2023 war kein gutes Jahr für Deutschland. Neben Bildung und Wirtschaft ist vor allem der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter geschrumpft. Immer deutlicher wird: Deutschland ist ein Schnittblumenland. Die christlichen Wurzeln, die unser Land so positiv geprägt haben, sind weitgehend abgeschnitten. Folglich verblüht auch unser verbindender Wertekanon.
Viele Menschen setzen ihre Hoffnung jetzt auf neues politisches Personal. Jedoch muss uns klar sein: Auch die besten Politiker können die bröckelnden Wertefundamente nicht ersetzen. Was unser Land deshalb dringender denn je benötigt, ist ein neuer geistlicher Aufbruch. Deutschland braucht dringend, ja verzweifelt eine Erweckung, aus der eine Kirche hervorgeht, die wieder Salz und Licht ist für unser Land.
Leider sind vor allem die großen Kirche davon weiter entfernt denn je. Sie werden fast nur noch durch Skandale und Mitgliederschwund wahrgenommen. Aber auch das freikirchliche und allianzevangelikale Umfeld hat viel von seiner Ausstrahlung verloren. Der Schnittblumeneffekt wirkt auch hier: Die gemeinsamen, verbindenden Glaubensgrundlagen sind durch das Vordringen von progressiver und postevangelikaler Theologie weitgehend aufgeweicht. Auch in vielen allianzevangelikalen Institutionen kann man sich kaum noch darauf einigen, was denn eigentlich das Evangelium ist. Und in ethischen Fragen verfällt man bestenfalls in Sprachlosigkeit, immer öfter aber in offenen Streit und Spaltung. Insgesamt gibt es immer weniger, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. Aber ohne Profil kann man auch nicht Salz und Licht für die Gesellschaft sein.
In meinen Begegnungen mit christlichen Leitern ist mir zudem viel Entmutigung begegnet. Nicht Wenige haben das Gefühl: Wir stehen auf verlorenem Posten. Eine Autorin, die sich seit Jahren in Büchern und Vorträgen für eine gesunde biblische Sexualethik engagiert, sagte mir jüngst: Es bringt nichts. Wir dringen in den Gemeinden nicht mehr durch. Der Einfluss von Zeitgeist und progressiver Theologie ist einfach zu stark. Wie konnte es soweit kommen?
Drei Milieus fließen nebeneinander her
Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten in ganz unterschiedlichen christlichen Milieus bewegt. Dabei durfte ich wunderbare Menschen kennenlernen, die in ihrem Einflussbereich großartige Arbeit machen. Aber zunehmend fiel mir auf: Zwischen diesen Milieus gibt es nur wenig Zusammenarbeit. Das gilt auch dann, wenn sie theologisch eigentlich ganz nah beieinander sind. Ich sehe vor allem drei verschiedene Ströme, die nach meiner Wahrnehmung weitgehend getrennt nebeneinander herfließen:
- Da sind zum einen die „Bekenntnisleute“, also bibeltreue (Laien-)Theologen, die sich in unterschiedlichsten Initiativen und Netzwerken für die Autorität der Schrift und die Gültigkeit ihrer Botschaft einsetzen.
- Zum zweiten denke ich an die „Beter“, die sich in einer Vielzahl von Gebetsbewegungen und Gebetshäusern engagieren und dort ihre Zeit und Kraft dafür investieren, Gottes Angesicht zu suchen und möglichst viele Christen in die Gottesbegegnung mit hineinzunehmen.
- Und schließlich sehe ich die vielen „Praktiker“, die unsere Gemeinschaften, Gemeinden und Werke am Laufen halten, also Pastoren, Älteste sowie Leiter von christlichen Werken und Institutionen aller Art.
Und ich habe mich gefragt: Woran liegt es, dass es zwischen diesen drei Milieus scheinbar so wenig Zusammenarbeit gibt?
Vorurteile, Verletzungen und trennende Dynamiken
Meine Wahrnehmung ist: Zwischen diesen drei Milieus stehen Vorurteile im Raum, die auch auf Verletzungen durch negative Erfahrungen in der Vergangenheit beruhen. Die Aussagen klingen immer wieder ähnlich:
- Diese Leute aus den verschiedenen Bekenntnisgruppen: Die neigen doch eher zu Gesetzlichkeit und dogmatischer Kälte. Intellektuell und wissenschaftlich sind sie nur selten auf der Höhe der Zeit. Und zudem sind sie doch eher anticharismatisch, verkopft und gefühlsfeindlich.
- Diese Beter aus den verschiedenen Gebetsbewegungen und Gebetshäusern: Die sind doch eher theologiefeindlich und gefühlsbetont. Ökumene ist ihnen wichtiger als die biblische Wahrheit. Mystische Erfahrungen lieben sie mehr als gesunde, biblisch fundierte Theologie.
- Diese Praktiker, die unsere Gemeinden, Gemeinschaften, Werke und Institutionen leiten: Die sind doch eher methoden- als bibelorientiert. Oft sind sie verstrickt in Abhängigkeiten. Sie müssen sich halt mit denen gut stellen, die ihre Jobs und Werke finanzieren. Deshalb positionieren sie sich theologisch lieber gar nicht, um ja bei niemand anzuecken.
Hast Du so ähnliche Einstellungen auch schon wahrgenommen? Sind Dir vielleicht sogar Menschen begegnet, die von Erfahrungen berichten, die solche Vorurteile zu bestätigen scheinen? Hast Du vielleicht selbst schon solche Missstände in anderen Milieus erlebt und bleibst deshalb lieber auf Distanz?
Neben solchen Vorurteilen, schlechten Erfahrungen und Verletzungen beobachte ich noch weitere Dynamiken, die die Kooperation zwischen diesen drei Gruppen behindern können, zum Beispiel:
- Die Sorge um den guten Ruf: Man kann ja leicht als intolerant, hartherzig und ausgrenzend eingestuft werden, wenn man sich kritisch über problematische Theologien oder Theologen äußert bzw. wenn man sich öffentlich mit Leuten verbindet, die das tun.
- Die Angst vor beziehungs- oder existenzgefährdenden Konflikten: Der Streit um theologische Fragen hat schließlich schon oft zu zerstörerischen Spaltungen geführt.
- Die Sehnsucht nach möglichst großer Ökumene und Reichweite: Um möglichst viele Christen aus den unterschiedlichsten Lagern einzubinden, möchte man Lehrfragen lieber gar nicht erst ansprechen – und auch die Leute meiden, die das tun.
- Das Narrativ, dass eine offene Theologie Einheit in Vielfalt bringt, während das Beharren auf gemeinsamen Lehrüberzeugungen spaltet. Dabei ist es in Wahrheit eher umgekehrt: Eine zu offene Theologie raubt der Kirche die Basis für Einheit und führt zur ungehinderten Verbreitung von immer neuen Spaltpilzen.
Warum wir einander brauchen
Die Mauern, die unter Christen durch solche Dynamiken, Vorurteile und schlechte Erfahrungen entstanden sind, schaden der Kirche Jesu enorm. Denn meine Beobachtung ist:
- Wo die bibeltreuen Theologen fehlen, da fehlt nicht selten auch der theologische Kompass, der das Kirchenschiff in den heftiger werdenden zeitgeistigen Strömungen dauerhaft auf einem gesunden Kurs halten kann. Die Kirche braucht gesunde theologische und denkerische Grundlagen, um die verbindenden Bekenntnisgrundlagen immer wieder neu mit Leben zu füllen und in Bezug auf unsere Botschaft sprachfähig zu bleiben.
- Wo die Beter fehlen, da wird es irgendwann gesetzlich, trocken und unattraktiv. Dann verlagert sich unser Vertrauen zunehmend auf Wissen, Methoden und Menschen statt auf Gottes Kraft und auf seinen Segen. Dann vergessen wir, dass letztlich alles an Gottes Segen gelegen ist und dass wir ohne ihn NICHTS tun können, egal wie klug und methodisch durchdacht wir die Dinge auch anpacken.
- Wo die Praktiker fehlen, da wird es irgendwann verkopft und praxisfremd oder aber abgehoben, hypergeistlich und weltfremd. Letztlich hilft uns die großartigste Theologie und die tiefste Gottesbegegnung nicht weiter, wenn es nicht Menschen gibt, die Gemeinden und Strukturen bauen, durch die geistliches Leben nachhaltig wachsen und gedeihen kann.
Paulus hat diese Realität so ausgedrückt:
„Und da wir alle in Christus ein Leib sind, gehören wir zueinander, und jeder Einzelne ist auf alle anderen angewiesen.“ (Römer 12, 5b)
Genau deshalb braucht Deutschland so dringend eine große Koalition aus bibeltreuen Theologen, Betern und Praktikern. Die Kraft von Gottes Wort, von Gebet und von gesunden Strukturen muss zusammenfließen, damit die Kirche Jesu wieder aufblühen kann.
Zarte Anfänge und wachsende Einheit
Im Oktober 2022 durfte ich gemeinsam mit Rainer Harter, dem Leiter des Gebetshauses Freiburg, eine ganz besondere Veranstaltung auf den Weg bringen: Vertreter von Bibel- und Bekenntnisinitiativen haben sich getroffen mit Vertretern von Gebetshäusern und Gebetsbewegungen aus dem ganzen Land. Am Morgen dieses Tages war ich sehr nervös. Ich war mir unsicher, wie das wohl ausgehen würde. Der Tag begann mit einem sehr offenen, ehrlichen Austausch. Dabei kamen auch kritische Fragen und schwierige Erfahrungen aus der Vergangenheit zur Sprache. Zugleich waren wir überrascht, wie viel uns doch miteinander verbindet. Im „Ergebnisprotokoll“ schrieb Frank Laffin vom Gebetshaus Bremen unter anderem:
„Es gab echtes Interesse aneinander und eine gemeinsame Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Bibel und zu Gebet. Ein Treffen unter Geschwistern in großer Ernsthaftigkeit. Wir haben Einheit in Kernfragen erlebt. Wir fördern die Stärkung der beiden “Bewegungen”, um frühere Verletzungen auszuräumen, hier hat ein Lernprozess auf mehreren Seiten begonnen. Wir kehren zurück zu den Wurzeln unserer Väter: Bibel und Gebet. Wir wollen füreinander einstehen und beten. Wir profitieren voneinander. Wir wollen miteinander auf Gott hören.
Seit diesem Tag habe ich viele weitere ermutigende Begegnungen zwischen „Bibelleuten“, „Betern“ und „Praktikern“ erlebt. Meine Hoffnung wächst, dass der Leib Christi wieder zusammenfindet und sich versammelt auf diesem einen Fundament, ohne das die Kirche aufhört, Kirche zu sein:
„Ihr seid auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufgebaut, in dem Jesus Christus selbst der Eckstein ist. Durch ihn sind alle Bauteile fest miteinander verbunden, sodass durch ihn, unseren Herrn, ein einzigartiges Heiligtum entsteht.“ (Epheser 2, 20+21)
Paulus macht hier deutlich: Echte Einheit im biblischen Sinn ist nicht menschengemacht. Sie ist kein Resultat von geschickter Diplomatie. Erst recht entsteht sie nicht durch die Reduktion auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Echte Einheit ist eine natürliche Folge davon, dass wir uns mit dem Haupt der Gemeinde, mit Jesus Christus verbinden. ER ist es, der die Glieder seines Leibes miteinander verbindet. Und er gebraucht dafür sein heiliges Wort, das uns in den Schriften der Apostel und Propheten als gemeinsame Grundlage gegeben ist.
Nach dieser Art von Einheit sehne ich mich. Viel wichtiger als formale Bündnisse scheinen mir geistgewirkte, christuszentrierte Vertrauensnetzwerke von Leitern zu sein, die voneinander wissen: Wir lieben Jesus gemeinsam. Wir folgen ihm von Herzen nach. Wir sind (trotz mancher Differenzen in theologischen Randfragen) gemeinsam verwurzelt im inspirierten Wort Gottes. Wir halten fest an den soliden Lehr- und Bekenntnisgrundlagen des historischen Christentums. Und wir brauchen einander in unseren vielfältigen Diensten und Berufungen, damit die Kirche Jesu wieder Salz und Licht werden kann für unser Land. Das wünsche ich mir mehr als alles andere für die vor uns liegende Zeit.