Prof. Gerhard Maier über die Auslegung der Schrift

In der Mediathek offen.bar wurde am 13. Juni 2022 der Grundlagenvortrag “Die Auslegung der Schrift” von Prof. Gerhard Maier veröffentlicht:

Nachfolgend die wichtigsten Aussagen von Prof. Gerhard Maier aus diesem Vortrag:

Gerhard Maier über…

… die Rolle des wissenschaftlichen Zweifels in der Bibelwissenschaft:

Die Bibel will ja die Begegnung von Gott und Mensch. Wie kann eine Begegnung seitens des Menschen stattfinden? Soll der wissenschaftliche Zweifel der Ausgangspunkt sein, wie es auf Seiten der historisch kritischen Theologie oft behauptet wird? Dann würden dem Verständnis zwei Barrikaden im Wege stehen:

  1. Der Zweifel verdichtet sich rasch zu einer grundsätzlichen Distanz, die eine echte Begegnung immer schwerer macht.
  2. Der Zweifel hat die Tendenz, sich zur Lösung seiner Fragen der Vernunft zu überlassen.

Damit erhält die menschliche Vernunft von Anfang an die Rolle eines Schiedsrichters und einer überlegenen Instanz. Weit besser ist es, von einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der biblischen Offenbarung zu sprechen. Um den Ton des Vertrauens und der Güte Gottes, der sie durchzieht, wahrzunehmen, ist ein anfänglicher Glaube sogar eine Hilfe. Er ist kein Vorurteil, das eine klare Sicht verhindern würde. Ein anfänglicher Glaube, eine anfängliche Offenheit, kann durchaus das leisten, was Johann Albrecht Bengel als die Notwendigkeit eines geziemend genauen Forschens bezeichnete.

… die Verlässlichkeit der Schrift:

Wie verlässlich ist das alles, was die Schrift sagt? Oder muss man unterscheiden zwischen Teilen, die verlässlich sind und eben Teilen, die dies weniger sind? Damit stehen wir an einer Grundsatzfrage, die sich stellt, seit es überhaupt eine schriftliche Überlieferung der Gottesoffenbarung gibt.

Auch hier nehmen wir unseren Ausgangspunkt bei Jesus. In vielen Gesprächen stellte er die Frage: „Habt ihr nicht gelesen?“ (Matthäus 12, 3; Lukas 10, 26). Diese Frage setzt voraus, dass das Gelesene richtig ist und eine vertrauenswürdige Auskunft gibt!

Das Gewicht der biblischen Offenbarung wird noch einmal größer, wenn Jesus davor warnt, sie an irgendeiner Stelle aufzulösen oder zu brechen (Matthäus 5, 19; Johannes 10, 35).

Und es unterstreicht die Verlässlichkeit der Schrift ein drittes Mal, wenn Jesus sagt, es werde alles geschehen, was in ihr geschrieben steht (Matthäus 5, 18).

Wir können die Linie von da aus weiter ziehen durch das ganze Neue Testament hindurch. Was Gott verheißen hat, durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, das ist nach Paulus vollkommen zuverlässig (Römer 1, 2). Wenn er die Frage stellt „Was sagt die Schrift?“ (Römer 4, 3), dann ist mit der Schrift die Grundlage alles christlichen Denkens in einer unangreifbaren Weise gelegt.

Dabei behandelt Paulus die Schrift als eine geschlossene Größe und so, als wäre sie eine sprechende Person.

Paulus behandelt die Schrift als eine geschlossene Größe und so, als wäre sie eine sprechende Person.

Wir sahen schon, dass diese Bewertung der Schrift aufs Engste mit der Überzeugung zusammenhängt, dass alle heiligen Schriften Israels, das Gesetz, die Propheten und die Psalmen durch Gottes Geist zustande gekommen sind, also durch die göttliche Inspiration. Wir erinnern uns jetzt erneut an 2. Timotheus 3, 16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Aber auch an die Aussage des Petrus im 2. Petrus 1, 21: „Getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.“ Paulus und Petrus werden ergänzt durch die Aussage des Johannes in der Offenbarung, wonach dort der Geist und die Braut gewisse und wahrhaftige Worte der Weissagung sprechen. Entscheidend ist für die Schriftauslegung, ob sie den Ausgangspunkt nun bei Menschen oder eben bei den Aussagen der biblischen Offenbarung nimmt.

Entscheidend ist für die Schriftauslegung, ob sie den Ausgangspunkt nun bei Menschen oder eben bei den Aussagen der biblischen Offenbarung nimmt.

… den Niedergang und die Notwendigkeit der biblische Inspirationslehre:

Es besagt viel, wenn ein gemäßigter Kritiker wie Peter Stuhlmacher in seinem Buch „Vom Verstehen des Neuen Testaments“ 1986 schreibt: „Die Inspirationslehre droht gegenwärtig zu verkommen oder ganz in Vergessenheit zu geraten.“ Die 1500 Jahre lang von den christlichen Lehrern und Lehrstühlen hochgehaltene Inspirationslehre wurde zuerst ermäßigt zur sogenannten Realinspiration, wonach nur bestimmte Aussagen der Schrift inspiriert seien, aber keineswegs alle. Die nächste Rückzugsstellung sah so aus, dass man auch nicht mehr bestimmte Aussagen für inspiriert betrachtete, sondern nur noch Personen. Bei einer solchen personalen Inspiration konnte man bestimmte Personen würdigen, war aber an keinerlei Inhalte mehr gebunden.

Keine dieser Rückzugsstellungen war hilfreich. Sie brachte nur Unsicherheit und ganz subjektive, ja gegensätzliche Einschätzungen dessen, was in der Schrift noch glaubwürdig sei. Wir müssen den Faden wieder dort aufnehmen, wo ihn die historische Kritik fallen ließ. Das heißt, wir müssen zur biblischen Inspirationslehre zurückkehren.

Wir müssen den Faden wieder dort aufnehmen, wo ihn die historische Kritik fallen ließ. Das heißt, wir müssen zur biblischen Inspirationslehre zurückkehren.

… die Frage nach der Irrtumslosigkeit der Schrift:

Am besten fasst man die biblische Inspiration dem biblischen Sprachgebrauch entsprechend unter dem Stichwort der Ganzinspiration zusammen, vergleiche noch einmal Paulus in 2. Timotheus 3, 16: „Alle Schrift von Gott eingegeben“, formuliert er dort. Auf diese Weise wird der Blick auf das Ganze der Schrift gerichtet. Man muss dann nicht jeden Ausfall eines Wortes in der Überlieferungsgeschichte, nicht jedes Schwanken der Handschriften bezüglich eines Begriffes, nicht jeden alltagssprachlichen Ausdruck statt des juristisch korrekten Ausdrucks als Belastung oder gar als Katastrophe betrachten. Wie klug waren hier die alten Ausleger! Angesichts von Verschiedenheiten in der Textüberlieferung schrieb Johann Albrecht Bengel am 24. Februar 1521 an seinen Schüler Jeremias Friedrich Reuss: „Iss Du einfältig das Brot, wie du es vorfindest, und kümmere dich nicht darum, ob du etwa hier und da ein Sandkörnlein aus der Mahlmühle darin findest.“

In der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der angelsächsischen, spielen Begriffe wie Irrtumslosigkeit, Fehlerlosigkeit oder Unfehlbarkeit eine Rolle. Diese haben an ihrem Ort, vor allem im Bereich der angelsächsischen Theologiegeschichte, ihre Berechtigung. Für uns, die wir aus der deutschen, kontinentalen, von Luther und vom Pietismus geprägten Theologiegeschichte kommen, legen sich andere Begriffe näher. Ich nehme als Beispiel Luthers Äußerungen über die Heilige Schrift von 1520: „Die Schrift ist die Allergewisseste, die leichtest zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller bewährt, urteilt und erleuchtet.“ Zweifellos ist hier die Sprache Luthers näher an der Bibel. Die Hypothek auf Begriffen wie Irrtumslosigkeit oder Unfehlbarkeit ist die, dass sie in der Bibel nicht gebraucht werden. Dafür steht anderes im Vordergrund in der Bibel: „Dein Wort ist die Wahrheit.“ (nach Johannes 17, 17). Oder die Versicherung: „Gott ist treu.“ (1. Korinther 1, 9). Besser sollte man daher von der Wahrheit und der vollkommenen Verlässlichkeit der Schrift sprechen.

… die Unterwanderung der Autorität der Schrift durch Nebeninstanzen:

Wer nach der Autorität der Schrift fragt, steht auch vor der Frage, welcher Instanz unsere Schriftauslegung verpflichtet ist. Traditionell wird hier schnell das Lehramt in der katholischen Kirche genannt. Im Vatikanum 2 ist festgehalten: Alles, was die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen. Damit war die römisch-katholische Kirche in der Lage, über die Jahrhunderte hinweg am Kern ihrer kirchlichen Lehre festzuhalten. Zugleich aber ist klar, dass hier eine zweite Instanz neben der Schrift errichtet wurde. Das reformatorische Bekenntnis, dass die Schrift allein Königin sei, und eine solche hohe Wertung des kirchlichen Lehramts in der Glaubenslehre schließen sich gegenseitig aus.

Das reformatorische Bekenntnis, dass die Schrift allein Königin sei, und eine solche hohe Wertung des kirchlichen Lehramts in der Glaubenslehre schließen sich gegenseitig aus.

Aber wie steht es mit weiteren Instanzen neben oder gar über der Schrift in der weiteren Geschichte des Protestantismus?

Wir zitieren noch einmal aus dem theologisch politischen Traktat von Baruch de Spinoza (1670 erschienen). In seinem 6. Kapitel von den Wundern findet sich die Feststellung, dass alles nach den Naturgesetzen geschieht. Was ist dann aber mit den Wundern der Bibel? Auch hier bleibt Spinoza ganz stringent. Findet sich irgendetwas – schreibt er – von dem man unumstößlich beweisen kann, dass es den Naturgesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten lässt, so muss man ohne Weiteres annehmen, dass es von Frevlerhänden in die Heilige Schrift eingefügt worden ist. Damit ist völlig klar, dass unsere menschliche Vernunft darüber urteilen muss, ob das in der Schrift Niedergeschriebene den Rang einer göttlichen Offenbarung haben kann. Das Primat der Vernunft war errichtet, und diesem Primat folgte die protestantische Theologie mehr und mehr, bis es auch Einfluss in der katholischen Theologie gewann.

Der amerikanische Theologe Shailer Matthews konnte um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert sagen, er behandle die Bibel und die intellektuelle Redlichkeit mit gleichem Respekt. Das heißt nichts anderes, als dass die Vernunft die letzte und höchste Autorität beansprucht.

Schlägt man den Weg ein, zuerst die biblische Offenbarung selbst zu hören, dann muss man auch ihren Anspruch auf Autorität ernst nehmen. Man kann sich nicht als Schrifttheologe oder Bibellehrer bezeichnen, wenn man diesen Anspruch beiseiteschiebt.

Schlägt man den Weg ein, zuerst die biblische Offenbarung selbst zu hören, dann muss man auch ihren Anspruch auf Autorität ernst nehmen. Man kann sich nicht als Schrifttheologe oder Bibellehrer bezeichnen, wenn man diesen Anspruch beiseiteschiebt.

… die Grundlage der biblischen Autorität:

Die Wurzel der biblischen Autorität liegt in dem schlichten und doch einzigartigen Satz der Bibel: „Und Gott sprach.“ Wenn das wahr ist, dann bleibt ihre Autorität in diesen einzigartigen Reden Gottes begründet. An dieses Wort hat sich Gott nach den Aussagen der Schrift gebunden. Er hat es zum Ort der Begegnung mit uns bestimmt. Die Schriftautorität ist also im Grunde die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.

Die Schriftautorität ist die Personenautorität des hier begegnenden Gottes.

… den Umgang mit Wundern in der Bibel:

Altchristliche Theologen in der Antike begründeten die Autorität der Bibel sogar mit der Tatsächlichkeit der dort berichteten Wunder. Aber nicht nur sie, auch die Reformationstheologen Melanchthon und Flacius zogen sie zur Begründung der Schriftautorität heran. Dann aber wurden solche Wunder zunehmend verdächtig. Weil die Vernunft zur obersten Instanz der Auslegung wurde, kam es zu eigenartigen Deutungen. Beispielsweise deutete Christoph Matthäus Pfaff (1686 – 1760, Kanzler der Universität Tübingen) Jona 2 so, dass Jona von einem Schiff namens Walfisch aufgenommen wurde. Eine erste Spitze erreichte diese Entwicklung bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Ihm zufolge sind eigentliche Wunder unmöglich. Nicht anders Ferdinand Christian Baur, der ja einen ganz weiten Einfluss auf die Theologie des 19. Jahrhunderts hatte. Gegenüber dieser Entwicklung, die ja bei Bultmann zu einer radikalen Ablehnung der Wunderwelt des Neuen Testaments geführt hatte, muss allerdings auch zitiert werden, dass die päpstliche Kommission noch 1964 an dem Eingreifen des persönlichen Gottes in der Welt und der Möglichkeit und Tatsächlichkeit von Wundern in der Bibel festhielt. Jedenfalls: Wer sich der Spur der historisch kritischen Theologie anschließen will, kann die biblischen Wunder nicht mehr bejahen.

Und um dem Gegenüber das Anliegen einer biblischen Theologie noch einmal zu unterstreichen: Sie hält an dem Reden Gottes auch dort fest, wo er in seine Wunderkraft Einzigartiges vollbringt.

… die enorme Bedeutung der Klarheit der Schrift:

Es verwundert, mit welcher Energie Martin Luther gerade auf die Klarheit der Schrift hingewiesen hat. So steht es ja in seiner „Assertio omnium articulorum“: Die Schrift sei die leichtest Zugängliche, die Allerverständlichste. Im Vertrauen darauf gaben die Reformatoren die Bibel jedem in die Hand, richteten ein bewundernswertes Schulwesen ein. Evangelische Slowenen verbreiteten die Botschaft in ihrem Land so wie Primus Truber (1508 bis 1586), der bei uns in Derendingen begraben liegt. Die Württemberger richteten in dem kleinen Urach eine Druckerei ein, druckten slowenische Bibeln. Helfer brachten sie über die Karawanken. All dies wäre undenkbar gewesen, hätte dahinter nicht die Überzeugung gestanden, dass jeder Mensch in der Lage ist, die Gotteserfahrung und Gottesoffenbarung in der Bibel angemessen zu verstehen. Das ist heute noch die Überzeugung in unseren württembergischen Stunden.

… den Umgang mit den dunklen Stellen in der Schrift:

Die alten Kirchenlehrer und die alte reformatorische Theologie antworteten, dass alles Heilsnotwendige klar sei. Das wird man kaum bestreiten können. Ebenso wichtig ist die allgemein christliche Erfahrung, dass man dunkle Stellen aus den hellen erklären kann. Von da aus bewährt sich der alte und von Luther erneut betonte Grundsatz, dass die Schrift sich selber auslegt. Wer Schrift mit Schrift auslegt, macht immer wieder die beglückende Erfahrung, dass sich der Zusammenhang und die Bedeutung der Schrift immer neu erschließt. Auch den sogenannten schlichten Christen. „Nimm und lies!“ – „„Tolle Lege!“ – Dieser Schlüsselsatz von Augustinus bewährt sich immer neu.

… bibeleigene Aussagen zur Klarheit der Schrift:

Ist es nicht die biblische Offenbarung selbst, die von ihrer Klarheit spricht? Schon das Mosegesetz ermutigt zu ihrem Studium: „Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu hoch für dich und ist dir nicht zu fern.“ (5. Mose 30, 11) Im Römerbrief, der gewiss nicht immer leicht zu lesen ist, nimmt Paulus diese Ermutigung auf: „Das Wort ist dir nahe in deinem Munde und in deinem Herzen.“ (Römer 10, 8) Micha konnte ganz allgemeinverständlich reden: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6, 8)

Fassen wir zusammen: Die biblische Offenbarung selbst sagt aus, dass sie für jedermann zugänglich und genügend verständlich sei.

Die biblische Offenbarung selbst sagt aus, dass sie für jedermann zugänglich und genügend verständlich sei.

… das Verständnis der Einheit der Schrift bei Luther und im Pietismus:

Ich erinnere mich daran, dass Ernst Käsemann einmal einen Neutestamentler aus Mainz eingeladen hatte, um über Einheit und Widersprüche im Neuen Testament zu sprechen. Der lebhafte Vortrag endete mit der Widersprüchlichkeit des Neuen Testaments und mit dem Satz: Nun sehen sie zu, wo Sie sich ansiedeln. Es ist allerdings nicht nur in der universitären Theologie so, dass die Aussage von der Widersprüchlichkeit der Bibel selbstverständlich geworden ist. Das war am Anfang der Kirche anders. Dazu nur wenige Beispiele:

In der Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus schrieb Justin, der als Märtyrer starb, in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon: „Ich bin schlechterdings überzeugt, dass keine Schriftstelle einer anderen widersprechen kann.“ Noch stärker spitzte dies Augustinus zu. Er schrieb ein eigenes Werk („De consensu Evangelistarum“- „Über das übereinstimmende Zeugnis der Evangelisten“) und äußerte sich darin ganz scharf gegen diejenigen, die den Evangelisten Widersprüche unterschieben wollten. Er nannte die Behauptung der Widersprüchlichkeit das Prunkstück der Eitelkeit.

Wieder beobachten wir, dass diese Linie bei Luther und dem Pietismus fortgeführt wurde. Luther konnte ja doch sagen, die biblische Offenbarung sei die allergewisseste und eine, die sich selber auslegt. Hier ist also die biblische Offenbarung als eine einheitliche Größe verstanden.

Für Johann Albrecht Bengel ist die Schrift ein zusammenhängender, wunderbarer Organismus. Ich zitiere ihn: „Jedes Wörtchen ist aus dem Heiligen Geist hervorgegangen.“ Bengel nimmt sehr wohl die Vielfarbigkeit der biblischen Aussagen wahr. Da er aber die Bibel heilsgeschichtliche auslegt, sagt er: „Unterscheide die Zeiten, dann stimmt die Schrift zusammen.“ Er ist nicht einmal bereit, die manchmal abschätzigen Urteile Luthers über den Jakobusbrief nachzuvollziehen. Nein, sagt er, der ganze Brief geht aus jener neuen Christenheit hervor.

… die Formel Martin Luthers „Was Christum treibet“:

Oft wird behauptet, Luthers Formel, „was Christum treibet“ sei die Mitte der Schrift für ihn und auch die Möglichkeit, Widersprüche in der Schrift wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen. Das ist ein grober Fehlschluss. Denn für Luther ist eine Formel wie „was Christum treibet“ eine Richtungsanweisung für die Auslegung, so wie etwa bei Irenäus Johannes durchaus seine eigene Verkündigung hat und dennoch denselben Glauben verkündete wie die anderen Evangelisten.

… die Grundlage für die Einheit der Schrift:

Die Einheit der Schrift wird zunächst durch ein dreifaches begründet:

  1. Durch den einen Urheber, den sie hat, nämlich Gottes Heiligen Geist.
  2. Dadurch, dass alle Bücher der Bibel zum Glauben an den einen, denselben Gott aufrufen. Dass der Gott des Alten Testaments ein anderer sei als der Gott des Neuen Testaments ist eine eindeutige Irrlehre. Dagegen haben sich schon die alten Kirchenlehrer mit aller Energie gewehrt.
  3. Ein dritter Grund liegt darin, dass der Gott, der sich in der Schrift offenbart, eine Geschichte geschaffen hat, die alle Glaubenden aller Zeitalter verbindet.

… die Einheit der Schrift als Grundlage für den Kampf gegen Irrlehre:

Sollte die christliche Theologie jemals die Erkenntnis von der Einheit der Schrift aufgeben, dann wäre es unmöglich, den Kampf gegen die Irrlehren zu führen.

Sollte die christliche Theologie jemals die Erkenntnis von der Einheit der Schrift aufgeben, dann wäre es unmöglich, den Kampf gegen die Irrlehren zu führen.

Denn jede Irrlehre, angefangen von den Gegnern der Apostel über die Gnostiker und Leugner der Dreieinigkeit bis hin zur modernen Losung „Wir haben alle denselben Gott“ eignet sich Bruchstücke aus der Bibel an. Nur der Zusammenhang der ganzen Schrift bewahrt uns darin, dass wir nach Philipper 3, 10 das Ganze Erlösungshandeln Gottes erkennen.

… das Schriftverständnis von Karl Barth:

Das Wirken von Karl Barth (1896 bis 1968) überspannt ein rundes halbes Jahrhundert. Bis heute genießt er besondere Wertschätzung wegen seines Widerstands gegen den Nationalsozialismus und später auch gegen die Entmythologisierungstheologie. Was seine Hermeneutik betrifft, so ist dafür grundlegend die Annahme von einem dreifachen Wort beziehungsweise von drei Gestalten des Wortes Gottes. Die erste dieser Gestalten ist die eigentliche Offenbarung, das Wort hinter den Wörtern. Sie geht nur gebrochen in die Bibel, die schriftliche Gottesoffenbarung ein. Was wir dann vorliegen haben, ist also nur ein Zeugnis von der Offenbarung, ein Zeugnis, das durchaus kritisch zu bearbeiten ist. Anders formuliert: Wir müssen unterscheiden zwischen dem Wortlaut und dem, was dahinter da ist.

Aber Gottes Wort steht nicht hinter den Worten der Bibel, so dass wir es erst herausdestillieren müssten. Gott redet zu uns im Wort der Bibel, wie es ist. Hier lässt er sich von uns finden. Karl Barth hilft uns also nicht aus dem Dilemma heraus, in das uns die historisch kritische Methode mit ihrer Zerstörung der überlieferten Inspirationsquelle und ihrer Vorordnung der menschlichen Vernunft vor der göttlichen Offenbarung gebracht hat. Viel empfehlenswerter ist es, den Anschluss an das altchristliche, das reformatorische und pietistische Schriftverständnis zu suchen.

… „gemäßigte Kritik” an der Bibel:

Und was ist mit der sogenannten gemäßigten Kritik? Sie wurde und wird vor allem von Peter Stuhlmacher vertreten, mit dem mich persönlich manches verbindet. Er äußerte auch Verständnis für die Ablehnung der historisch kritischen Methode und findet freundliche Worte für diejenigen, die sie ablehnen. Ja, er kann von gravierenden Fehlleistungen der historischen Kritik sprechen. Dennoch will er nur die Einseitigkeiten der radikalen Kritik korrigieren. Jedoch soll die historisch kritische Arbeit an der Bibel weiterhin für unaufgebbar gelten. Wie sieht das aus?

Er kann einerseits auf die hermeneutisch fundamentale Bedeutung der Lehre von der Schriftinspiration neu hinweisen. Ja, er stimmt zu, dass eine biblische Hermeneutik wirklich primär von der Schrift her entwickelt werden muss. Dann aber folgt eine Wende. Nicht nur vor der Schrift allein, sondern auch vor dem kritischen Wahrheitsbewusstsein unserer Zeit, müssten wir uns verantworten. Damit sind wir wieder vor zwei Instanzen, die eine Sachkritik an der Bibel erlauben.

Die wichtigste hermeneutische Entscheidung bleibt also nach wie vor diejenige, ob die Instanz der Offenbarung wirklich die erste und entscheidende bleibt und ob wir von daher die Sachkritik an der Bibel überwinden.

Die wichtigste hermeneutische Entscheidung bleibt diejenige, ob die Instanz der Offenbarung wirklich die erste und entscheidende bleibt und ob wir von daher die Sachkritik an der Bibel überwinden.

… die Notwendigkeit auf eine schriftgemäße Schriftauslegung:

Zuerst und zuletzt: Wir brauchen eine schriftgemäße Schriftauslegung! Unsere Begriffe, unsere Gedanken, unsere Schlüsse müssen sich auf die biblische Offenbarung selbst stützen.

Wir brauchen eine schriftgemäße Schriftauslegung!

… die Notwendigkeit, am reformatorischen und pietistischen Schriftverständnis anzuknüpfen:

In ihrer Rolle als erste und entscheidende Instanz ist sie durch nichts zu ersetzen und auch durch nichts zu ergänzen. Wir können und sollen wieder dort anknüpfen, wo Luther in aller Schlichtheit sagen konnte, dass die Schrift durch sich selber sei die allergewisseste, die leichtest Zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller Worte bewährt, urteilt und erleuchtet, an einen Luther, der selber in dieser Position auf den Schultern der Kirchenväter stand. Leider hat die protestantische Forschung die Kirchenväter viel zu oft übergangen.

Wir haben nun freilich auf evangelischer Seite nicht nur das Beispiel Luthers und der frühen Reformatoren, es ist daneben die reiche pietistische Schriftauslegung zu bedenken. Noch einmal sei der Name Johann Albrecht Bengels erwähnt. Für ihn war ja die Einheit von Altem und Neuem Testament eine feste Voraussetzung. Nicht unterschlagen sei dabei sein Urteil über die damalige Aufklärung: Sie, so sagt er, richtet in Ecclesia Lutherana [d.h. in der Kirche Luthers] schreckliche Gräuel an. Wenn wir uns also außer an den Kirchenvätern und Luther beziehungsweise der frühen reformatorischen Schriftauslegung auch am Pietismus orientieren, dann nehmen wir in der Tat ein reiches Erbe auf.

… die zentrale Weichenstellung der Christenheit:

An der Bibelfrage wird sich nicht nur das Schicksal des Protestantismus, sondern auch weithin das Schicksal des Christentums entscheiden.

An der Bibelfrage wird sich das Schicksal des Christentums entscheiden.

Aber das Schönste an der Bibel bleibt: Es trifft ein, was sie sagt.

Schreibe einen Kommentar