Postevangelikale: Was sie glauben und was wir daraus lernen können

Postevangelikale sorgen für Diskussionen. Über Internet-Portale wie Worthaus oder Hossa-Talk erreichen sie auch viele evangelikale Christen. Welche Überzeugungen haben sie? Was können Evangelikale von ihnen lernen? Und worin unterscheidet sich ihre Theologie von Überzeugungen, die aus evangelikaler Sicht unaufgebbar wichtig sind? Eine genauere Analyse zeigt: Im Zentrum der Debatten steht letztlich die Bibelfrage. An ihr entscheidet sich die Ausrichtung und die Zukunft der Kirche Jesu.

Die Inhalte dieses Artikels sind auf YouTube als Vortrag verfügbar, der am 1.11.2019 bei einer Tagung des deutschen christlichen Techniker-Bunds (DCTB) gehalten wurde.
Der Artikel steht auch als PDF zum Download bereit.

Was sind eigentlich „Postevangelikale“?

„Postevangelikale“ sind Menschen, die einen mehr oder weniger langen Abschnitt ihres Lebens innerhalb der evangelikalen Bewegung verbracht haben. Viele Postevangelikale wollen diese Vergangenheit auch gar nicht leugnen sondern ganz bewusst sagen: Die evangelikale Welt ist Teil meiner Geschichte, meines Werdegangs und insofern immer noch Teil meiner Identität. Die Vorsilbe „Post“ („nach“) bedeutet aber auch: Postevangelikale sind jetzt in einer Lebensphase, in der sie diese evangelikale Frömmigkeit hinter sich gelassen haben – aus welchen Gründen auch immer. Die Konsequenz ist mindestens eine theologische Neuorientierung. Viele Postevangelikale haben zudem ihre evangelikalen Gemeinschaften verlassen und sich neue Gemeinschaften und Netzwerke gesucht. Oder aber sie wollen ihre neue Art des Glaubens für sich persönlich leben und pflegen.

Bekannte Christen outen sich als postevangelikal

In den letzten Jahren haben einige bekannte Christen von sich reden gemacht, auf die diese Beschreibung zutrifft. Torsten Hebel ist vielen Christen noch als Redner von „Jesus-House“ bekannt, der Jugendausgabe von ProChrist. Im Jahr 2015 erschien sein Buch „Freischwimmer“, das für viele Evangelikale ein kleiner Schock bedeutete. Denn darin schrieb er unter anderem: „Mein ganzes Konstrukt ‚Glaube‘, das ich mir lange schöngeredet habe, ergibt für mich einfach keinen Sinn mehr.“ Und ich glaube: Für viele Evangelikale hat es sich schon eigenartig angefühlt, wenn da ein Mann, der ihnen früher den Glauben nahe gebracht hat, jetzt plötzlich selber sagt: Ich kann nichts mehr damit anfangen.“ [1]

Immerhin: Das Ende des Buchs klingt zunächst versöhnlich. Torsten Hebel schildert, dass er den Glauben an Gott durch ein persönliches Erlebnis wieder neu gefunden habe. Der Inhalt dieses neuen Glaubens liest sich allerdings ziemlich unevangelikal: Gott ist für Torsten Hebel keine Person mehr. Er ist uneingeschränkt bei jedem Menschen gleichermaßen vom ersten bis zum letzten Atemzug. Eine durch Sünde bewirkte Gottesferne, die durch eine Entscheidung für Jesus und Vergebung der Schuld überwunden werden kann, scheint es in dieser Sichtweise nicht mehr zu geben.

Umso bemerkenswerter war es, dass das Buch im evangelikalen Umfeld weitgehend unkritisch beworben wurde. Und es hatte dort gewaltigen Erfolg! In idea Spektrum war zu lesen, dass im schwächelnden christlichen Buchmarkt gerade dieser Titel einer der ganz großen Verkaufserfolge war.

Auch Gottfried Müller, der sich selbst mit Vornamen Gofi nennt, war vielen Christen als Jugendevangelist bekannt. Im Jahr 2018 erschien sein Buch mit dem provokanten Titel „Flucht aus Evangelikalien“. Zusammen mit Jakob Friedrichs, der auch durch das christliche Comedy-Duo Superzwei bekannt wurde, produziert Gottfried Müller den Pod­cast Hossa Talk – der aktuell wohl bekannteste christliche Podcast im deutschsprachigen Raum. Mindestens jede zweite Woche erscheint eine neue, etwa 90 minütige Folge, zu der oft auch Gäste eingeladen werden.

Was glauben Postevangelikale?

Der postevangelikale Blogautor Christoph Schmieding fasst wie folgt zusammen, welche Themen Postevangelikale umtreiben: „Letztlich bewegen postevangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. … Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung  mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.“ [2]

Die Themen, die unter Postevangelikalen diskutiert werden, sind somit eigentlich nicht neu. Schon seit der Aufklärung wurden im Rahmen der liberaleren Theologie bestimmte Glaubensinhalte konservativer Frömmigkeit in Frage gestellt:

  • Kann es sein, dass Menschen, die sich nicht auf Jesus einlassen wollen, am Ende auf ewig in einer Gottesferne landen, die Jesus als „Hölle“ bezeichnet hat?
  • Ist das Christentum wirklich der einzige Weg zu Gott? Wollen wir wirklich so hochmütig sein, allen anderen religiösen Menschen auf der Welt abzusprechen, dass auch sie einen Weg zu Gott finden können?
  • Wollen wir Menschen wirklich sagen, dass es Sünde ist, vor der Hochzeit miteinander ins Bett zu gehen, sich scheiden zu lassen oder gleichgeschlechtlich zu heiraten? Ist das heutzutage nicht überholt?

Letztlich laufen alle diese Fragen auf die folgende Frage zu: Kann die Bibel wirklich ein Maßstab sein, unter den man sich beugen muss? Ist sie wirklich „Wort Gottes?“ Oder ist sie nicht viel mehr ein historisches Dokument von Menschen, die Erfahrungen mit Gott hatten und subjektiv davon berichten?

Was können wir von Postevangelikalen lernen?

In seinem Buch „Flucht aus Evangelikalien“ sowie im Hossa Talk spricht Gottfried Müller immer wieder über einige problematische Erfahrungen, die er im evangelikalen Umfeld gemacht hat. Sein großes Oberthema ist dabei die These: Es geht oft ziemlich eng zu unter Evangelikalen. Zum Beispiel gebe es oft zu wenig Raum zum Denken. Über den Podcast Hossa Talk sagt Müller: „Wir haben uns vorgenommen, unsere Zweifel, Fragen und Überzeugungen offen auszusprechen. Warum? Weil wir die Erfahrung machen, dass man das in vielen christlichen Gemeinschaften nicht darf.“[3] Müller hat zweifelsohne recht: Es gibt Fragen, über die man nicht gerne spricht unter Evangelikalen, die aber trotzdem viele Evangelikale umtreiben, weil sie sich aufdrängen in einer Welt, die das Christentum in vielen Bereichen in Frage stellt.

Enge stellt Gottfried Müller auch beim Thema der Vaterliebe Gottes fest, wenn er auf schreibt: „Wer von uns betet in der Gewissheit, dass ein liebender ‚Abba‘ es kaum erwarten kann, dem Gestotter seines Kindes zu lauschen? Ist es nicht so, dass wir ihn eher als unseren leiblichen zeitungslesenden Vater vor Augen haben, der, von einem langen Arbeitstag rechtschaffen müde, eigentlich nur noch eines will, nämlich in Ruhe gelassen zu werden?“ (S. 41) Tatsächlich scheint für gar nicht so wenige Evangelikale die Vaterliebe Gottes kaum mehr als ein theologisches Konstrukt zu sein, das zwar für wahr gehalten wird, das aber nicht das eigene Herz berührt und das deshalb trotzdem auf einer tiefen emotionalen Ebene bezweifelt wird, vielleicht sogar ganz unbewusst.

Was Gottfried Müller ebenfalls vermisst ist Raum für ein freies Gewissen. Er schreibt dazu: „Wir Evangelikalen haben schreckliche Angst davor, ungenügend zu sein. Wir glauben zwar, dass der Christus […] dafür gestorben ist, damit wir frei sein können von der Schuld und der Anklage Satans. […] Aber Hand aufs Herz, wer von uns glaubt das denn wirklich?“ (S. 41) In der Tat ist auch Vergebung etwas, das Evangelikale natürlich theologisch für wahr halten. Das bedeutet aber noch längst nicht, dass Vergebung auch praktisch und existenziell erlebt wird. Zugleich halten Evangelikale die Gebote Gottes und seine Heiligkeit hoch. Das kann leicht das Gefühl auslösen, dass Gott doch nicht wirklich mit uns zufrieden sein kann.

Und schließlich vermisst Gottfried Müller Raum für Gnade statt Leistung. Er schreibt dazu: „Ich habe die Bibel so verstanden: Gott hat dich aus Gnade errettet, und jetzt beweise gefälligst, dass du es wert gewesen bist! Ich arbeite mir also den Arsch ab, bis es nicht mehr ging.“ (S. 91) Natürlich war das nie seine offizielle Theologie. Aber jeder Nachfolger Jesu weiß, wie leicht man tatsächlich in ein Leistungsdenken und in eine Werkgerechtigkeit abrutschen kann.

Deshalb ist es gerade auch aus evangelikaler Sicht wichtig, sich den Anfragen von Postevangelikalen zu stellen, sich einen Spiegel vorhalten zu lassen und sich zu fragen:

  • Wo werden in den evangelikalen Gemeinschaften die heißen Eisen des Glaubens wie z.B. Homosexualität, Sex vor der Ehe, Widersprüche in der Bibel, Gewalttexte im Alten Testament oder Schöpfung und Evolution angesprochen?
  • Wie wird die Vaterliebe Gottes erlebbar, so dass sie nicht nur unseren Kopf erreicht sondern auch das Herz berührt?
  • Wie finden wir zu einem reinen Gewissen? Und wie entsteht eine offene Atmosphäre, in der man auch schwach und ehrlich sein darf, in der man einander trägt, füreinander betet und sich gegenseitig die Vergebung Gottes zuspricht?
  • Wie werden Christen frei von frommem Leistungsdruck?

Die Existenz der postevangelikalen Bewegung macht deutlich: Ohne Antworten auf diese anspruchsvollen Fragen werden sich wohl weiterhin Menschen sich aus den evangelikalen Gemeinschaften verabschieden, weil sie die dortige Frömmigkeit als etwas einengendes und verletzendes erleben statt als etwas heilbringendes und aufbauendes.

Worin unterscheidet sich evangelikale und postevangelikale Theologie?

Manche Christen neigen dazu, die Differenzen zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen ganz auf diese Themen zu reduzieren. Das wäre aber eine sehr unzureichende Beschreibung dessen, was viele Evangelikale und Postevangelikale voneinander trennt. Denn neben allen Fragen um Enge und Verletzungen geht es ganz klar auch um theologische Differenzen zu wichtigen und zentralen Fragen des christlichen Glaubens. Das macht die Internetmediathek Worthaus besonders deutlich:

Die Worthaus-Mediathek

Worthaus ist eine sich ständig erweiternde Online Mediathek mit aktuell ca. 150 theologischen Vorträgen, die kostenfrei als Video oder mp3 im Internet angesehen oder herunter geladen werden können. Alle zwei Wochen kommt ein neuer Vortrag dazu. Die Referenten kommen weit überwiegend aus der universitären Theologie und decken tatsächlich auch das ganze Spektrum universitärer Theologie ab. Während einige Referenten eine sehr liberale Theologie vertreten, gibt es auch einige Theologen, die man im universitären Spektrum eher als gemäßigt oder gar konservativ einstufen würde. Wirklich evangelikale Theologen findet man aber kaum.

Gut zwei Drittel der Worthaus-Vorträge stammen vom emeritierten Theologieprofessor Siegfried Zimmer. Er bezeichnet sich selbst als einen reformatorischen Theologen, der ein Brückenbauer sein möchte zwischen universitärer Theologie und erwecklicher Frömmigkeit. Tatsächlich zählte sich Siegfried Zimmer nach seiner Bekehrung mit 19 Jahren etwa 10 Jahre lang zur Pfingstbewegung und besuchte eine pfingstlich geprägte Bibelschule. Bis heute trifft man Siegfried Zimmer immer wieder auf evangelikalen Veranstaltungen. Seine Vorträge auf dem evangelikalen Spring Ferien-Festival waren sogar der Anlass für die Gründung von Worthaus. Im Zuge seines universitären Theologiestudiums hat sich seine Theologie allerdings so verändert, dass Zimmer heute immer wieder ausdrücklich klar stellt, dass er kein evangelikaler Theologe ist. Da Siegfried Zimmer Worthaus bis heute wesentlich prägt, hat auch Worthaus eine postevangelikale Prägung.

Die Themen, die bei Worthaus behandelt werden, sind bunt und vielfältig. Aber es gibt einen Anspruch, der diese Vorträge verbindet: Worthaus möchte einen „unverstellteren Blick“ auf die Bibel vermitteln. Die Grundthese dabei ist: Es ist nicht einfach, einen antiken Text zu verstehen, der in einem vollkommen andersartigen kulturellen und zeitgeschichtlichen Umfeld verfasst wurde. Diese Texte müssen im Rahmen des damaligen Denkens und des damaligen Kontextes verstanden werden. Worthaus möchte helfen, die Texte in ihren historischen Kontext einzuordnen, damit die tatsächliche Aussageabsicht heute besser verstanden werden kann.

Damit hat Worthaus großen Erfolg. Siegfried Zimmer berichtet, Worthaus habe „viele, viele Zehntausende“ Hörer weltweit, darunter nicht nur Theologen, sondern auch zahlreiche Laien. Besonders beeindruckt habe ihn, dass bei einer freikirchlichen Pastorenkonferenz alle anwesenden dreißig bis fünfunddreißig Pastoren bekundet hätten, regelmäßig Worthaus zu hören. Siegfried Zimmer zieht daraus den Schluss, dass die Pastorenfortbildung heute eigentlich über Worthaus laufe.

Zur Ausstrahlung von Worthaus in das evangelikale Spektrum hinein trägt auch bei, dass der zweite Hauptredner von Worthaus eigentlich aus der evangelikalen Welt kommt: Thorsten Dietz ist Professor für systematische Theologie an der freien evangelischen Hochschule Tabor. Tabor zählte bis vor kurzem noch zur Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten, ist dort inzwischen aber ausgetreten. Thorsten Dietz gehört auch zum theologischen Arbeitskreis des Gnadauer Verbands. Er ist deshalb ein häufiger und gern gesehener Redner auf evangelikalen Veranstaltungen. Gleichzeitig macht er leidenschaftlich Werbung für universitäre Bibelwissenschaft und für Worthaus.

Worthaus: Auch wertvoll für Evangelikale?

Es lohnt sich, Worthaus-Vorträge anzuhören! Denn tatsächlich kann man viel dabei lernen. Christen sollten nicht antiintellektuell sein und ihre Augen nicht verschließen vor den Ergebnissen von wissenschaftlicher Arbeit. Nur wer sich mit anderen Positionen auseinandersetzt kann verstehen, wie andere Menschen und andere Christen denken und überprüfen, wie solide das Fundament des eigenen Standpunkts ist.

4 „Knackpunkt-Fragen“

Um herausarbeiten zu können, in welchen wichtigen Punkten sich theologische Aussagen in Worthaus-Vorträgen von evangelikalen Positionen unterscheiden, wurden im Buch „Zeit des Umbruchs“ vier verschiedene Fragestellungen untersucht, die für den christlichen Glauben absolut zentral sind:

  1. Greift Gott übernatürlich in die Weltgeschichte ein?
  2. Ist Jesus leiblich auferstanden?
  3. Wurde Gott versöhnt durch den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz?
  4. Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung?

Alle diese „Knackpunkt-Fragen“ wurden von Evangelikalen traditionell immer mit einem klaren „ja“ beantwortet. Bei Worthaus ist das anders: Ein eindeutiges „Ja“ wird dort in allen diesen Fragen verlassen – und oft in ein „nein“ verkehrt. Das hat gravierende Konsequenzen. Schließlich steht der Kreuzestod Jesu im Kern der christlichen Erlösungsbotschaft. Wer die Deutung des Kreuzestodes Jesu verändert, verpasst dem christlichen Glauben keinen neuen Haarschnitt sondern der nimmt eine Herztransplantation vor! Das gilt noch mehr für die Auferstehung. Wenn Jesus nicht leiblich auferstanden ist, wenn das Grab nicht leer war, dann ist die Kernbotschaft der ersten Zeugen, für die sie fast alle ihr Leben gegeben haben, entkernt.

Die Bibelfrage als die zentralste aller Fragen

Die grundlegendsten Konsequenzen hat jedoch die Beantwortung der Frage: Ist der Bibeltext eine fehlerfreie göttliche Offenbarung? Letztlich steht diese Frage hinter all den Debatten zwischen Evangelikalen und Postevangelikalen, zwischen Konservativen und Progressiven. Diese Einschätzung bestätigt auch Siegfried Zimmer. In einem seiner Worthausvorträge sagt er: „Es ist nämlich ein ganz bestimmter Punkt, an dem in der Christenheit die Wege auseinandergehen. … Die entscheidende Frage, die ein Teil der Christenheit mit Ja beantwortet und der andere Teil der Christenheit mit Nein, diese Frage lautet: … Hat die Bibel Anteil an Gottes Absolutheit und Vollkommenheit? … Da gehen die Wege auseinander.“ [4]

Hat die Bibel Anteil an Gottes Vollkommenheit? Ist sie also fehlerlos oder irrtumslos? Das ist nach der Einschätzung von Siegfried Zimmer DER Knackpunkt schlechthin. Und Zimmers These dazu ist: Nein, das ist eindeutig nicht der Fall, im Gegenteil: Die Bibel enthalte hunderte von Fehlern und Widersprüchen. Das sei auch gar nicht schlimm. Ein Liebesbrief werde ja auch nicht dadurch entwertet, dass er ein paar Schreibfehler oder ein paar Ungenauigkeiten enthält.

Wer die Bibel für ein fehlerloses Buch hält, hat laut Siegfried Zimmer und in den Augen der universitären Theologie ein „fundamentalistisches Bibelverständnis“. Und Zimmer ergänzt: Dieses habe zu unendlichen Spaltungen und Streitigkeiten geführt. Es sei deshalb „eine schwere Belastung für die Christenheit.“ Aber ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel denn tatsächlich eine fundamentalistische Außenseiterposition?

Ist der Glaube an eine fehlerlose Bibel eine fundamentalistische
Außenseiterposition?

In seiner Verteidigungsschrift assertio omnium articulorum schreibt Martin Luther:

„[Ich] ziehe … als hervorragendes Beispiel Augustinus heran … was er in einem Brief an Hieronymus schreibt: ‚Ich habe gelernt, nur den Büchern, die als kanonisch bezeichnet werden, die Ehre zu erweisen, dass ich fest glaube, keiner ihrer Autoren habe geirrt.“[5]

Luther beruft sich hier den Kirchenvater Augustinus aus dem 4. Jahrhundert. Schon er hatte somit die Überzeugung vertreten: Alle Theologen irren. Alle theologischen Texte enthalten Fehler. Mit einer Ausnahme: Die Autoren der Schriften, die zum Kanon der Bibel gehören, haben sich in diesen Schriften nicht geirrt. Diese Überzeugung hatte also der Kirchenvater Augustinus – und Martin Luther hat sie übernommen und sich darin auf ihn berufen. Zwar hatte Martin Luther durchaus Probleme mit bestimmten biblischen Texten. So tat er sich zum Beispiel schwer mit dem Jakobusbrief, weil er dort Verse gefunden hat, die für ihn nach Werkgerechtigkeit ausgesehen haben. Aber was war die Konsequenz? Luther bekam Zweifel, ob der Jakobusbrief tatsächlich zum Kanon der Bibel gehört. Denn klar war für ihn: Was zum Kanon der Bibel gehört, das kann nicht irren. Und wenn ein Buch einen Irrtum enthält, dann dürfte es eigentlich nicht zum Kanon gehören. Dann wäre das eine apokryphe Schrift.

Die Auffassung, dass der Bibeltext eine fehlerlose Schrift ist, ist somit keine moderne fundamentalistische Erfindung, sondern war lange Zeit kirchliches Allgemeingut bis in die Moderne hinein. So haben zum Beispiel im Jahr 1974 zahlreiche Kirchenleiter aus der ganzen Welt in der Lausanner Verpflichtung über die Bibel als das Wort Gottes bekräftigt: „Es ist ohne Irrtum in allem, was es bekräftigt, und ist der einzige unfehlbare Maßstab des Glaubens und des Lebens.“ [6] Im Jahr 2016 haben Vertreter der evangelischen Allianz und der katholischen Kirche gemeinsam bekannt: „Daraus folgt, dass die Schrift solide, treu und ohne Fehler lehrt und uns wirksam in alle Wahrheit führt.“ [7]

Die Ansicht, dass die Bibel fehlerfrei ist, ist also keinesfalls eine fundamentalistische Randposition, sondern historisch und weltweit gesehen eher eine Selbstverständlichkeit in weiten Teilen der Kirche Jesu. Wichtig ist dabei aber die Klärung, was Fehlerfreiheit bzw. Irrtumslosigkeit bedeutet.

Was bedeutet „Irrtumslosigkeit“?

Irrtumslosigkeit bedeutet zum Beispiel nicht: Fehlerfreiheit über die jeweilige Aussageabsicht hinaus. Wenn eine Zahlenangabe nur als gerundete Zahl gemeint war, dann würde man den biblischen Text überfordern, wenn man von ihm eine mathematisch exakte Angabe erwartet.[8] Prof. Gerhard Maier sagt deshalb zurecht: „Ähnlich hat die Lausanner Verpflichtung in ihrem Artikel 2 formuliert, das Wort Gottes ‚sei ohne Irrtum in allem, was es verkündigt‘ – präzisieren wir: was es verkünden will. Es muss durchaus noch festgestellt werden, welche historischen Auskünfte die Heilige Schrift zu geben beabsichtigt.“ [9]

Die Bibel ist also ohne Fehler in dem, was sie sagen will! Auf die Aussageabsicht kommt es an sowie auf das Wahrheitsverständnis, das dieser Aussageabsicht zugrunde liegt. Die Bibel spricht oft bildhaft. Sie erzählt Dinge oft nicht in Form eines exakten wissenschaftlichen Berichts sondern subjektiv aus einer Beobachterposition heraus. Die Bibel muss deshalb so gelesen und verstanden werden, wie sie selbst verstanden werden möchte. Nur bei den Aussagen, die sie machen möchte, darf auch eine Fehlerfreiheit erwartet werden.

Eine weitere Einschränkung der Fehlerfreiheit ist der zugrundeliegende Urtext. Zwar können wir von einer phantastisch guten Überlieferung der Bibel ausgehen. Aber selbst wenn es stimmt, dass 99,9 % der Bibel absolut zuverlässig überliefert sind[10], heißt das auch: Es gibt eine Restunsicherheit von 0,1 %. Hinzu kommen Unsicherheiten bei der Übersetzung, die ja immer schon bestimmte Interpretationen enthalten. Und auch bei Kanonfragen gibt es keine vollkommene Fehlerfreiheit. Gehört zum Beispiel der lange Schluss des Markusevangeliums zum Kanon oder nicht? Da gibt es bleibende Unsicherheiten. Diese sind zwar sehr, sehr überschaubar. Aber es gibt sie.

Gerade auch aufgrund dieser Unsicherheiten ist es auch gut und wertvoll, dass es eine unterscheidende Bibelwissenschaft gibt, die versucht, die ursprüngliche Aussageabsicht zu erforschen durch genaue Erkundung des Urtextes, durch Sprachwissenschaft sowie durch Erforschung des kulturellen und geschichtlichen Hintergrundes, in den dieser Text hineingesprochen hat. Man kann dazu auch Bibelkritik sagen, denn die Bedeutung des Begriffs „Kritik“ hatte ursprünglich nichts mit kritisieren im Sinne von schlechtmachen zu tun, sondern stand einfach für eine unterscheidende Analyse. Und Unterscheidung ist definitiv notwendig beim Bibellesen: Ist ein bestimmter Text historisch und geschichtlich gemeint oder stellt er eine gleichnishafte Bildsprache dar? Ist ein bestimmter Bericht normativ gemeint (im Sinne von: Gott will das so!) oder wird da einfach nur berichtet, was geschehen ist? Das sind Fragen, bei der eine richtig verstandene unterscheidende Bibelforschung wirklich helfen kann.

Der tatsächliche Knackpunkt: Die Frage nach der „Sachkritik“

Der Streitpunkt ist also nicht, ob eine unterscheidende Bibelforschung sinnvoll ist. Der Streitpunkt dreht sich um eine andere Frage, die Siegfried Zimmer so definiert: „Darf ein christlicher Bibelwissenschaftler, nachdem er einen Bibeltext so unvoreingenommen und sorgfältig wie möglich erforscht und den ursprünglichen Sinn des Textes umrissen hat, an der Aussage dieses Textes inhaltlich Kritik üben? („Sachkritik“) … Dabei ist das Wort ‚Kritik‘ tatsächlich im Sinne des heutigen Alltagssprachgebrauchs gemeint.“ [11]

Das ist also DIE Knackpunktfrage: Darf die Bibel im echten Sinne kritisiert werden, nachdem bibelwissenschaftlich unterschieden wurde, wie ein bestimmter Text einzuordnen ist und was er aussagen möchte? Diese Frage nach der Sachkritik wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wer oder was könnte die Bibel denn kritisieren? Denn klar ist: Wer jemand anderes kritisiert, sieht sich selbst in der Lage, etwas besser beurteilen zu können als diese Person. Wer jemand anderes kritisiert, stellt sich in gewisser Weise über diese Person. Und wer die Bibel kritisiert, stellt sich zwangsläufig über die Bibel. Und die Frage ist: Ist das denkbar aus evangelikaler und aus reformatorischer Sicht?

Was bedeutet „Sola Scriptura“?

Um diese Frage beantworten zu können müssen wir einen kleinen Exkurs machen und uns fragen: Was prägt eigentlich unseren christlichen Glauben? Protestanten und Evangelikalen fällt da natürlich als erstes die Bibel ein. Das ist auch gut so, aber es ist natürlich nicht die ganze Geschichte. Der christliche Glaube wird natürlich noch von sehr viel mehr Dingen geprägt: Vom Weltwissen zum Beispiel, also von den Ergebnissen der Wissenschaft. Auch die menschliche Vernunft entscheidet natürlich kräftig mit, was aus christlicher Sicht geglaubt werden kann und was nicht. Und natürlich spielen Autoritäten eine große Rolle. Früher war das der Papst und das katholische Lehramt, heute sind das andere Persönlichkeiten, die prägend wirken. Und natürlich spielt die praktische Alltags-Erfahrung eine Rolle. Es ist kaum möglich, etwas zu glauben, das unseren alltäglichen Erfahrung komplett entgegensteht. Und nicht zuletzt: Auch die Tradition spielt eine Rolle. Der christliche Glaube fällt ja nicht in jeder Generation neu vom Himmel. Jeder Nachfolger Jesu wird geprägt von Vätern und Müttern im Glauben, von Frömmigkeitsstilen und Vorstellungen, die Christen oft schon von klein auf mitgegeben worden sind.

Alle diese Einflüsse sind real. Und das ist gut so! Es wäre ein dramatischer Fehler, die Vernunft oder das Weltwissen einfach vom Tisch zu wischen. Es wäre fatal, die Erfahrung auszuschalten oder die Tradition. Es wäre arrogant zu glauben, dass die früheren Generationen allesamt falsch lagen und dass wir nicht von ihnen profitieren könnten. Alle diese Einflüsse sind somit wichtig und wertvoll. Aber in seiner Assertio schrieb Martin Luther: „Ich will …, dass allein die Heilige Schrift herrsche!“

Das war ihm wichtig: Am Ende soll die Schrift entscheiden! Die Bibel soll allen anderen Einflüssen übergeordnet sein! Wenn die anderen Einflüsse im Widerspruch zur Schrift stehen, hat die Schrift das letzte Wort. Keine Autorität, kein Papst, kein Lehramt, keine Tradition und keine menschliche Erkenntnis darf am Ende so hoch stehen, dass es über der Schrift steht.

Und um diese oberste Stellung der Schrift abzusichern hat Luther das Prinzip ergänzt: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wenn wir uns unsicher sind, wie eine Bibelstelle zu verstehen ist, dann brauchen wir vor allem andere Bibelstellen, um diese Bibelstelle verstehen zu können. Nicht Menschen entscheiden über das Bibelverständnis, sondern das biblische Bibelverständnis ist entscheidend. Das hat für Martin Luther „Sola Scriptura“ bedeutet – allein die Schrift. Und diese Lehre stand letztlich im Zentrum der Reformation. Und wenn die Kirche dieses Verständnis verliert, verliert sie den Kern dessen, was Luther der Kirche gebracht hat.

Das „Sola Scriptura“ schließt Sachkritik aus

Kommen wir zurück zu der Frage: Wer oder was könnte die Bibel kritisieren? Mit dem Grundsatz „Allein die Schrift“ ist klar: Niemand! Es mag sein, dass manchmal das Weltwissen der Bibel widerspricht. Es mag sein, dass manchmal die Vernunft oder die Erfahrung der Bibel widerspricht. Dann müssen wir dem nachgehen. Vielleicht haben wir die Bibel falsch verstanden? Das kommt ja ganz sicher immer wieder vor. Dann sollten wir nach anderen Bibelstellen suchen, die uns diese Bibelstelle genauer erklären können oder vielleicht in einem anderen Licht erscheinen lassen. Aber am Ende hat die Bibel das letzte Wort und nichts und niemand anderes.

Einwand 1: Ist die Bibel nur ein „Zeugnis der Offenbarung?

Gegen diese ablehnende Haltung gegenüber Sachkritik an der Bibel bringt Siegfried Zimmer zwei Einwände vor. Der erste Einwand lautet: Sachkritik sei möglich, weil der Bibeltext die Offenbarung Gottes nur bezeugt und nicht selbst ist! Konkret formuliert Siegfried Zimmer diesen Einwand so: „Eine Kritik an den Offenbarungsereignissen selbst steht keinem Menschen zu. … Das ist theologisch unbestritten. Die schriftliche Darstellung von Offenbarungsereignissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘.“ [12]

Zimmer sagt also: Niemand darf die Offenbarung Gottes kritisieren. Niemand kann Gott widersprechen. Aber die schriftliche Darstellung der Offenbarung kann man sehr wohl kritisieren. Zimmer führt hier eine Unterscheidung ein zwischen dem biblischen Text und der göttlichen Offenbarung. Er sagt: Gott hat etwas offenbart. Aber der biblische Text selbst ist nicht die Offenbarung. Er bezeugt nur die Offenbarung, die uns vornehmlich in der Person Jesus Christus begegnet. Niemand kann Jesus Christus kritisieren. Aber den schriftlichen Bericht über ihn, den kann man schon kritisieren.

Daran zeigt sich aber auch gleich, was das Problem an dieser Position ist: Wir wissen ja absolut nichts über Jesus Christus außer das, was die Bibel uns sagt. Wenn der biblische Text nicht verlässlich ist, dann ist auch unser Bild von Jesus Christus nicht verlässlich. Dann wissen wir am Ende nicht: Welche Aussage in der Bibel ist wirklich Lehre Jesu und welche Aussage hat man ihm nur in den Mund gelegt oder fehlerhaft wiedergegeben? Wir haben dann keinen festen Maßstab, mit dem wir sagen könnten, diese oder jene biblische Aussage entspricht Gottes Offenbarung in Jesus Christus oder nicht.

Zudem stellt sich die Frage: Wie sieht sich die Bibel denn selbst? Sieht sich die Bibel selbst als Offenbarung? Oder sieht sie sich nur als Zeugnis der Offenbarung? Der Grundsatz von Martin Luther lautete ja: Die Schrift muss sich selbst auslegen. Wir brauchen ein biblisches Bibelverständnis. Deshalb ist diese Frage ganz entscheidend: Wie sieht sich die Bibel denn selbst?

Exkurs: Wie sieht sich die Bibel selbst? Als Offenbarung oder nur als Zeugnis der Offenbarung?

In 2. Timotheus 3, 16 schreibt Paulus „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“ Genau übersetzt heißt das: Die Schrift ist geistgewirkt, geistdurchhaucht. Natürlich haben das Menschen geschrieben – Menschen, die bei vollem Bewusstsein waren, die ihre Eigenheiten, ihren Schreibstil, ihre Persönlichkeit eingebracht haben. Und trotzdem ist es letztlich von Gottes Geist bewegt und durch und durch von ihm geprägt. Petrus hat das in 2. Petrus 1, 21 so ausgedrückt: „Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist.“ Auch hier sehen wir also beides: Menschen haben geredet. Aber sie waren bewegt, getrieben, geprägt vom Heiligen Geist.

Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass genau das die Sichtweise der Juden der damaligen Zeit über ihre heiligen Texte war. Die Juden hatten allerhöchsten Respekt vor ihren Schriften. Ganz zweifellos hatten auch die Autoren des Neuen Testaments den Text des Alten Testaments insgesamt als Wort des lebendigen Gottes angesehen. Immer wieder zeigt sich, dass für sie die beiden Wendungen ›Die Schrift sagt‹ und ›Gott sagt‹ untereinander austauschbar waren. Sie haben also nicht unterschieden zwischen göttlicher Offenbarung und dem biblischen Text. Das war für sie identisch.

Aber wie ist das mit dem Neuen Testament? Das lag ja noch gar nicht vor, als die Schriften des Neuen Testaments verfasst wurden. Können wir dann überhaupt etwas darüber sagen, wie das Neue Testament das Neue Testament sieht? Ja, sogar sehr viel! Paulus schreibt zum Beispiel in Galater 1, 11-12 über seine eigene Botschaft: „Ich tue euch aber kund, Brüder, dass das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist. Ich habe es nämlich weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.“ Und in 1. Thessalonicher 2, 13 schreibt er: „Und darum danken auch wir Gott unablässig, dass, als ihr von uns das Wort der Kunde von Gott empfingt, ihr es nicht als Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es wahrhaftig ist, als Gottes Wort.“

Das sind ja absolut steile Behauptungen, die Paulus hier macht! Er sagt: Bei der Botschaft, die ihr von mir hört, da spricht Gott selbst. Das ist Gottes Wort. Und da spüren wir schon: Paulus ist in einer völlig anderen Autorität aufgetreten, als das irgendein Theologe jemals dürfte. Aber offenbar durfte er das, weil Gott ihm tatsächlich die spezielle Autorität dazu gegeben hat. Petrus hat das ausdrücklich bestätigt. In 2. Petrus 3, 15-16 macht er folgende Bemerkung über die Schriften des Paulus: „…wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der Weisheit, die ihm gegeben ist, euch geschrieben hat. Davon redet er in allen Briefen, in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind, welche die Unwissenden und Leichtfertigen verdrehen werden, wie auch die andern Schriften.“

Welche „Schriften“ meint Petrus hier? Natürlich die Heiligen Schriften, die auf keinen Fall irgendjemand verdrehen und verändern darf. Petrus hat also die Briefe des Paulus auf den gleichen Rang gestellt wie die Schriften des Alten Testaments.

In Bezug auf die Evangelien ist eine Bemerkung von Paulus in 1. Timotheus 5, 18 besonders interessant: „Denn die Schrift sagt: »… »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert«“ Das bemerkenswerte daran ist: Paulus zitiert hier gar nicht aus dem Alten Testament sondern er zitiert ein Wort Jesu, genauer gesagt aus Lukas 10, 7. Für ihn hat also auch dieses im Lukasevangelium festgehaltene Jesus-Zitat Schriftrang gehabt.

Besonders eindrücklich zu diesem Thema ist einer der letzten Verse der Bibel: „Und ich versichere jedem, der die prophetischen Worte dieses Buchs hört: „Wenn jemand dem, was hier geschrieben steht, irgendetwas hinzufügt, wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch beschrieben werden.“  (Offenbarung 22,18) Im darauf folgenden Vers hält Johannes fest: Etwas wegzulassen ist genauso schlimm! Damit sagt Johannes: Dieses ganze Buch hat prophetischen Charakter. Da gibt es absolut nichts hinzuzufügen und nichts wegzulassen. Kein Theologe dürfte jemals so etwas über seine theologische Schrift sagen. Aber Johannes tat es am Ende seines Buchs der Offenbarung. Und für Christen ist klar: Das steht nicht zufällig am Ende des Kanons. Christen haben das immer schon letztlich auf die ganze Bibel bezogen.

Wer das Prinzip ernst nimmt, dass die Schrift sich selbst auslegt, kommt somit zu einem eindeutigen Befund: Die Schrift sieht sich selbst nicht nur als Zeugnis einer Offenbarung, die irgendwie mehr oder weniger nebulös hinter der Schrift erkennbar wird. Nein, die Bibel sieht sich selbst, also den biblischen Text, als Offenbarung. Und wenn das so ist, dann kann dieser Text auch nicht kritisiert werden. Denn welcher Mensch wollte sich erdreisten, Gott zu verbessern und zu kritisieren?

Einwand 2: Kann die Bibel in der Autorität Jesu kritisiert werden?

Der zweite Einwand von Siegfried Zimmer zur Verteidigung von Sachkritik lautet: Sachkritik sei in der Autorität Jesu möglich, weil auch Jesus die Bibel kritisiert. Natürlich könne kein Theologe in eigener Autorität die Bibel kritisieren. Aber Jesus Christus steht ja über der Schrift. Wenn Jesus die Bibel kritisiert, dann dürfen wir das in seiner Autorität auch tun. Wörtlich schreibt er dazu: „Biblische Texte, die etwas Anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. … Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel.“ [13]

Aber kann man den wirklich mit Jesus gegen die Bibel argumentieren? Oft kommt bei dieser Frage der Hinweis: Jesus habe doch tatsächlich oft der Bibel widersprochen. Immer wieder sagt er ja: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde… Ich aber sage euch… (z.B. Matthäus 5, 21-22). Allerdings hat Jesus ganz direkt über das Alte Testament auch folgendes gesagt: Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Schriften der Propheten abzuschaffen. Im Gegenteil, ich bin gekommen, um sie zu erfüllen. Ich versichere euch: Solange der Himmel und die Erde bestehen, wird selbst die kleinste Einzelheit von Gottes Gesetz gültig bleiben.“ (Matthäus 5, 17+18)

Tatsächlich hat Jesus mit seinen „Ich-aber-sage-euch“-Sätzen die Forderungen des Alten Testaments gar nicht aufgehoben, im Gegenteil: Er hat sie verschärft! Zum Beispiel ist für Jesus nicht nur der praktisch vollzogene Ehebruch Sünde sondern schon das Begehren im Herzen (Matthäus 5, 27-28). Das ist also nicht etwa ein Widerspruch sondern eine Verstärkung dessen, was im Alten Testament steht.

Außerdem benutzt Jesus häufig diese Formel: „Habt ihr nicht gelesen?“ (z.B. Matthäus 19, 4) Wenn es einen Streit gab oder eine Frage zu entscheiden war, hat Jesus aus dem Alten Testament zitiert. Das war für ihn entscheidend. Für ihn galt also der Schriftbeweis, der natürlich nur dann funktioniert, wenn die Schrift absolute Autorität hat.

Gerhard Maier fasst deshalb den Befund aus dem Neuen Testament so zusammen: „Die Schrift war für Jesus wie für seine jüdischen Gesprächspartner die letzte Entscheidungsinstanz … Es kann überhaupt kein Zweifel daran sein, dass den heiligen Schriften in den Augen Jesu eine unvergleichliche Autorität zukommt. Wer bei ihm ‚Kritik‘ am Alten Testament finden will, muss alles auf den Kopf stellen.“ „Eine Anleitung aus der Schrift, Schrift mit Schrift abzulehnen (was ja der Begriff der ‚Sachkritik‘ impliziert), gibt es nirgends.“ [14]

Anders ausgedrückt: Bibelkritik im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs kann man nicht mit der Bibel begründen. Echte Bibelkritik steht grundsätzlich im Widerspruch zum reformatorischen Prinzip des Sola Scriptura und zum Selbstanspruch der Bibel.

Auf dem Weg zu einem biblischen Bibelverständnis

Für ein biblisches Bibelverständnis müssen deshalb 2 Dinge unbedingt festgehalten werden:

  1. Der Bibeltext kann nicht von der Offenbarung Gottes getrennt werden. Der Text ist, so wie er da steht, offenbartes Wort Gottes und hat deshalb höchste Autorität.
  2. Die Bibel kann und darf niemals gegen Jesus ausgespielt werden.

Absolut kontraproduktiv ist vor diesem Hintergrund der auch unter Evangelikalen immer wieder verwendete Satz: „Wir glauben doch nicht an die Bibel sondern an Jesus Christus.“ Diese falsche Alternative führt ja sofort zu der Frage: An welchen Jesus sollen wir denn glauben, wenn wir nicht an die Verlässlichkeit und Autorität der Bibel glauben? Wenn wir der Bibel nicht vertrauen, dann können wir nur noch an einen selbstgebastelten Christus glauben. Denn wir wissen ja nichts über ihn außer das, was die Bibel uns sagt. Das kann man somit nicht gegeneinander ausspielen. Das feste Vertrauen in Jesus Christus ist untrennbar verknüpft mit dem Vertrauen in die Autorität und den Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift.

Zwingend notwendig ist zudem eine Haltung, die sich der Heiligen Schrift unterordnet und mit der Bibel sagt:

  • Die Bibel ist Gottes Wort.
  • Aber meine Erkenntnis ist Stückwerk.

Es ist wichtig, dass unser Pendel weder auf der liberalen Seite ausschlägt, auf der wir uns über die Bibel stellen und selbst entscheiden wollen, was darin von Gott ist und was menschlich, was darin richtig ist oder falsch. Unser Pendel darf aber auch nicht auf der anderen Seite ausschlagen. Denn auch der, der behauptet, er wisse haargenau und bis ins Letzte, wie die Bibel auszulegen ist, stellt sich letztlich über die Bibel. Dann wird es tatsächlich eng und gesetzlich. Dann kommt es immer zu Spaltungen, weil irgendeine Speziallehre zu Randthemen sich derart in den Mittelpunkt drängt, dass es die Kirche spaltet. Das ist leider oft passiert in der Kirchengeschichte.

Wir müssen deshalb beides festhalten: Die Schrift ist Gottes unfehlbares Wort. Aber in der Frage, wie die Bibel zu verstehen ist, bleiben wir unser Leben lang Lernende. Das bedeutet es im doppelten Sinne, sich der Schrift unterzuordnen: Die ganze Bibel hoch achten als Gottes unfehlbares Wort. Aber sich zugleich seiner eigenen Fehlbarkeit bewusst bleiben.

Das heißt nicht, dass ständig alles in Frage gestellt werden muss. Die Bibel ist nicht in allen Fragen ein großes Rätsel. In den wichtigen Lehren ist die Bibel so eindeutig und klar, dass auch jeder Laie sie in allen wichtigen Fragen verstehen kann, auch ohne Theologiestudium und ohne wissenschaftliche Kenntnisse.[15] Deshalb dürfen und sollen auch Laien die Bibel lesen und das, was wir daraus verstehen, fröhlich an andere weitergeben.

Was steht auf dem Spiel?

Es ist dringend notwendig, wieder vermehrt über diese Themen zu sprechen, denn mit der Frage nach dem Schriftverständnis steht ungeheuer viel auf dem Spiel:

  • Die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn schon Christen selbst an der Bibel zweifeln, wie soll dann ein Nichtchrist glauben, dass diese Botschaft irgendeine Relevanz für ihn hat?
  • Die Vernehmbarkeit der kirchlichen Botschaft steht auf dem Spiel. Wenn die Kirche nichts mehr Eindeutiges zu sagen weiß, dann kommt diese Botschaft auch nirgends mehr an.
  • Die missionarische Kraft und Dynamik der Kirche steht auf dem Spiel. Denn mit welcher Botschaft soll denn missioniert werden, wenn nicht einmal mehr klar ist, was der Tod Jesu am Kreuz eigentlich zu bedeuten hat und ob Jesus wirklich leiblich auferstanden ist?
  • Die Einheit der Kirche steht auf dem Spiel. Wenn Christen sich nicht einmal mehr beim Glaubensbekenntnis und bei den zentralsten Lehren des Christentums einig sind, worin sollen sie sich denn dann einig sein? In politischen Fragen ganz bestimmt nicht. Das Ausweichen auf das Feld der Politik spaltet die Kirche erst recht.

Deshalb steht insgesamt die Zukunft der Kirche auf dem Spiel. Angesichts von einer Austrittswelle nach der anderen wird die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Kirche ja gerade immer wieder gestellt. Braucht die Kirche vielleicht mehr Digitalisierung? Muss sie sich wieder näher zu den Menschen orientieren? Brauch sie vielleicht mehr soziologische Untersuchungen, um besser zu verstehen, welche Fragen die Menschen bewegen? Oder braucht sie frische Formen von Gemeinde und Gottesdienst? Ja, alles das ist ohne Zweifel gut. Aber es muss uns bewusst sein: Entscheidend ist nicht die Verpackung, entscheidend ist der Inhalt! Wir brauchen uns mit der Verpackung überhaupt nicht zu beschäftigen, solange wir uns nicht im Klaren sind, was eigentlich der Inhalt unserer Botschaft ist.

Ich habe riesengroße Hoffnung für die Zukunft der Kirche Jesu. Ich sehe so viele positive Entwicklungen, die mir Mut machen. Aber ich glaube tatsächlich: Für eine starke Zukunft der Kirche brauchen wir eine neue Ehrfurcht und eine neue Liebe zu Gottes Wort.

In Epheser 2, 20 schreibt Paulus: „Wir sind sein Haus, das auf dem Fundament der Apostel und Propheten erbaut ist mit Christus Jesus selbst als Eckstein.“ Es ist gut, dass wir in einem Land leben, in dem in der Mitte jedes Orts mindestens ein Haus zur Ehre Gottes steht. Aber ich habe Sehnsucht danach, dass diese Häuser aus Stein wieder gefüllt werden mit Häusern aus Menschen, die sich zusammenfügen lassen zu einem Leib Christi, der aus lebendigen Steinen besteht, wie Petrus es ausdrückt (1. Petrus 2, 5). Ich habe Sehnsucht danach, dass an allen Orten geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen nach Hause kommen und Heimat finden können bei diesem wundervollen himmlischen Vater, von dem die Bibel berichtet. Ein Ort, an dem Menschen Vergebung finden für ihre Schuld. Ein Ort an dem Menschen das Leben finden, Leben mit Sinn und Ewigkeitsperspektive.

Dafür genügt es nicht, schöne Programme zu gestalten, zu denen viele Menschen kommen. Für ein nachhaltiges Haus müssen wir aufs Fundament achten. Und das Fundament ist die Lehre der Apostel und der Propheten, wie wir sie in der Heiligen Schrift finden. Und der Eckstein, der entscheidende Grundstein ist Jesus Christus selbst, wie er uns in der Bibel geschildert wird. Die praktisch gelebte Liebesbeziehung zu diesem Jesus Christus kombiniert mit dem Gegründet-sein auf dem verlässlichen Wort der Apostel und Propheten: Das gibt diesem geistlichen Haus das Fundament, auf dem es stehen kann und auf dem es auch in Stürmen nicht zerbricht. Lassen Sie uns an allen Orten diese Fundamente wieder bauen, damit geistliche Häuser entstehen, in denen Menschen die Liebe des Vaters, Vergebung, Heil und ewiges Leben finden können. Und lassen Sie uns beten, dass Gott einen Aufbruch schenkt, eine neue Bewegung von Menschen, die Jesus Christus von Herzen lieben, die ihre Bibel kennen und tief in ihr verwurzelt sind.

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Dr. Markus Till, veröffentlicht im Mai 2020

Die Inhalte dieses Artikels wurden zunächst für einen Vortrag erarbeitet, der am 2.11.2019 auf einer Tagung des deutschen christlichen Technikerbunds (DCTB) gehalten wurde. Der Vortrag ist im YouTube-Kanal des Netzwerks Bibel und Bekenntnis abrufbar. Hinweis: Im Vortrag wird mündlich ab 10:49 irrtümlich ein Zitat Gottfried Müller zugeschrieben, das jedoch vom Blogautor Christoph Schmieding stammt. Die Quellenangabe im Artikel gibt Auskunft über die tatsächliche Herkunft des Zitats.

Weiterführend sind im AiGG-Blog (blog.aigg.de) u.a. folgende Artikel erschienen:

Eine umfangreiche Darstellung zum Thema „Postevangelikale“ gibt das Buch „Zeit des Umbruchs“, das im September 2019 bei SCM R. Brockhaus erschie­nen ist. Informationen, Leseproben, Stimmen und Rezensionen zum Buch gibt es unter zeitdesumbruchs.aigg.de.


[1] Torsten Hebel: Freischwimmer. Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr, Holzgerlingen 2015, S. 113.

[2] Christoph Schmieding: Was ist eigentlich post-evangelikal?, 13.2.2018

[3] Gofi Müller: Flucht aus Evangelikalien. Über Gott, das Leiden und die heilende Kraft der Künste, 2017. S.91

[4] Siegfried Zimmer: „Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann“. Vortrag vom 22.6.2014, Heidelberg, ab 7:29

[5] Martin Luther: Assertio omnio articulorum, Vorrede (1520), in: Cochlovius/Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung, S. d26 f.

[6] Aus der »Lausanner Verpflichtung zur Weltevangelisation« von 1974

[7] In: „Schrift und Tradition“ und „Die Rolle der Kirche für das Heil“: Katholiken und Evangelikale erkunden Herausforderungen und Möglichkeiten“, 2009-2016, S. 7

[8] Siehe dazu sehr viel ausführlicher der AiGG-Artikel: „Ist die Bibel unfehlbar?“ (blog.aigg.de/?p=4212)

[9] Gerhard Maier: Konkrete Alternativen zur historisch-kritischen Methode, in: Joachim Cochlovius/Peter Zimmerling: Evangelische Schriftauslegung. Ein Quellen- und Arbeitsbuch für Studium und Gemeinde, Wuppertal

1987, S. 305 f.

[10] Siehe dazu den AiGG-Artikel: „Meister der Überlieferung“

[11] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S.148.

[12] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 88.

[13] Siegfried Zimmer: Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2012, S. 93.

[14] Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Witten
1998, S. 149

[15] Siehe dazu der AiGG-Artikel: „Bibel für alle: Die Klarheit der Schrift“ (blog.aigg.de/?p=2190)

3 Gedanken zu „Postevangelikale: Was sie glauben und was wir daraus lernen können“

  1. Danke, sehr schön zusammengefasst. Nur den Abschnitt “Was steht auf dem Spiel?” würde ich von Jesus und Paulus her angehen, nicht von den Auswirkungen auf die Kirche her. Es geht um viel Grundsätzlicheres: Wie sieht Jesus einen Menschen, der die ersten 3 “Knackpunkt-Fragen” nicht mit Ja beantworten kann? Wie steht es um dessen Erlösung? Wie würde Paulus mit ihm umgehen und warum (vgl. die ersten Kapitel von 1. Korinther)? Wo findet also “ecclesia” statt und wo nicht, wo ordnet man sich der Führung Christi unter und wo nicht, wo erlebt man sie? Das Wirken des Geistes entscheidet über die Wirkung der Kirche. Es geht um den Herrschaftswechsel in unserem Leben. Wo der verweigert wird, wird dem Heiligen Geist widerstanden, da hilft auch keine geschmeidige Rhetorik oder zeitgemäße Programmatik. Daher feiert auch der Humanismus oftmals unerkannt fröhliche Urständ im postevangelikalen und liberalen Raum, er verlangt ja nicht die Aufgabe der Selbstbestimmung (vgl. Mt 10,39; Mt 16,25; Joh 12,25; Gal 6,8), sondern schafft sich seine eigene Gerechtigkeit (und Erlösung).

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  2. Jeder hüte sich, nicht zu denen zu gehören, die bei uns waren, aber nicht zu uns gehörten, wie der Apostel schreibt! Jeder hüte sich, sich selbst als Gelehrter zu dünken! Denn Gott hat seine Weisheit den Einfachen geoffenbart, die sein Wort demütig wie Kinder annehmen. Die Weisheit der Weisen hat er zunichte gemacht.

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