differenzen einfach unter den frommen Teppich zu kehren um eines lieben Scheinfriedens willen. Verdrängte Differenzen führen am Ende nur in umso tiefere Konflikte und Gräben.

Dabei sollte meines Erachtens klar sein: Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung! In meiner evangelischen Kirche hat sich nie eine Kirchenleitung bewusst für die heutige theologische Ausrichtung ihrer Ausbildungsstätten entschieden, obwohl genau dort ja über die zukünftige Ausrichtung der Kirche entschieden wird. Man hat die Entwicklung laufen lassen. Das Ergebnis ist, dass diese Art von Theologie unsere Ausbildungsstätten im Sturm genommen und alles Konservative weitgehend und unumkehrbar verdrängt hat. Ich halte es für naiv, zu glauben, dass das an freien Ausbildungsstätten nicht genauso kommen könnte – wenn es in Teilen nicht schon längst in vollem Gange ist. 2015 schrieb Sandra Bils, die neue Dozentin an der CVJM-Hochschule und geplante Referentin von Worthaus 10, in ihrem Blog: „Ich freue mich, wenn sich mein Landesbischof öffentlich äußert und stolz auf die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Hannoverschen Landeskirche hinweist und gleichzeitig merke ich, dass es mir nicht weit genug geht, weil er im gleichen Atemzug anderen Meinungen eine Daseinsberechtigung zuspricht.“ Keine Daseinsberechtigung für die konservative Position? Auch hier zeigt sich: Selbst wenn man grundlegende theologische Differenzen menschlich und im Geist der Liebe Christi auszuhalten vermag – der spaltende Konflikt kommt spätestens dann, wenn man im Gemeindealltag praktische Entscheidungen treffen muss. Die methodistische Weltkirche musste das im letzten Jahr schmerzhaft durchbuchstabieren.

Meine Bitte ist umso mehr: Wir müssen reden – offen, respektvoll, sachlich, im Geist der Liebe Jesu, aber auch ehrlich und ohne Beschönigung der offenkundigen Differenzen. Denn nur eine ehrliche Diagnose kann den Weg für eine wirksame Therapie eröffnen für die Konflikte, die unter uns Evangelikalen schon jetzt schmerzhaft aufgebrochen sind und die unsere Einheit, unsere Ausstrahlung und missionarische Dynamik belasten.


[1] In Hossa Talk Nr. 105 „Siggi wehrt sich“, ab 1:34:00

[2] Insgesamt wurden bei Worthaus 9 dreizehn Vorträge gehalten. Die beiden letzten Vorträge waren zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Artikels noch nicht veröffentlicht worden.

[3] Siehe dazu den Vortrag in Worthaus 8 von Dr. Patrick Becker „Wo bleibt der Sinn? Zu den Einseitigkeiten naturwissenschaftlicher Weltdeutung“, in dem er ab 24:09 sagt: „Ich würde prognostizieren, die Entstehung des Lebens wird uns von den Naturwissenschaften erklärt werden. … Und selbst wenn es eine Seele geben soll, dann … kann sie keine Relevanz haben, denn … es gibt nicht den Moment, wo irgendwann mal etwas eingreift, was ich als Naturwissenschaftler prinzipiell nicht fassen könnte. Das meint nicht, dass ein Naturwissenschaftler meint, er hätte den Allerklärungsanspruch. … Kein Naturwissenschaftler wird den Schöpfungsakt oder den jüngsten Tag in Frage stellen, dafür wird er sich nicht zuständig erklären. Aber die Zeit dazwischen, da wird er sagen: Wenn ein Thomas von Aquin darauf besteht, da finden Wunder statt – also ein duales Denken, ein Eingreifen von außen in die Welt hinein – da wird der Naturwissenschaftler sagen: Du magst daran glauben, aber das sind alles nur subjektive Vorstellungen von einem Geschehen, das ich Dir, vorausgesetzt genügend Intelligenz, genügend Zeit, … naturwissenschaftlich erklären könnte. … Weil das duale Denken inzwischen nicht mehr viele Freundinnen und Freunde findet, darum hat auch diese Intelligent-Design-Richtung zumindest in Europa eher einen Außenseitercharakter.“ Becker schließt sich im Verlauf des Vortrags diesem Wissenschaftsbegriff ausdrücklich an.

[4] Ausführlich erläutert in der ersten Hälfte des Vortrags von Markus Till „Starke Argumente – Warum es auch heute noch vernünftig ist, der Bibel zu vertrauen“ vom 1.11.2019, gehalten bei einer Tagung des DCTB

[5] Im Vortrag „Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu aus heutiger Perspektive“ vom 9.6.2012

[6] siehe dazu Markus Till: „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ im AiGG-Blog, 25.1.2018

[7] Siegfried Zimmer im Worthausvortrag „Gibt es einen strafenden Gott?“ ab 1:03:58: „Der Sünder hat den ewigen Tod verdient. Er müsste jetzt eigentlich bestraft werden. … Aber Gott will eben den Tod des Sünders nicht. Was kann er machen? Der Sünder selber kann die Sühne nicht leisten. Also schickt er den sündlosen Gottessohn und der opfert sich stellvertretend und damit sind die Rechnungen beglichen. … Dieses Verrechnungsmodell ist durch und durch unbiblisch. … In diesem Modell ist Gott das Problem. Gott wird versöhnt. Der Gottessohn bringt ein Sühnopfer seinem Vater, damit der zornige Gott jetzt besänftigt wird und vergeben kann. … Nein. In der Bibel wird der Mensch mit Gott versöhnt aber nicht Gott mit dem Menschen. … Golgatha ist nicht so gemeint, dass man Gott hier umstimmt vom zornigen Gott auf den sanftmütigen Gott. Nein. … Gottes Wesen ist die Liebe vorher und nachher. Das andere, was ganz gefährlich ist in diesem Modell: … Der Tod Jesu wird isoliert von seinem öffentlichen Auftreten und das darf man nicht, denn der Tod Jesu ist ja innergeschichtlich die Konsequenz seines Auftretens. Warum wurde er verurteilt vom hohen Rat und römischer Militärjustiz? Leider gibt es im Deutschen nur das Wort „Opfer“. Das ist ein sehr schillerndes Wort. Im Englischen unterscheidet man zwischen „victim“ … und „sacrifice“. „Victim“ ist ein Opfer VON etwas: Verkehrsopfer, Kriminalitätsopfer. Und „sacrifice“ ist ein Opfer FÜR etwas. Wir müssen Jesu Tod erst mal als „victim“ würdigen. Jesus ist erst mal ein Opfer der römischen Militärbehörde geworden und er ist gefoltert worden. Wenn wir sofort mit „sacrifice“ arbeiten, dann haben wir ein Modell, da muss Jesus halt ans Kreuz. … Dieses Modell löst sich völlig aus den historischen Realitäten, den Personen aus Fleisch und Blut, mit denen Jesus es im Prozess usw. zu tun hatte. Es ist ein Sandkastenspiel. So hat man in den Jahrhunderten des Abendlands das Christusverständnis und das Gottesverständnis hineingezwängt in eine Straflogik, als ob Gott die Strafe nötig hätte. Im Grunde genommen muss man sagen: In diesem Modell ist Gott gar nicht mehr der Herr. Er ist eigentlich ein Knecht einer Straflogik. Denn am Ende muss Gott eben diese Straflogik erfüllen und damit seiner Gerechtigkeit Genüge tun. Diese Vorstellung, dass … es irgendwie eine heilige göttliche Rechtsordnung gäbe oder Gerechtigkeitsordnung gäbe, die man erst erfüllen muss, bevor Gott verzeihen kann, ist ein Märchen. … Jesus wird da verkürzt auf einen Typ, der die Rechnung bezahlt. … Aus diesem Modell, ihr Lieben, müssen wir, dürfen wir – jubilate – ganz aussteigen. Dieses Modell verdirbt das Evangelium und den liebenden Gott im Kern.“ Das Bild des „Loskaufs“ ist jedoch keine Verkürzung sondern biblisch breit belegt (Matth.20,28;Mk.10,45;1.Kor.6,20;7,23;Gal.3,13;4,5;1.Tim.2,6;1.Petr.1,18;Offb.5,9;14,3). Eine ausführliche Antwort auf Zimmers Position, Gott müsse nicht versöhnt werden, bietet der Artikel von Markus Till „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ sowie Holger Lahayne in „Warum musste Jesus sterben?“

[8] „Das Sündopfer … ist besonders heilig! Der Herr hat es euch gegeben, damit ihr die Gemeinschaft von ihrer Schuld befreit und vor dem Herrn Wiedergutmachung für sie schafft.“

[9] „Ich habe euch das Blut gegeben, damit ihr dadurch Wiedergutmachung für eure Sünden bewirken könnt.“

[10] In seinem Buch „Das Kreuz“ benennt er eine Reihe solcher „Übertritte“, in denen über das biblische Zeugnis hinausgegangen wurde: „Das Kreuz war kein Tauschhandel mit dem Teufel … ebenso wenig ein exaktes Äquivalent, … um einen Ehrenkodex oder einer juristischen Spitzfindigkeit Genüge zu tun; ebenso wenig eine notgedrungene Unterordnung Gottes unter eine moralische Autorität über ihm, den er auf andere Weise nicht hätte entkommen können; ebenso wenig die Bestrafung eines sanftmütigen Christus durch einen strengen und rachsüchtigen Vater; ebenso  wenig ein Abringen des Heils von einem gemeinen und widerwilligen Vater durch einen liebenden Christus; ebenso wenig ein Handeln des Vaters, das Christus als den Mittler aussparte. Stattdessen erniedrigte sich der gerechte, liebende Vater selbst, indem er in … und durch seinen einzigen Sohn Fleisch, Sünde und Fluch für uns wurde, um uns zu erlösen, ohne seinen eigenen Charakter zu kompromittieren.“ In John Stott: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 2009, S. 204.

[13] Vor allem dort, wo es „an einen Feudalherrn erinnert, der Ehre fordert und Unehrerbietigkeit bestraft“. In John Stott: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 2009, S. 152

[14] In John Stott: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 2009, S. 259

[15] Gerhard Barth in „Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments“, Göttingen 2003, S. 42.

[16] Besonders deutlich wird das im Buch der Klagelieder, siehe dazu der AiGG-Artikel „Das Evangelium – Gottes Zorn und Gottes Gnade“, veröffentlicht im AiGG-Blog, 2.8.2018

[17] siehe z.B. Jesaja 42, 24-25

[18] „Ursprung und Wesen alles christlichen Lebens liegen beschlossen in dem einen Geschehen, das die Reformation Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein genannt hat.“ B. D. Bonhoeffer, Ethik, München 1958, S. 75.

[19] „Die Auferstehung Jesu: Fakt oder Fiktion? Der Indizienprozess“, im AiGG-Blog, 25.3.2018

[20] Wörtlich sagt Dietz zu der Frage, ob die Auferstehung ein historisches Ereignis ist: „Das ist nicht meine Sprache dafür, denn ich halte es für sinnvoll, „historisch“ als eine bestimmte Betrachtungsweise zu verwenden, wo Historiker völlig unabhängig von ihren Weltanschauungen mit den gleichen Karten spielen. Ich glaube, historische Wissenschaft kann nur so funktionieren, dass Christen und Atheisten und Humanisten und UFO-Gläubige und Sektierer und Menschen, die an sich selbst glauben und alle im Grunde sagen: Wir einigen uns in der historischen Wissenschaft darauf: Wir akzeptieren nur allgemein einsichtige Evidenz. Wir konzentrieren uns allein auf die greifbare, quellenbasierte, evidente Vorfindlichkeit von Thesen und Hypothesen, und das muss für uns eben im Rahmen menschlicher Gestaltung erklärbar sein. Ich halte es auch für nicht so ganz glücklich zu sagen: Das nennen wir dann methodischen Atheismus. Es geht gar nicht darum, irgendwie atheistisch da was reinzubringen, das ist ja gar nicht der Punkt. Atheisten werden bei dieser Betrachtung nicht privilegiert. Es geht um Evidenz, es geht um Spuren, es geht um Zeichen, es geht um Quellen. DAS ist der Punkt, das hat mit Atheismus überhaupt nichts zu tun. Es geht nur darum, dass alle mit denselben Karten spielen. Es wär komisch zu sagen: Alle spielen mit denselben Karten, die 32, die man vom Skat kennt, aber Christen kriegen noch einen Joker dazu, im Zweifelsfall spielen sie die Gotteskarte. Die UFO-Gläubigen kriegen noch einen Joker dazu: Im Zweifelsfall waren es grüne Männchen oder so. Und noch jemand: Die an die sumerischen Götter glauben, ja, O.K., ist auch ein Joker, ist O.K. … Das ist ja Blödsinn irgendwie. Das ist dann Käse. Da würde ich dann doch lieber sagen: Wir machen historisches Arbeiten als seriöse Wissenschaft. Es wird Menschen geben, die sagen: So, das was historische Arbeit ist, das setze ich für mich gleich mit den Rahmenbedingungen von Realität. Ich glaube, dass das historische, empirische, evidenzbasierte Fragen nach Zeichen, Spuren, Quellen usw. es ist für mich weltanschaulich identisch mit dem, was für mich mein Realitätsrahmen ist. Das ist aber natürlich nicht das, worauf alle und jede und so sich verpflichten kann oder muss. Es wird manchmal so getan als würden die historischen Bibelwissenschaften atheistisch arbeiten und als sei es eine weltanschauliche Voraussetzung der Bibelwissenschaft, alles atheistisch zu betrachten. Das ist so nicht der Fall. Und selbst wenn man ein paar Theologen findet, die das genau so sagen, dann ist es ihre Entscheidung, das Instrumentarium historischer Wissenschaft für sich selbst als allein akzeptablen weltanschaulichen Rahmen zu setzen. Und es gibt viele, die historisch arbeiten und an solchen Stellen sagen: Hier ist irgendwas bleibend mysteriös. Es entzieht sich unserer letzten Auflösbarkeit und als Christ oder als Christin sage ich: Ich glaube, dass Gott da seine Finger im Spiel hat. Aber das ist ein Glaubensurteil und ich werde nicht anfangen, Gott jetzt zum Teil einer historisch greifbaren Welt zu machen. Das wäre ein Kategorienfehler. So würde ich es sagen, so würde ich es empfehlen. Jetzt muss man auch gleich dazu sagen: Das ist ja, man muss da den ganzen Brillenvortrag sich gut durchdenken und muss das letztlich auch akzeptieren, dass Wirklichkeitszugänge in diesem Sinne immer matrixgesteuert sind, paradigmaabhängig in bestimmte Horizonte eingespeist sind. Das muss man verstehen, das ist nicht für den normalen Schüler der Mittelstufe oder so zu erwarten, vielleicht auch für viele Menschen nie so ganz. Wenn Menschen letztlich sagen: Historisch ist für mich wirklich und wirklich ist für mich historisch, so dann ist Jesus meinetwegen historisch auferstanden. Aber ich hab da eben die Gedanken, die ich da gerade dazu erläutert habe, wie ich es für sinnvoll halte.“ (ab 26:21)

[21] „Man kann intelligent-design-mäßig Gottes Schaffen nicht analysieren. … Aus der Analyse der Welt kann man erkennen: Das hat ein Schöpfer gemacht. … So einfach ist es nicht. … Die lieben Christlein legen es sich so hübsch naiv zurecht.“ Siegfried Zimmer in: Die erste Schöpfungserzählung (1. Mose 1,1-2,4a) – Teil 2, Vortrag vom 21.5.2018 in Weimar

[22] So schreibt z.B. Jakob Friedrichs in seinem aktuellen Buch: „Wenn es Dir also wichtig ist, an Jesus als den Sohn einer Jungfrau zu glauben, dann tu es. Mit Freude. Wenn dich diese Vorstellung jedoch eher befremdet, dann lass es. Und bitte nicht minder freudig. Es ist nicht der Kern der Weihnachtsgeschichten!“ In: „Ist das Gott oder kann das weg?“ Asslar, 2020, S. 18.

[23] Der ehemalige Papst Benedikt XVI schreibt dazu: „Nur ein wirkliches Ereignis von radikal neuer Qualität konnte die apostolische Predigt ermöglichen, die nicht mit Spekulationen oder inneren, mystischen Erfahrungen zu erklären ist. Sie lebt in ihrer Kühnheit und Neuheit von der Wucht eines Geschehens, das niemand erdacht hatte und das alle Vorstellungen sprengte.“ In „Jesus von Nazareth II“, Freiburg, 2011, 300f.

[24] In „Adam, Eva und die Evolution“, Giessen, 2018, S. 33.

[25] Was Zimmer nicht erwähnt: In Apostelgeschichte 2, 22 verwendet Lukas diesen Begriff sehr wohl in Bezug auf Jesu Wundertätigkeit, wenn er Petrus in der Pfingstpredigt sagen lässt: „…Jesus von Nazareth, von Gott unter euch ausgewiesen durch mächtige Taten und Wunder („Terata“) und Zeichen“.

[26] Siehe dazu z.B. den Blogartikel von George Athas: „Does the bible force a woman to marry her rapist?“

[27] Eine Zusammenfassung und Kommentierung des Worthausvortrags von Eugen Drewermann findet sich in Markus Till: „Ist Angst das Grundproblem der Menschheit?“, veröffentlicht in „Daniel-Option“ am 1.5.2020

[28] So äußerte Eugen Drewermann z.B. in einem Spiegel-Interview unter anderem: „Alle Wundererzählungen über Jesus sind, sieht man von den Heilungsberichten ab, symbolischer Natur, obwohl sie von den Evangelisten so verfasst wurden, dass sie als historische Berichte verstanden werden konnten. … SPIEGEL: Also geben Sie Bultmann recht: “Ein Leichnam kann nicht wieder lebendig werden und aus dem Grabe steigen.”  DREWERMANN: So ist es, das gilt für das Grab Jesu, und es gilt für alle anderen Gräber, in Verdun und in Vietnam, in Paderborn und in Hamburg. Die Auferstehung ist dort genauso wenig sichtbar wie drei Tage nach Ostern in Jerusalem.  … Die Auffassung, Gott könne die Naturgesetze für die Zeit und die Person Jesu außer Kraft gesetzt und Wunder bewirkt haben, halte ich für falsch und gefährlich. … Nicht bei unwichtigen, sondern gerade bei den wichtigsten Passagen des Neuen Testaments müssen wir feststellen, dass es sich um Legenden, um Symbole, um Mythen handelt. Das gilt insbesondere für die Darstellung von Jesu Geburt, Tod, Auferstehung, Himmelfahrt. … Diese Opfer- und Sühnetheologie war Jesus völlig fremd. … SPIEGEL: Welchen Sinn sah Jesus in seinem Tod, wenn nicht den eines Opfers? DREWERMANN: Er sah in seinem Tod überhaupt keinen Sinn. Er wollte nicht sterben.“

[29] So wies aktuell zum Beispiel das komplette Professorium der Tübinger theologischen Fakultät in einem gemeinsamen offenen Brief die theologische Ablehnung öffentlicher Gottesdienste anlässlich der Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare als unwissenschaftlich zurück und ergänzte, es sei „unerträglich, wenn Ansichten, die eine solche Diskriminierung unterstützen, bis heute in der evangelischen Kirche vertreten werden.“

[30] So schreibt Alexander Garth im Sammelband „Mission Zukunft“: „Es fällt auf, dass die wenigsten innovativen missionarischen Projekte aus dem Bereich der Großkirchen kommen … obgleich sie über immense Ressourcen an Finanzen und Manpower verfügt.“ (S.292) Michael Diener meint dazu: Es ist „wohl nicht ganz zufällig, dass sich alle Beiträge aus der Leitung der EKD mit … ethischen Haltungen der Mission beschäftigen.“ (S.17) Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm äußert: „Mission, wie ich sie verstehe, ist nicht der strategische Versuch, Menschen zu einem bestimmten Bekenntnis zu veranlassen.“ (S.72) Gleich mehrfach wird Fulbert Steffensky mit dem Satz zitiert: „Mission ist die gewaltlose, ressentimentlose und absichtslose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzeptes.“ (S.18) Aber war Paulus auf seinen Missionsreisen wirklich „absichtslos“ unterwegs? Wollte er in erster Linie einfach mal die Welt bereisen? Johannes Reimer entgegnet: „Gemeindeaufbau setzt intentionale Verkündigung des Evangeliums und damit die Hinführung des Menschen zur Entscheidung für den Glauben voraus.“ (S.192) In Michael Diener und Ulrich Eggers (Hrs.): Mission Zukunft – Zeigen was wir lieben: Impulse für eine Kirche mit Vision. Holzgerlingen, 2018.

Postevangelikale: Was sie glauben und was wir daraus lernen können

Postevangelikale sorgen für Diskussionen. Über Internet-Portale wie Worthaus oder Hossa-Talk erreichen sie auch viele evangelikale Christen. Welche Überzeugungen haben sie? Was können Evangelikale von ihnen lernen? Und worin unterscheidet sich ihre Theologie von Überzeugungen, die aus evangelikaler Sicht unaufgebbar wichtig sind? Eine genauere Analyse zeigt: Im Zentrum der Debatten steht letztlich die Bibelfrage. An ihr entscheidet sich die Ausrichtung und die Zukunft der Kirche Jesu.

Die Inhalte dieses Artikels sind auf YouTube als Vortrag verfügbar, der am 1.11.2019 bei einer Tagung des deutschen christlichen Techniker-Bunds (DCTB) gehalten wurde.
Der Artikel steht auch als PDF zum Download bereit.

Was sind eigentlich „Postevangelikale“?

„Postevangelikale“ sind Menschen, die einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen diese Vergangenheit auch gar nicht leugnen sondern ganz bewusst sagen: Die evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte, meines Werdegangs und insofern immer noch Teil meiner Identität. Die Vorsilbe „Post“ („nach“) bedeutet aber auch: Postevangelikale sind jetzt in einer Lebensphase, in der sie diese evangelikale Frömmigkeit hinter sich gelassen haben – aus welchen Gründen auch immer. Die Konsequenz ist mindestens eine theologische Neuorientierung. Viele Postevangelikale haben zudem ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke gesucht. Oder aber sie wollen ihre neue Art des Glaubens für sich persönlich leben und pflegen.

Bekannte Christen outen sich als postevangelikal

In den letzten Jahren haben einige bekannte Christen von sich reden gemacht, auf die diese Beschreibung zutrifft. Torsten Hebel ist vielen Christen noch als Redner von „Jesus-House“ bekannt, der Jugendausgabe von ProChrist. Im Jahr 2015 erschien sein Buch „Freischwimmer“, das für viele Evangelikale ein kleiner Schock bedeutete. Denn darin schrieb er unter anderem: „Mein ganzes Konstrukt ‚Glaube‘, das ich mir lange schöngeredet habe, ergibt für mich einfach keinen Sinn mehr.“ Und ich glaube: Für viele Evangelikale hat es sich schon eigenartig angefühlt, wenn da ein Mann, der ihnen früher den Glauben nahe gebracht hat, jetzt plötzlich selber sagt: Ich kann nichts mehr damit anfangen.“ [1]

Immerhin: Das Ende des Buchs klingt zunächst versöhnlich. Torsten Hebel schildert, dass er den Glauben an Gott durch ein persönliches Erlebnis wieder neu gefunden habe. Der Inhalt dieses neuen Glaubens liest sich allerdings ziemlich unevangelikal: Gott ist für Torsten Hebel keine Person mehr. Er ist uneingeschränkt bei jedem Menschen gleichermaßen vom ersten bis zum letzten Atemzug. Eine durch Sünde bewirkte Gottesferne, die durch eine Entscheidung für Jesus und Vergebung der Schuld überwunden werden kann, scheint es in dieser Sichtweise nicht mehr zu geben.

Umso bemerkenswerter war es, dass das Buch im evangelikalen Umfeld weitgehend unkritisch beworben wurde. Und es hatte dort gewaltigen Erfolg! In idea Spektrum war zu lesen, dass im schwächelnden christlichen Buchmarkt gerade dieser Titel einer der ganz großen Verkaufserfolge war.

Auch Gottfried Müller, der sich selbst mit Vornamen Gofi nennt, war vielen Christen als Jugendevangelist bekannt. Im Jahr 2018 erschien sein Buch mit dem provokanten Titel „Flucht aus Evangelikalien“. Zusammen mit Jakob Friedrichs, der auch durch das christliche Comedy-Duo Superzwei bekannt wurde, produziert Gottfried Müller den Pod­cast Hossa Talk – der aktuell wohl bekannteste christliche Podcast im deutschsprachigen Raum. Mindestens jede zweite Woche erscheint eine neue, etwa 90 minütige Folge, zu der oft auch Gäste eingeladen werden.

Was glauben Postevangelikale?

Der postevangelikale Blogautor Christoph Schmieding fasst wie folgt zusammen, welche Themen Postevangelikale umtreiben: „Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung  mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“ [2]

Die Themen, die unter Postevangelikalen diskutiert werden, sind somit eigentlich nicht neu. Schon seit der Aufklärung wurden im Rahmen der liberaleren Theologie bestimmte Glaubensinhalte konservativer Frömmigkeit in Frage gestellt:

  • Kann es sein, dass Menschen, die sich nicht auf Jesus einlassen wollen, am Ende auf ewig in einer Gottesferne landen, die Jesus als „Hölle“ bezeichnet hat?
  • Ist das Christentum wirklich der einzige Weg zu Gott? Wollen wir wirklich so hochmütig sein, allen anderen religiösen Menschen auf der Welt abzusprechen, dass auch sie einen Weg zu Gott finden können?
  • Wollen wir Menschen wirklich sagen, dass es Sünde ist, vor der Hochzeit miteinander ins Bett zu gehen, sich scheiden zu lassen oder gleichgeschlechtlich zu heiraten? Ist das heutzutage nicht überholt?

Letztlich laufen alle diese Fragen auf die folgende Frage zu: Kann die Bibel wirklich ein Maßstab sein, unter den man sich beugen muss? Ist sie wirklich „Wort Gottes?“ Oder ist sie nicht viel mehr ein historisches Dokument von Menschen, die Erfahrungen mit Gott hatten und subjektiv davon berichten?

Was können wir von Postevangelikalen lernen?

In seinem Buch „Flucht aus Evangelikalien“ sowie im Hossa Talk spricht Gottfried Müller immer wieder über einige problematische Erfahrungen, die er im evangelikalen Umfeld gemacht hat. Sein großes Oberthema ist dabei die These: Es geht oft ziemlich eng zu unter Evangelikalen. Zum Beispiel gebe es oft zu wenig Raum zum Denken. Über den Podcast Hossa Talk sagt Müller: „Wir haben uns vorgenommen, unsere Zweifel, Fragen und Überzeugungen offen auszusprechen. Warum? Weil wir die Erfahrung machen, dass man das in vielen christlichen Gemeinschaften nicht darf.“[3] Müller hat zweifelsohne recht: Es gibt Fragen, über die man nicht gerne spricht unter Evangelikalen, die aber trotzdem viele Evangelikale umtreiben, weil sie sich aufdrängen in einer Welt, die das Christentum in vielen Bereichen in Frage stellt.

Enge stellt Gottfried Müller auch beim Thema der Vaterliebe Gottes fest, wenn er auf schreibt: „Wer von uns betet in der Gewissheit, dass ein liebender ‚Abba‘ es kaum erwarten kann, dem Gestotter seines Kindes zu lauschen? Ist es nicht so, dass wir ihn eher als unseren leiblichen zeitungslesenden Vater vor Augen haben, der, von einem langen Arbeitstag rechtschaffen müde, eigentlich nur noch eines will, nämlich in Ruhe gelassen zu werden?“ (S. 41) Tatsächlich scheint für gar nicht so wenige Evangelikale die Vaterliebe Gottes kaum mehr als ein theologisches Konstrukt zu sein, das zwar für wahr gehalten wird, das aber nicht das eigene Herz berührt und das deshalb trotzdem auf einer tiefen emotionalen Ebene bezweifelt wird, vielleicht sogar ganz unbewusst.

Was Gottfried Müller ebenfalls vermisst ist Raum für ein freies Gewissen. Er schreibt dazu: „Wir Evangelikalen haben schreckliche Angst davor, ungenügend zu sein. Wir glauben zwar, dass der Christus […] dafür gestorben ist, damit wir frei sein können von der Schuld und der Anklage Satans. […] Aber Hand aufs Herz, wer von uns glaubt das denn wirklich?“ (S. 41) In der Tat ist auch Vergebung etwas, das Evangelikale natürlich theologisch für wahr halten. Das bedeutet aber noch längst nicht, dass Vergebung auch praktisch und existenziell erlebt wird. Zugleich halten Evangelikale die Gebote Gottes und seine Heiligkeit hoch. Das kann leicht das Gefühl auslösen, dass Gott doch nicht wirklich mit uns zufrieden sein kann.

Und schließlich vermisst Gottfried Müller Raum für Gnade statt Leistung. Er schreibt dazu: „Ich habe die Bibel so verstanden: Gott hat dich aus Gnade errettet, und jetzt beweise gefälligst, dass du es wert gewesen bist! Ich arbeite mir also den Arsch ab, bis es nicht mehr ging.“ (S. 91) Natürlich war das nie seine offizielle Theologie. Aber jeder Nachfolger Jesu weiß, wie leicht man tatsächlich in ein Leistungsdenken und in eine Werkgerechtigkeit abrutschen kann.

Deshalb ist es gerade auch aus evangelikaler Sicht wichtig, sich den Anfragen von Postevangelikalen zu stellen, sich einen Spiegel vorhalten zu lassen und sich zu fragen:

  • Wo werden in den evangelikalen Gemeinschaften die heißen Eisen des Glaubens wie z.B. Homosexualität, Sex vor der Ehe, Widersprüche in der Bibel, Gewalttexte im Alten Testament oder Schöpfung und Evolution angesprochen?
  • Wie wird die Vaterliebe Gottes erlebbar, so dass sie nicht nur unseren Kopf erreicht sondern auch das Herz berührt?
  • Wie finden wir zu einem reinen Gewissen? Und wie entsteht eine offene Atmosphäre, in der man auch schwach und ehrlich sein darf, in der man einander trägt, füreinander betet und sich gegenseitig die Vergebung Gottes zuspricht?
  • Wie werden Christen frei von frommem Leistungsdruck?

Die Existenz der postevangelikalen Bewegung macht deutlich: Ohne Antworten auf diese anspruchsvollen Fragen werden sich wohl weiterhin Menschen sich aus den evangelikalen Gemeinschaften verabschieden, weil sie die dortige Frömmigkeit als etwas einengendes und verletzendes erleben statt als etwas heilbringendes und aufbauendes.

Worin unterscheidet sich evangelikale und postevangelikale Theologie?

Manche Christen neigen dazu, die Differenzen zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen ganz auf diese Themen zu reduzieren. Das wäre aber eine sehr unzureichende Beschreibung dessen, was viele Evangelikale und Postevangelikale voneinander trennt. Denn neben allen Fragen um Enge und Verletzungen geht es ganz klar auch um theologische Differenzen zu wichtigen und zentralen Fragen des christlichen Glaubens. Das macht die Internetmediathek Worthaus besonders deutlich:

Die Worthaus-Mediathek

Worthaus ist eine sich ständig erweiternde Online Mediathek mit aktuell ca. 150 theologischen Vorträgen, die kostenfrei als Video oder mp3 im Internet angesehen oder herunter geladen werden können. Alle zwei Wochen kommt ein neuer Vortrag dazu. Die Referenten kommen weit überwiegend aus der universitären Theologie und decken tatsächlich auch das ganze Spektrum universitärer Theologie ab. Während einige Referenten eine sehr liberale Theologie vertreten, gibt es auch einige Theologen, die man im universitären Spektrum eher als gemäßigt oder gar konservativ einstufen würde. Wirklich evangelikale Theologen findet man aber kaum.

Gut zwei Drittel der Worthaus-Vorträge stammen vom emeritierten Theologieprofessor Siegfried Zimmer. Er bezeichnet sich selbst als einen reformatorischen Theologen, der ein Brückenbauer sein möchte zwischen universitärer Theologie und erwecklicher Frömmigkeit. Tatsächlich zählte sich Siegfried Zimmer nach seiner Bekehrung mit 19 Jahren etwa 10 Jahre lang zur Pfingstbewegung und besuchte eine pfingstlich geprägte Bibelschule. Bis heute trifft man Siegfried Zimmer immer wieder auf evangelikalen Veranstaltungen. Seine Vorträge auf dem evangelikalen Spring Ferien-Festival waren sogar der Anlass für die Gründung von Worthaus. Im Zuge seines universitären Theologiestudiums hat sich seine Theologie allerdings so verändert, dass Zimmer heute immer wieder ausdrücklich klar stellt, dass er kein evangelikaler Theologe ist. Da Siegfried Zimmer Worthaus bis heute wesentlich prägt, hat auch Worthaus eine postevangelikale Prägung.

Die Themen, die bei Worthaus behandelt werden, sind bunt und vielfältig. Aber es gibt einen Anspruch, der diese Vorträge verbindet: Worthaus möchte einen „unverstellteren Blick“ auf die Bibel vermitteln. Die Grundthese dabei ist: Es ist nicht einfach, einen antiken Text zu verstehen, der in einem vollkommen andersartigen kulturellen und zeitgeschichtlichen Umfeld verfasst wurde. Diese Texte müssen im Rahmen des damaligen Denkens und des damaligen Kontextes verstanden werden. Worthaus möchte helfen, die Texte in ihren historischen Kontext einzuordnen, damit die tatsächliche Aussageabsicht heute besser verstanden werden kann.

Damit hat Worthaus großen Erfolg. Siegfried Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele Zehntausende“ Hörer weltweit, darunter nicht nur Theologen, sondern auch zahlreiche Laien. Besonders beeindruckt habe ihn, dass bei einer freikirchlichen Pastorenkonferenz alle anwesenden dreißig bis fünfunddreißig Pastoren bekundet hätten, regelmäßig Worthaus zu hören. Siegfried Zimmer zieht daraus den Schluss, dass die Pastorenfortbildung heute eigentlich über Worthaus laufe.

Zur Ausstrahlung von Worthaus in das evangelikale Spektrum hinein trägt auch bei, dass der zweite Hauptredner von Worthaus eigentlich aus der evangelikalen Welt kommt: Thorsten Dietz ist Professor für systematische Theologie an der freien evangelischen Hochschule Tabor. Tabor zählte bis vor kurzem noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, ist dort inzwischen aber ausgetreten. Thorsten Dietz gehört auch zum theologischen Arbeitskreis des Gnadauer Verbands. Er ist deshalb ein häufiger und gern gesehener Redner auf evangelikalen Veranstaltungen. Gleichzeitig macht er leidenschaftlich Werbung für universitäre Bibelwissenschaft und für Worthaus.

Worthaus: Auch wertvoll für Evangelikale?

Es lohnt sich, Worthaus-Vorträge anzuhören! Denn tatsächlich kann man viel dabei lernen. Christen sollten nicht antiintellektuell sein und ihre Augen nicht verschließen vor den Ergebnissen von wissenschaftlicher Arbeit. Nur wer sich mit anderen Positionen auseinandersetzt kann verstehen, wie andere Menschen und andere Christen denken und überprüfen, wie solide das Fundament des eigenen Standpunkts ist.

4 „Knackpunkt-Fragen“

Um herausarbeiten zu können, in welchen wichtigen Punkten sich theologische Aussagen in Worthaus-Vorträgen von evangelikalen Positionen unterscheiden, wurden im Buch „Zeit des Umbruchs“ vier verschiedene Fragestellungen untersucht, die für den christlichen Glauben absolut zentral sind:

  1. Greift Gott übernatürlich in die Weltgeschichte ein?
  2. Ist Jesus leiblich auferstanden?
  3. Wurde Gott versöhnt durch den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz?
  4. Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung?

Alle diese „Knackpunkt-Fragen“ wurden von Evangelikalen traditionell immer mit einem klaren „ja“ beantwortet. Bei Worthaus ist das anders: Ein eindeutiges „Ja“ wird dort in allen diesen Fragen verlassen – und oft in ein „nein“ verkehrt. Das hat gravierende Konsequenzen. Schließlich steht der Kreuzestod Jesu im Kern der christlichen Erlösungsbotschaft. Wer die Deutung des Kreuzestodes Jesu verändert, verpasst dem christlichen Glauben keinen neuen Haarschnitt sondern der nimmt eine Herztransplantation vor! Das gilt noch mehr für die Auferstehung. Wenn Jesus nicht leiblich auferstanden ist, wenn das Grab nicht leer war, dann ist die Kernbotschaft der ersten Zeugen, für die sie fast alle ihr Leben gegeben haben, entkernt.

Die Bibelfrage als die zentralste aller Fragen

Die grundlegendsten Konsequenzen hat jedoch die Beantwortung der Frage: Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung? Letztlich steht diese Frage hinter all den Debatten zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen, zwischen Konservativen und Progressiven. Diese Einschätzung bestätigt auch Siegfried Zimmer. In einem seiner Worthausvorträge sagt er: „Es ist nämlich ein ganz bestimmter Punkt, an dem in der Christenheit die Wege auseinandergehen. … Die entscheidende Frage, die ein Teil der Christenheit mit Ja beantwortet und der andere Teil der Christenheit mit Nein, diese Frage lautet: … Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit? … Da gehen die Wege auseinander.“ [4]

Hat die Bibel Anteil an Gottes Vollkommenheit? Ist sie also fehlerlos oder irrtumslos? Das ist nach der Einschätzung von Siegfried Zimmer DER Knackpunkt schlechthin. Und Zimmers These dazu ist: Nein, das ist eindeutig nicht der Fall, im Gegenteil: Die Bibel enthalte hunderte von Fehlern und Widersprüchen. Das sei auch gar nicht schlimm. Ein Liebesbrief werde ja auch nicht dadurch entwertet, dass er ein paar Schreibfehler oder ein paar Ungenauigkeiten enthält.

Wer die Bibel für ein fehlerloses Buch hält, hat laut Siegfried Zimmer und in den Augen der universitären Theologie ein „fundamentalistisches Bibelverständnis“. Und Zimmer ergänzt: Dieses habe zu unendlichen Spaltungen und Streitigkeiten geführt. Es sei deshalb „eine schwere Belastung für die Christenheit.“ Aber ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel denn tatsächlich eine fundamentalistische Außenseiterposition?

Ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel eine fundamentalistische
Außenseiterposition?

In seiner Verteidigungsschrift assertio omnium articulorum schreibt Martin Luther:

„[Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“[5]

Luther beruft sich hier den Kirchenvater Augustinus aus dem 4. Jahrhundert. Schon er hatte somit die Überzeugung vertreten: Alle Theologen irren. Alle theologischen Texte enthalten Fehler. Mit einer Ausnahme: Die Autoren der Schriften, die zum Kanon der Bibel gehören, haben sich in diesen Schriften nicht geirrt. Diese Überzeugung hatte also der Kirchenvater Augustinus – und Martin Luther hat sie übernommen und sich darin auf ihn berufen. Zwar hatte Martin Luther durchaus Probleme mit bestimmten biblischen Texten. So tat er sich zum Beispiel schwer mit dem Jakobusbrief, weil er dort Verse gefunden hat, die für ihn nach Werkgerechtigkeit ausgesehen haben. Aber was war die Konsequenz? Luther bekam Zweifel, ob der Jakobusbrief tatsächlich zum Kanon der Bibel gehört. Denn klar war für ihn: Was zum Kanon der Bibel gehört, das kann nicht irren. Und wenn ein Buch einen Irrtum enthält, dann dürfte es eigentlich nicht zum Kanon gehören. Dann wäre das eine apokryphe Schrift.

Die Auffassung, dass der Bibeltext eine fehlerlose Schrift ist, ist somit keine moderne fundamentalistische Erfindung, sondern war lange Zeit kirchliches Allgemeingut bis in die Moderne hinein. So haben zum Beispiel im Jahr 1974 zahlreiche Kirchenleiter aus der ganzen Welt in der Lausanner Verpflichtung über die Bibel als das Wort Gottes bekräftigt: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und des Lebens.“ [6] Im Jahr 2016 haben Vertreter der evangelischen Allianz und der katholischen Kirche gemeinsam bekannt: „Daraus folgt, dass die Schrift solide, treu und ohne Fehler lehrt und uns wirksam in alle Wahrheit führt.“ [7]

Die Ansicht, dass die Bibel fehlerfrei ist, ist also keinesfalls eine fundamentalistische Randposition, sondern historisch und weltweit gesehen eher eine Selbstverständlichkeit in weiten Teilen der Kirche Jesu. Wichtig ist dabei aber die Klärung, was Fehlerfreiheit bzw. Irrtumslosigkeit bedeutet.

Was bedeutet „Irrtumslosigkeit“?

Irrtumslosigkeit bedeutet zum Beispiel nicht: Fehlerfreiheit über die jeweilige Aussageabsicht hinaus. Wenn eine Zahlenangabe nur als gerundete Zahl gemeint war, dann würde man den biblischen Text überfordern, wenn man von ihm eine mathematisch exakte Angabe erwartet.[8] Prof. Gerhard Maier sagt deshalb zurecht: „Ähnlich hat die Lausanner Verpflichtung in ihrem Artikel 2 formuliert, das Wort Gottes ‚sei ohne Irrtum in allem, was es verkündigt‘ – präzisieren wir: was es verkünden will. Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ [9]

Die Bibel ist also ohne Fehler in dem, was sie sagen will! Auf die Aussageabsicht kommt es an sowie auf das Wahrheitsverständnis, das dieser Aussageabsicht zugrunde liegt. Die Bibel spricht oft bildhaft. Sie erzählt Dinge oft nicht in Form eines exakten wissenschaftlichen Berichts sondern subjektiv aus einer Beobachterposition heraus. Die Bibel muss deshalb so gelesen und verstanden werden, wie sie selbst verstanden werden möchte. Nur bei den Aussagen, die sie machen möchte, darf auch eine Fehlerfreiheit erwartet werden.

Eine weitere Einschränkung der Fehlerfreiheit ist der zugrundeliegende Urtext. Zwar können wir von einer phantastisch guten Überlieferung der Bibel ausgehen. Aber selbst wenn es stimmt, dass 99,9 % der Bibel absolut zuverlässig überliefert sind[10], heißt das auch: Es gibt eine Restunsicherheit von 0,1 %. Hinzu kommen Unsicherheiten bei der Übersetzung, die ja immer schon bestimmte Interpretationen enthalten. Und auch bei Kanonfragen gibt es keine vollkommene Fehlerfreiheit. Gehört zum Beispiel der lange Schluss des Markusevangeliums zum Kanon oder nicht? Da gibt es bleibende Unsicherheiten. Diese sind zwar sehr, sehr überschaubar. Aber es gibt sie.

Gerade auch aufgrund dieser Unsicherheiten ist es auch gut und wertvoll, dass es eine unterscheidende Bibelwissenschaft gibt, die versucht, die ursprüngliche Aussageabsicht zu erforschen durch genaue Erkundung des Urtextes, durch Sprachwissenschaft sowie durch Erforschung des kulturellen und geschichtlichen Hintergrundes, in den dieser Text hineingesprochen hat. Man kann dazu auch Bibelkritik sagen, denn die Bedeutung des Begriffs „Kritik“ hatte ursprünglich nichts mit kritisieren im Sinne von schlechtmachen zu tun, sondern stand einfach für eine unterscheidende Analyse. Und Unterscheidung ist definitiv notwendig beim Bibellesen: Ist ein bestimmter Text historisch und geschichtlich gemeint oder stellt er eine gleichnishafte Bildsprache dar? Ist ein bestimmter Bericht normativ gemeint (im Sinne von: Gott will das so!) oder wird da einfach nur berichtet, was geschehen ist? Das sind Fragen, bei der eine richtig verstandene unterscheidende Bibelforschung wirklich helfen kann.

Der tatsächliche Knackpunkt: Die Frage nach der „Sachkritik“

Der Streitpunkt ist also nicht, ob eine unterscheidende Bibelforschung sinnvoll ist. Der Streitpunkt dreht sich um eine andere Frage, die Siegfried Zimmer so definiert: „Darf ein christlicher Bibelwissenschaftler, nachdem er einen Bibeltext so unvoreingenommen und sorgfältig wie möglich erforscht und den ursprünglichen Sinn des Textes umrissen hat, an der Aussage dieses Textes inhaltlich Kritik üben? („Sachkritik“) … Dabei ist das Wort ‚Kritik‘ tatsächlich im Sinne des heutigen Alltagssprachgebrauchs gemeint.“ [11]

Das ist also DIE Knackpunktfrage: Darf die Bibel im echten Sinne kritisiert werden, nachdem bibelwissenschaftlich unterschieden wurde, wie ein bestimmter Text einzuordnen ist und was er aussagen möchte? Diese Frage nach der Sachkritik wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wer oder was könnte die Bibel denn kritisieren? Denn klar ist: Wer jemand anderes kritisiert, sieht sich selbst in der Lage, etwas besser beurteilen zu können als diese Person. Wer jemand anderes kritisiert, stellt sich in gewisser Weise über diese Person. Und wer die Bibel kritisiert, stellt sich zwangsläufig über die Bibel. Und die Frage ist: Ist das denkbar aus evangelikaler und aus reformatorischer Sicht?

Was bedeutet „Sola Scriptura“?

Um diese Frage beantworten zu können müssen wir einen kleinen Exkurs machen und uns fragen: Was prägt eigentlich unseren christlichen Glauben? Protestanten und Evangelikalen fällt da natürlich als erstes die Bibel ein. Das ist auch gut so, aber es ist natürlich nicht die ganze Geschichte. Der christliche Glaube wird natürlich noch von sehr viel mehr Dingen geprägt: Vom Weltwissen zum Beispiel, also von den Ergebnissen der Wissenschaft. Auch die menschliche Vernunft entscheidet natürlich kräftig mit, was aus christlicher Sicht geglaubt werden kann und was nicht. Und natürlich spielen Autoritäten eine große Rolle. Früher war das der Papst und das katholische Lehramt, heute sind das andere Persönlichkeiten, die prägend wirken. Und natürlich spielt die praktische Alltags-Erfahrung eine Rolle. Es ist kaum möglich, etwas zu glauben, das unseren alltäglichen Erfahrung komplett entgegensteht. Und nicht zuletzt: Auch die Tradition spielt eine Rolle. Der christliche Glaube fällt ja nicht in jeder Generation neu vom Himmel. Jeder Nachfolger Jesu wird geprägt von Vätern und Müttern im Glauben, von Frömmigkeitsstilen und Vorstellungen, die Christen oft schon von klein auf mitgegeben worden sind.

Alle diese Einflüsse sind real. Und das ist gut so! Es wäre ein dramatischer Fehler, die Vernunft oder das Weltwissen einfach vom Tisch zu wischen. Es wäre fatal, die Erfahrung auszuschalten oder die Tradition. Es wäre arrogant zu glauben, dass die früheren Generationen allesamt falsch lagen und dass wir nicht von ihnen profitieren könnten. Alle diese Einflüsse sind somit wichtig und wertvoll. Aber in seiner Assertio schrieb Martin Luther: „Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche!“

Das war ihm wichtig: Am Ende soll die Schrift entscheiden! Die Bibel soll allen anderen Einflüssen übergeordnet sein! Wenn die anderen Einflüsse im Widerspruch zur Schrift stehen, hat die Schrift das letzte Wort. Keine Autorität, kein Papst, kein Lehramt, keine Tradition und keine menschliche Erkenntnis darf am Ende so hoch stehen, dass es über der Schrift steht.

Und um diese oberste Stellung der Schrift abzusichern hat Luther das Prinzip ergänzt: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wenn wir uns unsicher sind, wie eine Bibelstelle zu verstehen ist, dann brauchen wir vor allem andere Bibelstellen, um diese Bibelstelle verstehen zu können. Nicht Menschen entscheiden über das Bibelverständnis, sondern das biblische Bibelverständnis ist entscheidend. Das hat für Martin Luther „Sola Scriptura“ bedeutet – allein die Schrift. Und diese Lehre stand letztlich im Zentrum der Reformation. Und wenn die Kirche dieses Verständnis verliert, verliert sie den Kern dessen, was Luther der Kirche gebracht hat.

Das „Sola Scriptura“ schließt Sachkritik aus

Kommen wir zurück zu der Frage: Wer oder was könnte die Bibel kritisieren? Mit dem Grundsatz „Allein die Schrift“ ist klar: Niemand! Es mag sein, dass manchmal das Weltwissen der Bibel widerspricht. Es mag sein, dass manchmal die Vernunft oder die Erfahrung der Bibel widerspricht. Dann müssen wir dem nachgehen. Vielleicht haben wir die Bibel falsch verstanden? Das kommt ja ganz sicher immer wieder vor. Dann sollten wir nach anderen Bibelstellen suchen, die uns diese Bibelstelle genauer erklären können oder vielleicht in einem anderen Licht erscheinen lassen. Aber am Ende hat die Bibel das letzte Wort und nichts und niemand anderes.

Einwand 1: Ist die Bibel nur ein „Zeugnis der Offenbarung?

Gegen diese ablehnende Haltung gegenüber Sachkritik an der Bibel bringt Siegfried Zimmer zwei Einwände vor. Der erste Einwand lautet: Sachkritik sei möglich, weil der Bibeltext die Offenbarung Gottes nur bezeugt und nicht selbst ist! Konkret formuliert Siegfried Zimmer diesen Einwand so: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Das ist theologisch unbestritten. Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [12]

Zimmer sagt also: Niemand darf die Offenbarung Gottes kritisieren. Niemand kann Gott widersprechen. Aber die schriftliche Darstellung der Offenbarung kann man sehr wohl kritisieren. Zimmer führt hier eine Unterscheidung ein zwischen dem biblischen Text und der göttlichen Offenbarung. Er sagt: Gott hat etwas offenbart. Aber der biblische Text selbst ist nicht die Offenbarung. Er bezeugt nur die Offenbarung, die uns vornehmlich in der Person Jesus Christus begegnet. Niemand kann Jesus Christus kritisieren. Aber den schriftlichen Bericht über ihn, den kann man schon kritisieren.

Daran zeigt sich aber auch gleich, was das Problem an dieser Position ist: Wir wissen ja absolut nichts über Jesus Christus außer das, was die Bibel uns sagt. Wenn der biblische Text nicht verlässlich ist, dann ist auch unser Bild von Jesus Christus nicht verlässlich. Dann wissen wir am Ende nicht: Welche Aussage in der Bibel ist wirklich Lehre Jesu und welche Aussage hat man ihm nur in den Mund gelegt oder fehlerhaft wiedergegeben? Wir haben dann keinen festen Maßstab, mit dem wir sagen könnten, diese oder jene biblische Aussage entspricht Gottes Offenbarung in Jesus Christus oder nicht.

Zudem stellt sich die Frage: Wie sieht sich die Bibel denn selbst? Sieht sich die Bibel selbst als Offenbarung? Oder sieht sie sich nur als Zeugnis der Offenbarung? Der Grundsatz von Martin Luther lautete ja: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wir brauchen ein biblisches Bibelverständnis. Deshalb ist diese Frage ganz entscheidend: Wie sieht sich die Bibel denn selbst?

Exkurs: Wie sieht sich die Bibel selbst? Als Offenbarung oder nur als Zeugnis der Offenbarung?

In 2. Timotheus 3, 16 schreibt Paulus „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Genau übersetzt heißt das: Die Schrift ist geistgewirkt, geistdurchhaucht. Natürlich haben das Menschen geschrieben – Menschen, die bei vollem Bewusstsein waren, die ihre Eigenheiten, ihren Schreibstil, ihre Persönlichkeit eingebracht haben. Und trotzdem ist es letztlich von Gottes Geist bewegt und durch und durch von ihm geprägt. Petrus hat das in 2. Petrus 1, 21 so ausgedrückt: „Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“ Auch hier sehen wir also beides: Menschen haben geredet. Aber sie waren bewegt, getrieben, geprägt vom Heiligen Geist.

Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass genau das die Sichtweise der Juden der damaligen Zeit über ihre heiligen Texte war. Die Juden hatten allerhöchsten Respekt vor ihren Schriften. Ganz zweifellos hatten auch die Autoren des Neuen Testaments den Text des Alten Testaments insgesamt als Wort des lebendigen Gottes angesehen. Immer wieder zeigt sich, dass für sie die beiden Wendungen ›Die Schrift sagt‹ und ›Gott sagt‹ untereinander austauschbar waren. Sie haben also nicht unterschieden zwischen göttlicher Offenbarung und dem biblischen Text. Das war für sie identisch.

Aber wie ist das mit dem Neuen Testament? Das lag ja noch gar nicht vor, als die Schriften des Neuen Testaments verfasst wurden. Können wir dann überhaupt etwas darüber sagen, wie das Neue Testament das Neue Testament sieht? Ja, sogar sehr viel! Paulus schreibt zum Beispiel in Galater 1, 11-12 über seine eigene Botschaft: „Ich tue euch aber kund, Brüder, dass das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist. Ich habe es nämlich weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.“ Und in 1. Thessalonicher 2, 13 schreibt er: „Und darum danken auch wir Gott unablässig, dass, als ihr von uns das Wort der Kunde von Gott empfingt, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort.“

Das sind ja absolut steile Behauptungen, die Paulus hier macht! Er sagt: Bei der Botschaft, die ihr von mir hört, da spricht Gott selbst. Das ist Gottes Wort. Und da spüren wir schon: Paulus ist in einer völlig anderen Autorität aufgetreten, als das irgendein Theologe jemals dürfte. Aber offenbar durfte er das, weil Gott ihm tatsächlich die spezielle Autorität dazu gegeben hat. Petrus hat das ausdrücklich bestätigt. In 2. Petrus 3, 15-16 macht er folgende Bemerkung über die Schriften des Paulus: „…wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen werden, wie auch die andern Schriften.“

Welche „Schriften“ meint Petrus hier? Natürlich die Heiligen Schriften, die auf keinen Fall irgendjemand verdrehen und verändern darf. Petrus hat also die Briefe des Paulus auf den gleichen Rang gestellt wie die Schriften des Alten Testaments.

In Bezug auf die Evangelien ist eine Bemerkung von Paulus in 1. Timotheus 5, 18 besonders interessant: „Denn die Schrift sagt: »… »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert«“ Das bemerkenswerte daran ist: Paulus zitiert hier gar nicht aus dem Alten Testament sondern er zitiert ein Wort Jesu, genauer gesagt aus Lukas 10, 7. Für ihn hat also auch dieses im Lukasevangelium festgehaltene Jesus-Zitat Schriftrang gehabt.

Besonders eindrücklich zu diesem Thema ist einer der letzten Verse der Bibel: „Und ich versichere jedem, der die prophetischen Worte dieses Buchs hört: „Wenn jemand dem, was hier geschrieben steht, irgendetwas hinzufügt, wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch beschrieben werden.“  (Offenbarung 22,18) Im darauf folgenden Vers hält Johannes fest: Etwas wegzulassen ist genauso schlimm! Damit sagt Johannes: Dieses ganze Buch hat prophetischen Charakter. Da gibt es absolut nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen. Kein Theologe dürfte jemals so etwas über seine theologische Schrift sagen. Aber Johannes tat es am Ende seines Buchs der Offenbarung. Und für Christen ist klar: Das steht nicht zufällig am Ende des Kanons. Christen haben das immer schon letztlich auf die ganze Bibel bezogen.

Wer das Prinzip ernst nimmt, dass die Schrift sich selbst auslegt, kommt somit zu einem eindeutigen Befund: Die Schrift sieht sich selbst nicht nur als Zeugnis einer Offenbarung, die irgendwie mehr oder weniger nebulös hinter der Schrift erkennbar wird. Nein, die Bibel sieht sich selbst, also den biblischen Text, als Offenbarung. Und wenn das so ist, dann kann dieser Text auch nicht kritisiert werden. Denn welcher Mensch wollte sich erdreisten, Gott zu verbessern und zu kritisieren?

Einwand 2: Kann die Bibel in der Autorität Jesu kritisiert werden?

Der zweite Einwand von Siegfried Zimmer zur Verteidigung von Sachkritik lautet: Sachkritik sei in der Autorität Jesu möglich, weil auch Jesus die Bibel kritisiert. Natürlich könne kein Theologe in eigener Autorität die Bibel kritisieren. Aber Jesus Christus steht ja über der Schrift. Wenn Jesus die Bibel kritisiert, dann dürfen wir das in seiner Autorität auch tun. Wörtlich schreibt er dazu: „Biblische Texte, die etwas Anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. … Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“ [13]

Aber kann man den wirklich mit Jesus gegen die Bibel argumentieren? Oft kommt bei dieser Frage der Hinweis: Jesus habe doch tatsächlich oft der Bibel widersprochen. Immer wieder sagt er ja: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde… Ich aber sage euch… (z.B. Matthäus 5, 21-22). Allerdings hat Jesus ganz direkt über das Alte Testament auch folgendes gesagt: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Schriften der Propheten abzuschaffen. Im Gegenteil, ich bin gekommen, um sie zu erfüllen. Ich versichere euch: Solange der Himmel und die Erde bestehen, wird selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig bleiben.“ (Matthäus 5, 17+18)

Tatsächlich hat Jesus mit seinen „Ich-aber-sage-euch“-Sätzen die Forderungen des Alten Testaments gar nicht aufgehoben, im Gegenteil: Er hat sie verschärft! Zum Beispiel ist für Jesus nicht nur der praktisch vollzogene Ehebruch Sünde sondern schon das Begehren im Herzen (Matthäus 5, 27-28). Das ist also nicht etwa ein Widerspruch sondern eine Verstärkung dessen, was im Alten Testament steht.

Außerdem benutzt Jesus häufig diese Formel: „Habt ihr nicht gelesen?“ (z.B. Matthäus 19, 4) Wenn es einen Streit gab oder eine Frage zu entscheiden war, hat Jesus aus dem Alten Testament zitiert. Das war für ihn entscheidend. Für ihn galt also der Schriftbeweis, der natürlich nur dann funktioniert, wenn die Schrift absolute Autorität hat.

Gerhard Maier fasst deshalb den Befund aus dem Neuen Testament so zusammen: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm ‚Kritik‘ am Alten Testament finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der ‚Sachkritik‘ impliziert), gibt es nirgends.“ [14]

Anders ausgedrückt: Bibelkritik im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs kann man nicht mit der Bibel begründen. Echte Bibelkritik steht grundsätzlich im Widerspruch zum reformatorischen Prinzip des Sola Scriptura und zum Selbstanspruch der Bibel.

Auf dem Weg zu einem biblischen Bibelverständnis

Für ein biblisches Bibelverständnis müssen deshalb 2 Dinge unbedingt festgehalten werden:

  1. Der Bibeltext kann nicht von der Offenbarung Gottes getrennt werden. Der Text ist, so wie er da steht, offenbartes Wort Gottes und hat deshalb höchste Autorität.
  2. Die Bibel kann und darf niemals gegen Jesus ausgespielt werden.

Absolut kontraproduktiv ist vor diesem Hintergrund der auch unter Evangelikalen immer wieder verwendete Satz: „Wir glauben doch nicht an die Bibel sondern an Jesus Christus.“ Diese falsche Alternative führt ja sofort zu der Frage: An welchen Jesus sollen wir denn glauben, wenn wir nicht an die Verlässlichkeit und Autorität der Bibel glauben? Wenn wir der Bibel nicht vertrauen, dann können wir nur noch an einen selbstgebastelten Christus glauben. Denn wir wissen ja nichts über ihn außer das, was die Bibel uns sagt. Das kann man somit nicht gegeneinander ausspielen. Das feste Vertrauen in Jesus Christus ist untrennbar verknüpft mit dem Vertrauen in die Autorität und den Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift.

Zwingend notwendig ist zudem eine Haltung, die sich der Heiligen Schrift unterordnet und mit der Bibel sagt:

  • Die Bibel ist Gottes Wort.
  • Aber meine Erkenntnis ist Stückwerk.

Es ist wichtig, dass unser Pendel weder auf der liberalen Seite ausschlägt, auf der wir uns über die Bibel stellen und selbst entscheiden wollen, was darin von Gott ist und was menschlich, was darin richtig ist oder falsch. Unser Pendel darf aber auch nicht auf der anderen Seite ausschlagen. Denn auch der, der behauptet, er wisse haargenau und bis ins Letzte, wie die Bibel auszulegen ist, stellt sich letztlich über die Bibel. Dann wird es tatsächlich eng und gesetzlich. Dann kommt es immer zu Spaltungen, weil irgendeine Speziallehre zu Randthemen sich derart in den Mittelpunkt drängt, dass es die Kirche spaltet. Das ist leider oft passiert in der Kirchengeschichte.

Wir müssen deshalb beides festhalten: Die Schrift ist Gottes unfehlbares Wort. Aber in der Frage, wie die Bibel zu verstehen ist, bleiben wir unser Leben lang Lernende. Das bedeutet es im doppelten Sinne, sich der Schrift unterzuordnen: Die ganze Bibel hoch achten als Gottes unfehlbares Wort. Aber sich zugleich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst bleiben.

Das heißt nicht, dass ständig alles in Frage gestellt werden muss. Die Bibel ist nicht in allen Fragen ein großes Rätsel. In den wichtigen Lehren ist die Bibel so eindeutig und klar, dass auch jeder Laie sie in allen wichtigen Fragen verstehen kann, auch ohne Theologiestudium und ohne wissenschaftliche Kenntnisse.[15] Deshalb dürfen und sollen auch Laien die Bibel lesen und das, was wir daraus verstehen, fröhlich an andere weitergeben.

Was steht auf dem Spiel?

Es ist dringend notwendig, wieder vermehrt über diese Themen zu sprechen, denn mit der Frage nach dem Schriftverständnis steht ungeheuer viel auf dem Spiel:

  • Die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn schon Christen selbst an der Bibel zweifeln, wie soll dann ein Nichtchrist glauben, dass diese Botschaft irgendeine Relevanz für ihn hat?
  • Die Vernehmbarkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn die Kirche nichts mehr Eindeutiges zu sagen weiß, dann kommt diese Botschaft auch nirgends mehr an.
  • Die missionarische Kraft und Dynamik der Kirche steht auf dem Spiel. Denn mit welcher Botschaft soll denn missioniert werden, wenn nicht einmal mehr klar ist, was der Tod Jesu am Kreuz eigentlich zu bedeuten hat und ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist?
  • Die Einheit der Kirche steht auf dem Spiel. Wenn Christen sich nicht einmal mehr beim Glaubensbekenntnis und bei den zentralsten Lehren des Christentums einig sind, worin sollen sie sich denn dann einig sein? In politischen Fragen ganz bestimmt nicht. Das Ausweichen auf das Feld der Politik spaltet die Kirche erst recht.

Deshalb steht insgesamt die Zukunft der Kirche auf dem Spiel. Angesichts von einer Austrittswelle nach der anderen wird die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Kirche ja gerade immer wieder gestellt. Braucht die Kirche vielleicht mehr Digitalisierung? Muss sie sich wieder näher zu den Menschen orientieren? Brauch sie vielleicht mehr soziologische Untersuchungen, um besser zu verstehen, welche Fragen die Menschen bewegen? Oder braucht sie frische Formen von Gemeinde und Gottesdienst? Ja, alles das ist ohne Zweifel gut. Aber es muss uns bewusst sein: Entscheidend ist nicht die Verpackung, entscheidend ist der Inhalt! Wir brauchen uns mit der Verpackung überhaupt nicht zu beschäftigen, solange wir uns nicht im Klaren sind, was eigentlich der Inhalt unserer Botschaft ist.

Ich habe riesengroße Hoffnung für die Zukunft der Kirche Jesu. Ich sehe so viele positive Entwicklungen, die mir Mut machen. Aber ich glaube tatsächlich: Für eine starke Zukunft der Kirche brauchen wir eine neue Ehrfurcht und eine neue Liebe zu Gottes Wort.

In Epheser 2, 20 schreibt Paulus: „Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein.“ Es ist gut, dass wir in einem Land leben, in dem in der Mitte jedes Orts mindestens ein Haus zur Ehre Gottes steht. Aber ich habe Sehnsucht danach, dass diese Häuser aus Stein wieder gefüllt werden mit Häusern aus Menschen, die sich zusammenfügen lassen zu einem Leib Christi, der aus lebendigen Steinen besteht, wie Petrus es ausdrückt (1. Petrus 2, 5). Ich habe Sehnsucht danach, dass an allen Orten geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen nach Hause kommen und Heimat finden können bei diesem wundervollen himmlischen Vater, von dem die Bibel berichtet. Ein Ort, an dem Menschen Vergebung finden für ihre Schuld. Ein Ort an dem Menschen das Leben finden, Leben mit Sinn und Ewigkeitsperspektive.

Dafür genügt es nicht, schöne Programme zu gestalten, zu denen viele Menschen kommen. Für ein nachhaltiges Haus müssen wir aufs Fundament achten. Und das Fundament ist die Lehre der Apostel und der Propheten, wie wir sie in der Heiligen Schrift finden. Und der Eckstein, der entscheidende Grundstein ist Jesus Christus selbst, wie er uns in der Bibel geschildert wird. Die praktisch gelebte Liebesbeziehung zu diesem Jesus Christus kombiniert mit dem Gegründet-sein auf dem verlässlichen Wort der Apostel und Propheten: Das gibt diesem geistlichen Haus das Fundament, auf dem es stehen kann und auf dem es auch in Stürmen nicht zerbricht. Lassen Sie uns an allen Orten diese Fundamente wieder bauen, damit geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen die Liebe des Vaters, Vergebung, Heil und ewiges Leben finden können. Und lassen Sie uns beten, dass Gott einen Aufbruch schenkt, eine neue Bewegung von Menschen, die Jesus Christus von Herzen lieben, die ihre Bibel kennen und tief in ihr verwurzelt sind.

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Dr. Markus Till, veröffentlicht im Mai 2020

Die Inhalte dieses Artikels wurden zunächst für einen Vortrag erarbeitet, der am 2.11.2019 auf einer Tagung des deutschen christlichen Technikerbunds (DCTB) gehalten wurde. Der Vortrag ist im YouTube-Kanal des Netzwerks Bibel und Bekenntnis abrufbar. Hinweis: Im Vortrag wird mündlich ab 10:49 irrtümlich ein Zitat Gottfried Müller zugeschrieben, das jedoch vom Blogautor Christoph Schmieding stammt. Die Quellenangabe im Artikel gibt Auskunft über die tatsächliche Herkunft des Zitats.

Weiterführend sind im AiGG-Blog (blog.aigg.de) u.a. folgende Artikel erschienen:

Eine umfangreiche Darstellung zum Thema „Postevangelikale“ gibt das Buch „Zeit des Umbruchs“, das im September 2019 bei SCM R. Brockhaus erschie­nen ist. Informationen, Leseproben, Stimmen und Rezensionen zum Buch gibt es unter zeitdesumbruchs.aigg.de.


[1] Torsten Hebel: Freischwimmer. Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr, Holzgerlingen 2015, S. 113.

[2] Christoph Schmieding: Was ist eigentlich post-evangelikal?, 13.2.2018

[3] Gofi Müller: Flucht aus Evangelikalien. Über Gott, das Leiden und die heilende Kraft der Künste, 2017. S.91

[4] Siegfried Zimmer: „Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann“. Vortrag vom 22.6.2014, Heidelberg, ab 7:29

[5] Martin Luther: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung, S. d26 f.

[6] Aus der »Lausanner Verpflichtung zur Weltevangelisation« von 1974

[7] In: „Schrift und Tradition“ und „Die Rolle der Kirche für das Heil“: Katholiken und Evangelikale erkunden Herausforderungen und Möglichkeiten“, 2009-2016, S. 7

[8] Siehe dazu sehr viel ausführlicher der AiGG-Artikel: „Ist die Bibel unfehlbar?“ (blog.aigg.de/?p=4212)

[9] Gerhard Maier: Konkrete Alternativen zur historisch-kritischen Methode, in: Joachim Cochlovius/Peter Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung. Ein Quellen- und Arbeitsbuch für Studium und Gemeinde, Wuppertal

1987, S. 305 f.

[10] Siehe dazu den AiGG-Artikel: „Meister der Überlieferung“

[11] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S.148.

[12] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 88.

[13] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 93.

[14] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten
1998, S. 149

[15] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Bibel für alle: Die Klarheit der Schrift“ (blog.aigg.de/?p=2190)

Ist Angst das Grundproblem der Menschheit?

Beob­ach­tun­gen zum Wort­haus-Vor­trag von Eugen Dre­wer­mann

Mit Eugen Dre­wer­mann hat sich das Wort­haus-Pro­jekt jüngst einen ech­ten Pro­mi an Bord geholt. Flan­kiert von Sieg­fried Zim­mer und Thor­sten Dietz, den bei­den Haupt­prot­ago­ni­sten von Wort­haus, wur­de dafür eine „Popup-Tagung“ ange­setzt, die am 29.2.2020 in Tübin­gen statt­fand — also gera­de noch recht­zei­tig vor dem Coro­na-Shut­down. Ich war sehr gespannt auf die Bot­schaft die­ses bekann­ten und umstrit­te­nen Theo­lo­gen, der die­ses Jahr immer­hin schon 80 Jah­re alt wird. Mit­te April wur­de der Vor­trag unter dem Titel „Jesus aus Naza­reth – von Krieg zu Frie­den“ in der Wort­haus-Media­thek ver­öf­fent­licht.

Für den Blog “Daniel Option” habe ich den Vortrag inhaltlich zusammengefasst und kommentiert. Der Artikel ist hier zu finden:

https://danieloption.ch/featured/ist-angst-das-grundproblem-der-menschheit/

Drewermann

nonbiblipedia

Aktualisierung des Worthaus-Artikels

Als am 3.10.2017 der AiGG-Artikel „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“ online ging, konnte ich nicht ahnen, welche Folgen das haben würde. Bis heute überwältigt mich die Resonanz durch Klickzahlen, Nachdrucke in verschiedenen Publikationen und teils bewegende persönliche Zuschriften. Natürlich waren auch kritische Rückmeldungen darunter. Da die Worthaus-Mediathek sich zudem ständig weiter entwickelt wurde es höchste Zeit, den Artikel zu überarbeiten und zu aktualisieren. Dabei wurden auch ein paar Fehler ausgemerzt. In der ursprünglichen Version hieß es zum Beispiel im Abschnitt „Worthaus geht ans Eingemachte“: „Der Tod sei keine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes Schöpfung.“ Das wurde den Aussagen in Siegfried Zimmers Vortrag „Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?“ nicht gerecht. Richtig muss es heißen: „Der Tod sei nicht nur eine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes guter Schöpfung.“

Oft wurde dem Artikel entgegengehalten, er würde eine einheitliche „Worthaus-Theologie“ unterstellen. Dabei war schon in der alten Version vermerkt worden: „Worthaus ist kein einheitlicher Block mit einheitlicher Theologie.“ Einzelne Worthaus-Vorträge sind nicht repräsentativ für die Meinung aller Worthaus-Sprecher. Die neue Version versucht noch stärker, Anlässe für Missverständnisse bei dieser Frage zu vermeiden.

Ich hoffe und wünsche mir, dass die Diskussion um Worthaus weitergeht. Wichtig ist mir dabei aber, dass um die Sache und Inhalte diskutiert wird, nicht um Menschen und ihre Haltung. Der Fokus auf die Sachthemen war schon immer die Absicht dieses Artikels. Er war auch bei der Überarbeitung ein wichtiger Leitgedanke. Es steht niemandem zu, anderen Christen dunkle Motive zu unterstellen. Aber eine inhaltliche Debatte um das richtige Verständnis der Bibel brauchen wir dringend. Ich hoffe, dass diese Debatte weiter zunimmt und dass dieser Artikel auch zukünftig ein wertvoller Beitrag dafür sein kann.

Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?

Christliche Apologetik go home?

von Dr. Reinhard Junker

Dieser Artikel kann hier als PDF heruntergeladen werden.

Die Internetseite „Worthaus“ hat einen Vortrag der Theologin Christiane Tietz mit dem Thema „Glaube und Zweifel“ veröffentlicht. Frau Tietz äußert sich darin kritisch zu Gottesbeweisen im Allgemeinen und speziell zum Ansatz des „Intelligent Design“, den sie in der Tradition des teleologischen Gottesbeweises von Thomas von Aquin sieht. Die Ausführungen von Frau Tietz laufen auf eine Abschaffung von Apologetik hinaus. Denn sie argumentiert gegen apologetische Arbeit, die positiv für die Wahrheit des biblischen Schöpfungszeugnisses eintritt; dagegen sollte man den Verstand nutzen, um das Geglaubte zu durchdenken, aber auch um die Lehren des Christentums kritisch zu hinterfragen. Doch gerade wenn auf diesem Wege kritische Fragen aufgeworfen werden, ist Apologetik gefragt.

I. Apologetik und das Design-Argument:
Das christliche Schöpfungszeugnis gegen Kritik behaupten

Wohl jeder Christ kennt solche Situationen: In einem Gespräch über Jesus Christus oder über die Bibel kommen Einwände: „Wie, Du bist so altmodisch und glaubst noch an Gott? Ich dachte Du seist intelligent!“ Oder: „Die Bibel ist doch voller Fehler und Widersprüche“, womit angedeutet wird, sie sei ziemlich unglaubwürdig. Oder: „Die Wissenschaft hat doch widerlegt, dass… Damals wussten die Menschen noch nicht, dass… usw.“ Nicht nur von Menschen, die mit der Bibel und dem Christsein nichts zu tun haben wollen, kommt solche Kritik, sondern auch von manchen „Frommen“. Man könne die Bibel nicht mehr so lesen wie früher und Vieles mehr.

Mit Fragen dieser Art sind wir mitten drin in der Apologetik. Darunter versteht man die Verteidigung der biblischen Botschaft und ihrer Glaubwürdigkeit mithilfe von Sachinformation und logischen Argumenten gegen Einwände aller Art. Es geht darum, Kritik an der christlichen Weltsicht mit Fakten und sachlichen Argumenten zurückzuweisen oder wenigstens zu entkräften, Deutungsalternativen aufzuzeigen (wie kann man eine Sache mit guten Gründen auch verstehen?) und argumentative oder logische Fehler aufzudecken. Im besten Fall kann es auf diese Weise gelingen, Glaubenshindernisse auszuräumen und für die Glaubwürdigkeit der Bibel zu punkten. Mehr kann Apologetik nicht erreichen – gute Argumente alleine bewirken keinen persönlichen lebendigen Glauben. Aber für einen ehrlichen Sucher kann es sehr wichtig sein, dass seine Fragen – und damit er selber – ernst genommen werden. Und Gott kann es auch schenken, dass Menschen, die dem christlichen Glauben ablehnend gegenüberstehen, durch Argumente in ein ernsthaftes Nachdenken geführt werden. Es gibt viele Zeugnisse dafür, dass apologetischer Einsatz eine wichtige Rolle dabei gespielt hat, dass Menschen den Schritt zur persönlichen Nachfolge Jesu und zum Vertrauen in Gottes Wort, die Bibel, gemacht haben oder dabei geblieben sind. Apologetische Arbeit abzulehnen oder für unnötig zu erachten, hieße nichts anderes, als Menschen mit ehrlichen kritischen Fragen zur Glaubwürdigkeit der Bibel im Regen stehen zu lassen. Darüber hinaus ist Apologetik auch deshalb wertvoll, insofern sie helfen kann, wichtige biblisch bezeugte Wahrheiten (wieder) sichtbar werden zu lassen. So ist die Erkenntnis, dass wir in einer geschaffenen Welt leben, auch deshalb von herausragender Bedeutung, weil Menschen ihretwegen „keine Entschuldigung haben“ (Römer 1,20), wenn sie sich dereinst für ihren Unglauben zu rechtfertigen haben.

Apologetik im Bereich der Schöpfungslehre

Es gibt viele Felder für christliche Apologetik. Dieser Beitrag geht schwerpunktmäßig auf das Feld der biblischen Schöpfungslehre ein. Diese steht ohne Zweifel unter Berufung auf Wissenschaft schwer unter Beschuss – und zwar in fast jeder Hinsicht, nicht nur dann, wenn man die Schöpfungstexte des Buches Genesis als Schilderungen tatsächlicher Ereignisse liest. Schon die Auffassung, es habe schöpferische Inputs, eine geistige Verursachung[1] gegeben, durch die die Welt, die Lebewesen und mit ihnen auch der Mensch ins Dasein gekommen sind, stößt auf starken Widerspruch, sei es im akademischen Bereich, im Bildungssektor oder in den Massenmedien. Praktisch jeder Schöpfungsansatz wird pauschal als unwissenschaftlich abgetan. Der Grund ist, dass der Naturalismus kulturell zum Leitparadigma des Westens geworden ist, weswegen die akademische Welt durch diese Weltanschauung regelrecht beherrscht ist, was sich vor allem in Ursprungsfragen zeigt.[2] Wäre dem Anspruch des Naturalismus gemäß die Welt tatsächlich ohne das absichtsvolle, zielgerichtete Wirken Gottes entstanden, dann wäre ein Schöpfer überflüssig und das biblische Schöpfungszeugnis nicht nur unglaubhaft, sondern sogar unsinnig – es sei denn, man hätte überzeugende Gründe dafür, dass der Schöpfer die Spuren seines Schöpfungshandelns bewusst verbergen wollte und auch konnte.

Die Bibel bezeugt demgegenüber Gott als Schöpfer in verschiedensten Zusammenhängen, aus denen hervorgeht, dass er eingreifen kann und auch eingegriffen hat. Die Bibel spricht zwar auch davon, dass Gott immer in verborgener Weise wirkt, jedoch sind zumindest die Resultate seines Schöpfungs- und Wunderhandelns als solche offensichtlich, und entsprechend wird Gottes schöpferisches und eingreifendes Handeln bezeugt. Römer 1,20 wurde bereits genannt. Und was sollte zum Beispiel Psalm 94,9 bedeuten, wenn Gottes Wirken als Schöpfer nicht wirklich erkennbar wäre: „Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen? Der das Ohr gebildet hat, sollte der nicht hören?“ Hier wird das Schöpfungshandeln Gottes in Beziehung gesetzt zum persönlichen Ergehen dessen, der auf Gottes Eingreifen hofft. Oder greifen wir Jesu Worte aus der Bergpredigt heraus: „Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in seiner Pracht nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Felde so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr tun für euch, ihr Kleingläubigen?“ (Mt. 6,28b-30) Auch hier wird die Zusage der persönlichen Zuwendung und Fürsorge Gottes an das Zeugnis seiner Schöpferkraft gekoppelt. In einer Welt, die ihre Existenz nur dem Zufall und zufällig existierenden Naturgesetzen verdankte, hätte diese Zusage keine Basis. Das alleine ist für einen Christen schon Grund genug, nachzuhaken: Sind die Ansprüche des Naturalismus und der Evolutionsanschauung überhaupt gerechtfertigt? Genau diese Frage führt in die Apologetik. Sie zielt nicht darauf ab, Schöpfung formal zu beweisen. Es geht vielmehr darum, die Behauptung, ein eingreifender und Wunder wirkender Schöpfer sei überflüssig, argumentativ mit Befunden aus den Naturwissenschaften qualifiziert in Frage zu stellen.

Wir werden darauf zurückkommen. Zunächst aber noch ein paar weitere Blicke auf biblische Schöpfungstexte: Der Prophet Jeremia stellt Gott als Schöpfer den wirkungslosen und eigentlich harmlosen Götzen gegenüber: „Der HERR ist es, der die Erde durch seine Kraft geschaffen, den Erdkreis durch seine Weisheit fest gegründet und durch seine Einsicht den Himmel ausgespannt hat“ (Jer. 10,12). Hier werden Kraft, Weisheit und Einsicht Gottes betont. Durch den Kontrast mit den selbstgemachten Göttern, den Götzen, die nicht reden, gehen, schaden oder nutzen können, wird umso deutlicher, was Gott als Schöpfer tut. Er kann dies alles, was die Götzen nicht können.

Der Hebräerbrief bringt es prägnant auf den Punkt: „Aufgrund des Glaubens erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort erschaffen worden und dass so aus Unsichtbarem das Sichtbare entstanden ist“ (Hebr. 11,1; EÜ). Das Wort Gottes, das hier genannt wird, kann mit dem Wort, das in 1. Mose 1 und in Joh. 1 bezeugt wird, identifiziert werden; es ist das Wort, durch das Gott geschaffen hat. Man wird nicht fehlgehen, wenn mit dem „Wort“ auch Information, Plan, Überlegung und Zielsetzung einschließt.

Und es ist vor diesem Hintergrund selbstverständlich, dass man danach fragen kann, ob sich in den geschaffenen Dingen Hinweise auf die Kraft, Weisheit und Einsicht Gottes als Schöpfer finden lassen. Das ist es ja, was Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefes feststellt: „Denn was man von Gott erkennen kann, das ist unter ihnen wohlbekannt; Gott selbst hat es ihnen ja kundgetan. Sein unsichtbares Wesen lässt sich ja doch seit Erschaffung der Welt an seinen Werken mit dem geistigen Auge deutlich ersehen, nämlich seine ewige Macht und göttliche Größe“ (Röm. 1,19-20; nach H. Menge). Das heißt: Die Werke der Schöpfung sind so gestaltet, dass an ihnen deutlich, ja gleichsam offensichtlich die Spuren eines mächtigen Schöpfers erkannt werden können. Die Wendung „mit dem geistigen Auge ersehen“ meint den Einsatz des Verstandes; im verwendeten griechischen Wort „nooumena“ steckt „nous“, Verstand. Luther übersetzt mit „durch Nachdenken“. Die Spuren sind also gut erkennbar, und das ist so, weil Gott sie selber „kundgemacht“, sozusagen öffentlich zugänglich gemacht hat. Und sie sind so deutlich, dass wie oben bereits erwähnt im weiteren Text davon die Rede ist, dass es keine Entschuldigung dafür gibt, sie zu ignorieren oder als nichtssagend abzutun. Paulus schreibt weiter, dass viele Menschen nicht mit Dank und Anbetung auf die Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung antworten. An dieser Stelle endet dann auch jede christliche Apologetik: Den persönlichen Schritt des Glaubens an Jesus Christus und des Vertrauens in sein Wort kann sie nicht bewirken.

Die Aussagen von Paulus in Römer 1,20ff. würden aber keinen Sinn machen, ja sie wären unmittelbar falsch, wenn in der Schöpfung gar keine Spuren der Tätigkeit des Schöpfers gefunden werden könnten, unbeschadet der Tatsache, dass Spuren im Einzelfall nicht immer eindeutig sein mögen und dass Spuren gelesen und interpretiert werden müssen. Aber solche klaren Spuren sind zu erwarten. Und sie sind wirklich da und man kann sie tatsächlich erkennen und das in manchen Fällen sogar recht leicht.

Der Design-Ansatz in der Biologie

Genau an dieser Stelle knüpft der Design-Ansatz an, der populär unter dem Schlagwort „Intelligent Design“ bekannt ist. Vorab ist wichtig: Es geht beim Design-Ansatz in der Biologie (worauf wir uns hier beschränken) um Ursprungsfragen, um die Frage nach der erstmaligen Entstehung von Naturgegenständen (z.B. die Entstehung des Lebens oder die Entstehung biologischer Konstruktionen oder die für Leben maßgeschneiderten Naturgesetze). Es geht also nicht darum, eine andere Art von Naturwissenschaft zu betreiben, sondern vielmehr die Daten der Naturwissenschaften als Indizien heranzuziehen, um die Frage zu beantworten, ob …

  • eine natürliche oder eine schöpferische Verursachung wahrscheinlicher ist.
  • der Anspruch einer naturalistischen Erklärung durch die Daten gedeckt ist und
  • ob die Behauptung, ein Schöpfer sei überflüssig, begründet ist.

Der hier relevante[3] Design-Ansatz kann sehr gut so definiert werden, dass er sich nicht weltanschaulich auf den Naturalismus oder zumindest nicht auf einzelne naturalistische Grundprinzipien festlegt. Er lässt daher die Möglichkeit zu, dass Lebewesen oder bestimmte Aspekte von ihnen durch die Tätigkeit eines Schöpfers entstanden sind, insbesondere wenn Erklärungen durch ungerichtete, natürliche Prozesse nachhaltig versagen und Gründe benannt werden können, warum das so ist. Der Design-Ansatz legt sich also nicht von vornherein auf Schöpfung fest, sondern kalkuliert diese Möglichkeit ein. Damit erfüllt dieser Ansatz auch ein wesentliches Kriterium echter Wissenschaftlichkeit, nämlich eine prinzipielle Ergebnisoffenheit historisch-wissenschaftlichen Arbeitens ohne weltanschauliche Engführung.

Den Grundgedanken des Design-Ansatzes kann man auch so formulieren: Es soll untersucht werden, ob man an den Strukturen der Lebewesen (oder auch der unbelebten Welt) Eigenschaften erkennen kann, die auf das Wirken eines intelligenten, willensbegabten Urhebers (Designers, Schöpfers) hinweisen und andere Möglichkeiten ihrer Herkunft unwahrscheinlich machen. Eine wissenschaftliche Analyse soll Indizien dafür aufdecken, dass der Kosmos und die Lebewesen durch das schöpferische Wirken eines Designers entstanden sind.

Es geht also darum, mögliche Indizien einer geistig-schöpferischen Verursachung auf Grundlage naturwissenschaftlicher Analysen der erforschten Gegenstände (seien es Lebewesen, potenzielle menschliche Artefakte oder auch Dinge der unbelebten Welt) identifizieren zu können. Dieselben Prinzipien kommen auch sonst bei der Unterscheidung von Artefakten von Naturprodukten oder (spezieller) in der Kriminalistik zum Tragen (vgl. Kasten „Der Fall ‚Schöpfung oder Evolution‘ als Kriminalgeschichte“). Sie werden in der biologischen Intelligent-Design-Forschung auf die Analyse von Lebewesen bezogen.

Der Kern des Design-Ansatzes

Auf biologische Details soll hier nicht eingegangen werden; das geschieht an anderer Stelle.[4] Wichtig ist, den Kern des Design-Ansatzes zu verstehen. Der Design-Ansatz geht von der fundamentalen Unterscheidung zwischen Geistigem und Nicht-Geistigem aus, zwischen geistlosen und geistigen Ursachen, dem durch Geist und durch geistlose Prozesse Verursachten, sowie den daraus resultierenden Merkmalen.

Eine geistbegabte Person, ein Schöpfer, Künstler, Konstrukteur oder Programmierer, kann Ziele setzen und den zukünftigen Zielzustand gedanklich vorwegnehmen. Er ist also zukunftsorientiert, kann planen, benötigte Mittel zur Erreichung des Zieles organisieren, Zwischenschritte einplanen und mögliche Hindernisse einkalkulieren. All das können Naturprozesse nicht. Diese laufen nach Gesetzmäßigkeiten ab und haben dabei weder eine Wahl noch ein Ziel. Denn nichtgeistige Dinge und Abläufe sind völlig blind in Bezug auf Ziele oder das Erreichen eines Zieles durch geeignete Mittel und können keine Mittel zum Erreichen eines Zieles wählen. Erklärungen, die nicht auf geistiger Verursachung beruhen, können lediglich auf drei Faktoren Bezug nehmen: Naturgesetze, (statistisch qualifizierter!) Zufall und wahrscheinliche Randbedingungen. Unter solchen Bedingungen sind aber keine Merkmale zu erwarten, wie sie bei geistig verursachten Gegenständen vorliegen. Naturprozessen stehen also sehr viel weniger Möglichkeiten zur Verfügung. In aller Regel ist der Unterschied der Merkmale von geistig oder nicht-geistig verursachten Gegenständen leicht erkennbar, weil die Merkmale geschaffener Gegenstände allgemeine Merkmale geistiger Wesen widerspiegeln, wie insbesondere eine komplex realisierte Zweckmäßigkeit. Daher kennen wir auch keine Gegenstände, die eine komplexe Zweckmäßigkeit widerspiegeln, deren Ursprung geklärt ist und die allein durch ungeplante, natürliche Prozesse entstanden sind.

Der Design-Ansatz ist ein rein wissenschaftlicher Ansatz, der ohne jeden Bezug zu theologischen Aussagen verfolgt werden kann. Das ist seine Stärke, bedingt aber auch Grenzen. Denn auf diesem Wege kann noch nichts über die Identität und spezielle Attribute des Designers gesagt werden. Hat der Gott der Bibel die DNA geschaffen? Oder ein anderes außerweltliches, göttliches Wesen? Oder waren es (innerweltliche) Außerirdische? Sind wir das Werk eines verrückten Physikers, der unsere Welt nur auf seinem Supercomputer simuliert? Alle diese Ansätze (auch wenn sie z.T. nach Science-Fiction klingen, werden tatsächlich von namhaften Wissenschaftlern diskutiert).

Aber: Der Design-Ansatz, wo er fruchtbar ist, macht dadurch die christliche Weltsicht signifikant wahrscheinlicher. Dabei ist er natürlich offen für Konkretisierungen, wer dieser Schöpfer ist. Solche Konkretisierungen können auch zunächst aus dem Bereich der natürlichen Theologie stammen (z.B. über das Moral-Argument oder die historische Apologetik). Die konkrete Anwendung auf theologische Fragen ist aber erst ein zweiter oder ggf. dritter Schritt. Konkrete Aussagen über den Schöpfer folgen jedenfalls nicht aus der Design-Analyse. Auch auf diesen Punkt werden wir weiter unten zurückkommen.

Das angebliche Lückenbüßer-Problem

Eine der häufigsten Einwände gegen den Design-Ansatz ist, man argumentiere mit einem „Lückenfüller“ oder „Lückenbüßer“. Diesen Einwand gibt es in theologischer und in wissenschaftsmethodischer Hinsicht. Er ist aber in beiden Hinsichten verfehlt.

Der methodische Einwand besagt: Wenn es Lücken im Verständnis einer natürlichen Entstehung gibt, könne man daraus nicht auf einen Schöpfer schließen, der diese Lücke fülle. Weitere Forschung würde diese Lücken in Zukunft füllen.

Doch woher weiß man das? Weitere Forschung könnte ebenso gut diese Lücken noch größer werden lassen – dafür gibt es auch zahlreiche Beispiele aus der aktuellen Forschung. Wer mit dem Lückenbüßer-Argument gegen den Design-Ansatz argumentiert, setzt also einfach ohne weitere Begründung voraus, es gebe eine naturalistische Erklärung, sie müsse nur noch gefunden werden. Mit anderen Worten: Unbekannte natürliche Prozesse werden – ohne dass es Indizien für ihre Existenz Indizien gibt – als Lückenfüller des Naturalismus eingesetzt. Denn natürlich sind alle unsere Naturdaten stark unterbestimmt – und damit per se lückenhaft. Auf die meisten Sachverhalte zur Erklärung der Welt müssen wir über mehr oder weniger indirekte Argumente schließen. Die Frage ist, welche Argumente bzw. welche „Lückenfüller“ die rational annehmbarsten sind. Irgendwelche Lückenfüller – wenn man das Wort verwenden will – brauchen wir also. Die einseitige (und dabei meist polemische) Verwendung des Wortes ist daher inkonsequent. Offenkundig ist also die Lückenbüßer-Argumentation kein treffendes Argument.

Liegen Erklärungslücken vor, müssen also in einem Vergleich möglicher Erklärungen („natürlich entstanden“ versus „geistig-kreativ verursacht“) die vorliegenden relevanten Indizien bewertet werden: Sprechen diese eher für natürliche (nicht-geistige) oder für kreative (geistige) Verursachung? Diese Vorgehensweise entspricht der o.g. Ergebnisoffenheit des Design-Ansatzes.

Ein weiterer Aspekt dabei ist dieser: Bezeichnen wir einen Ingenieur oder einen Programmierer als Lückenbüßer, weil wir noch nicht verstanden haben, wie eine Maschine oder ein Computerproramm alleine durch natürliche Vorgänge entsteht? Würde jemand in solchen Fällen auf den Gedanken kommen, das Wirken einer willensbegabten und mit Verstand ausgestatteten Person nicht als Erklärung zuzulassen, weil diese Erklärung nicht allein auf rein naturgesetzlich beschreibbare Faktoren zurückgreift?

Ein weiterer Aspekt. Es geht bei der Frage „Schöpfung oder rein natürliche Verursachung“ nicht darum, ob hier und da ein Schöpfer in einen ansonsten natürlich verlaufenden Prozess eingegriffen hat (was man nach dem Konzept einer theistischen Evolution annehmen könnte, die hier aber nicht vertreten wird). Die Frage ist vielmehr: Hat ein natürlicher Prozess zu einem bestimmten Naturgegenstand geführt oder liegt ein Fall von Planung und zielorientierter Realisierung vor, bei dem ein Schöpfer (oder Konstrukteur, Programmierer oder Künstler) eingegriffen hat und / oder die natürlichen Gegebenheiten kreativ genutzt hat, wobei seine geistige Tätigkeit aber von vornherein entscheidend für das Hervorbringen war.

Der Design-Ansatz ist also keinesfalls ein Konkurrent zu naturwissenschaftlicher Forschung und verhindert diese auch nicht – im Gegenteil! Indizien für einen Designer werden durch Forschung entdeckt. Kenntnisse über die Natur liefern Design-Indizien, nicht das Unentdeckte. Eines der größten und leider auch verbreiteten Missverständnisse über den Design-Ansatz ist, es gehe um eine andere Naturwissenschaft oder andere Art von Forschung. In Wirklichkeit geht es aber um Interpretations-Optionen in Bezug auf Ursprungsfragen. Die naturwissenschaftliche Forschung erfolgt methodisch auf gleiche Weise, unabhängig davon, ob man vom Naturalismus oder Theismus ausgeht oder ergebnisoffen arbeitet. Die Wege trennen sich erst, wenn es um Deutungen der Forschungsergebnisse in Bezug auf Ursprungsfragen geht (Schöpfung, Evolution).


Der Fall „Schöpfung oder Evolution“ als Kriminalgeschichte

Wenn Wissenschaftler vergangene Ereignisse (Schöpfung oder Evolution) rekonstruieren möchten, arbeiten sie ähnlich wie ein Kriminalist, der einen Todesfall aufzuklären hat. War es Mord oder Selbstmord oder trat der Tod auf natürlichem Wege ein? Wenn Augenzeugen fehlen, ist nur ein Indizienbeweis möglich. Das ist kein absolut unzweifelhafter Beweis im mathematischen Sinne, sondern eine stimmige Erklärung der am Tatort gefundenen Indizien; im Idealfall gibt es nur eine einzige stimmige Erklärung und der Fall scheint gelöst zu sein. Unter Umständen bleibt der Fall aber mangels Beweisen ungelöst, weil die Indizien mehrere Szenarien erlauben.

Wenn der Kommissar seine Arbeit unvoreingenommen macht, sammelt er möglichst viele Indizien, um zu einem möglichst umfassenden Gesamtbild zu kommen, und er wird allen Spuren nachgehen. Vor allem: Er ist für alle möglichen Antworten offen. Ein Kommissar, der eine der möglichen Erklärungen grundsätzlich ausschließen würde, hat seinen Beruf verfehlt. Oder was würden Sie von einem Kommissar halten, der „Mord“ von vornherein ausschließen würde mit der Begründung, es müsse unter allen Umständen eine Erklärung dafür geben, dass der Tod auf natürlichem Wege eingetreten sei? Die Möglichkeit, dass ein Täter absichtsvoll gehandelt habe, dürfe nicht berücksichtigt werden?

Genauso fragwürdig ist aber tatsächlich die Herangehensweise der überwältigenden Mehrheit der heutigen Biologen in ihren Forschungen zur Entstehung des Lebens und zur Geschichte der Lebewesen. Die Möglichkeit, dass ein Schöpfer absichtsvoll gehandelt hat und dass daraus die korrekte Erklärung folgt, wird prinzipiell ausgeschlossen, angeblich aus methodischen Gründen, aber in Wirklichkeit ist es eine Vorentscheidung in der Sache. Mindestens wird die Spur einer Schöpfung gewöhnlich nicht verfolgt. Nur ein Zitat von vielen, das diese Einstellung verdeutlicht: „Selbst wenn alle Daten auf einen intelligenten Schöpfer weisen, würde eine solche Hypothese aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden, weil sie nicht naturalistisch ist.“[1] Dieses Zitat besagt: Die Wissenschaftlergemeinschaft ist faktisch darauf festgelegt, dass es auf alle Ursprungsfragen eine naturalistische Antwort geben muss. „Schöpfung“ sei auszuschließen, da dies unwissenschaftlich sei. Damit aber wird ein Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens aufgegeben, nämlich die Suche nach der zutreffenden Antwort.[1] Stattdessen wird die „beste“ naturalistische Antwort gesucht. (In Anführungszeichen deshalb, weil falsche Antworten nie die besten sein können.) Es gibt also gute Gründe dafür, dass diese verengte Suche ein Holzweg ist.


II. Zum Vortrag „Glaube und Zweifel“ von Christiane Tietz

Teil I soll helfen, die Aussagen von Christiane Tietz einordnen und kommentieren zu können. Frau Tietz äußert sich zu Gottesbeweisen, speziell zum teleologischen Gottesbeweis nach Thomas von Aquin[5], und leitet anschließend zum Ansatz des „Intelligent Design“ (ID) über, der im Folgenden wie in Teil I kurz als „Design-Ansatz“ bezeichnet werden soll. Sie beginnt mit der Erklärung, wie der Begriff „Gottesbeweis“ im Mittelalter verstanden wurde: „Es ist vernünftig, an Gott zu glauben. Glaube und Vernunft widersprechen sich nicht.“ Einen Beweis im mathematischen Sinne gibt es hier nicht.

In der Diskussion um „Gottesbeweise“ ist es wichtig zu klären, was mit „Gottesbeweis“ gemeint ist. So kann es in der Frage nach Schöpfung versus Naturalismus nur darum gehen, ob die Annahme des Wirkens eines Schöpfers wahrscheinlicher ist als die Annahme, dass ein Schöpfer keine Rolle bei der Entstehung des Kosmos oder der Lebewesen spielte. Für einen Apologeten würde sogar genügen, wenn die Annahme eines Schöpfers als vernünftige Option aufgezeigt werden kann. Hier werden jedoch oft völlig überzogene Forderung an die theistische Position gestellt, so als …

  • sei die Beweislast einseitig auf der Seite des Design-Ansatzes,
  • müssten naturalistische Erklärungen widerlegt werden,
  • sei der Naturalismus bis zum Beweis des Gegenteils als wahr anzunehmen,
  • müsse der Theist sogar den Unmöglichkeitsbeweis führen, dass naturalistische Hypothesen (z. B. der Entstehung des Lebens) prinzipiell scheitern werden.

Aber selbstverständlich sind (auch) Naturalisten hinsichtlich ihrer eigenen Behauptungen in der Begründungspflicht und können nicht einfach dem Gegner einen Unmöglichkeitsbeweis aufbürden. Sie selbst müssen z.B. hinreichend starke Indizien für eine rein natürliche Entstehung des Lebens vorlegen, genauso wie Befürworter des Design-Ansatzes Indizien für Schöpfung zusammentragen müssen. Es geht also immer um einen Vergleich: Welche Position hat die überzeugenderen Indizien auf ihrer Seite?


Der teleologische Gottesbeweis nach Thomas von Aquin

Beim teleologische Gottesbeweis nach Thomas von Aquin handelt es sich um den sogenannten „Fünften Weg“ seiner Gottesbeweise. Beispielhaft sei sein Argument anhand der Flugbahn eines Pfeiles erläutert: Thomas von Aquin schließt aus der Tatsache, dass der auf ein Ziel fliegende geistlose Pfeil nicht selber zielorientiert ist, dass es ein dahinterstehendes Ziel bzw. eine entsprechende Absicht geben muss. Diese ist natürlich im Geist des Schützen zu finden. Diesen Gedanken wendet er auf die Welt als Ganzes an und schließt auf Gott, der sie in Bewegung gesetzt hat.
Die Originalformulierung findet man hier: http://www.k-l-j.de/068_gottesbeweise_thomas_aquin.htm


Das Design-Argument in biologischer Sicht

Kommen wir zum Vortrag von Frau Tietz zurück. Die Referentin weist zunächst unter Berufung auf Kant den teleologischen Gottesbeweis von Thomas von Aquin (siehe Kasten) zurück. Dessen Beweisführung gelte nach Kant nur in der sinnlichen Welt. Den Rückschluss auf Gott könne man nicht machen, weil er kein Gegenstand der sinnlichen Welt (in Raum und Zeit) ist. Dieser Rückschluss sei prinzipiell nicht möglich.[6] Mit dieser Kritik kommt sie anschließend auf den Design-Ansatz in der Biologie zu sprechen, den sie mit dem teleologischen Gottesbeweis von Thomas in Verbindung bringt. Diese Verbindung ist nicht ganz korrekt, da es bei Thomas um teleologische (d.h. zielorientierte) Bewegungen geht (die ohne personale Ursache letztlich nicht verstanden werden können), während der zentrale Aspekt beim Design-Argument die Zweckmäßigkeit bzw. Funktionalität biologischer Strukturen ist.[7] Organe oder biologische Konstruktionen können nur dann eine Funktion ausüben, wenn mehrere Teile ausgebildet und passend aufeinander abgestimmt sind. Daraus ergibt sich das Argument der „nichtreduzierbaren Komplexität“. Es besagt zum einen, dass ein Minimum an Teilen und deren Abstimmung nicht reduziert werden darf, ohne einen totalen Funktionsausfall zu haben (in Bezug auf die Funktion des Systems). Zum anderen heißt dies, dass dieses Minimum an nichtreduzierbarer Komplexität komplett vorhanden sein muss und nicht schrittweise durch Versuch und Irrtum in einem natürlichen Evolutionsprozess aufgebaut werden kann. Denn Vorstufen wären nicht funktional und könnten in Bezug auf die Funktion des ganzen Systems nicht durch Selektion ausgelesen werden, sondern würden viel eher abgebaut, bevor weitere aufbauende Schritte folgen.

Frau Tietz charakterisiert den Design-Ansatz korrekt: Ein intelligenter Designer sei aufgrund der Gegebenheiten in der Natur erschließbar; eine planvolle Zusammenstellung von Teilen könne man nur auf einen Schöpfer zurückführen, und zwar notwendigerweise. Als Beispiele nennt sie komplexe Strukturen wie Auge oder Flügel. Naturgesetze würden nicht ausreichen, solche Strukturen hervorzubringen.

„Was sagen Biologen dazu?“ fragt Frau Tietz und meint, sie würden darauf verweisen, dass es weniger komplexe Formen gebe, die auch irgendwie funktionieren, nicht nur die vollendete Form. Als Beispiel nennt sie Lungen von Lungenfischen, die einfacher gebaut sind als Lungen von Landwirbeltieren. Das Beispiel ist jedoch denkbar schlecht gewählt, weil alle diese Lungen eine Lungenfunktion ausüben, während es beim Design-Argument der nichtreduzierbaren Komplexität um die erstmalige Entstehung einer minimalen Lungenfunktion geht.[8]

Außerdem – so würden Biologen behaupten – sei eine scharfe Abgrenzung zwischen funktional und nicht funktional gar nicht möglich; etwas könne auch „ein bisschen“ funktionieren. Ein Beispiel dafür nennt sie nicht. Aber davon abgesehen setzt „ein bisschen funktionieren“ de facto ein Funktionieren voraus; eine biologische Zelle, die „ein bisschen funktioniert“, sprich: auf jeden Fall lebt, ist mit einer Erbinformation einschließlich Auslese- und Reparaturvorrichtungen, zahlreichen Proteinen, einer funktionalen Zellmembran u. v. m. bereits hochkomplex und spezifisch aufgebaut. Dasselbe gilt z.B. für ein Echolotsystem bei verschiedenen Säugern, die bereits „ein bisschen“ funktionieren.
Es ist also gerade die Frage, auf welchem Wege eine neue, vorher nicht realisierte Minimalfunktion zustande kommt. Ohne eine Minimalfunktion kann nicht auf die betreffende Funktion ausgelesen werden und wenn eine Minimalfunktion viele aufeinander abgestimmte Schritte (Mutationen) erfordert, sind nach allem, was wir wissen, die bekannten Evolutionsmechanismen klar überfordert. Das wird heute auch von einer Reihe von Evolutionsbiologen eingeräumt.[9] Auch dieser Einwand geht am Kern des Arguments vorbei.

Hier kann natürlich keine Detaildiskussion geführt werden; dies ist an anderer Stelle erfolgt und es sei auf den in Anmerkung 10 genannten Grundsatzartikel verwiesen. Es sei nur noch angemerkt, dass es zahlreiche andere Arten von Design-Argumenten in der Biologie gibt: Das Argument der nichtreduzierbaren Komplexität ist sicher besonders populär, aber nur eines unter vielen.[10] Man kann Frau Tietz als Theologin vielleicht keinen Vorwurf machen, dass sie hier nicht besser und ausgewogener informiert ist. Es ist aber fahrlässig, auf dünner Kenntnisdecke einen Ansatz als untauglich hinzustellen.

Das Design-Argument in theologischer Sicht

Mehr Zeit verwendet Frau Tietz im Folgenden darauf, den Design-Ansatz theologisch zu kritisieren. Dabei greift sie nochmals auf biologische und methodologische Aspekte zurück.

Ihr erster Punkt: Beim Design-Ansatz werde Gott als Ursache „innerhalb des Weltbildes“ gesehen. Phänomene, die wir nicht erklären können, müssten von Gott verursacht worden sein. Der Gottesbegriff, wonach Gott innerhalb der Kausalkette wirke, sei problematisch. Gott werde als Arbeitshypothese verwendet, die man einsetzt, wenn man nicht mehr weiterwisse. Man dürfe Gott nicht in Erklärungslücken stecken; Gott werde sonst zum Lückenbüßer; der sich durch Wissensfortschritt auf einem fortgesetzten Rückzug befinde.

Diese scheinbare Kurzform des Arguments („Phänomene, die wir nicht erklären können, müssen von Gott verursacht worden sein“) wird aber von keinem Befürworter vertreten, es ist lediglich eine (leicht angreifbare) Karikatur. Frau Tietz bringt wie viele andere Redner oder Autoren keine Originalzitate von Befürwortern des Design-Ansatzes. Das Problem ist hier eine unklare Rede von „Lücken“ und eine Unklarheit darüber, welche „Phänomene“ überhaupt gemeint sind, die nicht erklärt werden.

Da die „Lückenbüßer“-Kritik sehr populär ist, soll darauf nochmals etwas ausführlicher eingegangen werden.[11]

  1. Es ist notwendig, zwischen Wissenslücken und Erklärungslücken zu unterscheiden. Beim Design-Ansatz geht es um letztere und zwar um Erklärungslücken in Bezug auf die vergangene, erstmalige Entstehung von Naturgegenständen. Tatsächlich gibt es viele Beispiele dafür, dass das Schließen von Wissenslücken die Erklärungslücken im Rahmen des Naturalismus vergrößert.[12] Der Design-Ansatz wird nicht durch Wissenslücken begünstigt; vielmehr muss sich zeigen, ob sich durch Erweiterung unserer Kenntnisse der Design-Ansatz bewährt oder ob er fallen gelassen werden kann. Die Erweiterung unseres Wissens ist eine Prüfmöglichkeit für den Design-Ansatz und im Erfolgsfalle führt das zu seiner Stärkung. Das gilt vice versa auch für den naturalistischen Ansatz. Auch im Rahmen dieses Ansatzes stellt sich die Frage, ob das Schließen von Wissenslücken naturalistischen Deutungen stärkt oder schwächt.
    Es geht auch nicht darum ob Gott „zwischendurch immer wieder mal eingreift“ und „bestimmte Sachen gemacht hat, die wir anders noch nicht verstehen“, wie Frau Tietz mutmaßt, sondern darum, ob es Indizien dafür gibt, dass Gott, der außerhalb seiner Werke steht, von vornherein geplant und zielorientiert gehandelt hat. Gottes Schöpferhandeln kann natürlich weder demonstriert noch modelliert werden, und am allerwenigsten ist es in irgendwelchen Lücken zu finden. Der eingangs genannte Vergleich mit einem Computer macht es klar: Der Konstrukteur findet sich ja auch nicht in Lücken unseres Verständnisses über die Funktionsweise des Computer, sondern befindet sich außerhalb des Systems, das ohne sein Wirken nicht verstanden werden kann.
  1. Von Lücken zu sprechen, macht zudem nur dann Sinn, wenn das Ganze in Grundzügen bekannt ist, so dass das Fehlende als Lücke zu bezeichnen ist. Daraus folgt: Die Behauptung von Lücken in erklärenden naturalistisch-evolutionären Hypothesen beinhaltet, dass das zu Beweisende vorausgesetzt wird (dass es das „Ganze“, also eine naturalistische Erklärung gibt, die jedoch noch nicht geliefert wurde). Das zu Beweisende wird in doppelter Hinsicht vorausgesetzt, nämlich dass die „Lücke“ naturwissenschaftlich geschlossen werden kann und dass es sich überhaupt um das Fehlen eines Teils in einem vorausgesetzten existierenden Ganzen handelt.
    x
  2. Die Erklärung durch geistige Verursachung ist nicht in den Lücken einer naturwissenschaftlichen Ursprungshypothese zu verorten und ergänzt eine solche auch nicht, sondern sie ist eine Alternative zu einer solchen Hypothese, weil ein anderer Prozess im Fokus steht. Mit Design werden also nicht Lücken geschlossen, sondern ein anderer Erklärungstyp anstelle eines gescheiterten naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchs ins Spiel gebracht.

Daraus folgt: Falls ein (Natur-)Gegenstand nur durch einen kreativen Akt entstehen kann, werden naturalistische Entstehungshypothesen scheitern und aus der Sicht des Naturalismus wird dies notwendigerweise als (stets auf vorläufiges Nichtwissen basierende) „Lücke“ erscheinen – aber eben nur aus dieser Sicht (s. o.).

Fazit zum ersten Punkt. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen bloßen Wissenslücken und Erklärungslücken. Wissenslücken können geschlossen werden. Erklärungslücken können sich als grundsätzlich herausstellen und damit auf Grenzen natürlicher Prozesse verweisen. Die unklare Rede von Lücken und das Vermischen der verschiedenen Arten von „Lücken“ führen zu Scheinargumenten und Irreführung.

Entsprechend müssen die Fragestellungen nach Aufbau und Funktion eines Naturgegenstands einerseits und nach seiner Entstehung andererseits unterschieden werden. Auch diese Unterscheidung wird oft nicht beachtet; auch dadurch kommt es zu irreführenden Argumenten. Die häufig wiederholte Behauptung, zunehmende Kenntnisse würden die Lücken unseres Wissens verkleinern, trifft nachweislich nur auf das Funktionieren zu. Dagegen ist die Entwicklung in der Frage nach Mechanismen der Entstehung von Naturgegenständen uneinheitlich und von Fall zu Fall gesondert zu beurteilen; der Wissenszuwachs lässt die Fragen nach der Entstehung oft noch schwieriger werden.

Ein zweiter Punkt: Frau Tietz weist darauf hin, dass Naturwissenschaften methodisch ohne Gott im Experimentalbereich arbeiten müssen. Naturwissenschaftler müssten so argumentieren, dass Gott nicht vorkommt. Richtig verstanden ist das korrekt und eine methodisch sinnvolle Beschränkung.[13] Nun behauptet Frau Tietz aber weiter, Befürworter des Design-Ansatzes würden die Naturwissenschaften dafür kritisieren, dass sie methodisch ohne Gott arbeiten und damit ein gottloses Weltbild vertreten. Das ist bestenfalls ein grobes Missverständnis. Es sei dazu an das im Teil I Gesagte erinnert: Es geht nicht um eine andere Art von Naturwissenschaft, sondern darum, die Daten der Naturwissenschaften als Indizien heranzuziehen, um die Frage zu beantworten, ob eine natürliche oder eine schöpferische (geistige) Verursachung bei der erstmaligen Entstehung eines Naturgegenstandes wahrscheinlicher ist. Die naturwissenschaftliche Forschung erfolgt aber methodisch auf gleiche Weise, unabhängig davon, ob man ihre Ergebnisse im Rahmen des Naturalismus oder aus der Schöpfungsperspektive deutet.

An dieser Stelle fehlt im Vortrag von Frau Tietz eine weitere wichtige Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Experimentalrahmen (wo das Wirken Gottes mit den Methoden der Naturwissenschaften gar nicht berücksichtigt werden kann) und dem naturhistorischen Bereich, in dem nicht experimentell gearbeitet werden kann und auch die Fragestellung in der Regel eine andere ist.[14] Wird dieser Unterschied nicht beachtet, gerät einiges durcheinander. Vor allem läuft es darauf hinaus, Gottes Wirken nicht nur methodisch, sondern auch faktisch auszuschließen. Denn wenn man Gottes Wirken in Ursprungsfragen methodisch ausschließt, bedeutet das, dass man sich in naturhistorischen Fragen auf Erklärungen mit ausschließlich natürlichen Prozessen und somit auf gesetzmäßig Beschreibbares und zufällige Faktoren beschränkt und prinzipiell nur solche Erklärungen zulässt. „Methodischer Naturalismus“ oder „methodischer Atheismus“ läuft somit letztlich auf einen weltanschaulichen Naturalismus bzw. Atheismus hinaus. Denn warum forscht man so, „als ob“ es X, Y und Z nicht gäbe bzw. irrelevant sei? Der einzig klare Grund kann nur sein: Weil man entweder glaubt, dass es X, Y und Z tatsächlich nicht gibt oder es als irrelevant für den Forschungsgegenstand betrachtet (d. h. hier: nicht als Schöpfer gehandelt hat).

Ein dritter Punkt. Christiane Tietz verweist auf Martin Luthers Erklärung zur Schöpfung im Kleinen Katechismus, wonach Schöpfung auch natürlich erklärbare Dinge wie „Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter“[15] einschließt. Doch Luther kann keinesfalls als Kronzeuge dafür angeführt werden, dass auch die Schöpfung insgesamt sich durch natürliche Prozesse entfaltet hat. Vielmehr beschreibt Luther hier eine Lehre, die auch als concursus divinus bezeichnet wird (das bedeutet „göttliche Mitwirkung“), deren Inhalt das Wirken Gottes auch nach Abschluss der Schöpfung am Anfang meint und die der deistischen Vorstellung entgegensteht, Gott greife nach vollendeter Schöpfung nicht mehr in den Lauf der Welt ein. Oft wird dies auch als creatio continua[16] bezeichnet und von der creatio originalis unterschieden. In Teil I wurde bereits ausgeführt, dass die Heilige Schrift vielfach und in vielerlei Zusammenhängen Gottes besonderes Schöpfungshandeln bezeugt. Biblisch gesehen kann Gottes Schöpfungshandeln nicht auf seine Fürsorge reduziert werden; das ist auch nicht die Absicht Luthers mit seinen Formulierungen im Kleinen Katechismus.

Viertens. Schließlich kritisiert Frau Tietz allgemein an den Gottesbeweisen (und implizit am Design-Ansatz), es handle sich um den Versuch, über Gott aus einer neutralen Warte heraus zu reden. Sie verweist auf den Theologen Werner Elert, der die Gottesbeweise als klassisches Beispiel menschlicher „Abstandshaltung“ (Gott gegenüber) ansieht. Man finde zwar heraus, dass es Gott gebe, aber der habe mit mir erst mal gar nichts zu tun. Das sei aber nicht der Gott, der den Menschen beansprucht. Es sei nicht der Gott der biblischen Texte, der in Beziehung mit den Menschen stehen wolle. Frau Tietz zitiert in diesem Zusammenhang auch den Theologen Rudolf Bultmann, wonach wir von Gott nur reden könnten, wenn wir von uns selber reden[17] und das mache ein Gottesbeweis nicht. Es gehe darin nicht um das, was Gott für mich bedeutet. Der Gottesbeweis rede vielmehr distanziert.

Dieser Ansatz ist allein schon deshalb deplatziert, weil durch ihn ein Sachargument „widerlegt“ werden soll, indem man versucht diejenigen, die es vorbringen, zu psychologisieren, also ihnen z.B. bestimmte Motive zu unterstellen. Aber genauso wenig kann man z. B. die die Allgemeine Relativitätstheorie widerlegen, indem man Albert Einstein bestimmte Motive unterstellt.

Der Aspekt der existentiellen Herausforderung betrifft zudem das Thema „Gottesbeweise“ gar nicht. Mit den Gottesbeweisen (im oben erläuterten Sinne) ist nicht der Anspruch verbunden, die Existenz des Gottes der Bibel oder gar seine besonderen Attribute nachzuweisen. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, dass es vernünftig und nicht gegen naturwissenschaftliches Wissen ist, an einen Schöpfer zu glauben. Wie im Teil I erläutert, endet Apologetik (und mit ihr die Gottesbeweise) an der Stelle, wo eine persönliche Antwort gefragt ist. Die Betrachtung der Natur kann in der Tat nicht klar aufzeigen, wie Gott ist, außer dass er sehr intelligent und mächtig sein muss. Genau das geht aus der eingangs zitierten Passage aus dem ersten Kapitel des Römerbriefes hervor: Die Schöpfung weist auf Gottes „unsichtbares Wesen“, seine „ewige Macht“ und „göttliche Größe“. Von der Liebe und Heiligkeit Gottes, von seiner Barmherzigkeit, von seinem Interesse mit dem Menschen in Beziehung zu treten, von seinem selbstlosen Einsatz für die Menschen bis zum bitteren Kreuzestod und davon, dass er Auferstehungskraft hat und den Jesus-Nachfolgern ewiges Leben verheißt und von vielem anderem  ist an dieser Stelle nicht die Rede. Das alles von Apologetik zu erwarten und ihr gleichsam vorzuwerfen, dass sie nicht auch noch zu diesen Erkenntnissen führe, die wir doch nur durch Gottes Offenbarung in seinem Wort erlangen können, wäre unangemessen und entspräche auch nicht dem Anspruch, der mit Apologetik eingelöst werden soll. Gute Apologetik versucht, Menschen auf Jesus Christus hin zu lenken und zu seinem Wort zu führen. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb Apologetik hierfür in irgendeiner Weise hinderlich sein soll.[18]

„Wo gibt es dennoch einen Ort für das Denken?“

Nach diesen Ausführungen über die Distanziertheit und die vermeintliche Gefahr der Irreleitung durch Gottesbeweise wirft Frau Tietz die Frage auf: „Wenn es so ist, dass das Denken diesen Gott nicht beweisen kann, … gibt es dennoch die Möglichkeit, nachzudenken über Gott, ohne dass der Glaube dabei verloren geht?“ Diese Frage wird bejaht, denn zum christlichen Glauben gehöre auch das Verstehen. Es gehe um ein Hinterherdenken dem, was man glaubt, um eine kritische Reflexion über das, was man glaubt. Sie akzeptiert ein Nachdenken dem, was vorgegeben ist, nämlich Gottes Selbstoffenbarung in Christus. Man könne über den Glauben nachdenken; wie das im Glauben Geglaubte zu verstehen ist. Aber was ist, wenn genau dagegen unter Berufung auf Wissenschaft Einwände erhoben werden? Dann muss man wohl oder übel sich doch apologetischer Arbeit unterziehen. Frau Tietz fragt selber: „Wenn man behaupten würde, man darf noch nicht einmal anfangen, die Lehren des Christentums zu hinterfragen, sonst geht der Glaube kaputt, dann würde man den Menschen zwingen, seinen Verstand quasi vor der Kirchentür abzugeben, und das kann langfristig nicht gut gehen, weil der Mensch auch ein Verstandeswesen ist.“ Ja, natürlich soll niemand von kritischem Nachdenken abgehalten oder dafür getadelt werden. Aber auf solche kritische Fragen gibt es in vielen Fällen gute apologetische Antworten.[19] Warum Frau Tietz, wie es scheint, einer positiv argumentierenden Apologetik nichts abgewinnen kann, ist unverständlich. Denn mit demselben Verstand, mit dem wir das Geglaubte denkerisch durchdringen und der dabei Fragen aufwirft, können wir auch versuchen, Antworten zu geben, die die Glaubwürdigkeit der Bibel auch in ihren historischen  Aussagen stützen und den Glauben zu stärken, dass die Bibel Gottes verlässliches Wort an uns ist. Genau aus diesem Grunde ist christliche Apologetik unverzichtbar. Und ein wichtiger Teil von ihr ist der Design-Ansatz.


Internet-Artikel zur Vertiefung

Markus Widenmeyer und Reinhard Junker:
Der Kern des Design-Arguments in der Biologie und warum die Kritiker daran scheitern http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a22/a22.pdf

Reinhard Junker:
Das Design-Argument in der Biologie – ein Lückenbüßer?
http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a19/a19.pdf

Reinhard Junker:
Das Design-Argument und der Bastler-Lückenbüßer-Gott
http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a07/a07.pdf

Reinhard Junker:
Nichtreduzierbare Komplexität https://www.genesisnet.info/pdfs/Irreduzible_Komplexitaet.pdf

Markus Widenmeyer:
Kann man die Existenz Gottes beweisen? https://www.afet.de/download/2016/WidenmeyerJETh2016Endfassung.pdf

[1]siehe dazu den Abschnitt „Der Kern des Design-Ansatzes“

[2]Vgl. Boris Schmidtgall: Die Intoleranz des Naturalismus. http://www.wort-und-wissen.de/disk/d18/2/d18-2.html

[3] Im Rahmen z.B. unseres Alltagslebens, der Kriminalistik, der Archäologie bis hin zur Suche nach Außerirdischen wird ebenfalls der Design-Ansatz verwendet, um zwischen intelligent verursachten Signalen und natürlichen Sachverhalten zu unterscheiden, jedoch zielt er hier auf innerweltliche intelligente Urheber.

[4] Siehe z. B.: Markus Widenmeyer und Reinhard Junker: Der Kern des Design-Arguments in der Biologie und warum die Kritiker daran scheitern. http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a22/a22.pdf

[5] Sie benutzt den Begriff „teleologischer Gottesbeweis“ zwar nicht. Er ist aber der Sache nach gemeint (vgl. Kasten „Der teleologische Gottesbeweis nach Thomas von Aquin“).

[6] So könne man aus dem Brennen des Dornbusches bei Mose auch nicht auf Gott schließen. Dieses Beispiel taugt allerdings nicht als Veranschaulichung des „Fünften Wegs“ von Thomas, da es hier nicht um einen teleologischen Vorgang geht. Davon abgesehen war es nicht das Feuer an sich, das bei Mose Erstaunen hervorrief, sondern der Umstand, dass der Dornbusch trotz Feuer nicht verbrannte.

[7] Siehe auch die Diskussion zu Kant bei Markus Widenmeyer, Kann man die Existenz Gottes beweisen? https://www.afet.de/download/2016/WidenmeyerJETh2016Endfassung.pdf

[8] Näheres dazu in einem ausführlichen Grundsatzartikel zur kritischen Diskussion des Arguments der nichtreduzierbaren Komplexität hier:

https://www.genesisnet.info/pdfs/Irreduzible_Komplexitaet.pdf.

Außerdem ist dieses Argument nach M. Behe, Darwin’s Black Box (1996) nur auf einzelne Systeme, nicht auf Komplexe von Systemen wie ganzen Organen (z. B. der Lunge) anwendbar. Näheres dazu im verlinkten Artikel.

[9]So z.B. R. Junker, Entstehung evolutionärer Neuheiten – ungelöst! https://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n243.php. Die betreffenden Evolutionskritiker lehnen Evolution als Rahmenparadigma allerdings nicht ab.

[10]Die Plastizität der Lebewesen (individuelle Anpassungsfähigkeit der Lebewesen bei speziellen Umwelteinflüssen), die überaus häufigen und komplexen Konvergenzen (mehrfach unabhängig entstandene ähnliche Konstruktionen), Beispiele von Optimalität (z. B. beim genetischen Code), Robustheit, Redundanz oder spielerische Komplexität (phantasievolle Merkmale, die keinen erkennbaren selektierbaren Nutzen bringen. Näheres im unter Anm. 3 verlinkten Artikel.

[11] Noch ausführlicher wird auf die Kritik, es werde mit einem Lückenbüßer argumentiert, im Beitrag „Das Design-Argument in der Biologie – ein Lückenbüßer?“ eingegangen: http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a19/a19.pdf

Theologische Fragen im Zusammenhang mit dem angeblichen Lückenbüßer-Problem werden hier behandelt: „Das Design-Argument und der Bastler-Lückenbüßer-Gott“: http://www.wort-und-wissen.de/artikel/a07/a07.pdf

[12]Zwei Beispiele dafür sind die Entdeckung molekularer Maschinen oder die Entdeckung intrinsisch unstrukturierter Proteine in den Zellen. (Siehe R. Junker & S. Scherer (2013) Evolution – ein kritisches Lehrbuch, Gießen, Kapitel  IV.9.7 sowie B. Schmidtgall (2018) Intrinsisch unstrukturierte Proteine. Studium Integrale Journal 25, 84-91.)

[13]„Richtig verstanden“ ist der methodische Ausschluss Gottes in den Naturwissenschaften dann, wenn nichts dazu ausgesagt wird, ob und ggf. wie Gott in den regelhaften Abläufen wirkt. Naturwissenschaft kann zum Wirken Gottes in den regelhaften Prozessen (was die Bibel bezeugt) nichts sagen; dafür ist ihre Methode nicht geeignet. Sie kann damit Gottes Wirken auch nicht aus den gewöhnlichen, regelhaften Prozessen ausschließen. (Vgl. dazu die weiter unten gemachten Ausführungen zum concursus divinus.)

[14] Experimente bezüglich des Naturhistorischen sind nur in Form von Simulationsexperimenten möglich, deren Randbedingungen aber wiederum nicht durch direkte Untersuchung ermittelt werden können. Bei naturhistorischen Fragenstellungen geht es darum, welche Ereignisse zu einer bestimmten Zeit der Fall waren. Bei Experimenten geht es darum festzustellen, welche allgemeinen (zu jeder Zeit geltenden) gesetzmäßigen Zusammenhänge bestehen.

[15] https://www.ekd.de/Kleiner-Katechismus-Zweite-Hauptstuck-13471.htm

[16] Auch wenn dieser Begriff häufig verwendet wird, halte ich ihn für unglücklich, weil es sich nicht im eigentlichen Sinne um „creatio“ handelt.

[17] Das ist eine mindestens sehr missverständliche Formulierung.

[18] Frau Tietz betont, dass Gott und Glaube zusammen gehören. Das ist natürlich richtig, aber es ist irrelevant für das Thema Gottesbeweise. Was Gott für jeden einzelnen Menschen bedeutet, ist eine weiterführende Frage, die von der Frage der Gottesbeweises nicht tangiert wird.

[19] Ein schönes neutestamentliches Beispiel dafür ist Paulus, der in 1. Kor 15 Einwände gegen die leibliche Auferstehung Jesu mit rationalen Argumenten zurückweist. Frau Tietz geht darauf ein, unterlässt aber den Hinweis, dass Paulus hier einer Art von Apologetik betreibt, deren Wert sie in ihrem Vortrag in Frage stellt.

Ist die Worthaus-Theologie liberal?

Wie alle „Schubladenbegriffe“ wird auch der Begriff der „liberalen Theologie“ sehr unterschiedlich verwendet. Evangelikale Laien verstehen darunter tendenziell etwas Anderes als universitäre Theologen. Sie neigen dazu, die Vielfalt universitärer Theologie weniger wahrzunehmen und alles unter dem Begriff „liberal“ zusammen zu fassen – genau wie manche liberal geprägte Christen Evangelikale pauschal als „fundamentalistisch“ einstufen.

Im Hossa-Talk #105 wird auch dem AiGG-Worthausartikel vorgeworfen, die Theologie der Worthaus-Vorträge pauschal als „liberal“ zu bezeichnen (Min. 19.20). Deshalb möchte ich gerne dazu beitragen, dass wir einander differenzierter wahrnehmen.

Fakt ist: Die Worthausreferenten repräsentieren eine große Bandbreite universitärer Theologie. Darunter sind Referenten, die auch gemäß der universitären Definition als liberal gelten dürfen (wie Prof. Zimmer im Hossa Talk bestätigt; Min. 10.05). In der großen Mehrzahl trifft das universitäre Label „liberal“ aber nicht für die Worthaus-Referenten zu. Entsprechend charakterisiert der AiGG-Artikel die Worthaus-Theologie auch nirgends als „liberal“ sondern als „universitär“. Dazu wird kommentiert: „Worthaus ist kein einheitlicher Block mit einheitlicher Theologie. … Es stellt deshalb eine der Übersichtlichkeit geschuldete Vereinfachung dar, wenn in diesem Artikel der Begriff „Worthaus“ so verwendet wird, als ob alle Vorträge eine geschlossene Sichtweise vertreten würden.“ DIE Worthaus-Theologie gibt es also nicht. Deshalb ist natürlich auch nicht jede Kritik an einzelnen Aussagen in Worthaus-Vorträgen auf alle Worthaus-Referenten gemünzt.

Fakt ist aber auch: An den Universitäten gibt es kaum evangelikale Theologen. Laut Prof. Zimmer ist der Anteil evangelikaler Theologen an den theologischen Fakultäten im Promillebereich (Min. 23.00). Entsprechend sind auch die allermeisten Worthaus-Referenten nicht evangelikal. Bei zentralen Themen wie dem Bibelverständnis werden in vielen Worthaus-Vorträgen Positionen vertreten, die sich von traditionellen evangelikalen Positionen deutlich unterscheiden. Und ich finde: Darüber dürfen und müssen wir Evangelikalen reden – engagiert, differenziert und an der Sache orientiert.

Siehe auch: Jubilate! Endlich… diskutieren wir wieder mit offener Bibel!

Kritik am Worthaus-Artikel: Eine Stellungnahme

Der Anfang Oktober 2017 veröffentlichte AiGG-Worthaus-Artikel hat ganz offensichtlich einen Nerv getroffen. Er stand wochenlang an der Spitze der christlichen „Blog-Charts“. Prominente Stellen haben ihn weiter verbreitet, wie z.B. das Netzwerk Bibel und Bekenntnis oder der Arbeitskreis für evangelikale Theologie. Die Zeitschrift des Bibelbunds hat den Artikel vollständig abgedruckt. Sogar Idea Spektrum hat eine Kurzversion gebracht.

Natürlich haben mich deshalb auch etliche Rückmeldungen erreicht. Die meisten waren sehr positiv und ermutigend, einige natürlich aber auch kritisch. Zu erwarten war die teils harsche Ablehnung von liberal geprägten Christen, die ja aber eigentlich nicht die Adressaten dieses Artikels waren, wie schon die Überschrift deutlich gemacht hat. Weit mehr bewegt haben mich Rückmeldungen von Christen aus dem „progressiv-evangelikalen“ Bereich. Leider hat sich die mir bekannte Kritik aus dieser Richtung bislang in keiner Weise inhaltlich mit meiner Analyse der Worthaus-Vorträge auseinandergesetzt. Stattdessen konzentriert sie sich im Wesentlichen auf folgendes Argument: Es gibt keine „Worthaus-Theologie“. Die Worthaus-Referenten vertreten ganz unterschiedliche theologische Positionen. Daher kann auch kein Worthaus-Referent für die Lehren anderer Worthaus-Referenten verantwortlich gemacht werden.

Diesen Punkt hatte ich bereits im Vorfeld des Artikels mit einem Worthaus-Referenten diskutiert und deshalb im Anhang 2 des Artikels ausführlich dazu Stellung genommen. Im Kern war meine Aussage: Ja, es ist eine (der Übersichtlichkeit geschuldete) Vereinfachung, von einer „Worthaus-Theologie“ zu sprechen. Aber für den unbedarften Hörer wirkt Worthaus sehr wohl wie eine in sich kongruente Denkfabrik. Und dafür gibt es klare Gründe:

  • Der fehlende Diskurs: Die Lehren, die ich in meinem Artikel kritisiere (z.B. Ablehnung des Sühneopfers) werden bei Worthaus nirgends kritisiert. Den liberalen Thesen, die ich im Artikel schildere, wird nirgends eine konservative Gegenthese entgegengestellt.
  • Es gibt einige durchgängige und vielfach wiederholte Überzeugungen wie z.B. das unkritische Bekenntnis zum Segen der universitären Bibelwissenschaft, die Abgrenzung von Konservativen/Evangelikalen/Fundamentalisten, das Bekenntnis zur Fehlerhaftigkeit und Widersprüchlichkeit biblischer Texte etc.
  • Der wichtigste Grund: Die Dominanz von Siegfried Zimmer, der 2/3 aller Vorträge hält und deshalb mit seiner Theologie das Gesamtbild von Worthaus maßgeblich prägt.

Ich halte deshalb die Rede von der „Worthaus-Theologie“ für durchaus berechtigt. Aber wer sich daran stört, dem würde ich empfehlen, den Begriff „Worthaus“ ganz einfach durch den Namen des prägenden Worthaus-Theologen Siegried Zimmer zu ersetzen und sich dann neu der Frage stellen: Passt denn die Zimmer’sche Theologie und Hermeneutik zur evangelikalen Bewegung und zu bibeltreuen Ausbildungsstätten? Wie der AiGG-Worthausartikel gezeigt hat, widerspricht gerade auch Prof. Zimmer ganz direkt einigen der Glaubensgrundlagen der KBA (Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten) und der evangelischen Allianz. Zudem stellt Zimmer sich insgesamt – teils rüde und polemisch – gegen Evangelikale („Auf keinen Fall evangelikal” sagt Prof. Zimmer bei 1:10:10 seines Vortrags). Der größte Teil der sonstigen Worthaus-Referenten vertritt ebenfalls theologische Positionen, die mit den o.g. Bekenntnissen nicht zusammen passen.

Daher bleibt für mich die Frage unbeantwortet: Wie kann es sein, dass so viele Evangelikale Siegfried Zimmer und Worthaus unterstützen, ja sogar leidenschaftlich und unkritisch bewerben?

Es geht bei der Diskussion um Worthaus wohlgemerkt nicht um eine Auseinandersetzung zwischen streng Konservativen und weniger strengen Konservativen. Es geht um das Vordringen von klar liberaler Theologie mitten in die evangelikale Bewegung hinein – mit allen destruktiven Folgen, die wir in der ganzen westlichen Welt beobachten können. Möge Gott eine Wende schenken, eine theologische Reformation, eine neue Ehrfurcht vor Gottes Wort als wichtige Basis für einen erwecklichen Aufbruch, der die Kirche wirklich erneuern und zukunftsfähig machen kann.

Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?

Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen. Eine Analyse der Worthaus-Vorträge zeigt: Die evangelikale Bewegung steht vor einer grundlegenden Entscheidung, wenn sie nicht in den Abwärtsstrudel der liberal geprägten Kirchen mit hineingezogen werden möchte.

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Warum dieser Artikel?

Ich mag es nicht, wenn selbsternannte „Irrlehrenjäger“ in jeder christlichen Initiative die Haare in der Suppe suchen. Niemand ist fehlerlos. Wir leben alle aus Gottes unverdienter Gnade. Wir sollten unser Hauptaugenmerk auf das Original richten und nicht auf Fälschungen. Seit ich eine Zeit lang unter einigen gesetzlich-tradi­tionellen Christen ziemlich zu leiden hatte, ist mir Weite und Liebe zur Vielfalt wichtig geworden. Ich gehöre zur Leitung einer evangelisch-landeskirchlichen Gemeinde, in der wir sehr verschieden geprägt sind. Aber gemeinsam teilen wir die Liebe zu Jesus und das Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Bibel. Auf diesem gemeinsamen Fundament können wir Differenzen in einzelnen Lehrinhalten und im Frömmigkeitsstil fröhlich aushalten und gemeinsam erfolgreich Gemeinde bauen.

Aber was mir wirklich das Herz bricht ist, dass ich sonst in meiner Landeskirche so viel trostlosen Zerfall sehen muss. Mit Schmerzen höre ich, wie der theologische Pluralismus so oft genau das Fundament der Einheit zerstört, das meiner Gemeinde so viel Segen bringt. Christen wandern ab, weil sie bei Pfarrern keine verständliche und keine tröstliche Botschaft mehr hören und weil sie ihrer Kirchenleitung nicht mehr vertrauen, die sich scheinbar mehr um Politik als um das Evangelium kümmert. Nicht einmal mehr in den allerzentralsten Glaubensfragen gibt es Einheit. Selbst der Jubel über die Auferstehung Jesu ist keine selbstverständliche gemeinsame Grundlage mehr. Kein Wunder, dass es überall Spaltungstendenzen gibt und Gemeinden eingehen, weil man nicht mehr gemeinsam an einem Strang ziehen kann.

Angesichts dieser Not macht es mich traurig, wenn ich sehe, dass offenbar auch immer mehr evangelikale Hoffnungsprojekte in ein Fahrwasser hineingeraten, das nach meiner Überzeugung zwangsläufig schrittweise ihre Ausstrahlung und Einheit untergraben wird. Genau deshalb müssen wir über Worthaus reden. Dringend.

Worthaus – Was ist das?

Worthaus ist eine frei zugängliche, sich ständig erweiternde Mediathek mit theologischen Vorträgen. Im Juni 2019 waren bereits 128 Vorträge von 19 verschiedenen Theologinnen und Theologen abrufbar. Etwa zwei Drittel der Vorträge werden vom emeritierten Professor für evangelische Theologie Siegfried Zimmer gehalten, der in Württemberg bereits durch die GospelHaus– und Nachteulengottesdienste bekannt geworden war.

Fast alle Referenten bei Worthaus kommen aus der universitären evangelischen oder katholischen Theologie. Eine Ausnahme ist der zweithäufigste Worthaus-Sprecher Prof. Thorsten Dietz. Er lehrt an der evangelischen Hochschule Tabor, die sich dem Pietismus verpflichtet fühlt, zum Gnadauer Gemeinschaftsverband gehört und sich bis zum Jahr 2018 noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten zählte. Dietz wirbt leidenschaftlich für Worthaus: „Es ist ja nicht nur himmlische Fügung, dass Menschen durch Träume und ähnliches zu Worthaus finden – daher liken, posten, teilen.”

Worthaus-Referenten sind auch auf evangelikalen Großveranstaltungen wie z.B. dem „Freak­stock“ anzutreffen. Schon die Gründung von Worthaus ist auf Vorträge von Prof. Zimmer auf dem evangelikalen Spring-Ferienfestival zurückzuführen. Prof. Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele zehntausend Hörer“. Bei einer freikirchlichen Konferenz hätten alle anwesenden 30 bis 35 Pastoren gemeldet, dass sie regelmäßig Worthaus hören. Sein Eindruck ist: „Die Pastorenfortbildung läuft eigentlich über Worthaus.“ 1 Worthaus ist also auch unter Evangelikalen angekommen – obwohl Prof. Zimmer selbst ausdrücklich warnt: „Auf keinen Fall evangelikal“ 2. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Gibt es eine “Worthaus-Theologie”?

Eine einheitliche Worthaus-Theo­logie gibt es nicht. Die verschiedenen Referenten sind unterschiedlich geprägt. Allerdings fällt das erst auf den zweiten Blick auf. Denn Debatten um Meinungsverschiedenheiten gibt es bei Worthaus ebenfalls nicht. Alle Vorträge werden in der Mediathek gleichermaßen beworben. Da Siegfried Zimmer die große Mehrheit der Vorträge hält, prägt er das Portal natürlich auch insgesamt. Allen Vorträgen gemeinsam ist zudem die insgesamt positive Grundeinstellung zu universitärer Theologie. Gerade bei Siegfried Zimmer steht diese Wertschätzung in scharfem Kontrast zur immer wieder formulierten Abwertung konservativer bzw. „fundamentalistischer“ Frömmigkeit.

Gleichwohl wollte Worthaus in einem gewissen Sinn von Beginn an sehr „bibeltreu“ sein. Durch die Berücksichtigung moderner bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse sollte gar ein „unverstellter Blick“ auf die Bibel gewonnen werden. Biblische Textgattungen sollten sauber unterschieden werden. Durch Berücksichtigung des historisch-kulturellen Umfelds sowie der Entstehungsgeschichte der biblischen Texte sollte viel fundierter beleuchtet werden, was die biblischen Texte wirklich sagen wollten (z.B. ob die Geschichten historisch gemeint waren oder nicht).Fernab aller Tradition und ideologischer Annahmen geht es hier um eine bewusste Reflexion von Glaubens­sätzen und Auseinandersetzung mit der Bibel im Spiegel der Erkenntnisse der theologischen Forschung“ schrieben die Worthaus-Macher. „Dabei steht bewusst alles zur Disposition. In gewisser Hinsicht beginnt alles von vorn. Es gibt keine Tabus.“ Der Anspruch bei der Worthausgründung war also: Hier wird alles vorurteilsfrei in Frage gestellt, um zu fundierten Überzeugungen zu gelangen. Statt die Bibel durch vorurteilsbeladene Brillen zu lesen soll ein ungetrübter, wissenschaftlich fundierter Blick auf die biblischen Texte gefördert werden.

Eine möglichst objektive Klärung der ursprünglichen Aussageabsicht der biblischen Texte ist natürlich auch für konservative Zuhörer interessant, die ja zuallermeist längst nicht so wissenschaftsfeindlich sind, wie oft behauptet wird. Die Frage ist allerdings: Ist theologische Forschung ohne außerwissenschaftliche Vorannahmen überhaupt möglich? Und wird in den Worthaus-Vorträgen tatsächlich so vorurteilsfrei gearbeitet?

Denkvoraussetzungen bei Worthaus

In den ersten Jahren hatte Worthaus auf seiner Webseite 5 Thesen veröffentlicht, aus denen sich einige grundlegende Denkvoraussetzungen ableiten ließen:

Die Bibel ist nicht ohne weiteres verständlich

Da der Blick auf die Bibel „oftmals durch Glaubenssätze, Ideologien, falsche Annahmen und Unkenntnis der biblischen Entstehungsgeschichte verstellt“ sei (These 2) ist es „nicht selbstverständlich, die Botschaften der Bibel richtig zu verstehen.“ (These 3) „Denn bei genauerer Betrachtung sind die meisten Dinge, mit denen wir es zu tun haben, eben nicht einfach, sondern ziemlich komplex. Und das gilt auch ganz besonders für die biblischen Texte und den christlichen Glauben. Wer das bestreitet, ist bei Worthaus falsch.“ Deshalb werden in vielen Worthaus-Vorträgen die Erkenntnisse aus der modernen Bibelwissenschaft als grundlegend angesehen, um die Bibel richtig interpretieren zu können. Tatsächlich habe praktisch die gesamte Kirche viele Bibeltexte 1800 Jahre lang falsch interpretiert und „Millionen von Christen“ tun es bis heute, sofern sie keinen Kontakt zur universitären Theologie haben.3

Die Bibel ist fehlerhaft und widersprüchlich

Die historisch-kritische Praxis an den Universitäten beschränkt sich allerdings nicht auf eine vorurteilsfreie Erforschung der Bibel. Es geht häufig auch um echte Kritik an der Bibel auf der Basis von außerbiblischen Denkvoraussetzungen.4 Entsprechend geht auch in vielen Worthaus-Vorträgen die Bibelkritik sehr viel weiter, als nur die wahre Aussageabsicht der Bibel unter Berücksichtigung der damaligen Zeit und Kultur herauszuarbeiten. Selbst eindeutig historisch gemeinten Texten in den Evangelien (von Lukas als „Augenzeugenberichte“ charakterisiert, Luk. 1, 2) sprechen Worthaus-Referenten die Historizität ab,5 was neben den Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Bibel natürlich auch gravierende theologische Konsequenzen hat, da die Geschichtlichkeit oft wesentlicher Bestandteil der theologischen Aussage ist6.

Folgerichtig enthält die Bibel aus Sicht einiger Worthausreferenten natürlich auch theologische Fehler und Widersprüche. So äußert Dr. Breuer: Paulus habe viel Kluges, aber auch Unkluges geschrieben. Manche seiner Argumente seien gar „einigermaßen hanebüchen“, weshalb man allein mit Bibelstellen auch keinen theologischen Standpunkt begründen könne7. Auch für Prof. Zimmer enthält die Bibel „hunderte von Fehlern“ 8. Insbesondere müsse man die Bibel überall da ablehnen, wo sie der Lehre Jesu widerspricht: „Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“ 9 Entsprechend formuliert die Worthaus-These 4: „Ein geschlossenes Weltbild auf der Grundlage der Bibel ist nicht machbar.“

Aber ist Jesus Christus in den Worthaus-Vorträgen tatsächlich der ver­lässliche Wahrheitsanker, der uns helfen kann, die Bibel richtig zu deuten und ggf. auch zu kritisieren?

Jesus verschwimmt im historischen Nebel

In einem seiner Vorträge trennt Prof. Stefan Schreiber klar zwischen dem Jesus der Evangelien und dem „historischen Jesus“. Welche der biblischen Jesus-Zitate wirklich von Jesus stammen und welche ihm später in den Mund gelegt wurden, muss individuell geprüft werden.10 Dr. Breuer räumt diesbezüglich ein, dass es kein einziges Zitat von Jesus gibt, dessen historische Echtheit nicht schon von Theologen bezweifelt worden wäre.11 Ob Jesus sich selbst als Messias sah ist für Prof. Schreiber völlig unklar.10 Wer Jesus war, wie er sich selbst sah und was er tatsächlich gelehrt hat, verschwimmt hier also im historischen Nebel. Somit kann auch die Person Jesus Christus kein eindeutiges Unterscheidungskriterium für richtig und falsch in der Bibel mehr sein. Viele Aussagen in Worthaus-Vorträgen belegen, dass damit der theologischen Willkür letztlich Tür und Tor geöffnet wird:

Worthaus geht „ans Eingemachte“

Leider kommt bei Worthaus kaum zur Sprache, dass in der universitären Bibelwissenschaft letztlich sämtliche Kernsätze des apostolischen Glaubensbekenntnisses in Frage gestellt wurden und werden.12 Auch in Worthaus-Vorträgen werden zahlreiche Kernsätze des Glaubens abgeräumt, die in der weltweiten und historischen Kirche fast durchgängig als klare, eindeutige Aussagen der Schrift verstanden wurden und werden:

  • Jesu Tod am Kreuz sei eindeutig kein stellvertretendes Sühneopfer für die Schuld der Menschheit gewesen. Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ transportiere eine irrige Passionsfrömmigkeit.13 Im Abendmahl feiern wir im Kern die „Kontaktfreudigkeit“ und „Zuwendungslust“ Jesu.14
  • Eine Kamera habe am österlichen Grab nichts filmen können. Himmelfahrt und Pfingsten seien keine historischen Ereignisse gewesen.5
  • Das Heil sei nicht exklusiv nur in Jesus Christus zu finden.15, 23
  • Der Tod sei nicht nur eine Folge der Sünde sondern Teil von Gottes guter Schöpfung.16
  • Der Himmel sei kein fassbarer Ort. Man könne dort keine Bekannten wieder treffen. Erst recht gäbe es keine wie auch immer geartete Hölle.17 Der Glaube an eine ewige Verdammnis zeuge von einem „eiskalten Glauben“ und primitiver Moral.18
  • Der Teufel sei (sehr wahrscheinlich) keine Person. Wer in der Schlange im Schöpfungsbericht den Teufel erkennt sei „balla balla“.19

Schon aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich: Bei Worthaus wird dem theologischen Pluralismus der modernen Bibelkritik keine wirksame Grenze gesetzt. Vielmehr zeigt sich auch hier, wie die praktisch gelebte moderne Bibelkritik die Tür zu einem unklaren und letztlich anderen Evangelium öffnet.

Umdeutung von Begriffen

Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick überraschend, wenn Prof. Zimmer immer wieder betont, dass für ihn selbstverständlich die ganze Bibel durch und durch wahres Wort Gottes sei und dass sie trotz aller Fehler und Widersprüche in den wesentlichen Aussagen so klar sei, dass sich alle Christen in den heilsentscheidenden Punkten einig seien.8 Dieses Versprechen kann aber – wenn überhaupt – nur durch eine Umdeutung von Begriffen eingehalten werden:

  • Unter der Einheit der Schrift versteht Prof. Zimmer nicht eine theologische Einheit (in der sich die Aussagen letztlich zu einem großen Ganzen ergänzen), sondern eine „dialogische Einheit“, in der auch zahlreiche theologische Widersprüche ihren Platz hätten.20
  • Unter der Wahrheit der Bibel verstehen einige Worthaus-Referenten nicht etwa Fehlerlosigkeit21. Die Bibel sei vielmehr insofern wahr, dass sie von Jesus Christus zeugt. Und für die Bibel selbst sei ja Jesus Christus die Wahrheit, nicht die Bibel.22

Darüber hinaus gibt es viele Beispiele von Begriffsumdeutungen, die einige theologische Aussagen zwar traditionell klingen lassen aber trotzdem gänzlich abweichen von den traditionellen Sichtweisen und Auslegungsprinzipien evangelikaler Theologie.23

Abkehr vom reformatorischen Erbe

Prof. Wilfried Härle bezeichnet sich selbst als Luther-Fan. Prof. Zimmer sagt, er sei ein „Schüler Luthers“. Entsprechend beruft er sich immer wieder auf den Reformator24. In der Tat hat auch Luther die Bibel kritisiert, wo sie seiner Ansicht nach nicht das lehrt, „was Christum treibet“. Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied: Wenn ein biblisches Buch Luthers Ansicht nach nicht zur Botschaft Jesu Christi gepasst hat, dann hat Luther angezweifelt, ob es zum biblischen Kanon gehört. Aber kanonische Bücher hatten für die Reformatoren selbstverständlich absolute und irrtumsfreie Autorität.25 Sie waren für ihn in ihrer Aussage so klar, dass auch Laien sie verstehen konnten. Und sie waren so wahr, dass sie nur durch weitere Bibeltexte und nicht durch außerbiblische menschliche Maßstäbe ausgelegt und interpretiert werden durften. Prof. Armin Baum bemerkt daher zurecht: „Für das von ihm vertretene Modell sollte sich ZIMMER nicht auf LUTHER berufen. […] Der von ZIMMER befürwortete Ansatz, dass auch kanonische Schriften theologische Fehler aufweisen und fehlerhafte Aussagen sogar als „Gottes Wort“ zu gelten haben, ist meines Erachtens nicht reformatorisch.“ 26

Mit der Übersetzung der Bibel in die Alltagssprache hatte Luther die Bibel in die Hand der einfachen Menschen gelegt. Damit hat er eine weitreichende geistliche Erneuerungsbewegung ausgelöst und letztlich die Grundlage für die heutige Denk- und Religionsfreiheit geschaffen. Beim Hören der Worthausvorträge entsteht hingegen immer wieder das Bild: Laien, die nicht eingeweiht sind in moderne Theologie, Archäologie, historische Wissenschaften und antike Sprachen, können sich selbst eigentlich gar kein abschließendes Bild von den Aussagen der Bibel machen. Schließlich habe sich ja sogar die ganze Kirche in vielen Punkten 1800 Jahre lang geirrt!3 Von einer für jeden Laien verständlichen Klarheit der Schrift, die Luther so wichtig war, kann von daher kaum noch die Rede sein, wie sich auch in den Worthaus-Thesen 2-5 zeigt. Die Gefahr dabei ist, dass den theologisch nicht Gebildeten die Bibel aus der Hand genommen, der Zugang zur Bedeutung biblischer Aussagen versperrt und damit eine der zentralsten Errungenschaften der Reformation verspielt wird.27

Konservative Klischees und Pappkameraden

Prof. Zimmer will ein Brückenbauer sein. Er will auch Konservative mit der Bibelwissenschaft versöhnen. Seine Darstellung konservativer Christen ist in den Worthaus-Vorträgen jedoch meist klischeehaft und undifferenziert. Ein Hauptvorwurf ist die angebliche vollständige Ablehnung sämtlicher bibelwissenschaftlichen Methoden und eine „Vergöttlichung“ der Bibel, die die Vorrangstellung der Person Jesus Christus gegenüber der Bibel ablehnt. Die „Fundamentalisten“ in den konservativen Kreisen hätten letztlich ein islamisches Schriftverständnis und würden an eine „Vierfaltigkeit“ glauben: Vater, Sohn, Heiliger Geist und Bibel.8

Mit diesem Vorwurf stellt sich Prof. Zimmer in eine alte Tradition. Schon C.H. Spurgeon schrieb 1891 in seinem Kampf gegen das Vordringen liberaler Bibelkritik: „Wer an der Unfehlbarkeit der Schrift festhält, den bezichtigen sie der ‚Bibliolatrie‘ (= Vergötterung der Bibel).“ 28 Prof. Armin Baum kommentiert diesen Vorwurf wie folgt: „Um im evangelikalen Lager Theologen ausfindig zu machen, die die moderne Bibelwissenschaft ablehnen und den Vorrang Jesu vor der Bibel bestreiten, muss man sicherlich sehr lange suchen. Dass man dabei fündig wird, halte ich nicht für ganz ausgeschlossen. Evangelikale Theologen, die im von Zimmer definierten Sinne fundamentalistisch denken, sind jedoch eine ausgesprochen rare Spezies.“ 29

Anders gesagt: Hier werden „fundamentalistische Pappkameraden“ produziert, die mit der Realität wenig zu tun haben, auf die dann aber umso heftiger eingedroschen wird, wie Michael Kotsch in seinem Kommentar zu Zimmers Vortrag „Die schwule Frage“ schreibt: „In etwa einem Viertel seines Vortrags bringt Zimmer seinen – man kann es leider nicht anders nennen – Hass auf konservative Christen zum Ausdruck. […] Siegfried Zimmer bezeichnet konservative Christen als „dümmlich“, „engstirnig“, „tragisch“, „bibelverkorkst“ und „rechthaberisch“. Sie […] haben kein Interesse, sich zu informieren […] bei ihnen wird die Bibel „dumm zitiert“. Sie „liegen fürchterlich daneben“ in ihrem Umgang mit der Bibel, weil sie „nicht einmal das ABC historischer Hintergrundkenntnis“ mitbringen. Mit ihrer Theologie betrieben sie „schwerste Bibelmanipulation“. […] Bei den konservativen Christen wird die Bibel „missbraucht“ und „instrumentalisiert“. Sie „haben die Bibel in ihrem Schwitzkasten“ und „bauen eine eigene Ideologie auf“, behauptet Zimmer. Aber nicht genug! Konservative Christen gehen mit der Bibel um „wie die islamischen Salafisten“ mit dem Koran. Sie gehören „in Nachbarschaft zu Zeugen Jehovas und Mormonen“. Diese Evangelikalen seien generell „unseriös“, „fehlgeleitete Leute“, die nicht so genau hinschauen.“ 30 Solche grob beleidigenden Aussagen finden sich leider in einer Reihe von Worthaus-Vorträgen.

Kann man mit Jesus die Bibel kritisieren?

Dieser Artikel bietet nicht den Raum, das Bibelverständnis der Worthaus-Referenten differenziert und fundiert zu analysieren und zu beantworten. Dazu gibt es gute Literatur31. Nur ein zentraler Punkt sei hier kurz genannt: Wenn Prof. Zimmer empfiehlt, mit Jesus die Bibel zu kritisieren, stellt sich natürlich die Frage: Wie ist denn Jesus selbst mit dem Alten Testament umgegangen? War Jesus denn tatsächlich bibelkritisch? Dazu schreibt der Theologe Ron Kubsch: „Zimmer bietet keine überzeugenden Belege dafür, dass Jesus die alttestamentlichen Schriften zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat. Jesus ist nicht gekommen, um „das Gesetz oder die Propheten“ zu kritisieren oder „aufzulösen“, „sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Für Jesus verfällt nicht „ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen“ vom Gesetz, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18). Jesus unterscheidet eindeutig zwischen menschlicher Überlieferung und dem Wort Gottes, das Mose im Auftrag seines Herrn gesprochen hatte (vgl. Mt. 7,10-13). John Wenham kommt in seiner umfangreichen Untersuchung ‘Jesus und die Bibel‘ zu dem Ergebnis, dass für Jesus Christus die Schriften des Alten Testaments wahr, autoritativ und inspiriert sind und dasjenige, was in ihnen geschrieben steht, Gottes Wort ist.“ 32 Auch Prof. Gerhard Maier betont in seinem Standardwerk Biblische Hermeneutik: „Jesu Praxis und Lehre erlaubt es uns nicht, die Schrift und Christus als einen Gegensatz aufzufassen.“ Der Ansatz von Siegfried Zimmer, die Lehre Jesu für Sachkritik an der Bibel zu verwenden, widerspricht somit fundamental dem reformatorischen Prinzip, dass die Bibel sich selbst auslegt („Sacra scriptura sui ipsius interpres“).

Worthaus lohnt sich – wenn es kritisch genossen wird

Es lohnt sich, sich Worthaus-Vorträge anzusehen! Die überwiegend kurzweiligen und lebendig vorgetragenen Beiträge sind oft hochinteressant und stellen insgesamt definitiv einen horizonterweiternden Bildungs-Beitrag dar. Nur wer sich mit den theologischen Diskussionen unserer Zeit befasst, kann einen eigenen fundierten Standpunkt entwickeln und vertreten. Einbunkern und Abschotten ist eine Haltung, die bei Worthaus zurecht kritisiert wird. Wichtig ist nur (ganz im Sinne von Prof. Zimmer): Auf keinen Fall einfach nachplappern sondern prüfen und selber denken (siehe dazu im Anhang die interaktive Tabelle mit fundierten Kommentaren zu Worthaus-Vorträgen). Denn man darf nicht verdrängen, dass der Worthaus-Cocktail zwar verführerisch schmeckt, aber für Evangelikale aus 2 Gründen trotzdem vergiftet ist:

Ist Worthaus wissenschaftlich und intellektuell überlegen?

Die interaktive Tabelle zu Worthaus-Vorträgen

In vielen Worthaus-Vorträgen werden die dort gemachten Lehraussagen als wissenschaftlich, vernünftig, objektiv, vorurteilsfrei, reflektiert und differenziert dargestellt. Dagegen werden Konservative/Evang­e­­­lika­le/Fun­da­­­men­talis­ten (diese Be­griffe werden in Worthaus-Vor­trägen oft so gebraucht, als ob sie austauschbar wären) immer wieder als denkfaul, eingebunkert, bildungsfeindlich, dümmlich, durch­einander, subjektiv und auf Vorurteilen und Prägungen basierend dargestellt (siehe auch die 1. Worthaus-These). Diese immer wieder anklingende Geste der intellektuellen Überlegenheit ist deshalb unangemessen, weil natürlich auch die Worthaus-Referenten mit subjektiven Vorverständnissen und Auslegungsschlüsseln arbeiten.4 Statt der Rede vom angeblichen „unverstellten Blick“ wäre es angemessener, stärker auch die eigenen Denkvoraussetzungen und Glaubensentscheidungen offen zu legen. Wo das sachliche Anerkennen unterschiedlicher Herangehensweisen an die Bibel durch das Verächtlichmachen anderer Haltungen und Denkweisen ersetzt wird, da werden die Gräben in der Christenheit vertieft statt überbrückt – eine Gefahr, die übrigens in allen theologischen Lagern anzutreffen ist.33

Worthaus: Ein trojanisches Pferd?

Der populärwissenschaftliche Anstrich lässt die Worthaus-Vorträge attraktiv und zugleich vernünftig und überlegen erscheinen. Sie entlassen den frommen Hörer zudem aus einer Menge von Konflikten in Bezug auf schwierige Bibelstellen oder z.B. bei Themen wie Homosexualität und die Ursprungsfrage (Schöpfung und Sündenfall). Mit dem Versprechen, die heilsentscheidenden Inhalte der Bibel unangetastet zu lassen und fest zur Wahrheit, Klarheit und Einheit der Schrift zu stehen, macht Worthaus sich auch unter Konservativen salonfähig – auch wenn dieses Versprechen immer wieder massiv gebrochen wird. Mit dieser Mixtur hat Worthaus das Zeug zum trojanischen Pferd, das den theologischen Pluralismus mitten in die evangelikale Bewegung tragen kann.

Die evangelikale Bewegung am Scheideweg

Der überbordende theologische Pluralismus der modernen Theologie und die Abkehr von einem textgetreuen Verständnis der Bibel ist ohne Zweifel eine Hauptursache für den Niedergang der von nichtevangelikaler und liberaler Theologie geprägten Kirchen in der ganzen westlichen Welt, weil er unüberbrückbare Gräben aufreißt, die die Gemeinden spalten. Deshalb werden sich freie Ausbildungsstätten wie die evangelische Hochschule Tabor, die sich traditionell zur evangelikalen Bewegung zählt, ebenso wie die evangelikale Bewegung insgesamt entscheiden müssen, wie sie mit Worthaus umgehen wollen. Totschweigen wird nicht gelingen, denn schon jetzt ist Worthaus nicht nur ein Internet-Hit sondern prägt durch seinen wachsenden Einfluss auf die evangelikalen Ausbildungsstätten längst auch die zukünftigen evangelikalen Multiplikatoren und Leiter.

Worthaus kann die evangelikale Bewegung vielleicht ein wenig aus der Schusslinie des Zeitgeistes holen. Aber der Preis ist hoch. Worthaus ist ein Spaltpilz, weil viele der dort vertretenen Thesen mit evangelikaler Theologie und Frömmigkeit grundsätzlich unvereinbar sind. Worthaus wird, wenn es unkritisch aufgenommen wird, der evangelikalen Bewegung die Kraft und die Spitze nehmen, weil es ihre Botschaften verunklart und im Extremfall sogar durchstreicht.

Meine feste Überzeugung ist deshalb: Wenn sich die evangelikale Bewegung den bei Worthaus vertretenen theologischen Stand­punkten weiter öffnet, wird sie letztlich das Schicksal der liberal geprägten Kirchen in der ganzen westlichen Welt teilen: Keine klare Botschaft mehr, keine Einheit mehr – und folglich zunehmend auch keine Mitglieder mehr. Deshalb ist es jetzt unbedingt notwendig und im besten Sinne „not-wendend“, sich von Worthaus einerseits im notwendigen Maße abzugrenzen und gleichzeitig in den Gemeinden die reichhaltigen Schätze aus den kirchlichen Bekenntnissen, den Schriften der Kirchenväter, der Reformatoren und der großen evangelikalen Theologen selbstbewusst und offensiv bekannt zu machen.


Danke für die fachlich kompetente Prüfung des Artikels und alle guten Anregungen, Kommentare und Korrekturen:

  • Ron Kubsch
  • Reinhard Junker
  • Holger Lahayne
  • David Brunner
  • Martin Till

Anmerkungen und Quellen:

1:    In Hossa Talk Nr. 105 „Siggi wehrt sich“, ab 1:34:00

2:   „Auf keinen Fall evangelikal. Der Preis ist leider zu hoch“ sagt Prof. Siegfried Zimmer am Ende seines Vortrags „Aufbruch in eine Erneuerung des christlichen Glaubens“ 1:10:10

3:   So habe die Kirche z.B. 1800 Jahre lang die Gleichnisse Jesu irrtümlich allegorisch gedeutet (und sogar die Evangelienschreiber selbst hätten diesen Fehler gemacht!), und auch heute täten das bedrückenderweise immer noch Millionen von Christen, die keinen Kontakt zur Universitätstheologie haben (Prof. Zimmer in: „Ein Beispiel zur Arbeitsweise der modernen Bibelwissenschaft“ ab 24.12). Auch habe die Kirche bis ins 19. Jahrhundert praktisch durchgängig die falsche Lehre vertreten, dass der Tod nur eine Folge der Sünde und kein Schöpfungswerk Gottes sei (Prof. Zimmer: Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?)

4:    Mit den weit verbreiteten außerwissenschaftlichen Vorannahmen in der universitären Theologie und den resultierenden Konsequenzen befasst sich der Artikel „Stolz und Vorurteil – Wie wissenschaftlich ist die Bibelwissenschaft“ (blog.aigg.de/?p=3940)

5:  So lehrt z.B. Dr. Breuer: Jesu Grab war voll! „Ich bin überzeugt: Wenn man damals eine Videokamera am Grab Jesu installiert hätte, wäre nichts zu sehen gewesen. Nichts!“ Auch bei den Erscheinungen des Auferstandenen hätte eine Videokamera nichts gefilmt. Nur „sehr konservative Christen“ legten Wert auf das leere Grab. Aber eigentlich sei es genau wie die Jungfrauengeburt für den Glauben nicht von Bedeutung. Zwar sei der Tod Jesu ein historisches Ereignis, aber Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten auf keinen Fall. Die Tagesangaben zwischen diesen Ereignissen hätten nur metaphorische Bedeutung. Die Auferstehung war nur eine „Erkenntnis“ der Jünger, dass Jesus im Geist unter ihnen ist. Auch Paulus Begegnung mit dem auferstandenen Jesus sei eine „legendarische Ausschmückung“ von Lukas. In Dr. Thomas Breuer: Worauf gründet sich der Glaube an die Auferweckung Jesu von den Toten?

6:   Dazu schreibt z.B. der Alttestamentler C. John Collins: „Die Theologie kann nicht von der Geschichte getrennt werden, was wir an der Tatsache erkennen können, dass eine dieser ‚theologischen Wahrheiten‘ darin besteht, dass derjenige, der die Welt erschaffen hat, der gute Gott ist, der sich selber Israel offenbart hat, und nicht die launischen Götter anderer Völker – eine historische Behauptung!“ (C. John Collins (2011) Did Adam and Eve really exist? Who they were and why you should care. Wheaton, Illinois, S. 36., zitiert von Reinhard Junker in „Entmythologisierung für Evangelikale: Haben Adam und Eva wirklich nicht gelebt? 2014, S. 9) Siehe dazu auch der Artikel „Streit um das biblische Geschichtsverständnis“ (blog.aigg.de/?p=4414)

7:   Im Vortrag von Dr. Thomas Breuer “Die Bedeutung des Kreuzestodes aus heutiger Perspektive”

8:   In Prof. Zimmer: Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann

9:   Aus Siegfried Zimmer „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“ 2012, S. 93

10: Wie schwierig die Definition der Unterscheidungskriterien ist und wie problematisch im Einzelfall die Unterscheidung echter Jesus-Zitate von nachträglichen Deutungen Jesu ist, wird dargelegt im Vortrag von Prof. Stefan Schreiber: „Auf der Suche nach dem historischen Jesus

11: „Wir werden fast keinen Spruch Jesu finden, wo alle Theologen sagen: Das ist tatsächlich ein Originalwort Jesu.“ Dr. Thomas Breuer in: „Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu aus heutiger Perspektive“ 1:09:50

12: Genau dies kritisiert auch Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ (Ichthys 46, 2008, S. 86): „Die Tatsache, dass mit bibelwissenschaftlichen Argumenten nahezu jede Aussage des Apostolischen Glaubensbekenntnisses bestritten worden ist und bestritten wird, kommt praktisch nicht in den Blick.“ Andererseits gibt es unter den Universitätstheologen natürlich auch konservative Vertreter mit evangelikalen hermeneutischen Ansätzen. Es gibt also nicht DIE Universitätstheologie. Festzustellen ist jedoch: Der Graben zwischen evangelikaler und universitärer Theologie ist tief, wie Prof. Christoph Raedel vom Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT) berichtet. Zwischen universitärer und evangelikaler Theologie bestehe eine Art „Ekelschranke“. Auf beiden Seiten gebe es Entfremdungsprozesse und Berührungsängste.“ (zitiert aus idea Spektrum vom 27.09.2017)  

13: „Jesu Tod an sich ist sinnlos. … Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“ Dr. Thomas Breuer in “Die Bedeutung des Kreuzestodes aus heutiger Perspektive” 1.13.10

14: In Prof. Siegfried Zimmer: „Vom Sinn des Abendmahls“

15: Diese Ansicht wird ausführlich erläutert von Prof. Klaus von Stosch in seinem Vortrag: „Viele Religionen – Eine Wahrheit?

16: In Prof. Siegfried Zimmer: Ist der Mensch unsterblich erschaffen worden?

17: In Dr. Thomas Breuer: „Was geschieht nach dem Tod? – Die christliche Erwartung einer Auferweckung der Toten“

18: In Prof. Siegfried Zimmer: „Gottes Liebe und Gottes Gericht: Wie passt das zusammen?

19: In Prof. Siegfried Zimmer: „Gott und das Böse“

20: Dazu schreibt Dr. Armin D. Baum: „Für ZIMMER finden sich in der Bibel neben einer einheitlichen Grundbotschaft auch zahlreiche theologische Widersprüche. Die Einheit der Bibel sei „eine dialogische Einheit […] In dieser von Gott getragenen Gesprächsgemeinschaft haben auch kontroverse Positionen ihren Platz. […] Im Unterschied zu dieser von ZIMMER befürworteten Hermeneutik geht ein evangelikales Schriftverständnis von der Annahme aus, dass die Bibel – bei aller Unterschiedlichkeit der innerbiblischen Gesprächsbeiträge – nicht nur in ihren zentralen Aussagen, sondern insgesamt eine theologische Einheit darstellt und als solche respektiert werden will. Johannes warnt seine Leser ausdrücklich davor, zu „den Worten der Weissagung dieses Buches“ etwas hinzuzufügen oder etwas von ihnen wegzunehmen (Offb. 22, 18-19). Paulus hat für seine apostolische Botschaft einen vergleichbaren Anspruch erhoben (Gal. 1,1.8.11ff.; 1. Kor. 2, 13; 7, 17; 11,2.3.4; 14, 37 f.; 2. Kor. 13, 3; 1. Thess. 2, 13; 2. Thess. 2, 15; 3,6.14).“ In Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 82-83

21: Evangelikale Theologie bekennt sich „zur göttlichen Inspiration der heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“ (Theologische Grundlage des Arbeitskreises für evangelikale Theologie) Begriffe wie „Zuverlässigkeit“, „Wahrheit“, „Fehlerlosigkeit“ oder „Irrtumslosigkeit“ werden aber auch unter Evangelikalen immer wieder heiß diskutiert. Differenzierend vermerkt schon die sog. „Chicago-Erklärung“: „Wir verwerfen ferner die Auffassung, dass die Irrtumslosigkeit infrage gestellt werde durch biblische Phänomene wie das Fehlen moderner technischer Präzision, Unregelmäßigkeiten der Grammatik oder der Orthographie, Beschreibung der Natur aus dem Blickwinkel der subjektiven Beobachtung, Berichte über Unwahrheiten, durch den Gebrauch des Stilmittels der Hyperbel oder gerundeter Zahlen, thematischer Anordnung des Stoffes, unterschiedlicher Auswahl des Materials in Parallelberichten oder der Verwendung freier Zitate.“ (Artikel XIII). Heinzpeter Hempelmann vermerkte in der 14. seiner „18 Thesen und 10 Säulen zu einer Hermeneutik der Demut“: „Der Akzent bei der Bestimmung „Unfehlbarkeit“ liegt also nicht in der Behauptung einer in jedem Fall und in jeder Hinsicht notwendig gegebenen sachlichen Richtigkeit.“ Damit wollte er den biblischen Wahrheitsbegriff gegen einen seiner Meinung nach ihr fremden mathematisch-logischen Wahrheitsbegriff abgrenzen. Trotzdem galt auch für ihn (im Gegensatz zu Prof. Zimmer): „Die Bibel ist unfehlbar. Sowohl philosophische wie theologische Gründe machen es unmöglich, von Fehlern in der Bibel zu sprechen. Mit einem Urteil über Fehler in der Bibel würden wir uns über die Bibel stellen und eine bibelkritische Position einnehmen. Was dem Anspruch der Erweiterung unserer Erkenntnis dienen soll, würde durch ein solches Procedere gerade um seine erkenntnisproliferative Spitze gebracht und machte eine Auslegung der Heiligen Schrift als solche sinn-, zweck- und ergebnislos.“ (These 15)

22: Diese Position wird z.B. vertreten von Prof. Wilfried Härle in seinem Vortrag „Ist die Bibel Gottes Wort? Bibelauslegung, Bibelkritik und Bibelautorität“ Holger Lahayne schreibt dazu: „Erst ganz am Schluss beantwortet Härle die Frage des Vortrags. „Die Bibel ist durch ihren Inhalt Gottes Wort, indem sie Jesus Christus als das Menschgewordene Wort Gottes bezeugt. Indem sie das tut, wird sie und ist sie Wort Gottes.“ Die Bibel sei also im Kern funktionell Gottes Wort. Die Autorität der Bibel sei darin begründet, dass sie die Kraft hat, Glauben zu wecken und Hoffnung zu geben (ähnlich übrigens auch Christian A. Schwarz in Die dritte Reformation, Teil 2, Kap. 2). All dies erinnert an die Aussagen, die Bullinger im Zweiten Helveticum zur Gemeindepredigt macht, die insofern auch Gottes Wort ist, als sie das Wort Gottes recht auslegt und zum Glauben führt und ihn wachsen lässt. Gott nutzt dieses Instrument, um Glauben zu wecken. An sich sind die Worte menschlicher Prediger aber sicher nicht Gottes Wort. Die Predigt bezieht sich zurück auf das göttliche Wort, das seine Autorität wesensmäßig auch, aber nicht nur von seiner Funktion herleitet. Es stimmt ja beides: Weil die Bibel den Glauben wirkt, hat sie Autorität. Aber andersherum gilt genauso – und davon sagt Härle kein Wort: Weil das Wort an sich Gott zum Autor hat, kann es überhaupt so wirken. Weil Gott sich in seinem Wort durch menschliche Zeugen bezeugt, wirkt das Wort der Bibel.“ (Holger Lahayne in „Ist die Bibel Gottes Wort?“)

23: So schrieb mir z.B. ein Worthaus-Referent auf meine Nachfrage, ob für ihn denn das „Solus Christus“ noch gilt: „Es gilt, wenn ich unter Christus den Logos verstehe. Dieser ist in Jesus da, so dass ich in Jesus in allem mit dem Logos konfrontiert werde. Das bedeutet aber nicht, dass Jesus mit dem Logos identisch ist. Jesus ist ganz und gar der Logos. Aber der Logos ist nicht nur Jesus. Der Logos hat schon zu den Propheten gesprochen, als er noch gar nicht mit Jesus hypostatisch geeint war. Von daher solus Christus: Ja! Aber das impliziert nicht: solus Iesus!“

24: Besonders in „Prof. Siegfried Zimmer: Luthers Verständnis des Wortes“

25: Dazu schreibt Dr. Armin D. Baum: „Während es demnach nach evangelikaler Überzeugung im zwischen Theologen geführten Diskurs zahllose Irrtümer und Fehler, kontroverse Positionen und Widersprüche gibt, stehen die inspirierten Propheten und Apostel des Alten und Neuen Testaments mit ihrem Wahrheits- und Offenbarungsanspruch auf einer höheren Ebene. So besagt es das klassische christliche Schriftverständnis, dass bereits die Kirchenväter und Reformatoren vertreten haben. LUTHER schrieb 1520 in seiner Assertio omnium articulorum: „Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat. Andere aber, wie viel sie auch immer nach Heiligkeit und Gelehrtheit vermögen, lese ich so, dass ich es nicht darum als wahr, glaube, weil sie selbst so denken, sondern nur insofern sie mich durch die kanonischen Schriften oder einen annehmbaren Grund überzeugen konnten“. Aus Dr. Armin D. Baum in seinem Text „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 83

26: Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Eine Rückmeldung an Siegfried Zimmer.“ Ichthys 46 (2008), S. 83

27: Besonders deutlich wird dieses Problem und die daraus resultierenden weitreichenden Konsequenzen beim Streit um die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, wie der Artikel „Das Kreuz – Stolperstein der Theologie“ (blog.aigg.de/?p=3887) berichtet.

28: C.H. Spurgeon „Finales Manifesto“ Fontis Verlag 2015, S. 24

29: in Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Fortsetzung eines schwierigen Gesprächs“ S. 6

30: aus Michael Kotsch: „Diffamierung als „bestes“ Argument“

31: Besonders empfohlen seien hier im direkten Zusammenhang mit Worthaus und Prof. Siegfried Zimmer:

32: Ron Kubsch: „Sollte Gott gesagt haben? Was steckt hinter der Bibelkritik?“ S. 22

33: Dazu schreibt Dr. Armin Baum: „Selbstverständlich kann auch ein nicht-evangelikales Schriftverständnis in einem „fundamentalistischen“ Sinne wirksam werden. Dies geschieht beispielsweise, wenn die Frage der übernatürlichen Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht prinzipiell offen gehalten, sondern von vornherein negativ entschieden wird. Es geschieht, wenn die Wissenschaftlichkeit eines exegetischen Beitrags nicht aufgrund der Methode oder der Argumente, sondern anhand erzielter oder vorausgesetzter Einzelergebnisse beurteilt wird. Es geschieht, wenn versucht wird, bibelwissenschaftliche Beiträge aus anderen theologischen Lagern aufgrund ihrer theologischen Herkunft nicht zur wissenschaftlichen Diskussion zuzulassen. Es geschieht auch dann, wenn althergebrachte Überzeugungen aus Bequemlichkeit nicht mehr zur Diskussion gestellt werden. Derartige Gefahren und Missstände werden gelegentlich auch innerhalb des nichtevangelikalen Lagers selbstkritisch benannt. So diagnostizierte der Neutestamentler Dieter Sänger in Teilbereichen seiner Disziplin „einen gefährlichen Trend, der ein Grundprinzip wissenschaftlicher Arbeit auszuhebeln drohte: die Bereitschaft nämlich, positionelle Differenzen zu respektieren, die Stichhaltigkeit von Argumenten vorbehaltlos zu prüfen und sich gegebenenfalls von ihnen korrigieren zu lassen … die Beharrlichkeit, mit der missliebige Forschungspositionen und hermeneutische Alternativen ignoriert, abgekanzelt oder schlicht für absurd erklärt wurden, um sich ihrer zu entledigen, nährte bei mir den Verdacht, sie sollten von vornherein diskreditiert und so ins theologische Abseits befördert werden“. Auch hier gilt: Vor fundamentalistischen Versuchungen müssen nicht nur evangelikale, sondern Christen und Theologen aller Prägungen auf der Hut sein.“ Aus Dr. Armin D. Baum in „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Fortsetzung eines schwierigen Gesprächs“ S. 8

34: Die interaktive Tabelle mit Links zu Worthaus-Vorträgen und Links zu Stellungnahmen, Kommentaren und Diskussionen