Biblische Stolperstellen: Ist der Gott des AT grausam?

Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden. Puh. Die Lektüre der 5 Bücher Mose ist stellenweise äußerst harte Kost. Für uns aufgeklärte Mitteleuropäer ist die Todesstrafe ja ohnehin eine Zumutung. Aber die Aufzählung der Vergehen, die in den 5 Mosebüchern anscheinend mit dem Tod bestraft werden sollen, wirkt verstörend: Mord und Totschlag, Anbetung fremder Götter, Inzest, Ehebruch, ja sogar das Holzaufsammeln am Sabbat, Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau oder fehlender Respekt vor den Eltern: Alles das soll todeswürdig sein? Das klingt für uns fast noch finsterer als im finsteren Mittelalter. Ist der Gott des Alten Testaments denn so grausam? Ist das vielleicht gar nicht der gleiche Gott wie im Neuen Testament?

Unwillkürlich drängen sich Fragen auf:

  • Warum wird in den 10 Geboten dann ausdrücklich gesagt: Du sollst nicht töten?
  • Warum wurden dann Mörder oder Ehebrecher wie Kain, Mose oder David nicht hingerichtet oder von Gott bestraft?
  • Warum schildert dann das Alte Testament praktisch keine Gerichtsprozesse, in denen Menschen von einem Richter zum Tod verurteilt werden?
  • Warum hat sich dann der Jude Jesus, der sich doch voll und ganz hinter die Schriften des Mose gestellt hat, dazwischen geworfen, als die Ehebrecherin gesteinigt werden sollte?
  • Warum wurde und wird dann unter orthodoxen Juden – anders als in vielen islamischen Staaten, die der Scharia folgen – die Todesstrafe kaum praktiziert und weithin abgelehnt?
  • Wie passt das zusammen mit vielen Stellen der Bibel, in denen (auch schon im Alten Testament) das Bild vom liebevollen, geduldigen, barmherzigen und gnädigen Gott gezeichnet wird?

Wir könnten es uns leicht machen und sagen: Die Bibelstellen zur Todesstrafe sind halt zeitbedingte Zeugnisse der damaligen rauen Kultur und haben mit Gott nichts zu tun. Aber so einfach ist es nicht. Denn Jesus hat höchstpersönlich die eingangs zitierte Todesdrohung ausdrücklich als Gotteswort bestätigt (Matth. 15, 4)! Auch wenn wir die Bibel von Jesus her auslegen kommen wir also an diesen Versen nicht so einfach vorbei.

Aber wie geht man dann damit um?

Bei meiner Suche nach Antworten hat mir ein Text des Theologen Prof. Thomas Hieke („Das Alte Testament und die Todesstrafe“) sehr geholfen. Er hat den Urtext einer genauen Analyse unterzogen. Daraus schließt er, dass die bei diesen Todesdrohungen am häufigsten verwendete Formel so übersetzt werden kann: „Wer Vater oder Mutter flucht, der wird gewiss getötet werden. Die Frage ist: Ist das wirklich eine Aufforderung, Beschuldigte vor einen Richter und letztlich zum Henker zu zerren? Es gibt viele Hinweise, dass genau das nie gemeint war:

  • Todesurteile durften nur bei Bestätigung von 2-3 unabhängigen Zeugen ausgesprochen werden (5. Mose 19, 15). Das ist bei all den Gesinnungs- oder Sexualdelikten, die naturgemäß im Verborgenen stattfinden, kaum praktikabel. Wie sollte das z.B. gehen bei einer Vergewaltigung, bei der der Hilferuf der Frau von niemand gehört wurde (5. Mose 22, 25-27)?
  • Praktisch alle Tatbestände, die in den Mosebüchern mit einer Todessanktion belegt werden, tauchen an anderer Stelle noch einmal auf – dort aber ohne Todessanktion! So wird z.B. Ehebruch in Sprüche 6, 32-33 stark geächtet, es ist von Schlägen und Schande die Rede, nicht aber von der Todesstrafe.
  • Noch gravierender ist für Thomas Hieke: „Für keinen der Tatbestände, die mit einer Todessanktion belegt sind, gibt es einen Fall in der (biblischen) erzählenden Literatur, wo ein diesbezüglicher Todesrechtsprozess und eine Hinrichtung berichtet werden.“ (S. 369) Im Gegenteil: Bei Mördern wie Kain, Mose oder David, der dazu noch ein Ehebrecher war, liest man nichts von der Todesstrafe. Wenn es in Israel über Jahrhunderte eine Todesstrafjustiz gegeben hätte wäre es kaum erklärbar, warum das in den biblischen Büchern so gut wie nirgends auftaucht.

Dass die Todessanktionen in den Mosebüchern schon damals nicht als „Todesstraf-prozessordnung“ verstanden wurden bestätigt der orthodoxe Jude Arie Folger: „Diese Einschränkungen und manche weitere zeigen, dass nach unserer Tradition Todesurteile eher Theorie als Praxis sein sollten. Nach dem Talmud kamen sie kaum vor.“

Aber warum stehen diese Todessanktionen dann in den Mosebüchern? Um das zu verstehen muss man 2 grundlegende Prinzipien kennen, die sich quer durch das Alte und Neue Testament ziehen:

  1. Sünde (also ein Verstoß gegen Gottes Gebote) hat letztlich immer tödliche Konsequenzen! „Der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Römer 6, 23) – zwar normalerweise nicht unmittelbar, aber jedenfalls in Bezug auf das ewige Leben. Das zeigt sich schon in der Paradiesgeschichte: Obwohl Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis essen tritt die angekündigte Todesstrafe nicht ein, im Gegenteil: Gott kümmert sich sogar noch fürsorglich um ihre Kleider! Erst viel später sterben Adam und Eva tatsächlich.
  2. Ohne besondere Vorkehrungen ist die Begegnung sündiger Menschen mit Gottes Heiligkeit immer absolut tödlich – so wie es absolut tödlich wäre, wenn Menschen mit einem Raumschiff auf der Sonne landen wollten. Deutlich wird das z.B. beim Tod Usas, der versehentlich die Bundeslade berührt und dabei stirbt, obwohl er es in guter Absicht getan hatte (2. Samuel 6, 6-7).

Beide Prinzipien prägen die Mosebücher ganz besonders. Denn diese Zeit war nun einmal bestimmt von der Sondersituation einer ganz außergewöhnlichen Gottespräsenz, die sich sogar sichtbar (Wolken- und Feuersäule!) und hörbar (Gottes Stimme!) äußerte. Viele der Gebote waren deshalb letztlich Sicherheitsvorschriften, die die Priester und das Volk Israel vor der lebensgefährlichen Gegenwart des heiligen Gottes schützen sollten.

Auch in der jungen christlichen Gemeinde gab es eine solche Sondersituation mit einer sichtbaren (Feuerflammen!) und spürbaren (Erdbeben!) Gottespräsenz. Hananias und Saphira mussten erleben, welch tödliche Folgen das haben kann. Aber aus keiner dieser Ausnahmesituationen darf man ableiten, dass Christen für die Todesstrafe sein müssten. Thomas Hieke stellt im Gegenteil klar: „Daher ist auch aus dem Alten Testament die Todesstrafe nicht zu begründen.“

Der eigentliche Charakter der Todesankündigungen in den Mosebüchern wird in 5. Mose 27, 15-26 deutlich: Zahlreiche Tatbestände, die andernorts mit der Todessanktion verknüpft sind, werden hier „nur“ mit einer Fluchformel belegt. Die Ausführung des Fluchs ist natürlich Gottes Sache und nicht die Angelegenheit menschlicher Justiz. Daraus kann man rückschließen: Wenn Mose schreibt, dass Menschen, die gegen ein bestimmtes Gebot verstoßen, „gewiss getötet werden“, dann meint das zunächst einmal: Diese Tat ist Sünde, die letztlich (wie bei Adam und Eva) den Fluch des Todes nach sich zieht! Das Ziel dieser Aussagen war nicht, dass diese Menschen gleich umgebracht werden sollen. Vielmehr ging es um eine intensive Warnung vor den katastrophalen, letztlich tödlichen Konsequenzen der Sünde. Und Warnung ist immer ein Ausdruck von Liebe – nicht von Grausamkeit.

Werden diese Bibelstellen dadurch weniger schmerzhaft? Nein. Da der Tod in der Bibel der große Feind Gottes ist können wir sicher sein, dass Gott genauso darunter leidet. Und doch ist es wichtig, diese Texte nicht zu verdrängen und nicht zu glätten, weil sie ein Schlüssel zu Gottes Gnade sind. Paulus schrieb in Römer 5, 20-21, dass uns das Gesetz (also die 5 Bücher Mose) gegeben wurde, damit uns das Ausmaß und die tödlichen Konsequenzen der Sünde vor Augen geführt wird. Das ist wichtig für uns! Denn wer selbstgerecht die Konsequenzen der Sünde verdrängt oder verharmlost macht Gottes Gnade billig und kraftlos. Dann wird die Leidenschaft der Christen lau – ein weit verbreitetes Problem unserer heutigen Kirche. Das zeigt mir wieder einmal, wie schädlich es ist, unbequeme Verse nach dem Bibel-Bastel-Bogen-Prinzip willkürlich aus Gottes Wort herauszuschneiden.

Wenn uns hingegen schmerzhaft bewusst wird, dass wir zu Recht verurteilt und verloren sind werden wir leidenschaftlich dankbar für Gottes Gnade. Die 5 Bücher Mose helfen uns dabei, indem sie uns ungeschminkt vor Augen führen, welche schlimmen Konsequenzen Sünde hat und wie sehr wir auf Gnade angewiesen sind. Und genau diese Gnade brauchen wir, um dabei sein zu können, wenn eines Tages der heilige Gott ohne jede Grenze und Schranke mitten unter den Menschen wohnt. Diese Gnade ist der Schlüssel zum Leben in Gottes Gegenwart – jetzt und hier und in der Ewigkeit!

Vielen Dank an Prof. Thomas Hieke (Alttestamentler an der Universität Mainz) für die fachliche Beratung zu diesem Artikel!

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