Lieber Andreas Malessa…

Gedanken zu einem Buch über gefährliche Konservative

Lieber Andreas Malessa,

vielen Dank, dass Sie ein Buch für mich geschrieben haben! Es richtet sich ja an „Konservative, die fürchten, dass man der Bibel untreu wird, wenn man den Liberalen glaubt“. (S. 10) Und ja, ich gestehe: Ich bin einer davon.

Vielleicht hat das ja mit meiner Biografie zu tun. Ich bin evangelisch. Ich erlebe hautnah, was Ihnen Reinhold Scharnowski im Livenet-Gespräch gesagt hat: „Die Bibelkritik hat einen ziemlichen theologischen und geistlichen Kahlschlag in der Kirche angerichtet.“[1] Wie wahr. Bei vielen evangelischen Gemeinden muss man eigentlich nur noch klären, wer als letztes das Licht ausmacht. Dabei wären die Voraussetzungen noch immer super. Vom Steueraufkommen und vom Gebäudebestand der Landeskirche können die meisten freien Gemeinden nur träumen. Trotzdem geht es ihnen im Schnitt weit besser. Und mir fällt auf: Die wachsenden und blühenden Gemeinden, die ich kenne, wollen allesamt mit bibelkritischer evangelischer Theologie nichts am Hut haben. Ich werde den Eindruck nicht los: Liberale Theologie tut Kirchen und Gemeinden nicht gut.

Wer genau sind eigentlich die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“?

Sie sehen das genau anders herum, richtig? Zumindest sagen Sie ja: Unter den Evangelikalen „richtet ein fundamentalistisches Verständnis der Bibel mehr Schaden an als eine Bibelkritik, die eigentlich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch irgendwie zu Ende gegangen ist.“[2] Hab ich was verpasst? Hat an den evangelischen Fakultäten jemand gesagt: Wir lassen das jetzt mal lieber mit der Bibelkritik? Da würde ich gerne mehr erfahren. Aber wie auch immer, Sie sagen jedenfalls: „Religionspädagogisch gefährlich“ für die Kirche Jesu seien nicht die Bibelkritiker, sondern die „ultraevangelikalen Fundamentalisten“.[3] Und deshalb zielen (Reinhold Scharnowski spricht gar von „schießen“) Sie in Ihrem Buch vor allem in diese Richtung.[4] Dass das Wort „Fundamentalist“ inzwischen ein „allgemeines Schimpfwort“ ist, schreiben Sie ja selbst (S. 129). Trotzdem verwenden Sie es andauernd. Sind da wirklich so viele üble Gesellen unterwegs, dass Sie ihnen weite Strecken ihres Buchs widmen müssen? Und wen genau meinen Sie eigentlich? Bin am Ende womöglich auch ich gemeint? Stehe ich auch in der Schusslinie? Das habe ich mich nach der Lektüre Ihres Buches gefragt.

Als ich dann Ihr Livenet-Interview zu Ihrem Buch gesehen habe, habe ich mich erst einmal wieder entspannt. Denn offenbar zielen Sie ja auf Leute, die in Bezug auf die Bibel sagen, “man dürfe nicht oder man solle nicht über ihren Entstehungsprozess und über die Intention und die Kultur und den Kontext der Autoren sprechen.”[5] Also da kann ich Sie beruhigen. In meinem Buch „Zeit des Umbruchs“ berichte ich, dass ich eine gründliche Bibelwissenschaft, die Kultur und Kontext erforscht, um die Aussageintention des biblischen Autors sauber herauszuarbeiten, sehr schätze. Und in den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist mir auch noch niemand begegnet, der das anders sieht. Darf ich fragen: Wo tummeln sich denn diese gefährlichen Leute eigentlich?

Können Konservative die Textgattungen nicht auseinanderhalten?

Außerdem sind Sie sichtlich genervt von Leuten, die glauben: Gott hat die Erde in 6 Tagen geschaffen und “die Fossilien hat Gott da selber hingelegt … Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen.“[6] Ich bewege mich ja seit Jahrzehnten gerne auch im Umfeld der Studiengemeinschaft Wort und Wissen. Die nennen Sie in Ihrem Buch ja explizit als kreationistische „Lobby-Organisation“.[7] Aber komisch: Auch dort ist mir noch nie jemand begegnet, der glaubt, dass Gott die Fossilien selbst verbuddelt hätte. Ich kenne auch niemand, der den Glauben an die 6-Tage-Schöpfung für genauso wichtig hält wie den Osterglauben. Aber Sie sind ja Journalist. Gibt es Quellen und Zitate aus Deutschland, die ich nachschauen könnte?

Was Sie darüber hinaus stört ist, wenn „poetische Texte … naturwissenschaftlich missverstanden werden.“[8] Deshalb geben Sie in Ihrem Buch ein wenig Nachhilfeunterricht. Sie schreiben: „»In unseren Herzen ging die Sonne auf!« seht auf dem Cover der Klappkarte mit dem Babyphoto. Und innen: »Tobias, 13. März 2023, 4.30 Uhr, 337 Gramm, 51 cm.« Der erste Satz ist eine Metapher, der zweite eine Sachinfo.“ (S. 72)

Das leuchtet ein. Nur frage ich mich: Wo sind denn die Leute, die solche Unterschiede nicht verstehen? Ich kenne niemand, der auf Basis von 1. Mose 1,14 („An der Wölbung des Himmels sollen Lichter entstehen.“) nach einem buchstäblichen Himmelszelt sucht, an dem Scheinwerfer montiert sind. Aber ich kenne durchaus Leute, denen auffällt, dass das mit dem Schöpfungsakt beginnende Geschlechtsregister in 1. Mose 5 in etwa so unpoetisch klingt wie ein Telefonbuch. Und schon ab 1. Mose 2 finden sich detaillierte geografische Beschreibungen, Ortsnamen, Zeit-, Maß- und Altersangaben – eben ganz wie im Innentext Ihrer Klappkarte. Meine Freunde bei Wort und Wissen sagen deshalb: Ganz offenkundig wollte der Autor der Genesis nicht nur Poesie sondern auch Sachinfos weitergeben. Genau so sieht das übrigens auch der ganze Rest der Bibel. Und fast die komplette Kirchengeschichte. Und ja: Gemäß Ihrem Vergleich oben müsste das doch eigentlich auch ganz in Ihrem Sinne sein, oder? Sollten wir nicht ehrlich mit der Bibel umgehen und darauf achten, dass sachlich gemeinte Texte nicht zur Poesie umgedeutet werden, nur damit wir uns um schwierige Auslegungsfragen drücken können?

Sie schreiben in Bezug auf Christen, die in der biblischen Beschreibung der Erschaffung der Arten auch historische Elemente sehen: „Schöner wär’s, wenn gläubige Christinnen und Christen beim Bibellesen nicht das Denken aufgäben…“ (S. 66) Diesen Wunsch teilen wir. Aber haben Sie meine Freunde von Wort und Wissen schon einmal persönlich kennengelernt? Ich kenne nur wenige Christen, die Fragen im Bereich Glaube und Naturwissenschaft so gründlich und selbstkritisch durchdenken wie sie. Interviewen Sie doch mal jemand von ihnen! Fragen Sie am besten gleich auch noch nach dem Unterschied zwischen Intelligent Design und Kreationismus, die sie bei Ihren Ausführungen zur Bakteriengeißel leider durcheinanderwerfen. Und diskutieren Sie mal mit ihnen über das von Ihnen aufgewärmte Bonhoeffer’sche Lückenbüßerargument. Oder lesen Sie in meinem Artikel nach, warum ich dieses Argument angesichts der modernen wissenschaftlichen Trends für überholt halte.[9] Vielleicht ist ja doch nicht alles so schwarz-weiß, wie Sie das darstellen?

Ist Verbalinspiration ein fundamentalistischer Diktatglaube?

Aber gut, jetzt ist es raus: Ich schätze die Studiengemeinschaft Wort und Wissen sehr. Bin ich jetzt doch auch einer von den „ultraevangelikalen Fundamentalisten“, die Sie so gefährlich finden? Zumal ich auch der Verbalinspiration sehr viel abgewinnen kann. Ich glaube tatsächlich, dass nicht nur die Autoren, sondern gerade auch die Texte der Bibel vom Heiligen Geist inspiriert sind. Dazu schreiben Sie:

„Gott sei Dank hat Gott nicht alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Er hat den Menschen sein Wort gegeben. Nicht seine Wörter. Die stammen von Menschen. Darum sollen wir Gott zwar beim Wort, aber die Bibel um Gottes Willen nicht wörtlich nehmen!“ (Zitat Heinz Zahrnt, S. 61) „Evangelien und Briefe des NT sind von Menschen aufgeschrieben und zusammengestellt worden, die von Gottes Geist inspiriert waren. Fundamentalisten haben daraus die These einer »Verbal-Inspiration« gemacht, eines göttlichen Diktats, bei dem den Verfassern von magischer Hand der Griffel geführt wurde: »Es ist ganz sicher, dass die Offenbarung sich bis ins einzelne Wort hinein erstreckt.« Die Frage wäre bloß: In welches einzelne Wort aus welcher Übersetzung? Ohne nähere Begründung wird postuliert: »Der Kanon ist gottgewollt.«“ (S. 124-125)

Das Buch, aus dem Sie die beiden letzten Zitate entnommen haben, wurde von Stephan Holthaus (dem Direktor der Freien Theologischen Hochschule Gießen) und Karl-Heinz Vanheiden (dem Verfasser der Neuen evangelistischen Übersetzung) herausgegeben. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute nicht unterscheiden können zwischen Urtext und Übersetzung? Und haben Sie sie mal gefragt, ob sie tatsächlich an eine Diktattheorie glauben?

Ich selbst bin der Überzeugung: Die Bibel ist zugleich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort. Das heißt: Menschen haben geschrieben. Bei vollem Bewusstsein. Ihre Perspektive, ihr spezieller Schreibstil und ihre Erfahrungshintergründe sind im Text ja unverkennbar. Von einem „Diktat“ ist das weit entfernt. Von einer „magischen Hand“ erst recht (außer bei den 10 Geboten, siehe 2. Mose 31,18). Aber auch ohne Diktat glaube ich: Der Heilige Geist hat die Worte so tief geprägt („durchhaucht“), dass sie zugleich ganz und gar dem Wesen und der Wahrheit Gottes entsprechen. Deshalb verlasse ich mich darauf: Gott hat wirklich alles gesagt und getan, was in der Bibel über ihn geschrieben steht. Jedes Wort des Urtexts ist verlässlich wahr. „Ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt.“ So haben es die bunt zusammengewürfelten christlichen Leiter aus aller Welt in der Lausanner Verpflichtung formuliert. Hat ihnen dieser „Bibelfundamentalismus“ geschadet? Thorsten Dietz schreibt zum evangelikalen Aufbruch des letzten Jahrhunderts:

„Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese.“[10]

Also irgendwie scheint dieses oft geschmähte hohe Vertrauen in die Autorität und Verlässlichkeit der Bibel der Kirche doch eher gut zu tun. Oder was meinen Sie?

Leiden Konservative an Spalteritis?

Jetzt schreiben Sie aber: Vor allem die Konservativen seien schuld an Konflikten unter Christen, weil „sich fast immer die Konservativen von den Liberalen trennen und dann die Konservativeren von den Nichtgenug-Konservativen.“ (S. 127) Sind Sie sich da sicher? Kürzlich waren bei uns an der Uni Tübingen die „Hochschultage“. Christen aus mehreren Gruppen haben sich fröhlich zusammengetan, um ihren Mitstudenten von Jesus zu erzählen. Wunderbar! Nur: Den liberalen volkskirchlichen Hochschulgruppen hat das nicht gepasst. Ohne das Gespräch zu suchen, haben sie Queerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Ähnliches gewittert. Sie haben sogar eine Gegendemo organisiert. Weil auch sie diese „fundamentalistisch-christlichen Kreise“ offenbar gefährlich finden. Wie traurig.

Ja, Sie haben recht: Die Evangelikalen streiten und spalten sich manchmal. Aber Streit ist nicht immer schlecht. Paare, die streiten, ringen noch umeinander. Erst wenn der Streit aufhört, ist die Ehe tot. Meine Beobachtung ist: Wenn der Umgang mit der Bibel beliebig wird, dann geschieht etwas schlimmeres als Streit: Man entfremdet sich. Weil man nicht mehr weiß, was eigentlich das gemeinsame Anliegen ist. Weil es nichts mehr gibt, was man ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen kann. So erlebe ich das in meiner evangelischen Kirche. Deshalb ahne ich: Wenn der EKD eines Tages die Kirchensteuermittel ausgehen, wird sie sich nicht streiten, nicht spalten, sondern sich ganz einfach auflösen. Und die streitbaren Konservativen werden weiter das Evangelium verbreiten. Und dafür werden sie sich immer wieder auch zusammenfinden. So wie in der Lausanner Bewegung. Oder bei den Hochschultagen. Oder wie im nächsten Jahr bei der Konferenz JESUS25, die ich mit auf den Weg bringen durfte. Wetten, dass?

Geht es den Konservativen nur um Sex?

An anderer Stelle im Buch trauen Sie den Konservativen dann doch plötzlich wieder erstaunlich viel Weite und Großzügigkeit zu. Sie glauben, dass Konservative sagen: „»Wir können alles Mögliche tolerieren. Außer Segen für Schwule.« Kern- und Grundsatz-Fragen, die 1.000 Jahre lang die Orthodoxen und Katholiken, 500 Jahre lang die Reformierten und Lutheraner, 400 Jahre lang die Methodisten, Baptisten, Mennoniten, Quäker und Pfingstler beschäftigten und voneinander trennten (!) – die Trinität Gottes, der Kreuzestod Jesu, der Auferstehungslaube, die Rolle der Geistesgaben, die Amtsautorität der Priester, die Säuglings- oder Gläubigentaufe, die Zugehörigkeit zur Gemeinde, das Abendmahl, die Beichte, der Gottesdienst – sind schlagartig weder Bekenntnisfragen noch Unterscheidungsmerkmal! Alles wurscht, alles marginal! Die neue Gretchenfrage der Rechtgläubigkeit lautet: »Segnet und traut ihr gleichgeschlechtliche Paare? Dürfen LGBTQ’ler bei euch mitarbeiten?« Daran, und nur noch daran, entscheide sich Wachstum oder Schrumpfung von Gemeinden. Verweisen die Abgelehnten dann darauf, dass derselbe Paulus gesagt hat: »Ihr seid alle Kinder Gottes, weil ihr durch den Glauben mit Christus verbunden seid. Ihr habt in der Taufe Christus angezogen und durch sie gehört ihr nun zu ihm. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, Sklaven oder freie Menschen, Männer oder Frauen, denn durch eure Verbindung zu Christus Jesus seid alle wie ein Mensch geworden« – dann ist ein Bibelvers-Battle eröffnet, die Praxis einer »Pick-and-choose-Mentalität und selektive(n) Bibeltreue«, die erfahrungsgemäß in abseitiges Sektierertum führt, den christlichen Glauben in Verruf bringt, vor allem aber: Schwule lesbische und Transmenschen verbittern lässt.“ (S. 59/60)

Auch hier würde ich Sie gerne fragen: Von welchen Leuten reden Sie genau? Ich kenne viele konservative Vertreter zu diesem Thema. Sie sagen allesamt: Es geht in den aktuellen Debatten zwischen Progressiven und Konservativen im Kern nicht um Sex. Sondern um das Bibelverständnis. Um die Kreuzestheologie. Um das Evangelium. Also um den innersten Kern unseres Glaubens. Auch dazu würde ich Ihnen gerne mein Buch „Zeit des Umbruchs“ ans Herz legen.

Und nein: Niemand von ihnen macht sich die Frage leicht, welche biblischen Aussagen kulturell zeitbedingt zu verstehen sind und welche zeit- und kulturübergreifend normativen Charakter haben. Viele Konservative würden liebend gerne bei den Sexualethikthemen dem Mainstream folgen und sich die Konflikte ersparen, die man sich mit einer konservativen Position einhandelt. Sie suchen sich dieses Thema nicht aus. Aber sie merken nun einmal: Die Aussagen zu „verbotenen sexuellen Beziehungen“ („porneia“)[11] haben in der Bibel eine völlig andere Klarheit, Durchgängigkeit und Eindeutigkeit und zudem ein viel größeres Gewicht als beispielsweise Fragen zum Kopftuch oder zur Gebetshaltung. Deshalb ist ihr Gewissen bei diesem Thema (wie ich finde zurecht) durch die Worte Gottes gefangen.

Bringen Sie damit den christlichen Glauben in Verruf? Führen Sie die Kirche in ein abseitiges Sektierertum? Ich will dazu den Theologen N.T. Wright zitieren: „Während der gesamten ersten christlichen Jahrhunderte, als jede Art von Sexualpraktik, die in der Menschheit jemals bekannt war, in der antiken griechischen und römischen Gesellschaft weit verbreitet war, bestanden Christen wie Juden darauf, dass die ausgelebte Sexualität auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu beschränken sei. Heute wie damals denkt der Rest der Welt, das sei verrückt.“[12]

Könnte es sein, dass auch Sie in diese Richtung denken? Jedenfalls hat mich diese Passage in Ihrem Buch geschmerzt. Es tut mir weh, wenn Sie so viele Geschwister der weltweiten und historischen Christenheit, die es sich mit diesem Thema überhaupt nicht leicht machen und die ihr Bestes geben, um allen Menschen jesus-mäßig zu begegnen, pauschal in eine menschenverachtende Sektenecke schieben. Lieber Andreas Malessa, ich glaube, das können Sie besser.

Ja, es gibt sie: Die reflektierten Evangelikalen

Vielleicht können Sie für Ihr nächstes Buch ja noch ein wenig mehr recherchieren über reflektierte Evangelikale, die den Urtext der Bibel für verbalinspiriert und deshalb in einem bestimmten Sinn auch für unfehlbar halten[13], die aber zugleich Textgattungen unterscheiden, den historischen und heilsgeschichtlichen Kontext beachten und zudem liebe- und respektvoll mit Menschen umgehen, die in sexualethischen und anderen Fragen anderer Meinung sind. Ich kenne wirklich viele solche Leute. Es sind wunderbare Zeitgenossen, die Sie unbedingt kennenlernen sollten! Vielleicht merken Sie: Diese Leute sind alles andere als perfekt. Manchmal sind sie auch ein wenig schräg. Aber gefährlich sind sie nicht.


[1] Relevanz der Bibel im 21 Jahrhundert | Gespräch mit Andreas Malessa, Interview Livenet Schweiz von Reinhold Scharnowski am 29.2.24, https://youtu.be/eE5rYmPjap0, 21:50

[2] ebd. 23:05

[3] ebd. 24:54: Wenn einer mir den Glauben abhängig macht vom Buchstabenglauben an diese Bibel, dann bleibt mir nur, alles zu kippen. Deswegen halte ich einen ultraevangelikalen Fundamentalismus religionspädagogisch für gefährlich.“

[4] ebd. 21:30: Reinhold Scharnowski:Ja die Leute [d.h. die Fundamentalisten] mag es geben, die sind meiner Erfahrung nach zumindest hier in der Schweiz (und ich kenne auch die deutsche Szene so ein bisschen) eine Randgruppe. Aber es gibt dann auf der anderen Seite die Bibelkritiker, die sehr massiv mit dem übernatürlichen Kontext der Bibel umgehen, bishin zur Leugnung der Auferstehung. Die letzteren kommen bei dir ein bisschen sanfter weg und die ersteren, die Überfrommen, gegen die ja schießt du ziemlich stark. Das fiel mir richtig auf.“ Andreas Malessa: „Okay, ja dein Eindruck ist wahrscheinlich richtig.“

[5] ebd. 20:47

[6] ebd. 23:35: Wenn jemand rumläuft und sagt: Die zwei Schöpfungserzählungen (Klammer auf: In der Reihenfolge dessen, was da geschaffen wird höchst widersprüchlich, Klammer zu), die muss man wörtlich so nehmen: Die Welt ist in 6 Tagen mit 24 Stunden entstanden, und zwar durch Gottes Handeln und irgendwie hat sich der Colorado River durch den Grand Canyon geschnitten in sechs Tagen und die Fossilien hat Gott da selber hingelegt und so weiter…  Und nur wer das glaubt, glaubt auch an den Auferstandenen, wenn also eine mechanische Achse gelegt wird von poetischen Texten, die naturwissenschaftlich missverstanden werden, zu einem Vertrauensverhältnis zum Auferstanden, dann richtet das meines Erachtens mehr Schaden an, als wenn irgendeiner herkommt und sagt: »Das kannst du streichen und das kannst du streichen«“

[7] S. 65: „Einen Etikettenschwindel schickten auch sie [d.h. die Autoren der „Fundamentals“-Hefte] hier hinterher: Die biblische Genesis-Erzählung sei der »Schöpfungs-Bericht«. So, als hätte Mose mit dem Notizblock danebengestanden. Damit erwarben sich christliche »Fundamentalisten« das Zusatz-Etikett »Kreationisten« und gerieten in Konflikt mit den Ergebnissen aus 400 Jahren Archäologie, Geologie, Astronomie, Biologie, Zoologie, Anthropologie und Geschichtswissenschaft. Trotzdem erhoben (und erheben bis heute) finanzstark spendenfinanzierte Lobby-Stiftungen und -Organisationen den Anspruch, ihr Glaube müsse im Schulunterricht als wissenschaftlich gleichberechtigte Theorie gelehrt werden.“ „…in Deutschland die Studiengemeinschaft Wort und Wissen.“ (Endnote 4, Kap. 6, S. 175)

[8] Siehe Fußnote 6

[9] Markus Till: „Außerwissenschaftliche Vorannahmen: Denkvoraussetzungen von Wissenschaftlern und Theologen“, 27.2.2020, AiGG-Blog, blog.aigg.de/?p=4930

[10] Thorsten Dietz: „Menschen mit Mission“, SCM R. Brockhaus, 2022, S. 92

[11] Die Basisbibel übersetzt das griechische Wort „porneia“ mit „verbotene sexuelle Beziehungen“. Es kommt 25-mal im Neuen Testament vor und steht letztlich für sämtliche sexuelle Praktiken außerhalb der Ehe eines Mannes und einer Frau.

[12] Auszug aus den Seiten 229 – 231: Tom Wright, Warum Christ sein Sinn macht © 2009 Johannis bei SCM Hänssler

[13] Siehe dazu Markus Till: „Ist die Bibel unfehlbar?“ 13.7.2018, AiGG-Blog: blog.aigg.de/?p=4212

8 Gedanken zu „Lieber Andreas Malessa…“

  1. Lieber Markus Till,
    wohltuend, wie klar und freundlich, informiert und konstruktiv Sie hier antworten. Es sind tatsächlich wichtige Fragen, die keine plakativen Antworten erfordern, sondern gut durchdachte.
    Und für Bibeltreue gibt’s sehr gute Gründe.
    Herzliche Grüße und Ihnen Gottes Segen,
    Matthias Hennemann (EG-Regionalleiter)
    PS: Ihr Buch habe ich gerade heute unserem Gemeindeleiter empfohlen… 🙂

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  2. Der Artikel war in einem sehr sachlichen und herzlichen Ton geschrieben. Das Problem des Bibelverständnisses ist aber nur ein Stellvertreterkrieg über der tieferen und -heilsentscheidenden- Frage: Was ist das Evangelium?
    Erlangen nur die im Gehorsam des Glaubens Nachfolgenden das Heil (Römer 1,5) oder auch Täter der Gesetzlosigkeit, wenn sie nur eine Beziehung zu Jesus haben, in der sie ihn als Herrn ansprechen (Matthäus 7, 23f.)??
    Die evangelikale Welt hat davon gelebt, jedem sein Christsein abzunehmen, der nur irgendwie Jesus gut findet. Und nun wird eben von einem Teil dieser “Jesusgutfinder” Werbung für Gesetzlosigkeit gemacht, natürlich weil “die Wissenschaft” sagt, dass sexuelle Gesetzlosigkeit nicht existiert, und keiner weiss, was die Bibel lehrt, ja, die Bibel ganz viele tolle Märchen enthält und wir die Bibel-Spreu vom Bibel-Weizen trennen müssen, und es am Ende nichts ausmacht, wem wir gehorcht haben, weil alle Menschen ohnehin bedingungslos geliebt sind und das Heil erlangen.
    Kurz: die Tatsache, dass postgelikale und liberale Gottes-Worte-Ablehner dasselbe Evangelium haben und wir uns nur in Detailfragen des Schriftverständnisses unterscheiden, stimmt so leider nicht. Das kann auch durch nochsoviel Irenik nicht dauerhaft kaschiert werden. Und braucht es auch nicht. Das liberale Evangelium war schon immer ausserhalb von Galater 1,8. Mit dem Postgelikalismus lebt es jetzt auch innerevangelikal, als permanentes trojanisches Pferd.
    Es hilft alles nichts: solange man das Pferd nicht aus Troja entfernt, wird die Stadt fallen. Trojaner sind Trojaner.
    Warum fällt es Evangelikalen so schwer, anderen einen Glauben abzusprechen, denn sie evident und offensichtlich nicht (mehr?) haben?

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    • Dazu ist das bereits 1923 publizierte Buch von J. Grisham Machen, deutscher Titel: „Christentum und Liberalismus, Wie die liberale Theologie den Glauben zerstört“, nach wie vor wegweisend und aktuell. Der Liberalismus versteckt sich hinter christlichen Phrasen, hat jedoch mit dem Kern des Christentums nichts mehr gemein.

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    • „ Die evangelikale Welt hat davon gelebt, jedem sein Christsein abzunehmen, der nur irgendwie Jesus gut findet“

      Echt ? Das halte ich so pauschal gesagt für falsch. Gerade die Evangelikalen haben immer dafür geworben dass der Glaube sich im Leben widerspiegeln soll. Dass es immer auch solche von ihnen genannte Gruppen gab ist klar. Nur ist und war das kein Merkmal von Evangelikalen. Die Sexualethik wurde zuerst bei der EKD und bei Teilen der katholischen Kirche aufgeweicht.

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  3. Völlig legitim und auch notwendig, die Auseinandersetzung mit unseren liberalen Glaubensgenossen muss geführt werden. Ob es was bringt wird sich zeigen, vielleicht in Einzelfällen. Denn der Zug ist abgefahren und niemand zieht die Notbremse, da fällt mir gerade die Songpassage ein “es fährt ein Zug nach nirgendwo”. Das haben sie lieber Markus Till ja auch realistisch beschrieben, die EKD marginalisiert sich selbst.
    Zu hoffen bleibt, dass die evangelikalen Freikirchen bei diesem kollektiven geistlichen Suizid nicht mitmachen, sonst haben wir am Ende ein Totenfeld wie bei Hesekiel beschrieben und wer kann dann mit Sicherheit sagen, dass Gott da Leben hineinhaucht !?

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  4. Peinlich wie schlecht Malessa sich informiert hat, bei seinen Rundumschlägen gegen bibeltreue Christen. An Wissenschaftsgläubigkeit scheint er aber keinen Mangel zu haben. Vielleicht sollte er sich auch einmal den „christlichen Liberalismus“ genauer ansehen, in dem er sich anscheinend sehr zu Hause fühlt. In seinem Kern macht der Liberalismus die christliche Lehre vom Kreuz lächerlich und offenbart damit was er im eigentlichen Sinne ist: antichristlich.
    Lieber Andreas Malessa, was ist denn deine Theologie vom Kreuz?

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