So kommen die Evangelikalen aus der Krise

Der Begriff „evangelikal“ ist in Verruf geraten. Das liegt auch daran, dass er kaum definiert ist. Man verbindet ihn primär mit äußerlich sichtbaren Merkmalen und Praktiken, wie zum Beispiel: Evangelikale rufen zur Bekehrung auf. Sie sammeln sich um Bibel und Gebet. Das stimmt zwar. Aber es bleibt schwammig. Im Blick auf die USA hat der Begriff „evangelikal“ zudem eine stark politische Färbung bekommen. Die Folge ist: Immer mehr Evangelikale meiden diese Bezeichnung, weil sie sich bei weitem nicht mit allem identifizieren wollen, was heute als „evangelikal“ wahrgenommen wird.

Der Evangelikalismus muss theologisch definiert werden

Michael Reeves hat vor diesem Hintergrund in seinem Buch „Menschen des Evangeliums“ eine wichtige Forderung formuliert: Wir dürfen den Evangelikalismus nicht nur pragmatisch oder soziologisch definieren, sondern er „muss theologisch und mithilfe des Evangeliums definiert werden.“ (S. 145) Dabei muss gelten: Der „Gegenstand des Evangelikalismus ist das Evangelium, das durch die Schrift offenbart ist.“ (S. 9) Oder noch zugespitzter formuliert: „Evangelikal zu sein heißt, dass die Schrift alles übertrumpft.“ (S. 28) Denn Evangelikale sind überzeugt, dass die Bibel „völlig wahrheitsgemäß und daher völlig vertrauenswürdig ist. Wenn sie fehlerhaft wäre, wie könnten wir dann zulassen, dass sie alles andere außer Kraft setzt?“ (S. 35) Zwar hat für Evangelikale auch das Weltwissen, die Tradition und die Theologiegeschichte einen hohen Stellenwert. Trotzdem gilt in erster Linie: „Um dem Evangelium treu zu sein, müssen wir alles lehren, was die Heilige Schrift lehrt, und zwar mit der Gewichtung und dem Ton, den die Heilige Schrift vorgibt.“ (S. 135)

Im Zentrum der biblischen Lehre steht dabei der stellvertretende Opfertod von Jesus Christus: „Evangelikale verstehen, dass die Schrift von vielen Facetten des Kreuzes spricht: Am Kreuz offenbart sich die Herrlichkeit und Liebe Gottes. Auch triumphiert Christus dort über die Kräfte des Bösen. Beim Kreuz geht es jedoch nicht in erster Linie darum, uns die Liebe Gottes vor Augen zu führen oder Satan zu besiegen. Seit 1. Mose 3 war die große Frage in der Bibel stets: Wie können Sünder, Nachkommen von Adam und Eva, mit Gott versöhnt werden? Das große Problem war der Zorn Gottes über die Sünde (vgl. Röm 1, 18). Angefangen beim Passafest bis hin zu den Opfern des Gesetzes war die Lösung immer ein Stellvertreter, der die Strafe für unsere Sünden an unserer Stelle trug. Christus ist für uns, an unserer Stelle, gestorben, damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan werde und »wir nun durch ihn gerettet werden vor dem Zorn« (Röm 5, 8–9).“ (S. 60)

Den Evangelikalen geht es aber nicht nur um Lehre. Reeves betont: „Evangelikale müssen ihre Theologie auch anwenden.“ (S. 85) Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Heilige Geist: „Evangelikale sind Menschen, die »aus dem Geist geboren« sind (Joh 3, 6.8). … Die Wiedergeburt ist ein göttliches Werk des Geistes, bei dem ein neues geistliches Leben entsteht, was eine radikale Veränderung des Herzens bewirkt.“ (S. 80) „Wir, die wir von der Verurteilung durch das Gesetz befreit sind, fangen tatsächlich an, in Übereinstimmung mit dem Gesetz zu leben, weil der Geist in uns wirkt. Unser Leben verändert sich.“ (S. 84)

Evangelikalismus ist das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum

Der Evangelikalismus ist also trinitarisch: Es geht ihm um die Offenbarung des Vaters in der Heiligen Schrift. Um die Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod des Sohnes Jesus Christus. Und um ein neues, verändertes Leben durch den Heiligen Geist. Diese trinitarische Sicht findet sich auch im Nicänischen und im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Reeves zitiert deshalb zurecht den großen evangelikalen Theologen John Stott mit der Behauptung, „dass der evangelikale Glaube nichts anderes ist als der historische christliche Glaube: das ursprüngliche, biblische, apostolische Christentum. … Was wir Evangelikalen sein wollen, ist schlichtweg: biblische Christen. … Unser Ziel – in aller Demut – ist es, der biblischen Offenbarung gegenüber loyal zu sein.“ (S. 149, 39/40)

Einheit durch Treue zum Evangelium und Weite in Randfragen

Reeves legt zudem dar: Nur auf dieser soliden biblischen Grundlage ist es möglich, dass Evangelikale zu einer Einheit finden. Denn es muss ja der „Wunsch eines jeden gesunden Evangelikalen“ sein, „dass das Volk des Evangeliums in seinem Engagement für das Evangelium vereint ist. Dass sowohl dem streitsüchtigen Gruppendenken, das andere Themen auf die Ebene des Evangeliums hebt, als auch dem Verrat, der die wesentlichen Wahrheiten des Glaubens aufgibt, ein Ende gesetzt wird. Dass Evangelikale gemeinsam zur absoluten Autorität und Vertrauenswürdigkeit der Offenbarung Gottes stehen, die den einen wahren Gott, die Vollständigkeit und Hinlänglichkeit der Erlösung durch Christus und die Notwendigkeit und Bedeutung der Wiedergeburt durch den Geist verkündet.“ (S. 131)

Einheit durch Weite in theologischen Randfragen und unbedingte Treue zum biblisch bezeugten Evangelium. Einheit, die wächst, weil Jesus Christus unser gemeinsames Haupt ist und sein Wort unsere verbindet. Was für eine wunderbare Vision eines Gottesvolks, das tatsächlich von Christus selbst vereint und geprägt wird! Eine solche Einheit ist nicht abhängig von charismatischen Leiterfiguren, gemeinsamen Traditionen oder Institutionen.

Sie ist deshalb wesentlich stabiler sein als eine institutionelle Einheit, an die sich die großen Kirchen zunehmend vergeblich klammern. Und sie ist sehr viel nachhaltiger als der weit verbreitete Versuch, unsere Einheit durch Pragmatismus und die Vermeidung von Theologie zu retten. Grundlegende theologische Differenzen dürfen wir nicht unter den frommen Teppich kehren. Einheit gelingt auf Dauer auch nicht durch den einseitigen Fokus auf gemeinsame Praktiken, auf Lobpreis, Evangelisation oder Gemeindebau. Eine solide, in der Bibel gegründete Theologie ist ein unverzichtbarer Bestandteil für die Einheit der Kirche Jesu.

Der Begriff ist wertvoll – der Inhalt ist entscheidend

Aber brauchen wir den Begriff „evangelikal“ überhaupt? Auch ich wäre so gerne einfach Christ. Aber die traurige Realität ist eben auch: Es sind so viele Menschen unterwegs, die sich selbst Christen nennen, obwohl sie sich vom biblischen Evangelium weit entfernt haben. Wenn wir über die große Gruppe der Christen sprechen wollen, die an der Wahrheit und Verlässlichkeit der biblischen Offenbarung festhalten wollen, dann brauchen wir dafür einen Begriff. Die Evangelikalen bilden aktuell die zweitgrößte Gruppe der Christenheit. Eine alternative Bezeichnung für diese weltumspannende Bewegung ist nirgends in Sicht. Reeves schreibt deshalb zurecht:

„»Man hat immer wieder versucht, den Begriff evangelikal durch einen brauchbareren zu ersetzen, aber solche Bemühungen waren wenig erfolgreich. Der Grund dafür ist ganz einfach: Das Wort erreicht wirklich das, was es beabsichtigt. Das Wort identifiziert diejenigen, deren primäre Identität darin besteht, ein Volk des Evangeliums zu sein.«[1] Namen sind wichtig. Die Zukunft der Evangelikalen hängt jedoch nicht davon ab, wie wir genannt werden. Der Evangelikalismus wird überall dort stark sein, wo Gläubige Schulter an Schulter für den Glauben kämpfen, der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist. Er wird dort gedeihen, wo die Menschen des Evangeliums Integrität gegenüber dem Evangelium wahren.“ (S. 139/140)

Wie wahr! Und ich kenne kein anderes Buch, in dem dieser ein für alle Mal überlieferte Glaube so treffend und prägnant zusammengefasst wird. Für mich ist „Menschen des Evangeliums“ deshalb schon jetzt DAS Buch des Jahres 2024. Es skizziert in wunderbarer Weise die entscheidenden Wahrheiten, auf deren Grundlage diese bunte und vielfältige evangelikale Bewegung in Einheit für einen geistlichen Aufbruch beten und arbeiten kann.

Das Buch „Menschen des Evangeliums“ von Michael Reeves hat 173 Seiten. Es ist 2024 bei Verbum Medien erschienen und kann hier bestellt werden: https://verbum-medien.de/products/menschen-des-evangeliums


[1] zitiert von Albert Mohler, »Confessional Evangelicalism«, in Four Views on the Spectrum of Evangelicalism, Andrew David Naselli und Collin Hansen (Hrsg.), Grand Rapids: Zondervan, 2011, S. 69.

5 Gedanken zu „So kommen die Evangelikalen aus der Krise“

  1. Es heißt: „ Im Zentrum der biblischen Lehre steht dabei der stellvertretende Opfertod von Jesus Christus“.
    So zentral ist der stellvertretende Tod ja gar nicht im NT, vom AT ganz zu schweigen. Dass später Anselm und viele andere christliche Geistesgrößen Theologien entwickeln mussten, um Jesu Tod (und viel zu selten seine Auferstehung) zu deuten, hat damit zu tun, dass die neutestamentlichen Texte selber um die Bedeutung dieses Jesus ringen und es keine einheitliche Lehre rund um das Kreuzesgechehen, wie es die sogenannten Evangelikalen gerne hätten, gibt.

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  2. Wenn Jesu Tod am Kreuz nicht zentral gewesen sein soll, wie ordnen sie den dann ein? Als Randthema, eines unter vielen?

    Wie Markus Till in seinem Artikel nachweist, ist der stellvertretende Tod Jesu im alten und neuen Testament sehr gut belegt. Wenn es nicht der stellvertretende Tod gewesen sein soll, welchen anderen Sinn für den Tod Jesu entnehmen sie dem NT? Und wie ist der dann im NT belegt?

    https://blog.aigg.de/?p=3887

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    • Jesu Tod und seine Auferstehung sind wichtiger Bestandteil der Evangelien. Sein Leben und Leiden allerdings auch. Gerade Tod und Auferstehung bekommen in den Evangelien deutlich weniger Raum als die Taten des „irdischen“ Jesus. Paulus wiederum interessiert sich gar nicht so sehr für den irdischen Jesus und sein Leben. Ihm geht es um Jesu „Funktion“ für uns als Herr und Heiland. Bereits der neutestamentliche Befund ist also recht heterogen- vom AT ganz zu schweigen.
      Die Frage ist doch, ist denn der sogenannte SÜHNETOD gesamtbiblisch gesehen so zentral? Ich würde sagen, er hat seinen Platz und ist wichtig. Er ist allerdings nicht zentral. Überhaupt nicht. Er ist EINE Perspektive auf die Erlösung der Menschheit, aber bei weitem nicht die einzige.

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