Das Manifest (6): Wir brauchen Erneuerung statt Veränderung!

In Kapitel 6 des Römerbriefs findet sich eine geheimnisvolle Passage, die nahelegt, dass Christwerden etwas mit Sterben zu tun hat:

„Ihr wisst doch: Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, sind einbezogen worden in seinen Tod. Und weil wir bei der Taufe in seinen Tod mit einbezogen wurden, sind wir auch mit ihm begraben worden. Aber Christus wurde durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt. So werden auch wir ein neues Leben führen. … Wir wissen doch: Der alte Mensch, der wir früher waren, ist mit Christus am Kreuz gestorben. Dadurch wurde der Leib vernichtet, der im Dienst der Sünde stand. Jetzt sind wir ihr nicht mehr unterworfen. Wer gestorben ist, auf den hat die Sünde keinen Anspruch mehr. Wir sind nun also mit Christus gestorben. Darum glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. … Genau das sollt ihr auch von euch denken: Für die Sünde seid ihr tot. Aber ihr lebt für Gott, weil ihr zu Christus Jesus gehört. (6, 3-8+11)

Paulus knüpft hier an seine These an, dass alle Menschen unter dem Diktat der Sünde stehen. Wir können unseren Lebensstil nicht einfach so ändern – jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Stattdessen sagt Paulus: Die Chance, die Gott uns anbietet, besteht darin, dass wir unser bisheriges Leben am Kreuz „sterben“ lassen, damit Raum für ein neues Leben entsteht, das nicht mehr unter dem Diktat der Sünde steht. Durch das Sterben und die Auferstehung wird die Sündenverstrickung durchbrochen.

Gott will unser Leben nicht verändern. Er will es erneuern!

Deshalb spricht Paulus immer wieder von einem alten und einem neuen Menschen (z.B. Eph. 4, 22-24). Er geht sogar so weit, zu sagen: „Ich lebe, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal. 2, 20). Auch Jesus sprach von der Notwendigkeit einer Neugeburt (Joh. 3,3). Entsprechend sagte er: „Wer dieses Leben verliert, wird sein Leben retten.“ (Luk. 17, 33). Der Theologe Hans Peter Royer hatte es in seinem gleichnamigen Buch so ausgedrückt: Du musst sterben, bevor du lebst, damit du lebst, bevor du stirbst!

Ein lebenslanger Prozess

Daraus ergibt sich die Frage: Warum sündigen Christen dann immer noch, wenn sie doch neue Menschen sind? Die Antwort ist einfach: Die Erneuerung unseres Lebens ist keine Verwandlung, die in einem Augenblick geschieht. Im Kolosserbrief fordert Paulus uns auf, immer wieder neu den alten Menschen abzulegen und dafür den neuen Menschen anzuziehen (Kol. 3, 8-10). Damit macht er deutlich: Erneuerung und Wiedergeburt geschieht nicht komplett bei der „Bekehrung“. Sie ist vielmehr ein lebenslang andauernder Prozess.

„Sterben“ – was bedeutet das praktisch?

Am Kreuz mit Jesus sterben bedeutet, mit Gottes Hilfe unsere alten zerstörerischen Verhaltens­muster loszulassen und sterben zu lassen. Ein solches Verhaltensmuster, mit dem ich persönlich immer wieder umgehen muss, ist Wut. Wenn mich jemand verletzt hat und ich ihm innerlich oder ganz offen seine Schuld vorrechnen möchte, dann ist es wie ein kleiner Tod, meine Sehnsucht nach Wut und Vergeltung bei Jesus loszulassen und stattdessen diesem Menschen seine Schuld zu erlassen und auf Wiedergutmachung zu verzichten. Das tut weh. Da stirbt etwas von meinem Drang zur Selbstbehauptung und zur Verteidigung meiner vermeintlichen Rechte. Aber wie viel Versöhnung und Wiederherstellung wächst, wenn wir unsere Wut, unsere Bitterkeit und unsere vermeintlichen Ansprüche am Kreuz in den Tod geben?!

Ein anderes Verhaltensmuster, das ich immer wieder loslassen und in den Tod geben muss, ist meine Sehnsucht, von Menschen bewundert und anerkannt sein zu wollen. Wenn ich etwas gut kann oder geleistet habe, es aber keiner bemerkt, mich niemand dafür lobt oder niemand meine Hilfe und Dienste in Anspruch nehmen möchte, dann fühle ich mich frustriert, zurückgewiesen und beleidigt. Wenn ich eine solche Reaktionen in mir bemerke, dann ist es wie ein kleiner Tod, meinen Wunsch nach Aufmerksamkeit und Bewunderung loszulassen und in den Tod zu geben.

Wie gut, wenn die Fassade fällt

Ebenso ist es wie ein kleiner Tod, wenn ich zugeben muss, dass ich eben nicht so perfekt bin, wie ich es nach außen gerne zeige. Wenn ich vor einem Menschen zugeben muss, dass ich einen Fehler gemacht habe, dass ich nicht alleine klarkomme, dass ich Hilfe brauche, dass ich Andere verletzt habe, dass ich gesündigt habe, dann stirbt da etwas in mir.

„Bekennt einander eure Schuld und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet“, schreibt Jakobus (Jak. 5, 16). Sünde bekennen, für sich beten lassen, das heißt Schwäche zeigen! Das heißt, die Fassade zerbrechen lassen. Das heißt zugeben, dass ich Hilfe brauche. Das ist demütigend. Da stirbt etwas in mir. Aber gerade aus diesem Sterben wächst Gottes neues Leben! Es ist sogar der Beginn für einen völlig neuen Lebensstil.

Ein neuer Lebensstil aus der Kraft des Heiligen Geistes

Im Galaterbrief spricht Paulus davon, dass der Heilige Geist neue Charaktermerkmale in unserem Leben wachsen lässt, so wie Früchte an einem Baum wachsen (Gal. 5, 22). Im Römerbrief schreibt er dazu:

„Jetzt können wir Gott in einer neuen Weise dienen, die von seinem Geist geprägt ist – und nicht mehr in der alten Weise, die die durch Buchstaben bestimmt ist.“ (7,6b)

„Im Voraus hat er sie dazu bestimmt, nach dem Bild seines Sohnes neu gestaltet zu werden.“ (8,29)

Das Wirken des Heiligen Geist ist für Paulus zudem die Basis für eine völlig neuartige Gottesbeziehung:

„Ihr habt vielmehr einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: Abba! Vater!“ (8,15)

„Abba“ ist ein Kosewort, das man heute vielleicht mit „Papa“ oder „Papi“ übersetzen könnte. Eine derart intime Gottesbeziehung können wir aus uns selbst heraus ebenso wenig „machen“ wie die Veränderung unseres Lebensstils. Für Christen ist es deshalb so entscheidend wichtig, dem Heiligen Geist Raum zu geben und sich ihm hinzugeben, indem sie Gottes Wort lesen oder hören, indem sie Gott loben und anbeten oder einfach im Gebet seine Nähe suchen.

Ein neuer Motor statt äußerlicher Firlefanz

Solange unser Christsein nur in dem Versuch besteht, unser Leben aus eigener Kraft heraus christlicher zu gestalten, sind wir wie ein Autotuner, der sein Auto sportlich lackiert, tieferlegt, mit Sportlenkrad, Sportsitzen und Spoilern versieht. Aber solange der Motor der gleiche bleibt, wird er keinen Deut schneller vorankommen als vorher. Es ist nur Fassade, die spätestens bei voller Beladung am nächsten Berganstieg peinlich auffallen wird. Erst ein neuer Motor bringt das Auto wirklich in Schwung. Entsprechend brauchen wir ein neues Herz, damit unser Leben als Christ kraftvoll wird und wir auch in schweren Zeiten bestehen können.

Die Taufe als Bekenntnis zur Neugeburt

Das zentrale neutestamentliche Bild für diesen Erneuerungsprozess ist die Taufe. Das Wasser symbolisiert das Sterben unseres alten Menschen, damit durch den Heiligen Geist neues Leben in uns wachsen kann. Die Erneuerung unseres Lebens beginnt mit dem Eingeständnis: Ich schaffe es nicht aus eigener Kraft. Ich kann mich nicht selbst erlösen. Meine Rettung liegt darin, dass ER am Kreuz für mich starb und mich unverdient mit Vergebung und neuem Leben beschenkt. Dieses demütigende Eingeständnis tötet unseren Stolz. Und es schafft damit Raum für das Wirken des Heiligen Geistes in unserem Leben.

Erneuerung als Basis für Gottes neuen Bund mit den Menschen

Von außen mag das Wirken des Heiligen Geistes so aussehen, als ob jemand sein Verhalten ändert. Aber Verhaltensänderung wäre Selbsterlösung aus eigener Kraft. Christen glauben stattdessen, dass hinter jeder äußerlich sichtbaren Veränderung Gott selbst steht, der unsere Herzen erneuert, wie er es schon durch die Propheten angekündigt hatte:

„Und ich werde euch ein neues Herz geben und euch einen neuen Geist schenken. Ich werde das Herz aus Stein aus eurem Körper nehmen und euch ein Herz aus Fleisch geben.“ (Hes. 36, 26)

„Doch dies ist der neue Bund, den ich an jenem Tage mit dem Volk Israel schließen werde, spricht der Herr. Ich werde ihr Denken mit meinem Gesetz füllen, und ich werde es in ihr Herz schreiben.“ (Jer.31,33)

Für Paulus ist all das keine theologische Theorie sondern gelebte Praxis – eine Praxis, die wir heute ganz neu entdecken dürfen. Mehr noch: Die Lehre von der Erneuerung unseres Lebens ist absolut unverzichtbar, wenn wir einerseits die Gebote Gottes ernst nehmen und andererseits Moralismus und Gesetzlichkeit vermeiden wollen. Diese Lehre steht im Zentrum des Neuen Bundes zwischen Gott und den Menschen. Sie gehört deshalb wieder neu ins Zentrum der kirchlichen Verkündigung.


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