Rachel Held Evans – Ein neuer Zugang zur Inspiration der Bibel?

Eine Gastrezension von Pfarrer Martin Till

In diesem Buch geht es um die die Inspiration der Bibel. Die Autorin ist nicht eine Hermeneutik-Professorin sondern eine begnadete Geschichtenerzählerin und Literaturliebhaberin, die es versteht, den Leser durch ihre lebendigen und authentischen Erzählungen von biblischen Geschichten und Erfahrungen aus ihrem Leben auf eine ganz andere und – wie sie zeigen möchte – angemessenere Weise an die biblischen Berichte heranzuführen. Rachel Held Evans, die leider vor zwei Jahren auf tragische Weise und viel zu früh im Alter von 37 Jahren verstorben ist, kommt ursprünglich aus konservativ evangelikalem Gemeindehintergrund in den Südstaaten der USA. Dort wurde sie gelehrt, die biblischen Texte theologisch und ethisch im Verhältnis 1:1 auf das gegenwärtige Weltbild anzuwenden. Was sie zuerst aktiv verteidigt und vertritt wird ihr im Lauf der Zeit immer fraglicher. Nach ihrem Literaturstudium, ebenfalls an einer evangelikal fundamentalen Hochschule, bricht sie schließlich radikal mit diesem Schriftverständnis und wendet sich der historisch-kritischen Bibelauslegung zu. Sie arbeitet als Kolumnistin und Bloggerin und setzt sich für Minderheiten und Frauenrechte ein. Sie schreibt Bücher, in denen sie sich auf der einen Seite entschieden von ihrer Vergangenheit distanziert aber auf der anderen Seite auch versucht, einen neuen, positiven Zugang zur Bibel zu finden. Die Beobachtung, dass das Narrativ (Erzählen von Geschichten) die wohl am häufigsten in der Bibel verwendete Literaturgattung ist, wird zur Grundlage ihres hermeneutischen Ansatzes. Sie versucht in diesem Buch in acht Kapiteln über acht Hauptgruppen biblischer Literatur zu zeigen, dass es immer wieder erzählte und erlebte Geschichten waren, die die biblischen Autoren bewegt haben und durch die sie ihre Botschaft vermitteln wollten. Für Held Evans ist die Bibel insgesamt „die größte Geschichte die wir uns vorstellen können“ (218). Historische Hintergründe will sie nicht abstreiten, sie sind aber für ihren Ansatz letztlich nicht wichtig.  In Inspired schlägt Held Evans deshalb einen Mittelweg vor, der sowohl „strikten Literalismus“ als auch „selbstsicheren, desinteressierten Liberalismus“ vermeidet (xxii). Ihr Hauptanliegen dabei ist, dass die inspirierte Schrift immer zur aktiven Tat, zum Einsatz für verfolgte und unterdrückte Minderheiten führt.

Parallelen zu meiner Biografie

Von meiner eigenen Biografie her kann ich Rachel Held Evans Anliegen gut verstehen. Zwar verlief  die Entwicklung in meinem Leben genau gegensätzlich zu der ihrigen, aber die Parallelen sind doch auffallend. Aus liberalem landeskirchlichem Hintergrund kommend wurden mir im Religionsunterricht und in der Gemeinde als junger Mann faszinierende und aufrüttelnde sozialpolitische Ziele und Aktionen vor Augen geführt. Alle Bibelauslegung gipfelte damals für mich in der Bergpredigt und entsprechend wurde ich aktiv in der Altenarbeit und im Einsatz für Gefangene. Mein Problem war allerdings, dass unter der Decke all dieser Aktivitäten meine persönlichen Fragen und Probleme weitgehend ungelöst blieben und mir auch eine ausgedünnte und überalterte Ortsgemeinde dabei nicht wirklich weiterhelfen konnte.  Das wurde erst anders als ich durch eine Sommerfreizeit zum ersten Mal mit begeisterten jungen evangelikalen Christen in Kontakt kam, die mir nicht nur Freundschaft, Liebe und Respekt entgegenbrachten, sondern die mir Nachfolge Jesu authentisch vorlebten und mir die Bibel als feste Orientierung und geistliche Kraftquelle attraktiv machen konnten. Erst jetzt erfuhr ich mein Christsein als persönliche und befreiende Beziehung zu Jesus. Eine ganz neue Dimension der Bibel öffnete sich mir nun – vor allem auch im Studium des Johannesevangeliums, der Psalmen und des Römerbriefs. Ich wurde Mitarbeiter in der Jugendarbeit, später Pfarrer und schließlich Missionar.

Lange hatte ich auf diesem neuen Glaubensweg eine absolut negative Einstellung zu meiner christlich-sozialen Vergangenheit bis ich in meiner Arbeit als Missionar in Guinea-Bissau, West Afrika, zum ersten Mal „live“ die Armut und Ungerechtigkeit als Folge kolonialer Unterdrückung verstärkt durch Jahre kommunistischer Misswirtschaft erlebt habe. Bis heute leidet das guineische Volk noch unter korrupten Politikern und einer Drogenmafia, die jede Entwicklung des Landes systematisch zu verhindern sucht. Dringend braucht es da neben der biblischen Botschaft auch praktische Hilfe und Einsatz für die benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft. Da war also offenbar doch ein wichtiges Element in der sozialen Praxis der Gemeinde, die ich als junger Mann erlebt hatte! Das Evangelium, so habe ich es seither in auch in vielen anderen weltmissionarischen Zusammenhängen erfahren, muss zwar in der Verkündigung von Kreuz und Auferstehung Jesu ihren Mittelpunkt haben, aber es muss sich auch um die ganzheitlichen Nöte der Menschen kümmern, sonst bleibt es unglaubwürdig. In der Sprache der Hermeneutik ausgedrückt: eine Kombination von Römerbrief und Bergpredigt! Wäre das ein Mittelweg zwischen „liberal und literal“, wie Held Evans ihn vorschlägt? Wäre das ein denkbarer Kompromiss?

Gute Einsichten und ein Spitzensatz

Dafür spricht in diesem Buch, dass Held Evans zurecht immer wieder auf die praktischen Konsequenzen im Leben hinweist, die die Auslegung jede der biblischen Literaturgattungen haben muss, auf die sie in ihrer Argumentation eingeht. Hermeneutik muss unser Leben praktisch beeinflussen, muss das Evangelium für die Welt sichtbar machen! Auch hat Held Evans meine Zustimmung darin, wenn sie sich dagegen wehrt, biblische Aussagen einfach 1:1 auf unser modernes Weltbild zu übertragen. Wer die Bibel einfach als Patentantwort für alle unsere Lebensfragen verwenden will, steht in der Gefahr, die Bibel von unserem gegenwärtigen Weltverständnis her „in den Griff“ zu nehmen, sich über sie zu stellen. Und er bewegt sich damit gefährlich nahe an einem  „Wohlstandsevangelium“, das Menschen am Ende immer enttäuscht und zerbrochen zurücklässt.  Einer der Spitzensätze von Held Evans ist, dass die Bibel sich so selten „benimmt“ wie wir es wollen (13). Wie wahr ist das! Wie viele haben schon gedacht, sie hätten den Generalschlüssel zu ihrer richtigen Auslegung in der Tasche und haben am Ende doch nur ihre eigenen Dogmen verstärkt und wichtige andere Aspekte der biblischen Botschaft vernachlässigt.

Ein halbherziger Kompromiss zur HKM

Leider ist da aber doch ein entscheidender Punkt in Held Evans Gedankenführung, der mich zurückschrecken lässt, auf den von ihr vorgeschlagenen Kompromissweg einzugehen. Denn so entschieden und leidenschaftlich – manchmal fast sarkastisch – sie sich von der „literalen“ bibelgläubigen Seite distanziert, so halbherzig und knapp tut sie das auf der anderen Seite gegenüber der „liberalen“ historisch-kritischen Exegese, der sie sich nach ihrer Abkehr von ihrer konservativen Vergangenheit zugewendet hatte.  Außer einer wiederholt zum Ausdruck gebrachten Sympathie für die biblischen Geschichten so wie sie dastehen, und außer der ehrlichen Schilderung ihrer intellektuellen Schwierigkeiten mit dem Inhalt mancher biblischer Berichte (vor allem der Kriegs- und Wundergeschichten!) gibt es keine Aussagen im Buch, die auch nur andeutungsweise ein Resultat der historisch-kritischen Exegese in Frage stellen würden. Im Gegenteil, die Schöpfungsberichte werden von ihr als historisch irrelevant und erst von der Exilgemeinde in Babylon entwickelte theologische Antwort an die Religion und Weltanschauung der Babylonier bewertet. Sie charakterisiert die Urgeschichte zwar als „Narrativ“, vergisst aber, dass es sich literarisch hier im Gegensatz zu den babylonischen Schöpfungsmythen eindeutig um „historisches Narrativ“ handelt (wie auch im ganzen Rest des 1.Buch Mose!), das eben nicht nur von Mythen und Symbolen, sondern von realen geschichtlichen Ereignissen reden will. Von den Wunderberichten des Neuen Testaments räumt Held Evans ein dass sie durchaus „farbenfrohe Übertreibungen von Ereignissen“ sind, die „geschehen oder nicht geschehen bzw. erzählt“ (worden) sind (179). Dabei ist sie sich wohl bewusst, dass in Analogie zur Fleischwerdung Jesu die biblischen Berichte eigentlich auch „leibhaftig“ verstanden und ausgelegt werden müssten. Im Blick auf die Faktizität der Auferstehung zum Beispiel räumt sie ein, dass ein farbiger Pastor ihr gegenüber einmal die leibliche Auferstehung mit den Worten begründet hat: „Wenn es bei der Auferstehung nur um Auferstehung in der Erinnerung und in den Herzen geht, ist das keine sehr gute Nachricht für meine Leute“ (178). Aber trotzdem kann sich Held Evans nie dazu durchringen, kritische Ergebnisse der historisch-kritischen Methode auch nur andeutungsweise in Frage zu stellen. So muss ihr Kompromiss zwischen „literal“ und „liberal“ letztlich halbherzig und unglaubwürdig bleiben.

Inspiriert oder kulturbedingt?

Unter Inspiration versteht Rachel Held Evans letztlich die Tatsache, dass Gott durch Menschen in menschlichen Umständen und trotz aller Fehler und Irrtümer dennoch seine „große Geschichte“ schreibt. Die Hauptaufgabe moderner Hermeneutik sieht sie darin „kulturell bedingte Annahmen von allgemeingültigen Wahrheiten zu trennen“ (203). Es muss an dieser Stelle die Frage erlaubt sein, wie sie im Einzelnen das Kulturbedingte von der allgemeiner Wahrheit unterschieden will ohne dabei „inspirierte“ Gedanken mit dem eigenen theologischen und ethischen Vorverständnis zu vermischen. Dass das schon automatisch durch die wissenschaftliche Auslegung im historischen Kontext mit Hilfe historisch-kritischer Arbeitsschritte garantiert wäre, kann aber nur der ernsthaft glauben, der nie mit solchen Werkzeugen gearbeitet hat.

Leider hat man beim Lesen von Held Evans Buch je länger je mehr dann genau diesen Eindruck: dass ihr sozial-aktivistisches Vorverständnis die Auslegung der biblischen Geschichten immer wieder entscheidend beeinflusst. Dabei muss ihr zugutegehalten werden, dass sie im Verlauf des Buchs nicht nur befreiungstheologische Standardtexte wie Exodus (Befreiung aus Ägypten), Deutero-Jesaja (Befreiung aus dem Exil) und die kleinen Propheten (Kritik an der Unterdrückung durch die Israelitischen Führer) in den Blick nimmt. Bewusst geht sie gerade auf die für sie schwierigsten Kapitel im Alten Testament ein: die „Kriegsgeschichten“ (61ff) bei Josua, den Richtern und den Königen. In ihnen erkennt sie Gewaltanwendung als biblische Realität an, will aber diese Texte trotzdem nicht per se von der biblischen Inspiration ausschließen. Am Ende will sie ihnen göttliche Eingebung wenigstens im Sinne einer Wahrnehmungshilfe für die Grausamkeit gegenwärtiger militärischer Konflikte zugestehen. Trotz aller Ehrlichkeit wird aber gerade hier deutlich, wie wenig offen Held Evans für die Gesamtbotschaft der Bibel ist. Ohne biblische Begründung kann sie schreiben: „Gott würde eher durch Gewalt umkommen als sie auszuüben“(77). Und per Zitat einen Autor sagen lassen: „Am Kreuz wurde der teuflische und gewaltsame „Krieger-Gott“, dem wir uns viel zu oft verschrieben haben, für immer verworfen“ (77). Die Frage bleibt, warum dann solche Berichte trotzdem so häufig in der Bibel stehen. Wieso wird Gott in Stellen wie Exodus 15,3 ausdrücklich als „Streiter“ (warrior) bezeichnet? Oder wie kommt es, dass in Offbg. 19,11ff der wiederkommende Christus eben nicht mehr arm auf einem Esel, sondern siegreich mit Schwert und Streitroß einreitet. Natürlich macht das Neue Testament klar, dass uns als Jünger Jesu Gewalt grundsätzlich verwehrt ist, aber Gott, der sich in Jesus im Fleisch offenbart, bleibt dennoch der Heilige! Sein Zorn bleibt eine biblische Wirklichkeit, und zwar von Genesis bis Offenbarung!

Kein biblischer Blick in die Zukunft?

Ähnliche Fragen an die Autorin stellen sich auch nach der Lektüre ihres 2. und 5.Kapitels über die prophetische und apokalyptische Literatur der Bibel. Kategorisch lehnt Held Evans hier die Zukunftsrelevanz aller prophetischen Schriften im AT und NT ab. Propheten reden grundsätzlich nur in ihre Gegenwart hinein. Apokalyptische Schriften sind nichts anderes als in die Zukunft verpackte Gegenwartsanalysen und lediglich dazu da, der gegenwärtigen Gemeinde Hoffnung und Kraft im Widerstand gegen die „Bestien“ der antichristlichen Königreiche (Babylon, Persien, Rom) zu geben. Das ist zwar nicht falsch, nimmt aber in seiner Einseitigkeit der Schrift nicht nur die Glaubwürdigkeit der messianischen Erfüllung alttestamentlicher Voraussagen, sondern auch die Aktualität und Stoßkraft ihrer Botschaft für die Zeitperiode, die der Wiederkunft Jesu unmittelbar vorausgeht. Natürlich warnt Jesus die Gemeinde vor Endzeit-Spekulationen und Berechnungen seiner Wiederkunft, aber er gibt der Gemeinde doch auch in allen drei synoptischen Evangelien sehr konkrete Zeichen und Anweisungen für diese Zeit, die sie auf die Kämpfe vor seinem sichtbaren Kommen vorbereiten sollen.

Was schützt uns vor unseren Vorurteilen?

Bleibt die Frage, was denn tragfähige(re!) Kriterien sein können, die Ausleger vor vorgefertigten Linsen und Vorurteilen in der Bibelauslegung schützen können. Held Evans schlägt vor, statt vorgefertigten Dogmen und Schlagworten lieber die biblischen Geschichten selbst sprechen zu lassen. Sie spricht von der „magischen Anziehungskraft“ (xi, xii, xxi, u.a.), die dieses Buch auf sie hatte und noch stets hat – trotz des Traumas, das sie durch ihren gesetzlich-engen Gemeindehintergrund in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hat. Sie erwähnt das Vorbild ihrer eigenen Eltern, deren Bibelglauben sie trotz allem annehmen konnte, weil sie „auf ihre Fragen mit Einfühlungsvermögen geantwortet haben“ (xvii). Könnte die Antwort auf die Frage einer vorurteilsfreieren Bibelauslegung von hier her ihre Lösung finden? Martin Luther und die Reformatoren haben mit dem Schriftprinzip („Die Schrift legt sich selbst aus“) dazu ja schon lange einen entscheidenden Beitrag geleistet. Natürlich kann jeder Ausleger auch in den Prozess der Auslegung der Schrift mit der Schrift seine eigenen Meinungen und Vorurteile eintragen. Wenn aber in den Prozess die ganze Gemeinde einbezogen wird und dabei die Bekenntnisse als Maßstab zugezogen werden erweist sich meines Erachtens jedoch die Schrift selbst immer wieder als die tragfähigste und gegen Vorverständnisse am besten geschützte hermeneutische Grundlage.

Woher kommt die Kraft zur Umkehr?

Was schließlich bis zuletzt unklar bleibt in Held Evans Buch ist die Frage, woher denn die innere Kraft kommen soll, um den Kampf gegen die Unterdrückung und Ausgrenzung, die – wie sie schreibt – „harte Arbeit von Buße und Wiederherstellung“ (127) leisten zu können. Damit komme ich zurück zum Beginn dieses Artikels. Das war ja genau das Problem in meiner frühen Nachfolge: Ich hatte gute biblische Ziele, hatte das hohe Vorbild Jesu in der Bergpredigt. Aber ich hatte keine Hilfe zur inneren Veränderung, keine Hinführung zu einem neuen Leben aus dem Geist Gottes. Und vor allem keine lebendige Gemeinschaft, in der das alles sichtbar geworden wäre. Wären da nicht doch die Themen Sündenvergebung, Wiedergeburt und Heiligung von entscheidender Bedeutung, die Held Evans im ganzen Buch so vehement als gesetzlich und eng zurückzuweisen versucht? Themen, die ja nicht erst die Südlichen Baptisten in den USA erfunden haben, sondern die für die Kirche aller Zeiten wichtige Bestandteile der Lehre waren – neben allem daraus entstehenden sozialen und diakonischen Engagement? Bezogen auf das Buch: Müsste die Möglichkeit glaubwürdigen und tatkräftigen Christseins, die Held Evans bei ihren eigenen bibelgläubigen Eltern gesehen hat, prinzipiell dann nicht auch konservativen evangelikalen Gemeinschaften als Ganzes zugestanden werden können, wenn sie sich um das eben beschriebene Gleichgewicht zwischen innerer Erneuerung und daraus folgender Tat bemühen?

Eine demütige Haltung zur Schrift

In ihrem ganzen Buch schätze ich am meisten Rachel Held Evans Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Immer wieder gesteht sie ihre eigenen Grenzen ein, immer wieder ist sie bereit zuzugeben, dass sie auf manche Fragen schlicht keine Antwort hat. Diese Einstellung ehrt Gott in seiner Souveränität und Freiheit. Diese Haltung ehrt letztlich auch die Schrift, die immer über unseren Bemühungen zur Auslegung steht. Bei allen Fragen, die ich an Rachel  Held Evans gestellt habe, will ich mich ihr an diesem Punkt doch gerne anschließen. Bei mehr Bibeltexten und bei mehr christlichen Lebensentwürfen als uns lieb ist werden wir wahrscheinlich erst in der Ewigkeit erkennen, was Gott wirklich darüber gedacht hat.


Evans, Rachel Held. Inspired: Slaying giants, walking on water, and loving the Bible again. 2018. Nashville (TE): Nelson Books. 236 Seiten in englischer Sprache. Zitate wurden vom Autor aus dem Englischen übersetzt.

 

Rachel Held Evans – Eine postevangelikale Hoffnung für die Kirche?

In den letzten Wochen war der Worthaus-Podcast „Das Wort und das Fleisch“ mein stetiger Begleiter auf dem Weg zur Arbeit und wieder zurück. Die Einsichten über die Entwicklung der verschiedenen christlichen Strömungen seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind ohne Frage sehr unterhaltsam und hochinteressant. Am Ende lassen sie mich aber doch ein wenig ratlos zurück. Denn den vielen Verfallserscheinungen allerorten werden kaum hoffnungsvolle Perspektiven gegenübergestellt. Immerhin: Am Ende der Folge 10 über die „neuen Evangelikalen“ wird die (leider inzwischen verstorbene) US-Amerikanerin Rachel Held Evans als wegweisende Impulsgeberin vorgestellt. Ihr Bild ziert auch die Internetseite zu dieser Podcastfolge. Das hat mein Interesse geweckt. Ist da vielleicht wirklich ein Schatz zu finden, der wegweisend sein könnte für eine hoffnungsvolle Zukunft der Kirche Jesu?

Es ist kompliziert

Rachel Held Evans hat mehrere Bücher verfasst. Gelesen habe ich das Buch „Searching for Sunday“, das auf Deutsch unter dem Titel „Es ist kompliziert“ erschienen ist. Darin erzählt Evans auch ihre eigene Glaubensgeschichte. Aufgewachsen in einem traditionell evangelikalen Umfeld war sie lange Zeit eine engagierte Verfechterin typisch evangelikaler Standpunkte. Jedoch bekam ihr Glaubenssystem zunehmend Risse. Schließlich verließ sie ihre evangelikale Heimatgemeinde, weil sie „nicht so tun konnte, als würde ich Dinge glauben, an die ich nicht mehr glaubte.“ (S. 110) Anstoß nahm sie an weit verbreiteten evangelikalen Positionen wie der Unfehlbarkeit der Bibel, der Infragestellung der Evolutionstheorie oder dem Umgang mit dem Thema „Gericht und ewige Strafe“. Große Probleme bereiteten ihr zudem die oft fehlende Offenheit für Frauen in Leitungsämtern, der ablehnende Umgang mit LGBT (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender)-Menschen, die weitgehend republikanisch geprägte politische Ausrichtung sowie die allgemein empfundene Unehrlichkeit im Umgang mit schwierigen Glaubensfragen. Nach einer gemeindelosen Zeit nahm Evans an einem Gemeindegründungsprojekt teil, das aber scheiterte. Schließlich schloss sie sich mit ihrem Mann einer episkopalen Gemeinde an.

Hin- und hergerissen

Immer wieder spürt man Rachel Held Evans ihre Zerrissenheit in Bezug auf die Evangelikalen ab. Als präzise Zusammenfassung ihres Zustands zitiert sie den Satz: „Also für mich sieht es so aus, als wäre der Evangelikalismus so was wie der Freund, mit dem du vor zwei Jahren schlussgemacht hast, auf dessen Facebookseite du aber immer noch regelmäßig zwanghaft vorbeischaust.“ (S. 297) Tatsächlich war sie trotz ihrer Abkehr vom Evangelikalismus durch ihren äußert erfolgreichen Blog jahrelang eine vielgefragte Referentin auf christlichen Konferenzen. Und auch wenn sie mit vielen Dingen in der evangelikalen Welt hadert, so verliert sie in ihrem Buch doch nie ihre Sehnsucht, in ihrem „Glauben zu Hause zu sein“ und darin „festen Grund unter den Füßen zu haben.“ (S. 245) Allerdings will sie sich dabei auf keinen Fall entscheiden müssen „zwischen Glaube und Wissenschaft, Christentum und Feminismus, der Bibel und der historisch-kritischen Methode, Lehre und Mitgefühl … Natürlich wollte ich glauben, aber ich wollte so glauben, dass meine intellektuelle Integrität und meine Intuition dabei keinen Schaden nahmen, so, dass sowohl Herz als auch Verstand voll beteiligt waren.“ (S. 91) Es ist ohne Zweifel kompliziert, einen fest gegründeten, heimatgebenden Glauben auf der Basis von historisch-kritischer Theologie zu entwickeln. Warum für Evans die Akzeptanz der historisch-kritischen Methode als Voraussetzung gilt, um intellektuell integer glauben zu können, wird im Buch leider nicht begründet.

Grenzen sind böse – ich muss mich abgrenzen!

Wie so oft in der postevangelikalen Welt begegnet uns auch bei Rachel Held Evans dieser typische Widerspruch zwischen einer leidenschaftlichen Ablehnung von Grenzen bei gleichzeitiger Abgrenzung vom Evangelikalismus. In den Worten von Evans hört sich das so an:

„Besonders der Evangelikalismus hat in den letzten Jahren ein Wiederaufleben der Grenzkontrollen erlebt. Dabei haben Allianzen und Koalitionen, die sich um gemeinsame theologische Themen gebildet haben, zweitrangige Angelegenheiten zu solchen von höchster Priorität erhoben. Alle, die nicht ihrem strengen Reglement bezüglich Glaubenssätzen und Verhaltensweisen gerecht werden, erklären sie als ungeeignet für die Gemeinschaft der Christen. Stets dazu verpflichtet, die Kirche von jedem fehlgeleiteten Gedanken, von jeder Meinungsverschiedenheit oder abweichenden Verhalten zu säubern, schnüren diese selbst ernannten Wächter schwere Pakete legalistischer Regeln und laden sie auf die Schultern matter Menschen. Sie sieben die Schmeißfliegen aus der Theologie aller anderen heraus, während sie ihre eigenen Ungereimtheiten von der Größe eines Kamels herunterschlucken. Sie schlagen den Leuten die Tür zum Reich Gottes vor der Nase zu und sagen ihnen, sie sollen wiederkommen, wenn sie nüchtern seien, wieder auf eigenen Füßen stehen können, Republikaner, geläutert, ohne Zweifel, ergeben, hetero. Aber das Evangelium braucht keinen Bund mit dem Ziel, die falschen Leute draußen zu halten.“ (S. 216) „Es gibt Denominationen, von denen ich nicht guten Gewissens ein Teil sein könnte, weil sie Frauen von der Kanzel und Schwule und Lesben vom Tisch des Herrn verbannen. … Dispute über die Glaubenslehre mögen in manchen Fragen vernachlässigbar sein, manche sind es aber auch wert, dass man sie ficht. Immerhin sind wir eine Familie, also streiten wir auch wie eine.“ (S. 257)

Evangelikalen wirft man ja häufig vor, die Sexualethik zum Hauptstreitpunkt zu machen, obwohl sie doch ein biblisches Randthema sei. Hier wird wieder deutlich: Es sind eben auch die Postevangelikalen selbst, die genau diese sexualethischen Fragen zum zentralen Streitthema machen, während sie das evangelikale Ringen um die Bewahrung zentraler Glaubensinhalte eher zur ausgrenzenden Rechthaberei erklären.

Sehnsucht nach Authentizität, Identität und Gemeinschaft ohne Grenzen

Wer glaubt, man könne Menschen wie Rachel Held Evans durch kulturell modernere Gemeinden oder durch mehr kluge Apologetik für den Evangelikalismus zurückgewinnen, täuscht sich. Evans schreibt: „Wir wollen kein moderneres oder hipperes sondern wahrhaftiges und authentisches Christentum.“ (S. 17) „Das letzte, das wir brauchen, ist mehr Information über Gott. Wir brauchen die Praxis der Auferstehung. … Sie wollen um jeden Preis mehr Gott erfahren. Nicht mehr über Gott. Mehr Gott.“ (S. 21) Am meisten bewegt hat mich dabei der Schrei nach Identität: „Wir alle sehnen uns danach, dass uns jemand sagt, wer wir sind. Der größte Kampf im Leben eines Christen ist es, den Namen, den Gott für uns hat, anzunehmen, zu glauben, dass wir geliebt sind, und zu glauben, dass das genug ist.“ (S. 49) Dazu sehnt sich Held nach einer Gemeinschaft, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen überwindet und die Liebe Gottes durch uneingeschränkte gegenseitige Annahme sichtbar macht: „Eine Mahlzeit ist sakramental, wenn die Reichen und die Armen, die Mächtigen und die Randfiguren, Sünder und Heilige gleichberechtigt am Tisch sitzen. Eine Ortsgemeinde ist sakramental, wenn sie ein Ort ist, an dem die Letzten die Ersten sind und die Ersten die Letzten sind, und wenn diejenigen, die hungrig und durstig sind, zu essen und zu trinken bekommen. Und die Weltkirche ist sakramental, wenn sie keine geografischen Grenzen kennt, keine politischen Parteien, nicht eine vorherrschende Sprache oder Kultur und wenn sie sich nicht durch Macht und Gewalt vergrößert, sondern durch Handlungen der Liebe, der Freude und des Friedens, durch Missionen der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit und der Demut.“ (S. 324)

Ich kann all das so gut verstehen. Mehr noch: Die Träume von Rachel Held Evans sind auch meine Träume! Die Sehnsucht nach Identität steht sogar im Mittelpunkt des Glaubenskurses Aufatmen in Gottes Gegenwart. Die Frage, wie Informationen über Gott in eine existenzielle Gottesbegegnung münden können, treibt mich ebenso um. Und selbstverständlich sehne auch ich mich nach christlichen Gemeinschaften, denen es gelingt, kulturelle und gesellschaftliche Barrieren zu überwinden und das zu leben, was in unserer Gesellschaft zwar dauernd lautstark gefordert aber doch nur selten gelebt wird: Liebevolle Gemeinschaft in vielfältiger Diversität, weil wir vor Gott alle gleich sind und das Evangelium alle kulturellen Grenzen sprengt. Ohne Zweifel versagen wir Evangelikalen oft bei diesen Themen. Ich frage mich jedoch: Können das die Progressiven, die Postevangelikalen und die Liberalen wirklich besser als die Evangelikalen?

Live it out!?

Scheinbar ja! Diesen Eindruck vermittelt zumindest Rachel Held Evans bewegender Bericht von der „Live it out“-Jahreskonferenz des Netzwerks homosexueller Christen. In hochemotionalen Treffen wird da der Schmerz von homosexuellen Christen verarbeitet, die in ihrem evangelikalen Umfeld viel Ablehnung erlebt haben. Wen könnte es kalt lassen, wenn homosexuelle Menschen endlich Verständnis und Annahme finden und wenn Ex-Evangelikale um Vergebung für frühere Ablehnung und Ausgrenzung bitten? Zumal es ja ohne Zweifel stimmt, dass viele Evangelikale im Umgang mit homoerotisch empfindenden Mitchristen viel Schuld auf sich geladen haben.

Und doch wurde mir gerade bei diesem Kapitel die Schwäche dieses Buchs deutlich: „Live it out“ funktioniert ja nur, solange man ausblendet, wie abgründig unsere menschliche Sexualität sein kann. Das geht auf Events und Konferenzen, aber nicht in Gemeinden, die Menschen dauerhaft begleiten müssen. Und auf Dauer kommt auch eine sexualethisch liberal geprägte Gemeinschaft nicht an der Frage vorbei, wie man mit Menschen umgeht, denen man insgesamt eben doch nicht unbedingt nach dem Mund reden kann. Denn selbst wenn ich heute zur praktizierten Homosexualität ja sage, stellt sich ja morgen die Frage: Wie gehe ich mit denen um, die in häufig wechselnden Partnerschaften oder polyamor leben (wollen)? Wie gehe ich mit denen um, die ein Kind abtreiben wollen, weil es der Karriere im Weg steht? Oder um ein aktuelles Beispiel aus meiner evangelischen Kirche aufzugreifen: Wie gehe ich mit denen um, die aktive Sterbehilfe praktizieren wollen? Sage ich da auch: „Live it out“?

Die menschliche Begierde nach Sex hat schon unzählige Menschen tief verletzt, Familien zerbrochen, Kindern ihre Heimat geraubt sowie unzähligen Prostituierten und Pornodarstellern ihre Würde und ihr Leben zerstört. Ich will deshalb in einer Gemeinde leben, die einem Mann mit einer kranken Frau nicht sagt: „Live it out“ sondern: Bleib treu, auch wenn es für Dich bedeutet, dass Du Deine Sexualität nicht ausleben kannst. Die eigentliche Herausforderung beginnt für alle Gemeinden da, wo wir sagen müssen: Lass es sein! Lebe heilig! Und halte Dich an den Gott, der besser weiß als wir, wie das Leben funktioniert und was wirklich ein Ausdruck von Liebe ist!

Deshalb beeindrucken mich Sprüche wie „Live it out“ oder „Bei uns sind alle willkommen“ wenig, solange man die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit christlicher Lebensführung einfach dadurch auflöst, dass man sich auf einen engen Ausschnitt fokussiert und behauptet, der biblische Anspruch existiere gar nicht. Auf Dauer kann sich keine christliche Gemeinschaft drücken vor dem anspruchsvollen Spannungsfeld zwischen Liebe und Wahrheit, zwischen menschlicher Annahme und notwendiger Konfrontation mit biblischer Ethik.

Wo ist das Tor zum Paradies?

Was mir generell fehlt in diesem Buch sind fundierte Antworten auf die Frage, wie wir denn die paradiesischen, alle Grenzen überwindenden Gemeinschaften bauen sollen, von denen ich ebenso träume wie Rachel Held Evans? Sätze wie diese hören sich ja wundervoll an: „Stellt euch vor, die Kirche würde zu einem Ort, an dem alle sicher sind, es aber niemand bequem hat. Stellt euch vor, die Kirche würde zu einem Ort, an dem wir einander die Wahrheit sagen. Es könnte tatsächlich passieren, dass wir ein Heiligtum schaffen.“ (S. 120) Tja, warum tun wir es dann nicht einfach? Warum sprießen nicht längst schon massenhaft neue progressiv/postevangelikale Gemeinden aus dem Boden, die die evangelikale Enge und Oberflächlichkeit hinter sich lassen und die Träume von offener, authentischer und ehrlicher Gemeinschaft in die Praxis umsetzen? Warum ist es ganz im Gegenteil so, dass der Liberalismus nach wie vor nur eine kleine Minderheit in der US-amerikanischen Kirchenlandschaft repräsentiert?

Ich glaube, das hat einen einfachen Grund: Es ist eben leicht, von grenzenlosen Gemeinschaften zu träumen. Es ist aber enorm schwer, sie tatsächlich zu bauen. Solche Träume funktionieren immer nur so lange, bis wir ganz konkret damit anfangen, mit echten Menschen echte Gemeinschaften aufzubauen. Jeder, der das schon versucht hat, weiß: Wenn unsere kitschigen Träume von grenzüberwindender Gemeinschaft von der harten Realität unserer Ecken und Kanten, unserer oft schwer erträglichen Verbiegungen, unseres Misstrauens, unseres Neids, unserer Vorurteile, unseres Hangs zur Manipulation, unserer Ichbezogenheit, unserer Arroganz, unserer Konsumhaltung und Faulheit eingeholt wird, dann erst zeigt sich, ob unser Evangelium die Kraft hat, das Wunder dauerhafter, liebevoller und heilsamer Gemeinschaften hervorzubringen. Und ich bin überzeugt: Erlöste Gemeinschaft wächst eben doch nur dort, wo Menschen durch das Kreuz erlöst worden sind.

Wasch mich, aber mach mich nicht nass

Manchmal scheint Rachel Held Evans dieses Problem zu spüren, wenn sie zum Beispiel schreibt: „Dieser Tage haben alle so ihre Meinung, warum Menschen die Kirche verlassen. Manche wollen das Problem lösen, indem sie das Christentum gefälliger machen – du weißt schon, den ganzen seltsamen mystischen Kram von wegen Sünde, Dämonen und Tod und Auferstehung weglassen und durch Selbsthilfebücher, Politik, theologische Systeme oder hippe Kaffeebars ersetzen. Aber manchmal glaube ich, was die Kirche am meisten braucht, ist die Wiederentdeckung ihrer seltsamen Seiten.“ (S. 52) Wie wahr. Genau darunter leide ich ja so sehr in meiner evangelischen Kirche. Der alte Versuch der liberalen Theologie, das Christentum durch Entmythologisierung intellektuell hoffähig zu machen, raubt ihm zugleich seine Kraft. Rachel Held Evans spürt also selbst, dass ein geschichtsloser, zeitgeistiger Glaube keine Wurzeln verleihen kann. Und doch scheint mir: Mit Sätzen wie dem folgenden zerstört sie wieder selbst genau diese Wurzeln:

„Im schlimmsten Fall hält die Kirche die Sakramente zurück in dem Versuch, Gott in einer Theologie, einem Regelverzeichnis, einem Glaubensbekenntnis, einem Gebäude einzuschließen.“ (S. 225)

Meine evangelische Kirche müsste demnach ein leuchtendes Hoffnungsmodell sein. Sie hat schon längst aufgehört, irgendjemand die Sakramente vorzuenthalten. Theologische Häresien kennt sie praktisch nicht. Regeln kennt sie eigentlich nur noch im Kirchenrecht, aber nicht mehr im Leben der Gläubigen. Und es gibt längst keinen Satz im apostolischen Glaubensbekenntnis mehr, der nicht von Theologen an den evangelischen Fakultäten bestritten worden wäre. Trotzdem ist sie weit davon entfernt, dass unter ihrem Dach viele hoffnungsvolle Gemeinschaften mit liebevoller Diversität heranwachsen.

Mich wundert das nicht. Denn ein Glaube, der Halt und Wurzeln verleiht, lebt davon, dass er aus etwas gespeist wird, das größer ist als wir selbst. Glaube lebt auch von der Ehrfurcht vor dem Heiligen, von einer mir übergeordneten Autorität, vor der ich mich beuge und an der ich mich zugleich festhalten kann. Anders ausgedrückt: Glaube, der Halt und Wurzeln verleiht, lebt von Theologie, Regeln und Bekenntnissen, die letztlich nicht menschengemacht sind, sondern die uns geschenkt und offenbart werden. Wer Gottes Königreich ohne die Gebote des Königs, wer die Wurzeln ohne die Regeln haben möchte, der lebt nach dem Motto: Wasch mich, aber mach mich nicht nass.

Die Kirche wird natürlich niemals vollkommen sein in ihrem Versuch, die Theologie, die uns in der Bibel von Jesus, von den Aposteln und den Propheten überliefert wurde, genau zu erfassen und zu vermitteln. Aber wenn sie aufhört, der biblischen Theologie in einer demütigen, sich unterordnenden Haltung nachzuspüren, sich unter das Erkannte zu beugen und daraus Regeln für das Leben und Bekenntnisse für unseren Glauben abzuleiten und daran auch den Segen und das Heil zu knüpfen, dann ist sie keine Kirche mehr. Dann verteilt sie nur noch das, was Bonhoeffer einst als billige Gnade und als Todfeind der Kirche bezeichnet hat. Denn was nichts kostet, ist auch nichts wert. Dafür bringt auch niemand Opfer. Dafür steht niemand morgens auf. Dafür spendet niemand Geld. Der katholische Priester Dwight Longenecker schrieb dazu treffend: „Die Modernisten sehen Religion nicht als Infragestellung, sondern als Erfüllung ihrer Bedürfnisse. Hedonisten werden bald begreifen, dass Religion – selbst in ihrer verwässerten modernen Form – den Stress nicht wert ist. … Das Dogma der Progressiven ist, dass „alle willkommen sind.“ Sie verstehen nicht, dass eine Religion nur dann eine Religion sein kann, wenn es Grenzen gibt. Kein Club ohne Regeln für die Mitlieder und keine Kirche ohne Dogma und moralische Erwartungen. Die Türen der progressiven Kirchen mögen weit offen sein… aber das führt letztlich dazu, dass die Menschen die Kirchen so schnell wie möglich verlassen werden.“

Keine Identität ohne Gottes Wort – Keine Gnade ohne das Kreuz

Rachel Held Evans sehnt sich zurecht nach einer Kirche, die Menschen Identität verleiht. Identität finden wir aber nur durch die Begegnung mit einem „Du“, einem Gegenüber, das uns Identität zusprechen kann. Wir finden deshalb nur dann eine neue Identität in Gott, wenn wir von Gott als Gegenüber angesprochen werden. Die Bibel ist das einzig verbindliche Zeugnis von Gottes Wort, das die Kirche hat. Eine kritische Theologie, die der Bibel immer mehr die Qualität abspricht, Gottes heiliges Wort an uns zu sein, sägt deshalb immer auch an der identitätsstiftenden Kraft der Kirche.

Rachel Held Evans sehnt sich zurecht nach einer Kirche voller Gnade. Aber Gnade fließt nur unter dem Kreuz, wo Christus an unserer Stelle für unsere Sünden stirbt und wir Menschen begreifen, wie verloren und wie sehr wir auf unverdiente Gnade angewiesen sind. Eine Theologie, die sich immer schwerer damit tut, von unserer Sündhaftigkeit, Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit sowie vom stellvertretenden Sühneopfer Jesu zu sprechen, ersetzt die Gnade immer mehr durch Moralismus.

Wo sind die Modelle der Hoffnung?

Rachel Held Evans hat recht: Wir Evangelikalen haben allzu oft versagt darin, die identität- und gnadenbringenden Schätze der Bibel zu leben. Zu oft haben wir den Buchstaben bewahrt, aber die Kraft verloren. Zu oft sind wir abgerutscht in Gesetzlichkeit, die zwangsläufig in Heuchelei enden muss. Und doch glaube ich: Niemand hat es so oft wie wir Evangelikalen geschafft, genau das zu leben, wonach Rachel Held Evans sich sehnt: Identitätsstiftender, gnadenvoller, heilsamer Glaube in Gemeinschaften, die viele kulturelle und gesellschaftliche Schranken überwinden. Ich habe das selbst erlebt. Und ich sehe heute mit Staunen, wie auf der ganzen Welt evangelikal geprägte Gemeinschaften wachsen und dabei auch den widrigsten Umständen trotzen: In den Untergrundkirchen Chinas. In den südamerikanischen Favelas. Unter der menschenverachtenden Diktatur der iranischen Ajatollahs. Unter der Bedrohung grausamer Islamisten wie dem IS oder Boko Haram. In diesen Regionen zeigt sich heute, welche Form des Christentums tatsächlich in der Lage ist, ein authentischer, grenzüberwindender Hoffnungsbringer zu sein. Soweit ich es sehen kann, ist das Christentum dort überall evangelikal geprägt. Zu diesen bewundernswerten Leuten werde ich mich deshalb auch zukünftig gerne zählen.

Zugleich hoffe ich, dass wir uns von solchen ehrlichen und authentischen Stimmen wie die von Rachel Held Evans herausfordern lassen, immer wieder zurückzukehren zur ersten Liebe, zu Christus, seinem kraftvollen Wort und seinem Geist, damit Gesetzlichkeit, Heuchelei, Oberflächlichkeit und Gnadenlosigkeit unser Zeugnis nicht verdunkeln.


Das Buch “Es ist kompliziert” von Rachel Held Evans ist im Brendow-Verlag erschienen und hier erhältlich.

Siehe dazu auch: