Was wir aus dem Buch der Klagelieder lernen können
„Die Gnade des Herrn nimmt kein Ende! Sein Erbarmen hört nie auf, jeden Morgen ist es neu. Groß ist seine Treue.“ (Klagelieder 3, 22-23)
Ist das nicht ein wunderschöner Bibelvers? Gott ist endlos gnädig, treu und voller Erbarmen. Wie wahr! Leider ist der Kontext, in dem dieser berühmte Vers steht, weit weniger bekannt. Und der ist regelrecht schockierend! Der Vers steht ziemlich genau in der Mitte des Buchs der Klagelieder, das wahrscheinlich auf den Propheten Jeremia zurückgeht. Beklagt wird darin die Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar (2. Chronik 36, 17-21).
Besonders spannend wird dieser tieftraurige Text, wenn man sich beim Lesen die Frage stellt: Worin liegt eigentlich die Ursache für den katastrophalen Untergang Jerusalems? Wer ist schuld an dem Desaster? König Nebukadnezar vielleicht, der Jerusalem mutwillig zerstört hat? Oder lag es an der Unfähigkeit der israelischen Führung? So würden wir heute ja reden: Die Kriegstreiber sind schuld! Und natürlich die Politiker!
Aber das verblüffende an den Klageliedern ist: Hier wird ausschließlich Einer als Verursacher der Katastrophe dargestellt: Gott!
„Der Herr hat seinen Zorn wie dunkle Wolken über Jerusalem geworfen. Die Herrlichkeit Israels warf er vom Himmel zur Erde. Selbst seinen eigenen Tempel hat der Herr am Tag seines Zorns nicht verschont. Erbarmungslos hat der Herr jedes Haus in Israel zerstört.“ (Kl. 2,1-2a)
Die Szenen, die als Folge von Gottes Zorn geschildert werden, sind grauenvoll:
„Sie liegen in den Straßen – Junge und Alte, Mädchen und Jungen, vom Schwert erschlagen. Du hast sie in deinem Zorn erschlagen, du hast sie ohne Erbarmen umgebracht.“ (Kl. 2, 21)
Schließlich versteigt sich der Autor der Klagelieder sogar zu dem Satz: „Kommt nicht Böses und Gutes aus dem Mund des Allerhöchsten?“ (Kl. 3,38)
Böses aus dem Munde Gottes!? Kann das denn sein??? Ist dieses Buch also eine große Anklage gegen Gott? Das wäre angesichts des schrecklichen Leids ja durchaus naheliegend. Aber Gott wird hier nicht die Schuld gegeben. Gott ist zwar der Verursacher der Katastrophe, aber schuld daran ist das Volk Israel. Nicht Gott war untreu sondern:
„Wir, wir haben die Treue gebrochen und sind widerspenstig gewesen“ (Kl. 3, 42)
„Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr. Wir aber tragen ihre Schuld.“ (Kl. 5, 7)
Angeklagt werden deshalb besonders auch die Propheten Israels:
„Deine Propheten haben dich betrogen und dir falsche Bilder ausgemalt. Sie haben nicht einmal versucht, dich vor dem Exil zu bewahren, indem sie dir deine Sünden vorhielten. Stattdessen weissagten sie Lügen und verführten dich.“ (Kl. 2, 14)
Wegen der Schuld des Volkes bringt Gott also schweres Unglück über Israel. Wie kann das sein, wenn Gottes Erbarmen doch niemals aufhört? Ist das nicht ein Widerspruch? Oder vielleicht ein Hinweis darauf, dass etwas mit unserem Gottesbild nicht stimmt?
Beim Lesen von Klagelieder 3, 22 fällt mir immer sofort die bekannte Vertonung dieses Verses ein. Ich habe dieses wunderschöne Lied schon so oft angestimmt. Allerdings ist darin nicht von „Gnade“ sondern von „Güte“ die Rede: „Die Güte des Herrn hat kein Ende, kein Ende. Sein Erbarmen hört niemals auf…“
Natürlich ist die Übersetzung mit „Güte“ nicht falsch. Auch Luther übersetzt mit diesem Begriff. Trotzdem: „Güte“ ist etwas Anderes als „Gnade“. Güte steht für ein freundliches, geduldiges Wesen. Gnade hingegen ist das Erlassen meiner Schuld, obwohl ich eigentlich verurteilt werden müsste. Und leider beobachte ich oft in meiner Kirche, dass Gott als jemand dargestellt wird, der immerzu gütig, freundlich, sanft, ermutigend und aufbauend ist, ganz egal wie wir uns verhalten. Von Zorn und Strafe ist keine Rede. Das klingt zwar schön, passt aber leider gar nicht zu dem Bild, das uns quer durch die Bibel von Gott gezeichnet wird: Der Gott der Bibel ist eben kein netter Opa im Himmel, der die Irrungen und Wirrungen der Menschen geduldig weglächelt. In seiner Gegenwart kann Sünde nicht bestehen. Menschen, die Gott begegnen, fürchten sich, zittern, fallen wie tot zu Boden. Der Zorn dieses Gottes kann in ein hartes, furchtbares Gericht münden. Und wer die Offenbarung aufschlägt merkt: Diesen zornigen, richtenden Gott finden wir nicht nur im Alten sondern genauso im Neuen Testament. Im Hebräerbrief lesen wir sogar: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebr. 10, 31).
Dass Gott immer wieder zornig wird sollte uns nicht verwundern. In der Bibel wird vielfach beklagt, wie viel Leid wir Menschen uns gegenseitig zufügen und wie wir gerade auch die Schwächsten (die „Fremden, Witwen und Waisen“) unterdrücken, betrügen und berauben. Was würden wir an Gottes Stelle tun, wenn wir uns all diese Grausamkeiten permanent ungefiltert anschauen müssten? Gott wäre kein Gott der Liebe, wenn er angesichts von Gewalt und Betrug an seinen geliebten Geschöpfen nicht irgendwann zornig werden und letztlich auch praktisch zeigen würde, dass Verbrechen Konsequenzen haben. Und wer von uns könnte sagen, dass er nicht vielfach verstrickt ist in Vorgänge, die anderen Menschen schaden und Gewalt antun? Ich könnte das nicht.
Aber genau hier kommt der Begriff der Gnade ins Spiel. Gnade heißt nicht: Gott bleibt jederzeit nett zu mir, egal was ich mir und Anderen antue. Gnade heißt: Ich hätte es eigentlich verdient, von Gottes Zorn getroffen zu werden. Aber ich werde unverdient vor Gottes Gericht verschont und darf trotz meiner Schuld (ewig) leben.
Das ist Rettung. Das ist Erlösung.
Zurück zum Vers am Beginn dieses Artikels: Erst vor dem Hintergrund des düsteren Kontexts von Gottes Zorn und Gericht leuchtet dieser wunderschöne Vers so unglaublich hell. Ohne diesen Kontext hingegen bleibt er oberflächlich und seicht. Die biblische Botschaft lautet eben nicht: Gott ist immer nett zu Dir, deshalb sei auch immer nett zu Deinen Mitmenschen. Solche moralischen Appelle klingen zwar schön. Aber sie helfen nicht, weil sie nicht an die Wurzel unseres Problems gehen, nämlich an unser sündhaftes, unheilbar in Egoismus und Stolz verstricktes Wesen, das auch beim besten Willen nicht immer so nett sein kann, wie das erforderlich wäre, um Niemandem zu schaden.
Wir müssen wieder lernen, genau so zu denken wie der Autor der Klagelieder:
- Gott selbst bringt Gericht über uns.
- Nicht Gott, nicht andere Menschen, sondern wir selbst sind schuld daran, weil unser Verhalten im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel schreit.
- Nur Gottes Gnade kann uns vor Gottes berechtigtem Zorn und Gericht retten.
Als Christen wissen wir: Diese Gnade ist allein in Jesus zu finden und in seinem Tod am Kreuz, wo Gottes Zorn ihn an unserer Stelle getroffen hat. Deshalb rufen wir alle Menschen: Komm zum Kreuz! Bekenne dort Deine Schuld! Finde Gnade und Leben in dem Blut, das Jesus dort für Dich vergossen hat. Werde neu durch den Heiligen Geist.
Ist das Evangelium also doch auch eine Drohbotschaft und nicht nur Frohbotschaft? Nein. Niemand kommt zu Jesus, weil man ihm mit Gericht und Hölle droht. Gott wird zwar manchmal zornig. Aber im Kern seines Wesens ist er Liebe – durch und durch. Diese unermessliche, niemals endende Liebe Gottes steht immer im Vordergrund und im Mittelpunkt der christlichen Botschaft. Aber Gottes Liebe ist eben nicht billig sondern teuer. Sie kostet ihn und uns etwas:
- Gott hat dafür bezahlt durch das von ihm selbst am Kreuz vergossene Blut.
- Und uns kostet sie unseren Stolz. Sie holt uns vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit, weil wir zugeben müssen, dass wir uns eben nicht selbst erlösen können sondern dass ein Anderer unsere Suppe auslöffeln muss und dass wir Gnade brauchen.
Die Liebe Gottes tätschelt uns nicht nur. Am Kreuz zeigt uns Jesus die Größe seiner Liebe – aber auch die Tiefe unserer Abgründe. Seine Güte will uns zur Umkehr leiten (Römer 2,4) – weil er uns retten will. So wie damals Jeremia Israel retten wollte mit seinem Ruf zur Umkehr.
Das ist wahrlich gute Botschaft. Das ist wahres Evangelium.
Titelbild: Eduard Bendemann: Die trauernden Juden im Exil, 1832
Siehe auch: Das Kreuz – Stolperstein der Theologie – Warum Jesus für uns sterben musste
Danke für den Artikel!
Kurze Anmerkung: Das hebräische חֶסֶד (chêsêd) was in Klagelieder 3,22 verwendet wird, heißt sowohl hier wie auch anderswo sowohl „Gnade“ als auch „Liebe“. In sofern finde ich die Übersetzung „Güte“ im angesprochenen Lied nicht falsch.
Herzlichen Dank für diese Anmerkung! Ja, falsch ist die Übersetzung mit „Güte“ nicht, auch Luther übersetzt ja so und wie gesagt: Auch Güte ist eine vielfache und passende Charakterisierung Gottes in der Bibel. Aber ich finde, dass Gnade besser in den in diesem Artikel erläuterten Kontext im Buch Klagelieder passt. Trotzdem werde ich dieses Lied auch zukünftig gerne wieder anstimmen.
Ich hab diese Anmerkung jetzt auch noch im Text verarbeitet. Nochmal vielen Dank für den Hinweis.