Thorsten Dietz nimmt unter den Evangelikalen zwei unterschiedliche Strömungen wahr: „Hier die missionarische Glaubensbewegung, die ganz vom positiven Ziel der Evangelisation beflügelt wird; dort die soziale Gruppe, die ihren Glauben sehr stark durch Abgrenzung von der modernen Gesellschaft bestimmt.“ (S. 337) Bei einigen konservativen Gläubigen diagnostiziert Dietz „eine bekenntnis-evangelikale Logik des generellen Misstrauens gegen die moderne Gesellschaft.“ (S. 230)
Für dieses Misstrauen macht Dietz zwei Quellen aus: „Wir haben gesehen, wie die Evangelikalen durch apokalyptisches Denken und fundamentalistische Theologie teilweise eine massive Entbettung gegenüber ihrer Umgebungskultur durchlaufen haben.“ (S. 303) Der Pessimismus und die „Entbettung“ mündet für Dietz schließlich in einen Kulturkampf: „Es gibt auch in Deutschland den kulturpessimistischen Evangelikalismus, der sich seinen Aktivismus nur als Kampf gegen andere und vor allem gegen die liberale Gesellschaft vorstellen kann.“ (S. 366)
Aus der Sicht von Thorsten Dietz handelt es sich hier um ein absolut zentrales Problem, das über die Zukunft des Evangelikalismus entscheiden wird: „In der deutschen evangelikalen Bewegung dürfte die umfassende Schlüsselfrage sein: Wie verhalten sich Evangelikale zur modernen Welt, zur Entwicklung der modernen Wissenschaften, zur Demokratie mit ihrer Gründung auf die Grundfreiheiten des Menschen, wie sie im Bekenntnis zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten zum Ausdruck kommen?“ (S. 366) „Die Auseinandersetzung mit der Moderne in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit ist die Aufgabe der Stunde.“ (S. 361)
Was können wir von Thorsten Dietz lernen?
Dietz schreibt: „Kulturpessimismus aus Prinzip ist für viele Evangelikale eine große Versuchung geworden. … Zunehmend entzweit ein solcher Kulturpessimismus auch die deutschen Evangelikalen.“ (S. 369) Fakt ist: Die Polarisierung und das wachsende Misstrauen zwischen den verschiedenen Filterblasen im Internet ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es betrifft damit natürlich auch die Evangelikalen. Dazu kommt: Es ist tatsächlich eine Versuchung, die eigene Identität durch die Abgrenzung von Anderen zu definieren. Mit öffentlicher Kritik kann man eine Menge Klicks generieren. Für Christen muss aber auch klar sein: Durch Kritik allein kommt niemand zum Glauben und wächst keine Gemeinde. Bewegungen, die nur von der Kritik an anderen leben, können zwar kurz Aufmerksamkeit erzeugen, aber sie werden dann auch ziemlich schnell unattraktiv und unfruchtbar. Davon zeugt auch die Entwicklung mancher Bekenntnisgruppen der vergangenen Jahrzehnte. Kein Wunder, dass Ulrich Parzany immer wieder fragt: Was treibt uns eigentlich an? Rechthaberei? Oder Retterliebe? Wer Menschen gewinnen will, muss die Menschen lieben und hoffnungsvoll auf sie zugehen. Wer überall nur noch Niedergang, Abfall und Verblendung sieht, kann sich nur noch in seiner Burg einigeln. Frucht entsteht aus einer solchen Haltung nicht.
Für die Zukunft wünscht sich Thorsten Dietz „eine evangelikale Bewegung, die vor allem an dem erkannt wird, wofür sie eintritt. Eine Dafür-Bewegung und keine Dagegen-Bewegung.“ (S. 455) Nun haben es Evangelikale nicht in der Hand, wie Andere sie beschreiben. Christliche Bewegungen wurden seit jeher immer wieder verspottet und verzerrt dargestellt. Aber es bleibt in der Tat die Verantwortung der Evangelikalen, auf ihre Herzenshaltung zu achten. Unser Motiv und unsere Leidenschaft muss immer primär von der Liebe zu Gott und zu den Menschen geprägt sein, statt vom verzweifelten Kampf gegen Zersetzung und Gefahren.
Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?
Ohne Zweifel gibt es christliche Milieus mit einer Tendenz zu einseitig kulturpessimistischen Sichtweisen und selbstverschuldeter gesellschaftlicher Isolation. Wie verbreitet das ist, kann im Moment wohl niemand seriös sagen. Dietz berichtet zwar zutreffend von den enormen Bucherfolgen mit falschen apokalyptischen Spekulationen. Aber haben diese Bücher wirklich prägenden Einfluss erlangt? Sind sie gar „mehrheitsfähig geworden“ (S. 233), wie Dietz meint? Meine Beobachtung ist eher: Auch viele konservative Leiter warnen vor vorschnellen Endzeitspekulationen. Die Erinnerung an falsche Prophetien und endzeitliche Szenarien ist doch überall recht lebendig.
Eine andere Herausforderung besteht darin, dass das Denken der intellektuellen Eliten unserer Gesellschaft sich immer stärker von christlichen Vorstellungen entfernt, wie auch Dietz feststellt: „In der Moderne zeigt sich eine immer stärkere Auseinanderentwicklung der traditionell christlichen Kultur und der säkularen Gesellschaft.“ (S. 426) Der Journalist Markus Spieker berichtet in seinem Buch „Übermorgenland“ gar, dass „gerade in den akademischen Kreisen … eine undifferenzierte Christenphobie … weit verbreitet“ ist.[1] Das stellt Christen vor eine schwierige Frage: Sollten Christen gegen diese Entwicklungen ankämpfen? Oder sollten sie sich mehr anpassen, um nicht noch mehr ausgegrenzt zu werden? Der US-amerikanische Autor und Professor für Bibel- und Religionswissenschaften Carl R. Trueman bestätigt in seiner brillanten Zeitanalyse über „Das Versagen der evangelikalen Eliten“[2] das von Dietz beschriebene Problem des kulturellen Rückzugs. Zugleich weist er auf eine andere Versuchung hin, die Thorsten Dietz in seinem Buch nicht in den Blick nimmt:
„Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen das Christentum seinen Platz in der Gesellschaft bedroht sieht. Wenn es sich an den Rand gedrängt sieht, entstehen zwei Versuchungen. Die erste ist ein wütendes Anspruchsdenken, ein Impuls, die ganze Welt anzuprangern und sich in die kulturelle Isolation zurückzuziehen. Im frühen 20. Jahrhundert bot der amerikanische Fundamentalismus ein gutes Beispiel für diese Tendenz … Die zweite Tendenz ist subtiler und verführerischer. Während sie den Anschein erweckt, für die Wahrheit zu kämpfen, passt sie das Christentum dem Zeitgeist an. Während fundamentalistisches Fäusteballen die Versuchung der weniger gebildeten Masse ist, übt Anpassung auf die einen Reiz aus, die einen Platz am Tisch der gesellschaftlichen Elite suchen. Und diese Elite-Aspiranten geben oft den Massen die Schuld, wenn ihre Einladung an den hohen Tisch nicht zustande kommt.“
Trueman schildert eine Reihe von Versuchen, das Christentum mit den intellektuellen Eliten zu versöhnen, ohne dabei die Substanz des christlichen Glaubens preiszugeben. Dabei werde heute aber etwas Grundlegendes übersehen: „Das Hochschulwesen ist heute weitgehend das Land der „Woken“. … Die kultivierten Verächter des Christentums von heute halten dessen Lehren nicht für intellektuell unplausibel, sondern für moralisch verwerflich. Der Mainstream des modernen Denkens hat die Lehren von der Sündhaftigkeit des Menschen und der Sühne Christi als unvereinbar mit der menschlichen Autonomie und Freiheit angesehen.“
Solche unüberbrückbaren Differenzen mit gesellschaftlichen Überzeugungen sind für Christen nichts Neues. Paul Bruderer berichtet im Blog „Daniel Option“, dass schon die Lebensweise der ersten Christen „eine radikale Alternative darstellte zu den sexualethischen Werten der römischen Kultur.“ Diese christliche Gegenkultur hat der Kirche zwar Verfolgung, zugleich aber auch Profil und Zulauf eingebracht. Deshalb sollten Christen auch heute „den Mut haben, ihre Sexualethik nicht von der Gesellschaft abzuleiten, sondern von der judeo-christlichen Weltanschauung, die uns in der Bibel sichtbar gemacht wird.“ Markus Spieker hält dies auch aus praktischen Gründen für angebracht: „Je mehr ich mich mit den Folgen der sogenannten sexuellen Revolution beschäftige, vor allem für Kinder und Jugendliche, desto verstörender finde ich die Bilanz.“ (S. 221) „Die Leidtragenden des erotischen »Anything Goes« sind gerade diejenigen, die am meisten angewiesen sind auf bedingungslose Fürsorge. Wer bezweifelt, wie schädlich sich die Selbstfindungs-Expeditionen mancher Eltern auf Kinder auswirken, muss sich nur in jugendpsychiatrischen Einrichtungen oder beim Kinderhilfswerk »Arche« umsehen.“ (S. 228) „Slogans wie … »Mein Bauch gehört mir« signalisieren … nicht den Aufbruch in eine natürliche Autonomie, sondern die Entfremdung der Menschen von ihrer wahren Natur.“ (S. 222)
Mit pessimistischem Kulturkampf hat die hier zum Ausdruck kommende Distanz zu philosophischen und (sexual-)ethischen Trends nichts zu tun. Carl Trueman warnt auf Basis seiner kirchengeschichtlichen Analyse sogar explizit davor, den Konflikt zu sehr entschärfen zu wollen: „Das Christentum sagt der Welt, was sie nicht hören will. Wir sollten nicht erwarten, von denen umarmt zu werden, deren Gedanken und Taten den Wahrheiten unseres Glaubens widersprechen. Wir sollten auch nicht versuchen, unseren Glauben schmackhafter zu machen, sonst verliert das Salz seinen Geschmack. Sich den Forderungen der Welt anzupassen ist ein Irrweg.“
Meine Empfehlung an die Evangelikalen ist deshalb, keinesfalls den Fehler der liberalen Kirchen zu wiederholen. Wer sich auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung ständig anpasst und für alles offen ist, marginalisiert sich selbst. Überleben werden am Ende nur solche christliche Strömungen, die sich einerseits selbstkritisch eigenen Fehlern stellen, die zugleich aber fröhlich und hoffnungsvoll ein klares biblisches Profil behalten – auch wenn ihnen das Ausgrenzung und Verachtung einbringt.
Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?
Wie können wir uns davor schützen, im Blick auf unsere Gesellschaft weder in eine profillose Anbiederung noch in ein destruktives Grundmisstrauen zu verfallen? Wollen wir neu nach vertiefter biblischer Orientierung und Erfüllung mit dem Geist der Wahrheit suchen, der uns sowohl prophetische Schärfe wie auch aufopferungsvolle Liebe verleiht, die niemals die Hoffnung verliert? Sind wir bereit, gesellschaftliche Ausgrenzung notfalls auszuhalten?
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[1] Markus Spieker: Übermorgenland, Fontis Verlag 2019, S. 282
[2] Carl R. Trueman: „The Failure of Evangelical Elites“, FirstThings 11/2021, in Teilen übersetzt und kommentiert in: „Warum die Woke-Culture die Evangelikalen spaltet“ (blog.aigg.de/?p=5882)
Weiterführend:
- “Warum die Woke-Culture die Evangelikalen spaltet“: Auszüge aus der brillanten Zeitanalayse von Prof. Carl R. Trueman, ins deutsche übersetzt und kommentiert von Markus Till
- Paul Bruderer: “Revolutionäre Sexualität” Über die faszinierend einzigartige und revolutionäre christliche Sexualethik
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