Hat Daniel das Datum der Kreuzigung vorhergesagt?

Das Alte Testament ist voller Vorhersagen über Jesus: Abstammung, Jungfrauengeburt, Geburtsort, Einzug auf einem Esel in Jerusalem, Kreuzigung… Besonders spannend finde ich die Vorhersagen in Daniel 9, 24-26:

24 Siebzig Wochen [Jahrwochen] sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um das Verbrechen zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Schuld zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Vision und Propheten zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben. 25 So sollst du denn erkennen und verstehen: Von dem ⟨Zeitpunkt an, als das⟩ Wort erging, Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, bis zu einem Gesalbten, einem Fürsten, sind es [7 Wochen und 62 Wochen. Und Platz und Stadtgraben werden] wiederhergestellt und gebaut sein, und zwar in der Bedrängnis der Zeiten. 26 Und nach den 62 Wochen wird ein Gesalbter ausgerottet werden und wird keine ⟨Hilfe⟩ finden. Und das Volk eines kommenden Fürsten wird die Stadt und das Heiligtum zerstören, und sein Ende ist in einer Überflutung; und bis zum Ende ist Krieg, fest beschlossene Verwüstungen.

Wer diesen Text aus der Sicht des Neuen Testaments liest, kann kaum anders, als zu denken: Hier geht es doch um Jesus und die Kreuzigung! Den Sünden wird „ein Ende gemacht“, die Schuld wird „gesühnt“ und „eine ewige Gerechtigkeit“ wird eingeführt. Ein „Gesalbter“ wird „ausgerottet“. Im Hebräischen steht für den „Gesalbten“ das Wort „Maschijach“, also „Messias“, was im Griechischen mit „Christos“ übersetzt wird (in der lateinischen Form „Christus“). Spannend ist, dass für dieses Ereignis der „Sühnung“ und „Ausrottung“ des Messias ein Zeitpunkt angegeben wird, und zwar gemäß V. 24 genau 70 Jahrwochen (= 490 Jahre) nach dem Erlass zur Wiederherstellung Jerusalems. Zudem wird ein Folgeereignis genannt: Die Stadt Jerusalem und der Tempel (das Heiligtum) sollen zerstört werden. Wenn es hier wirklich um die Kreuzigung geht, dann stellt sich natürlich die Frage: Hat sich diese Vorhersage erfüllt?

Zwei Fakten können wir zunächst festhalten, die definitiv mit den Angaben in den Evangelien übereinstimmen:

  1. Das Kommen des Gesalbten („Messias“) führte tatsächlich nicht dazu, dass direkt sein Königreich auf Erden aufgerichtet wurde, obwohl auch dieses Ereignis im Alten Testament vorhergesagt wurde und von den Juden deshalb erwartet worden war. Christen gehen davon aus, dass das erst geschehen wird, wenn Jesus erneut wiederkommt.
  2. Die Kreuzigung hat tatsächlich noch vor der Zerstörung Jerusalems und des Tempels stattgefunden. Denn dieses Ereignis ist für das Jahr 70 nach Christus verlässlich datiert.

Das sind also schon einmal zwei sehr erstaunliche Vorhersagen, die definitiv sehr gut zu dem passen, was wir über Jesus wissen. Aber wie ist es jetzt mit den 490 Jahren, die ab dem Erlass zum Aufbau Jerusalems bis zur „Ausrottung“ des Messias vergehen sollen?

Im Alten Testament gibt es im Wesentlichen 4 Dekrete zum Aufbau Jerusalems, nämlich von König Kyrus (Esra 1, 1-4), Darius (Esra 6, 1-12) und 2 von Artaxerxes (Esra 7, 11-26, Nehemia 2, 1-8). Welches ist gemeint? Wenn Daniels Prophetie sich tatsächlich auf Jesus bezieht, müsste sie ja 490 Jahre vor der Kreuzigung erlassen worden sein.

Auch das Datum der Kreuzigung ist umstritten. Als plausibelste Termine gelten für Einige der 7. April 30 und der 3. April 33, wobei es durchaus Argumente für das Jahr 33 als Favorit gibt (siehe auch hier oder hier). Wenn das stimmt, müsste der Erlass also aus dem Jahr 458 v.Chr. stammen (beim Rechnen muss beachtet werden, dass das Jahr 0 nicht gezählt wird). Aber passt eines der 4 Dekrete dazu?

In Esra 7, 7+9 lesen wir, dass Esra im 7. Jahr der Herrschaft von Artaxerxes am 1. Tag des 1. Monats den königlichen Erlass im Gepäck hatte, als er nach Jerusalem aufbrach. Laut einer Fußnote in der „Neues Leben-Bibel“ kann „eine ganze Reihe von Ereignissen in Esra anhand der Daten in erhaltenen babylonischen/persischen Dokumenten überpüft und zu unserem heutigen Kalender in Beziehung gesetzt werden.“ Konkret vermerkt die NL-Bibel zum Datum in Esra 7, 9a: „Das Ereignis (also die Abreise Esras nach Jerusalem) fand am 8. April des Jahres 458 v.Chr. statt.“ Also genau 490 Jahre vor dem 3. April 33 nach Christus.

Das wäre natürlich ein absoluter Volltreffer! Nicht nur das Jahr würde stimmen. Auch noch der Monat und sogar der Tag (kurz vor der Abreise am 8. April) würde passen. Dazu kommt: Es gibt durchaus gute Argumente, warum unter den 4 oben genannten königlichen Dekreten dieses aus dem Jahr 458 besonders passend sein könnte, denn bei Kyrus und Darius ging es nur um den Wiederaufbau des Tempels. Erst beim Dekret von 458 v.Chr. sollten auch Richter und Obrigkeiten eingesetzt werden. Und erst in der Zeit von Artaxerxes wird auch berichtet, dass Jerusalems Mauer wieder aufgebaut wird. Der Erlass, den Nehemia 13 Jahre später erhielt, war wohl eher nur eine Bestätigung des ersten Dekrets unter Artaxerxes, weil es angesichts zahlreicher Widerstände nicht voranging mit dem Aufbau.

Zu klären wäre noch: Warum spricht Daniel in Vers 25 und 26 plötzlich nur noch von 69 (7+62) statt 70 Wochen? Gemäß Vers 25 sind es 69 Jahrwochen (also 483 Jahre) „bis zu dem Gesalbten“ (d.h. bis zum „Messias“ = „Christus“). Das kann man so verstehen, dass nach der 69. Jahrwoche die „messianische Woche“ beginnt, in der der Messias zunächst von Johannes, dem Täufer, angekündigt wird, und dann selbst auftritt. Das scheint also alles durchaus gut zu passen!

Aber trotzdem ist natürlich Vorsicht geboten! Wir dürfen nicht vergessen, dass es sowohl für das Dekret als auch für die Kreuzigung mehrere Datums-Kandidaten gibt. Und natürlich sind auch bei diesen genanten Optionen noch so manche umstrittene Unsicherheiten bei den Datumsangaben. Manche Theologen schlagen auch vor, pro Jahr nur 360 Tage anzusetzen, weil diese Tagesanzahl an anderer Stelle genannt wird.* Es gibt also unterschiedliche Berechnungen, die unterschiedlich operieren und trotzdem jeweils zu einem schlüssigen Ergebnis kommen. Das zeigt: So verblüffend diese Berechnung ist, so begrenzt ist doch ihre Beweiskraft, weil es einfach sehr viele Variablen gibt.

Trotzdem finde ich den Befund insgesamt verblüffend. Schließlich konnte Daniel nicht annähernd wissen, wann der Messias kommt – so wie er ja auch nicht wissen konnte, dass er zur Sühnung von Sünden „ausgerottet“ wird. Egal, von wann bis wann man die 490 Jahre genau ansetzt: Der grobe Zeitraum vor der Zerstörung Jerusalems stimmt in jedem Fall. Und: Es ist jedenfalls möglich, dass die Zeitangabe von 490 Jahren auch ganz exakt so eingetroffen ist.

Und das ist noch nicht alles, worüber man in Bezug auf Daniels Jahrwochen staunen kann:

Die Kreuzigung fand am Passahfest und somit an einem extrem symbolträchtigen Termin statt: Beim Auszug aus Ägypten (dem Ursprung des Passahfestes) hat Isreal erlebt: Das Blut des Lammes schützt vor Gericht und Tod – genau wie es Christen in Bezug auf die Kreuzigung glauben. Daniels Jahrwochen bringen nun noch eine zusätzliche tiefgründige Symbolik ins Spiel: In Moses Gesetz war festgelegt worden, dass nach 7 x 7 (=49) Jahren ein sogenanntes Jubeljahr oder Erlassjahr folgen sollte, in dem alle Schulden erlassen werden. Hier ist aber nicht nur von 7 x 7 sondern von 70 x 7 Jahren die Rede. Das macht deutlich: Die Gnade Jesu ist noch einmal eine Dimension größer als die Gnade des Alten Bundes! Jesus hat mit seinem Sühnetod das ultimative Erlassjahr eingeläutet. Damit wird plötzlich verständlich, warum Jesus genau diese Zahlen verwendet, als er Petrus erklärte, wie oft wir unseren Schuldnern vergeben sollen (Matth. 18, 21-22)!

Mir zeigt das: Es geht hier um sehr viel mehr als um Zahlenspiele für Bibel-Freaks. Zahlen, Geschichten und Prophetien der Bibel sind oft höchst bedeutungsgeladen. Das heißt aber nicht, dass sie immer nur symbolisch gemeint sind. Gott ist der Herr der Geschichte! Reales Geschehen und Symbolik fließen bei ihm oft ineinander.

Ist das alles nicht erstaunlich? In Daniel 12, 4 lesen wir: „Du aber, Daniel, verschließe diese Worte und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes! Viele werden darin forschen, und die Erkenntnis wird zunehmen.“ Auch hier hat Daniel Recht behalten: Zahlreiche Theologen haben sich inzwischen mit den Vorhersagen Daniels befasst. Ob die hier geschilderten Deutungen und Daten alle so stimmen, weiß ich natürlich auch nicht genau. Ich finde: Das ist im Detail auch nicht so wichtig und bestimmt kein Grund zum Streiten. Aber für mich sind die 70 Jahrwochen Daniels jedenfalls ein weiteres Beispiel für die vielen faszinierenden buchübergreifenden Zusammenhänge und Querverweise in der Bibel und für die unglaubliche Treffsicherheit biblischer Prophetie. Daniel hat ja noch viel mehr phantastisch genaue Vorhersagen gemacht, vor allem über die nach ihm kommenden Königreiche, zum Teil sogar mit der genauen Nennung von Namen!

Für mich sind das ganz einfach jede Menge gute Gründe, der Bibel wirklich zu vertrauen.

*Weit verbreitet ist eine Deutung und Berechnung von Robert Anderson (weiter entwickelt von Harold Hoehner), in der ausgehend vom Nehemia-Dekret mit 360-Tage-Jahren bis zur Kreuzigung gerechnet wird. In dieser Kritik legt der Theologe Derek Walker dar, warum das nicht sachgerecht erscheint.

Siehe auch:

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