Wohin mit dem Sex?

„Kein Sex vor der Ehe!“ wird von „konservativen“ Christen vertreten. Außerhalb dieser Kreise empfindet man solch eine Haltung als fundamentalistisch und weltfremd.“ Dieser Zustandsdiagnose von Marcel Locher ist ohne Frage zuzustimmen. Umso erfreulicher ist es, dass der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) seinen 1. Theologischen Studientag im März 2019 der spannenden Frage gewidmet hat: „Wohin mit dem Sex? – Schriftverständnis und die Folgen für die Lebensführung“. Die Tagungsbeiträge gibt es inzwischen in Buchform zu kaufen. In der Einführung schreibt der Leiter des theologischen Ausschusses des BFP, Dr. Bernhard Olpen: Der „Studientag stellt die theologische Standortbestimmung zur Schrift vor, wie sie das Präsidium des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) vertritt.“ Das Buch hat also Gewicht für den gesamten BFP. Umso spannender ist die Frage, welche Ansichten hier zu diesem so umstrittenen Thema vertreten werden.

Die Positionen zur Sexualethik hängen vom Schriftverständnis ab

„Wie wir in Fragen der Sexualethik entscheiden, hängt maßgeblich von unserem Schriftverständnis und von unserer Hermeneutik[1] ab,“ schreibt Matthias C. Wolf zurecht. Deshalb ist es nur konsequent, dass sich der erste Beitrag von Dr. Bernhard Olpen zunächst der Frage nach dem Schriftverständnis in seiner geschichtlichen Entwicklung und seinen Konsequenzen für die Sexualethik widmet. Dazu gibt Olpen einen hochinteressanten Überblick von den ersten Kirchenvätern bis heute. Er zeigt dabei auf: Trotz Unterschieden im Detail war bis zur Aufklärung die Sichtweise dominant, dass die ganze Bibel inspiriert und von Gottes Geist eingehaucht ist. Luther ging zudem „das Wagnis ein, den literarischen Sinn der Schrift für ausreichend klar und aussagekräftig zu halten. Eine Grundannahme, die fortan für den Protestantismus grundlegend geworden ist“.

Erst mit der Aufklärung begann eine Sichtweise, in der der Bibeltext selbst nicht mehr unmittelbar als Wort Gottes betrachtet wurde. Die Trennung von Schriftwort und Offenbarung hatte auch für die Sexualethik gravierende Konsequenzen. Von den Kirchenvätern bis zu den Reformatoren war zuallermeist noch die Ehe als der einzig legitime Ort für Geschlechtsverkehr angesehen worden. Auch Mitte des 19. Jahrhunderts prägten noch „evangelikale Ideen über Moral und Sex die Kultur der Mittelklasse in England“, u.a. getrieben durch den Einfluss bekannter Erweckungsprediger wie John Wesley. Ebenso ging der deutsche Pietismus noch weitgehend von einer Klarheit und „Vollkommenheit der Schrift“ (J. A. Bengel) aus und „hielt in Anlehnung an Luthers Schriftverständnis an der Ehe als einzig legitimem Ort gelebter Sexualität fest.“ Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich in Bezug auf die Sexualethik eine Sichtweise durch, die nicht nur den Bibeltext sondern auch „zeitbedingte Anschauungen zur Grundlage macht“. Beispielhaft verweist Olpen auf die vieldiskutierte EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ sowie auf die Arbeit von „Worthaus“:

„Siegfried Zimmer, einer der Initiatoren, versucht in der Darlegung seines Bibelverständnisses zwar eine vermittelnde Rolle einzunehmen, folgt in der Praxis jedoch dem Argument der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit, die zu einer Neubewertung biblischer Texte führen müsse. Schriftstellen mit einem sexualethischen Bezug versteht er als zeitgebundene Dokumente einer vergangenen Zeit, die heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen können. Er geht dabei so weit, einer Mutter, die von ihrem Sohn erwartet, mit Sex bis zur Ehe zu warten, eine „perverse Ethik“ zu unterstellen. Ähnlich wie die Verfasser der EKD-Orientierungshilfe stellt er normative und deskriptive Aussagen auf die gleiche Ebene und kommt zu dem Schluss, wer aus der Schrift herauslesen wolle, dass Sex vor der Ehe keine biblische Option sei, müsse sich auch für Polygamie, möglichst frühe und möglichst durch die Eltern arrangierte Ehen, Kinderreichtum und das Patriarchat aussprechen. Dass die Schrift selbst eine Bewertung der hier undifferenziert nebeneinandergestellten Texte und Modelle vornimmt, gerät ihm dabei völlig aus dem Blick. Unter dem Label „postevangelikal“ hält diese Form der Hermeneutik auch Eingang in das gemeindliche Leben freikirchlicher Strukturen…“

Marcel Locher geht noch genauer auf Zimmers Worthaus-Vortrag über christliche Sexualethik ein. Dort führt Zimmer „unterschiedliche historische Argumente an, welche die „konservative“ Sichtweise theologisch und ethisch infrage stellt. Auf diese historischen Argumente gründet Siegfried Zimmer seine Sexualethik. Armin Baum greift Zimmers historisch begründete Kritik an der „konservativen“ Sexualethik auf.[2] Baum entkräftet Zimmers Position mit überzeugenden wissenschaftlich-historischen Argumenten. Er verdeutlicht durch seine sachliche wissenschaftliche Herangehensweise, dass Zimmers Argumentation historisch nicht haltbar ist, und belegt damit, dass die daraus resultierenden sexualethischen Positionen nicht überzeugen können. Somit sind wir in dieser Fragestellung auf die ethische Norm der Schrift verwiesen und können diese nicht als kulturbedingt relativieren. Daher ist die ethische Weisung der Schrift bezüglich des Geschlechtsverkehrs vor der Ehe auch in unserer Zeit von Bedeutung.“

Olpen beschließt seinen Beitrag zum Thema Schriftverständnis und Sexualethik mit einem Fazit: „Eine biblische Hermeneutik, die den eigenen Verstehenshorizont zum Maßstab des Verstehens Gottes und der Schrift macht und die Maßstäbe einer weitgehend säkularisierten Mehrheitsgesellschaft mehr oder weniger unkritisch oder wertneutral als gesetzt ansieht, kann der Zeit, in der wir leben, nichts Wesentliches und Normschöpfendes bieten. Sie steht immer in der Gefahr, in der sie umgebenden Gesellschaft aufzugehen, statt ihr ein Gegenüber zu sein.“

Von der Wichtigkeit gründlicher theologischer Arbeit

Ganz ähnlich wie Olpen baut auch Matthias C. Wolff seine Ausführungen auf der soliden Grundlage des reformatorischen „Sola Scriptura“ und der sich selbst auslegenden Bibel auf. Er macht aber auch deutlich: Bibelstellen können nicht ohne weiteres wörtlich 1:1 auf heutige Situationen übertragen werden. Der biblische Gesamtkontext, die innerbiblische Gewichtung, die Textgattung und der historische Kontext müssen beachten werden, um klären zu können, welche konkreten ethischen Normen in unserem heutigen gesellschaftlichen Umfeld aus der Bibel abzuleiten sind: „Die Bibel ist Gottes Wort, aber sie ist nicht an uns geschrieben worden; sie ist stets Gottes Wort für uns, aber nicht immer Gottes Gebot an uns.“ Trotzdem spricht die Bibel nicht nur in ihre Zeit, denn „sie ist auch Gottes Reden für uns und vermittelt allgemeingültige Prinzipien für das Heil und das Zusammenleben der Menschen. Eine oberflächliche und meist willkürliche Eingrenzung von biblischen Anweisungen auf die damalige Zeit wird ihrem Selbstzeugnis und dem Anspruch der biblischen Theologie nicht gerecht.“

Und was lehrt die Bibel nun?

Als zeitlos gültige biblische Botschaft arbeitet Matthias Wolff zum einen heraus, dass Sexualität in der Bibel durchweg bejaht wird. „Erst durch die Begegnung mit Strömungen der griechisch-hellenistischen Philosophie und dem damit verbundenen Zug zur Verachtung des Leibes wie der irdischen Welt überhaupt fand eine Malefizierung der Sexualität über neuplatonisch geprägte Theologen (wie Augustinus) Eingang in das christliche Denken.“

Zugleich macht er klar: „An prominentester Stelle der biblischen Sexualethik steht der unbedingte Schutz der Ehe.“ Das bedeutet auch, „dass dem israelitischen Mann keine legitimen vor- oder außerehelichen Betätigungsräume offenstanden. Sex als folgenloses Privatvergnügen ohne Verantwortung und Konsequenzen ist dem Glauben des AT fremd.“ Und im Neuen Testament erfährt diese Linie sogar „eine ausdrückliche Verschärfung.“ So antwortete Paulus auf die Frage, wie denn mit sexuellem Verlangen umzugehen sei: „Wenn sie [gemeint sind Ledige oder Witwen] sich nicht enthalten können, sollen sie heiraten …“ (1Kor 7,9), und nicht etwa: „Habt Sex!“ oder Ähnliches.“ Wolff zitiert dazu Prof. Armin Baum: „Das ethische Prinzip, dass all diesen biblischen Texten gemeinsam ist, lautet: Je weniger Verbindlichkeit, desto weniger Intimität. Je mehr Verbindlichkeit, desto mehr Intimität. Und maximale Intimität verlangt maximale Verbindlichkeit.“ Das wird auch unterstrichen durch die Bedeutung des Begriffs „Unzucht“ (porneia, z.B. in Gal. 5,19) im Neuen Testament: „Es meint zum einen Prostitution, zum anderen aber auch jeglichen vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr, sowohl bei Verheiraten als auch bei Unverheirateten.“ Locher ergänzt: „Somit wird deutlich, dass für das Zeugnis der Schrift auch Geschlechtsverkehr vor und außerhalb der Ehe mit Unzucht bezeichnet wird.“

Rauen Gegenwind gab es schon immer!

Bemerkenswert ist, dass sich die christliche Gemeinde nicht erst ab dem 20. Jahrhundert, sondern auch schon in der Antike mit dieser Lehre in einem scharfen Gegensatz zu ihrem Umfeld befand:

„Der entschlossene Rückgriff auf die in der Schöpfungsordnung angelegte Unauflöslichkeit der Ehe brachte die junge Gemeinde in deutlichen Kontrast zu der sexuellen Verkommenheit der griechisch-römischen Gesellschaft. … Wer behauptet, früher sei alles einfacher gewesen, etwa weil jeder mit dem Eintritt der Geschlechtsreife geheiratet habe, oder in unserer Welt könne man mit solchen Werten nicht mehr ankommen, dem fehlt das Verständnis für die antike Umwelt der Urkirche, die das Evangelium und seine Ethik in scharfem Kontrast zum Zeitgeist unerschrocken und unter hohen Risiken verkündigt hat. „Die Menschen der Bibel standen vor denselben Herausforderungen wie wir.“

Erst Recht vor dem Hintergrund dieses wachsenden Gegenwinds stellt sich nun aber die Frage:

„Wie sollen wir dies denn leben?“

Marcel Locher zeigt auf, wie wichtig es ist, nicht nur „eine starre Prinzipienethik“ zu lehren, „welche blutleer die Lebensrealität übergeht“ und die „nicht selten die Tendenz zur Gesetzlichkeit hat. Es geht um eine Jüngerschaftsethik, die im Geist Christi geführt wird und nur aus dem Geist Gottes heraus gelebt werden kann.“ Wichtig ist auch, die hohe Sinnhaftigkeit von Gottes Geboten zu verdeutlichen. Dabei ist insbesondere darauf hinzuweisen, wie wichtig die biblischen Prinzipien für den Schutz von Kindern sind, schließlich „birgt Geschlechtsverkehr immer auch die Möglichkeit der Zeugung eines Kindes in sich. Wer diese Möglichkeit ausschließt, setzt die individuelle sexuelle Selbstverwirklichung über den verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität. … Schon die Aussage, dass eine Frau ungewollt schwanger geworden ist und sich nun gezwungen sieht, dass Kind abzutreiben, zeigt die dahinterstehende Tragik.“ Nur die Ehe gibt Kindern den Schutzraum, den sie brauchen, um in einem gesunden, stabilen Umfeld aufwachsen zu können.

Und wie funktioniert das in der gemeindlichen Praxis?

Dazu liefert das Buch 2 anregende Praxisbeispiele. Christian Knorr aus der Christus Gemeinde Wuppertal schreibt: „Unserer Ansicht nach kommt keine Gemeinde umhin, sich hinsichtlich biblisch-theologischer Richtlinien zum Thema „Sexualität“ zu positionieren. … Es sollte beispielsweise nicht verborgen bleiben, wenn die Gemeinde den Wert „Kein Sex vor bzw. außerhalb der Ehe“ als von der Bibel her verbindlich ansieht.“ Neben dieser Verbindlichkeit im Kern sind ihm aber offene Ränder wichtig: „Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, so niederschwellig wie möglich die Gemeinde kennenzulernen. So ist auch Mitarbeit in vielen Teams möglich, auch wenn jemand noch nicht gläubig ist oder die ethischen Maßstäbe der Gemeinde nicht teilt.“ Wichtig ist ihm auch: „Kein Richtlinienpapier kann für jeden Fall und für jede Lebenssituation eine klare Antwort geben. … Aus unserer Sicht wären allzu detaillierte Listen, die jeden Fall erfassen, eine Praxis gelebter Gesetzlichkeit. Ein Wert bzw. Prinzip Gottes sollte „im Herzen“ eines Christen leben und von innen nach außen gelebt werden.“ „Klar in der Sache, aber offen und wertschätzend im Umgang mit Menschen“ ist für ihn eine zentrale Handlungsdevise. Dabei ist ihm wichtig, dass „wir nur durch eine gute Beziehung und aus Liebe heraus das Recht erwerben, in das Leben von Menschen zu sprechen.“ „Beziehung kommt immer vor Erziehung.“

Auch Mark Schröder von der Elim-Gemeinde Leipzig schreibt: „Wir sind der Überzeugung, dass Gott für die Sexualität den Rahmen der Ehe gegeben hat. Sex vor der Ehe ist nicht im Sinne des Erfinders. Wer das nicht beachtet, tut sich selbst nichts Gutes. Das kommunizieren wir deutlich.“ Er ergänzt aber auch: „Wir wollen keinen mit Regeln zwingen, sondern erreichen, dass aus eigener Überzeugung gehandelt wird.“ „Unser Ziel ist nicht, dass Menschen uns etwas beweisen, sondern dass sie selbst zum reifen Handeln befähigt werden. Nur dann schafft man ein Klima, in dem auch mit Versagen ehrlich umgegangen werden kann.“ In allen Gesprächen „geht es nicht um eine Be- oder Verurteilung eines Verhaltens, sondern darum, Ermutiger zu sein, damit die Lebensführung auf den richtigen Weg kommt.“

Man kann diesem wichtigen Buch nur eine möglichst weite Verbreitung wünschen. Denn auch unter Evangelikalen ist heute leider nicht mehr klar, was in der Bibel vermittelt und in diesem Buch vielfältig erläutert und unterstrichen wird:

„Wohin mit dem Sex? – in die Ehe!“


Das Buch “Schriftverständnis und die Folgen für die Lebensführung” ist beim Forum Theologie & Gemeinde als Paperback und als E-Book erhältlich.


[1] Wolff definiert dabei den Begriff „Hermeneutik“ wie folgt: „Hermeneutik (gr. hermeneia) = Wissenschaft/Kunst der Auslegung (altgr. hermeneúein: erklären, auslegen, übersetzen). Die Hermeneutik ist die Wissenschaft der Auslegung (biblischer) Texte. Es sind die Regeln, die bei der Bibelauslegung zur Anwendung kommen. Was darf man mit biblischen Texten machen und was nicht?

[2] Armin Baum: „Vorehelicher Geschlechtsverkehr in der Antike und in der Bibel“ https://www.weisses-kreuz.de/dynamo/files/user_uploads/mediathek/Weitere/WKExtra_Zimmer_Ehe.pdf