Warum die „Woke-Culture“ die Evangelikalen spaltet

Eine Zeitanalyse von Prof. Carl R. Trueman

Der Ruf und die Einheit der Evangelikalen haben erheblich gelitten, seit bekannt wurde, dass der Wahlerfolg von Donald Trump zu einem nicht unerheblichen Teil auch auf die Unterstützung vieler evangelikaler Christen zurückzuführen war. Was ist da nur schiefgelaufen? Und was hätten evangelikale Leiter anders machen müssen, um diesen Schaden zu vermeiden?

Ein verbreitetes Narrativ lautet: Die Evangelikalen hätten sich eben viel früher und vor allem sehr viel deutlicher von Trump distanzieren müssen. Die breite Unterstützung Trumps zeigt doch, wie verführbar und naiv ein Großteil der Evangelikalen sei. Aber stimmt diese Erzählung auch?

In einer aktuellen Analyse erzählt der bekannte Autor und Professor für Bibel- und Religionswissenschaften Carl R. Trueman eine sehr viel differenziertere Geschichte. „Das Scheitern der evangelikalen Eliten“ (so die Überschrift seines Artikels) besteht für ihn vor allem auch in einer akuten Fehleinschätzung der aktuellen kulturellen Entwicklungen. Zudem beklagt er die Bereitschaft evangelikaler Leiter, notfalls auch zentrale christliche Überzeugungen zu opfern und sich von Glaubensgeschwistern zu distanzieren, um von den gesellschaftlichen Eliten akzeptiert zu werden. Wie kommt Trueman zu dieser provozierenden These?

Trueman beginnt zunächst mit einer Beobachtung, die in der Kirchengeschichte immer wieder gemacht werden kann:

„Es gibt Zeiten in der Geschichte, in denen das Christentum seinen Platz in der Gesellschaft bedroht sieht. Wenn es sich an den Rand gedrängt sieht, entstehen zwei Versuchungen. Die erste ist ein wütendes Anspruchsdenken, ein Impuls, die ganze Welt anzuprangern und sich in die kulturelle Isolation zurückzuziehen. Im frühen 20. Jahrhundert bot der amerikanische Fundamentalismus ein gutes Beispiel für diese Tendenz … Die zweite Tendenz ist subtiler und verführerischer. Während sie den Anschein erweckt, für die Wahrheit zu kämpfen, passt sie das Christentum dem Zeitgeist an. Wenn fundamentalistisches Fäusteballen die Versuchung der weniger gebildeten Masse ist, dann übt Anpassung auf die einen Reiz aus, die einen Platz am Tisch der gesellschaftlichen Elite suchen. Und diese Elite-Aspiranten geben oft den Massen die Schuld, wenn ihre Einladung an den hohen Tisch nicht zustande kommt. In den letzten Jahren hat Amerika viele Beispiele für beide Tendenzen erlebt. Wir haben die Wut der Evangelikalen erlebt, die glauben, dass ihnen das Land gestohlen wird, und wir haben die herablassende Haltung derer gesehen, die ihre weniger weltgewandten Glaubensbrüder für die Misere der Kirche und der Nation verantwortlich machen. Das Buch Prediger erinnert uns daran, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt.“

Also alles schon mal dagewesen? Um diese These zu belegen, wirft Trueman einen Blick zurück auf einen bekannten deutschen Theologen:

„Friedrich Schleiermacher wird nachvollziehbar als der Vater der modernen Theologie bezeichnet, was in Wirklichkeit die moderne liberale protestantische Theologie meint. Liberale Protestanten leisteten Pionierarbeit mit der Taktik, Kritiker als „anti-modern“ zu bezeichnen, anstatt auf ihre Argumente einzugehen. … Als Schleiermacher ein junger Mann war, beherrschte ein älterer, konfessioneller Protestantismus noch die institutionalisierte Kultur in seinem Heimatland Deutschland. Aber schon damals befand sich die Gesellschaft im Umbruch, und das Christentum verlor unter den Eliten an Boden. … Die Theologie, einst die Königin der Wissenschaften und die Krone der universitären Ausbildung, wurde durch das Denken der Aufklärung grundlegend in Frage gestellt. Der Empirismus von Denkern wie David Hume stellte die traditionellen Beweise für die Existenz Gottes und die Glaubwürdigkeit von Wundern in Frage. Beeinflusst von Hume, schloss Immanuel Kant jede Möglichkeit aus, transzendente Wirklichkeiten zu erkennen. Die kant‘sche Philosophie, die rasch die deutsche intellektuelle Welt beherrschte, machte es in der Folge unmöglich, den klassischen christlichen Theismus aufrechtzuerhalten. … Zur gleichen Zeit stellte die Romantik das Gefühl in den Mittelpunkt des Menschseins. Auch dies stand im Gegensatz zu den überlieferten Formen des Christentums mit ihren Dogmen und systematischen Theologien voller klarer Argumente und feiner Unterscheidungen. … In diesem Kontext verfasste Schleiermacher sein brillantes Werk „Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Er bestritt nicht Kants strikte Ablehnung der Metaphysik, die besagt, dass wir die Offenbarung Gottes nicht kennen können, und damit bestritt er die Gültigkeit christlicher Dogmatik. … Gott, so betonte Schleiermacher, ist kein Postulat. Er ist vielmehr das Objekt unserer intensivsten Gefühle. Religion ist also eine Sache der Gefühle, nicht der Vernunft. … Aufschlussreich ist jedoch nicht so sehr Schleiermachers Argumentation als vielmehr seine Strategie. Anstatt die christliche Orthodoxie zu verteidigen, räumt er das Terrain, das die kultivierten Verächter der Religion beanspruchen. Er definiert das Christentum neu, um es mit den Annahmen seiner Kritiker in Einklang zu bringen. … Indem er den dogmatischen Glauben früherer Generationen in eine Religion der Gefühle und Intuitionen verwandelte, konstruierte er die christlichen Lehren als Ausdruck religiöser Gefühle und nicht als Aussagen über die objektive Wahrheit.“

Trueman sieht in der Geschichte Schleiermachers mehrere Parallelen zur Gegenwart. Die erste Parallele ist, dass das Christentum sich heute ebenso in der Defensive befindet wie damals:

„Schleiermacher ist längst tot, ebenso wie das Publikum der Aufklärung, das er ansprechen wollte. Aber das Problem des Christentums und seiner kultivierten Verächter ist nicht verschwunden. Es ist in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher hervorgetreten. Die mächtigen Kräfte des Säkularismus, des metaphysischen Materialismus und des Szientismus haben neben anderen Faktoren die Religion aus ihren früheren Einflussbereichen vertrieben. Man braucht nur darauf hinzuweisen, dass fast alle privaten Universitäten in den Vereinigten Staaten von religiösen Gruppen gegründet wurden und lange Zeit in einer religiösen Tradition verankert waren, um dann in den letzten beiden Generationen säkular zu werden.“

Die zweite Parallele, die Trueman zwischen Schleiermacher und der Gegenwart zieht, ist der Reflex christlicher Leiter, das Christentum so umzuformen, dass es gesellschaftsfähig bleiben kann: „Als Reaktion auf diesen Druck hat das Christentum wieder einmal diejenigen hervorgebracht, die versuchen, seine Verächter davon zu überzeugen, dass der Glaube nicht schädlich ist für die feine Gesellschaft.“ Trueman belegt dies zunächst anhand einer Schilderung aus den 1990er Jahren, als führende Köpfe der evangelikalen Bewegung (namentlich nennt er die Historiker Mark Noll und George Marsden) in den USA versuchten, mit der Unterstützung der Zeitschrift Christianity Today „ein Christentum zu zeichnen, das die Exzesse des Fundamentalismus vermeidet und gleichzeitig das orthodoxe Christentum verteidigt.“ Die Kernthese war, „dass der amerikanische Evangelikalismus gelähmt war durch sein Engagement für unhaltbare Positionen, denen es an intellektueller Glaubwürdigkeit mangelte. Dadurch zog sie die Verachtung gebildeter Menschen außerhalb der Kirche auf sich. Schlimmer noch, der Mangel an intellektuellen Standards machte nachdenklichen Menschen innerhalb der Kirche das Leben schwer.“ Konkret ging es um Überzeugungen des Dispensationalismus und der buchstäblichen Sechs-Tage-Schöpfung, die „weder vor den Regeln der Vernunft gerechtfertigt werden könnten noch für einen streng orthodoxen christlichen Glauben notwendig seien.“

Trueman kommentiert: „Anders als Schleiermacher sind Noll und Marsden darauf bedacht, vollmundige Bekenntnisse zum orthodoxen christlichen Glauben aufrechtzuerhalten. Und anders als bei Schleiermacher finde ich ihre Argumente überzeugend. Der Glaube an den heilbringenden Tod und die leibliche Auferstehung Jesu Christi untergräbt in keiner Weise die intellektuelle Redlichkeit. … Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die außerordentlich positive Aufnahme der Ideen von Noll und Marsden darauf zurückzuführen ist, dass die an den Universitäten ausgebildeten Evangelikalen in den 1990er Jahren aufgewühlt waren und sich nach Beruhigung sehnten. Die Universitäten, die sie besuchten, sagten ihnen zunehmend, dass ihr Glaube disqualifizierend sei. Noll und Marsden argumentierten anders und zeigten, dass ein gläubiger Mensch, der Selbstkritik übt und unhaltbare Überzeugungen verwirft, voll am modernen intellektuellen Leben teilnehmen kann.“

Die Thesen von Noll und Marsden schienen anfangs gute Früchte zu tragen. Ihre Doktoranden erhielten Stellen an Hochschulen und Universitäten. Als Musterbeispiel diente viele Jahre der von Obama eingesetzte evangelikal geprägte Leiter des Nationalen Gesundheitsinstituts Francis Collins. Gerade an seinem Beispiel macht Trueman jedoch deutlich, wie schwer es offenkundig ist, als evangelikaler Christ in solche Positionen aufzusteigen, ohne seine christlichen Werte zu kompromittieren. Collins ist dies offenbar nicht gelungen. Und Trueman stellt fest, dass es heutzutage kaum noch möglich ist, konfliktfrei an wichtigen christlichen Überzeugungen innerhalb der intellektuellen Eliten festzuhalten:

„Obwohl Marsden und Noll ihre Argumente vor weniger als dreißig Jahren vorbrachten, fällt mir auf, dass ihre Argumente aus einer längst vergangenen Zeit stammen. Die Vorstellung, dass eine Person, die sich zu Ehrlichkeit und Integrität in der Wissenschaft bekennt, Mitglied der heutigen Universitäten und anderer führender Institutionen werden kann, ist rückblickend betrachtet naiv. … Letztes Jahr habe ich am Grove City College einen Kurs über historische Methoden gehalten. Einer unserer Texte war Marsdens ‘The Outrageous Idea of Christian Scholarship’. Die Reaktion der Studenten auf das Buch war beeindruckend. Obwohl sie Marsden für einen nachdenklichen und engagierten Autor hielten, waren sie der Meinung, dass sein Argument – dass Christen einen Platz am Tisch der akademischen Welt finden könnten, wenn sie gute Gelehrte seien und ihre Kollegen mit Respekt behandelten – im heutigen Kontext nicht überzeugend ist. Kein Student glaubt heute, dass ein Professor einer Forschungsuniversität, der höflich und respektvoll zu einem schwulen Kollegen ist, auch seine Einwände gegen die Homo-Ehe äußern darf. So funktioniert das System nicht mehr.“

Aber warum ist das so? Trueman legt dar, dass die führenden Evangelikalen in ihrem Versuch, das Christentum in den intellektuellen Eliten gesellschaftsfähig zu machen, einen entscheidenden Punkt übersehen haben, der in den letzten 30 Jahren immer deutlicher zutage getreten ist:

„Das Hochschulwesen ist heute weitgehend das Land der „Woken“. Man mag ein brillanter Biochemiker sein oder ein profundes Wissen über die minoische Zivilisation haben, aber jedes Abweichen von der kulturellen Orthodoxie in Bezug auf Rasse, Sexualität oder sogar bei anderen Begriffen wird sich bei Einstellungs- und Bleibeverhandlungen als wichtiger erweisen als Fragen nach der wissenschaftlichen Kompetenz und sorgfältiger Forschung. … Meine Studenten können die Realität sehr genau einschätzen. Die kultivierten Verächter des Christentums von heute halten dessen Lehren nicht für intellektuell unplausibel, sondern für moralisch verwerflich. Und das war schon immer zumindest teilweise der Fall. Das war der Punkt, den Noll und Marsden übersehen haben – auch wenn er in den neunziger Jahren am Wheaton College oder an der Universität von Notre Dame vielleicht nicht so offensichtlich war wie heute fast überall im Hochschulbereich.“

Damit ist Trueman beim Kern seiner These angelangt: Das Christentum ist mit zentralen Denkweisen der vorherrschenden Kultur schlicht unvereinbar! Trueman führt dazu aus:

„Das Problem mit dem Ansatz von Noll und Marsden … besteht darin, dass die moderne intellektuelle Kultur nie interessiert war an einer moralisch neutralen Praxis der Weiterentwicklung der Regeln der intellektuellen Forschung und Debatte. … Die Aufklärung rebellierte nicht nur gegen die alten Vorstellungen über das Wissen, sondern auch gegen die moralischen Lehren des Christentums. Der Mainstream des modernen Denkens hat die Lehren von der Sündhaftigkeit des Menschen und der Sühne Christi als unvereinbar mit der menschlichen Autonomie und Freiheit angesehen. Dieser moralische und politische Einwand gegen das Christentum ist das beherrschende Motiv der heutigen kultivierten Verächter. … Unsere postmoderne Welt sieht alle Wahrheitsansprüche als Machtansprüche, alle unverrückbaren Denkkategorien als manipulativ an – und die Aufgabe der akademischen Welt ist es, die Studenten dazu zu erziehen. … Wer sich der kritischen Rassentheorie oder der Gender-Theorie widersetzt, nimmt eine moralische Position ein, die von den Wichtigtuern der Kultur von vornherein als unmoralisch angesehen wird. Die kleinste Andeutung von Opposition disqualifiziert einen von der Aufnahme in die feine Gesellschaft.“

Es ist also primär die wachsende Ablehnung zentraler christlicher Lehren durch die heutige Kultur, die das Christentum zunehmend zum Außenseiter macht. Das hat laut Trueman aber nichts daran geändert, dass führende Evangelikale weiterhin versuchen, das Christentum gesellschaftsfähig zu machen: „In christlichen Kreisen, insbesondere in den Leitungsebenen und den damit verbundenen Institutionen, ist der Wunsch, die kultivierten Verächter der Religion zu besänftigen, zu einer mächtigen Kraft geworden. … Das bedeutet nicht mehr nur, dass man sich an die Regeln des akademischen Diskurses hält, wie es Noll und Marsden wohlüberlegt getan haben. Es bedeutet, die woke Empörung zu teilen. Und es bedeutet, wo immer möglich, die Schuld für das Versagen des Christentums, elitären Standards zu genügen, anderen Christen zuzuschieben, typischerweise denen, die politisch rechts von den „guten Christen“ stehen und die wirtschaftlich und gesellschaftlich unter ihnen stehen. Leider hat das schleiermacher‘sche Bestreben, die kultivierten Verächter zu beschwichtigen, die … Tendenz verstärkt, die „fundamentalistischen“ Massen zu verhöhnen. Die Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft zwischen den gebildeten Menschen, die relevant sind, und den „ungebildeten“ Menschen, die nicht relevant sind, zeigt sich genau dort, wo sie niemals zu finden sein sollte: in der Gemeinschaft der christlichen Gläubigen. In diesem Zusammenhang war die militante Unterstützung der evangelikalen Basis für das Phänomen Trump paradoxerweise ein Geschenk an die evangelikalen Eliten. Für die evangelikalen Führer war es nur zu einfach, das simplifizierte progressive Narrativ zu übernehmen: Jeder einzelne Trump-Wähler ist ein ignoranter Fanatiker und, wenn er sich zum Christentum bekennt, auch ein Heuchler. Der Gedanke, dass nicht alle, die für Trump gestimmt haben, dies mit Begeisterung taten, hatte keinen Platz in der Interpretation der säkularen Elite von 2016; und er passte auch nicht in das therapeutische Narrativ, das von vielen Anti-Trump-Christen übernommen wurde. Zuzugeben, dass Trumps Sieg kein Produkt des weißen christlichen Nationalismus oder eines ähnlich simplen Konstrukts war, hätte ein schmerzhaftes Maß an Gewissensprüfung und Selbstkritik seitens der leitenden Schichten der Gesellschaft im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen erfordert. Und das machte die beiden extremen Lager, Trump und Anti-Trump, ähnlich in ihrer moralischen Klarheit, mit der jedes glaubte, seine Gegner zu verstehen.“

Die Präsidentschaft von Donald Trump ist (vorerst?) Geschichte. Aber heißt das, dass die Lage sich jetzt wieder beruhigen und die gespaltene Christenheit wieder aufeinander zugehen kann? Trueman ist skeptisch:

„Nach Trump hat sich die politische Landschaft verschoben, aber das Spiel ist das gleiche. … Es ist daher nicht überraschend, dass die Mitglieder des christlichen Establishments in Fragen der Rasse so viel Empörung äußern. Dieses Thema bietet den christlichen Leitern die perfekte Gelegenheit, sich (ausnahmsweise) auf die „gute“ Seite einer moralischen Debatte zu stellen, die in der breiteren Gesellschaft für Aufruhr sorgt, und sich damit auf die Seite der kultivierten Verächter zu stellen. Außerdem kann die ältere Generation der jungen Generation versichern, dass die Kirche kein Hort reaktionärer Fanatiker ist, wie ihre säkularen Altersgenossen glauben machen wollen. …  Dennoch agieren führende antirassistische Christen innerhalb der von den kulturellen Progressiven gesetzten Parameter. Polizeieinsätze im Jahr 2018 waren für den Tod von weniger als dreihundert Afroamerikanern verantwortlich, während im selben Jahr mehr als 117.000 afroamerikanische Babys abgetrieben wurden. Man sollte meinen, dass dieser extreme Unterschied (390 zu eins) die Abtreibung in den Mittelpunkt der christlichen Rassismuskritik rücken würde. Doch in den unzähligen Meinungsbeiträgen und Blogposts über George Floyd und die kritische Rassentheorie, die im Jahr 2020 die christlichen Internetseiten des Establishments beherrschten, wurde das Thema Abtreibung erstaunlich selten erwähnt. Das ist nicht überraschend: Die Verurteilung der Abtreibung wäre nicht nach dem Geschmack der kultivierten Verächter gewesen. Lassen Sie es mich unverblümt sagen: Mit empörter Stimme über Rassismus innerhalb der von der „Woke Culture“ gesetzten Grenzen zu sprechen, ist ein ausgezeichneter Weg, um nicht über die dringenden moralischen Fragen zu sprechen, bei denen sich Christentum und Kultur gegenüberstehen: LGBTQ+-Rechte und Abtreibung. … Die christlichen Eliten versuchen, die säkulare Welt davon zu überzeugen, dass sie gar nicht so schlecht sind – nicht mehr im Sinne der aufklärerischen Vorstellungen von Vernunft, sondern im Sinne der durcheinandergeratenen moralischen Voreingenommenheiten unserer Zeit.“

Aber wird diese Strategie wirklich dazu führen, dass das Christentum gesellschaftliche Anerkennung findet? Trueman weist darauf hin, dass auch das weitreichende Entgegenkommen Friedrich Schleiermachers letztlich nur wenig dazu beigetragen hat, „die kulturelle Verachtung des Christentums durch die Elite zu mildern“. Deshalb rät Trueman evangelikalen Leitern dringend, zu einem biblischen Realismus zurückzukehren:

„Christen sollten nicht erwarten, von der Welt warmherzig umarmt zu werden. Sie sollten nicht einmal erwarten, toleriert zu werden. In Johannes 15 sagt Christus zu seinen Jüngern:

Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich gehasst hat, bevor sie euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt wärt, würde die Welt euch lieben wie ihre eigenen Leute; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.

Auf die Worte Jesu zu hören, ist keine Entschuldigung für schlampige Forschung und auch keine Entschuldigung für Gleichgültigkeit gegenüber Ungerechtigkeit und Bösem. Es ist auch keine Rechtfertigung dafür, diejenigen, mit denen wir nicht einverstanden sind, mit Verachtung zu behandeln. Christen, die sich verachtenswert verhalten, sollten sich nicht beschweren, wenn sie verachtet werden. Aber die Warnung Jesu erinnert uns auf jeden Fall daran, dass wir unseren kulturellen Verächtern nicht glauben müssen; noch weniger sollten wir uns auf ihre Seite gegen diejenigen stellen, die tatsächlich unseren Glauben teilen. Das Christentum sagt der Welt, was sie nicht hören will. Wir sollten nicht erwarten, von denen umarmt zu werden, deren Gedanken und Taten den Wahrheiten unseres Glaubens widersprechen. Wir sollten auch nicht versuchen, unseren Glauben schmackhafter zu machen, sonst verliert das Salz seinen Geschmack. Sich den Forderungen der Welt anzupassen ist ein Irrweg, wie jeder wissen sollte, der Schleiermacher liest.“

Trueman beschreibt in seinem Artikel natürlich die Situation in den USA. Unabhängig davon, inwieweit man Trueman zustimmen möchte, stellt sich die Frage: Inwieweit lässt sich die dortige Situation auf den deutschsprachigen Raum übertragen? Denn ohne Zweifel ist die Situation nicht identisch. Die „Woke-Culture“ ist bei uns (noch?) nicht ganz so prägend wie in den USA. Trotzdem fielen mir beim Lesen des Artikels eine ganze Reihe von Äußerungen christlicher Leiter und Influencer ein, die recht nahtlos in das Bild passen, das Trueman zeichnet. Während die christliche Kritik bei Themen wie Abtreibung oder Sterbehilfe immer leiser zu werden scheint, wird das Werben zur Übernahme „woker“ Positionen in das Christentum im gleichen Maße lauter wie die immer pauschaleren Distanzierungen von den angeblich für das Christentum so schädlichen „Fundamentalisten“. Und immer häufiger wird behauptet, dass man mit dieser „Modernisierung“ des Christentums doch nur das Christentum retten und gerade auch die Gebildeten mit dem Glauben versöhnen wolle. Sind bei uns also ganz ähnliche Dynamiken im Gange? Jedenfalls meine ich: In allen Diskussionen zu den Ursachen wachsender Gräben innerhalb der christlichen Landschaft sollte die Stimme Truemans unbedingt aufmerksam gehört werden. Und gerade auch freikirchliche Christen sollten sich die Frage stellen: Wollen wir wirklich der evangelischen Kirche folgen und den Weg Schleiermachers gehen?


Der Artikel „The Failure of Evangelical Elites“ von Carl R. Trueman ist in der November 2021 Ausgabe der Zeitschrift FirstThings erschienen: https://www.firstthings.com/article/2021/11/the-failure-of-evangelical-elites

Eine vollständige Übersetzung des kompletten Artikels findet sich im Blog Glauben und Denken unter: www.glaubend.de/das-scheitern-der-evangelikalen-eliten/

Übersetzung und Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von FirstThings.

 

nonbiblipedia

1 Gedanke zu „Warum die „Woke-Culture“ die Evangelikalen spaltet“

Schreibe einen Kommentar