Wie bleiben wir Menschen mit Mission 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?

Das Thema Wissenschaft spielt auch im Kapitel über die sogenannten „Postevangelikalen“ eine wichtige Rolle. Gleich zweimal äußert Dietz: Postevangelikale legen (großen) Wert auf intellektuelle Redlichkeit. (S. 316 und 326) Konkret bedeutet das:

  • Sie halten zwar am Offenbarungsglauben und an der Heiligen Schrift fest. Sie setzen sich aber ab von einer Entwicklung innerhalb des Evangelikalismus, die die Irrtumslosigkeit der Bibel zum zentralen Maßstab der Bibeltreue gemacht hat. (S. 316)
  • Postevangelikale distanzieren sich vom Fundamentalismus im Allgemeinen und vom fundamentalistischen Schriftverständnis im Besonderen. … Sie lehnen den Kreationismus ab. (S. 326)
  • Sie bejahen die evangelikale Bewegung, insofern sie eine Selbstbehauptung des christlichen Glaubens im Zeitalter zunehmender Säkularisierung war. Es sind die massiven antimodernen Haltungen, denen sie widersprechen: dem apokalyptischen Geist, der die Moderne pauschal eines unaufhaltsamen Niedergangs bezichtigt; dem fundamentalistischen Versuch, die Bibel als Grundlage eines Weltbildes zu verwenden, das sich von der wissenschaftlichen Welterkenntnis der Gegenwart unabhängig macht, und schließlich dem Bestreben, mit politischen Mitteln eine autoritäre Gegenkultur zu errichten, die klassische Hierarchien der Geschlechter und Kulturen gegen die Gleichheitsideale der Neuzeit aufrechtzuerhalten versucht. (S. 329)

Demnach wären es nicht etwa die Postevangelikalen, die sich von evangelikalen Überzeugungen entfernt haben. Es gäbe vielmehr unter Evangelikalen negative Trends, die Postevangelikale nicht mitgehen wollen, um intellektuell redlich leben und glauben zu können. Dietz stellt gar die Frage: Handelt es sich beim Postevangelikalismus also um Erfahrungen des Glaubenswachstums?[1] (S. 326) Er will sich aber diesbezüglich nicht festlegen: Müsste man daher sagen, dass es eigentlich umgekehrt ist: Wenden sich Postevangelikale nicht von der evangelikalen Bewegung … ab, sondern nur von seinen fundamentalistischen Entstellungen? … Mein Vorschlag ist an dieser Stelle, Postevangelikale weder als liberale Abtrünnige noch als Flüchtende vor dem Fundamentalismus zu betrachten. Für zusammenfassende Bewertungen des Spektrums ist es noch zu früh. (S. 320)

Dietz äußert sich durchaus auch kritisch über Postevangelikale, wenn er schreibt: Bisweilen kommen sie dabei im Umgang mit der Heiligen Schrift zu einer Beliebigkeit, die weit hinter dem zurückbleibt, was in allen nicht evangelikalen Kirchengemeinschaften betont wird. Die Verbindlichkeit der Bibel als Grundlage von Glauben und Leben ist keine evangelikale oder fundamentalistische Idee. In den neutestamentlichen Texten sind die heiligen Schriften Israels keine bloßen Meinungsäußerungen. Wenn Postevangelikale im Gegensatz zum bisherigen Fundamentalismus ihr freies Verhältnis zur Bibel betonen, die sie für gute Literatur halten, aber nicht als Autorität in irgendeinem Sinne, ist das keine liberale Theologie, sondern kaum noch christliche Theologie. (S. 326/327) Sind einige Postevangelikale in ihrem Umgang mit der Bibel also noch liberaler als die großen Kirchen? Richtig ist, dass kirchliche Bekenntnisse der Bibel eine hohe Autorität einräumen und dass Pfarrer im Ordinationsgelübde darauf verpflichtet werden. Meine Beobachtung ist aber auch: In der universitären theologischen Praxis wird die biblische Autorität vielfach noch viel weitergehender verworfen als ich das aus postevangelikalen Äußerungen kenne.

Was können wir von Thorsten Dietz lernen?

Thorsten Dietz schreibt: Allzu oft wurden Menschen vermeintlich absolute Wahrheiten im Namen der Bibel entgegengehalten, die lediglich auf menschlich allzu menschlichen Festlegungen beruhten. Auf solche Zumutungen mit Vertrauensverweigerung zu reagieren, ist gesund und notwendig. (S. 327) Dieses Problem kenne ich aus vielen Begegnungen mit Postevangelikalen, die mir gezeigt haben: Manche evangelikale Milieus leiden tatsächlich unter Enge, Denkfeindlichkeit sowie unter dem manipulativen Einfluss von Machtmenschen, die ihre ganz persönliche Bibelauslegung zum autoritativen Maßstab für alle machen wollen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass nicht wenige Gruppierungen stark von einzelnen charismatischen Leiterpersönlichkeiten geprägt sind. Dazu schreibt Dietz: Diese charismafreundliche Religionsstruktur ist höchst missbrauchsanfällig. Mit dieser Ambivalenz umzugehen ist eine der großen Herausforderungen der evangelikalen Welt. (S. 437) Die Skandale um evangelikale Leitungspersönlichkeiten beweisen, dass Dietz hier einen wichtigen Punkt anspricht.

Richtig ist auch, dass viele Postevangelikale auf intellektuelle Redlichkeit besonderen Wert legen und dass sie deshalb den akademischen Anspruch universitärer Theologie für attraktiv halten. Die Frage ist nur: Ist progressive bzw. liberale Theologie intellektuell wirklich befriedigender als seriöse evangelikale Theologie? Legen Evangelikale denn wirklich pauschal weniger Wert auf intellektuelle Redlichkeit als Postevangelikale?

Gibt es Anfragen oder Gegenperspektiven zu den Thesen von Thorsten Dietz?

Ich selbst gehöre definitiv zu denen, die unmöglich auf Dauer gegen ihren Intellekt anglauben könnten. Natürlich gibt es Fragen, auf die ich in meinem Welt-, Gottes- und Menschenbild keine Antwort weiß. Ich bin jedoch der Meinung: Es gibt im Moment kein einziges Welterklärungsmodell, das nicht mit massiven Problemen zu kämpfen hätte. Mit ungeklärten Fragen müssen wir alle leben. Auch in postevangelikalen Denksystemen fallen nicht nur mir erhebliche Dissonanzen und Widersprüche auf. Oft begegnen mir dort auch Argumentationen, die eher gefühlsgeleitet statt sachorientiert sind. Könnte es sein, dass es hier manchmal weniger um mehr intellektuelle Redlichkeit geht, sondern schlicht um die Frage: Wem vertraue ich auf Basis meiner Erfahrungen und Denkvoraussetzungen mehr?

Was mir bei allen Überlegungen von Thorsten Dietz zum Thema Postevangelikalismus ganz grundsätzlich fehlt, ist die simple und naheliegende Frage: Treffen denn die vier evangelikalen Grundmerkmale nach Bebbington (Bekehrung, Aktivismus, Biblizismus, Kreuzeszentrierung) noch auf die Postevangelikalen zu? Dietz fokussiert als Beispiel für ein postevangelikales Milieu auf die Hörerschaft des Podcasts „Hossa Talk“ von Jakob Friedrichs und Gottfried Müller. Gerade hier lässt sich zeigen, dass diese Merkmale deutlich verlassen werden. So äußert zum Beispiel Thorsten Hebel in Folge 5 („Ex-Evangelisten unter sich“): „Ich glaube, dass alle Menschen bei Gott sind. … Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn zu bekehren.“ Stattdessen schildert er ein Bekehrungsverständnis, das auch der Postevangelikale Rolf Krüger beschreibt: „Ziel von Mission ist … nicht ein Religionswechsel, sondern ein Gesinnungswechsel.“ Mehrfach wird im Hossa Talk die These vertreten, dass Muslime keine Christen werden müssen, um gerettet zu sein. Und mehrfach wird dort das Verständnis des Kreuzestodes als stellvertretendes Sühneopfer in aller Deutlichkeit verworfen.

Auch in der Worthaus-Mediathek findet man Vorträge, in denen das stellvertretende Sühneopfer (teils in drastischer Deutlichkeit) verworfen[2] oder zumindest subjektiviert[3] wird. Zudem gibt es eine Reihe von Vorträgen, in denen auch zentrale biblische Aussagen in Frage gestellt werden. Diese Differenzen mit evangelikalen Kernüberzeugungen kommentiert Dietz, der gemeinsam mit Siegfried Zimmer inzwischen der prominenteste Vertreter von Worthaus ist, nur knapp mit den Worten: Obwohl bei Worthaus inzwischen circa 30 Theologinnen und Theologen aufgetreten sind, die ein breites Spektrum der Theologie abdecken, von denen aber so gut wie kaum jemand liberal im engeren Sinne ist, gilt Worthaus bei manchen Evangelikalen als liberale Gefahr, als Bedrohung für bibeltreue Gemeinden, als ein Phänomen, an dem sich die Meinungen spalten. (S. 334) Richtig daran ist: Die Worthaus-Referenten sind mehrheitlich nicht „liberal“ im Sinne der universitären Definition für liberale Theologie (laut der auch Rudolf Bultmann kein liberaler Theologe war). Aber wenn Siegfried Zimmer z.B. äußert, dass Jesus nichts vorhersehen konnte[4], oder wenn er mosaische Gesetze als Männer- und Priesterphantasien bezeichnet[5], dann wird deutlich: Diese Theologie ist trotzdem weit liberaler als evangelikale Theologie! Siegfried Zimmer warnt sogar explizit vor dem Evangelikalismus mit den Worten: „Auf keinen Fall evangelikal!“ Seine Vorträge sind durchzogen mit herabwürdigenden Äußerungen über Evangelikale und ihre Positionen. Kein Wunder, dass Worthaus tatsächlich vielerorts zu Streit und Spaltung führt, wie mir seit meinen Blogartikel zum Thema „Worthaus“ immer wieder aus dem ganzen Land berichtet wird.

Auf Seite 317 schreibt Thorsten Dietz: Sind Postevangelikale also auf dem Weg zu einem liberalen Christentum? Aus Tomlinsons Sicht ist diese Frage ein typisches Problem evangelikaler Wahrnehmungsverengung. … In der Bindung an ein solches Entweder-oder-Denken liege eine Grenze des bisherigen Evangelikalismus. Angesichts des kulturellen Wandels werden Evangelikale zunehmend sprachunfähig. Es stimmt ohne Zweifel, dass die Evangelikalen zunehmend sprachunfähig werden. Aber liegt das wirklich an ihrer fehlenden „Ambiguitätstoleranz“ gegenüber postevangelikalen Positionen?

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Artikel aus dem Jahr 2021 von Volker Gäckle, dem Leiter der Internationalen Hochschule Liebenzell. Er berichtet, dass das Klima im evangelikal-pietistischen Umfeld längst nicht mehr nur wegen der Frage nach der Bewertung gleichgeschlechtlicher Sexualität „gereizt und nicht selten überhitzt“ ist. Die Debatte drehe sich um viel zentralere Themen: „Gibt es ein letztes Gericht Gottes? Ist der Glaube an Jesus Christus das entscheidende Kriterium für Rettung und Verlorenheit? Ist die Heilige Schrift auch in geschichtlicher Hinsicht eine zuverlässige und vertrauenswürdige Grundlage für Glaube und Leben der Gemeinde? Darüber hat der Pietismus in den 60er- und 70er-Jahren mit der Ökumenischen Missionsbewegung und der liberalen Theologie auf Kirchentagen und Synoden gestritten. Heute streiten wir über ähnliche Fragestellungen im eigenen Laden.“ Auch Steffen Kern schrieb 2019 im Buch „Mission Zukunft“: „Selbst in den zentralsten Glaubens- und Lebensfragen werden viele unsicher. Was früher manchmal so klar schien, scheint auf einmal zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Kirchen und Gemeinden, die Haltungen und Positionen werden pluraler, Orientierung zu finden immer schwieriger. Darum verfallen wir über Frömmigkeitsgrenzen hinweg ins Schweigen.“ [Unterstreichung nachträglich]

Nicht fehlende Toleranz, sondern im Gegenteil ausufernde Pluralität ist demnach der Grund, warum Evangelikale ihre Einheit und ihre Sprachfähigkeit verlieren. Wenn Postevangelikale ins evangelikale Spektrum integriert werden, obwohl sie sich offen von den zentralen Kernmerkmalen der evangelikalen Bewegung distanzieren, dann hat das zwangsläufig negative Folgen für die Einheit, die Sprachfähigkeit und die missionarische Dynamik der Evangelikalen.

Worüber sollten wir uns dringend gemeinsam klar werden?

Wie gehen wir als Evangelikale um mit Menschen, die ihre evangelikalen Überzeugungen hinter sich lassen? Wollen wir einerseits aus den Erfahrungen lernen, die bei diesen Menschen die evangelikalen Überzeugungen ins Wanken brachten? Wollen wir andererseits gerade auch ihnen gegenüber fröhlich und mutig zu dem stehen, was uns Evangelikalen unaufgebbar wichtig ist – und uns somit auch in Bezug auf die Differenzen ehrlich machen?

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Fußnoten:

[1] Dietz hebt dabei auf die Entwicklungsmodelle nach James Fowler oder Brian McLaren ab.

[2] So äußert Dr. Thomas Breuer in seinem Worthaus-Vortrag über die Bedeutung des Kreuzestodes: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

[3] „Subjektivierung“ steht für die Position: Das stellvertretende Sühneopfer ist eine von vielen möglichen Deutungen des Kreuzes, an die man glauben kann, wenn das persönlich als stimmig empfunden wird.

[4] „Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. Meint ihr, dass Jesus alle Details, alles klar war? Er ist schon ein normaler Mensch, bitte!“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Der Prozess vor Pilatus“ (53:20)

[5] „3. Buch Mose – sagt man ja so – das ist Gottes Wort. Meint ihr wirklich, dass Gott selber dermaßen frauenfeindliche Gesetze erlassen hat? Stellt ihr euch Gott so vor? … Oder sind das nicht eher Männerphantasien? Priesterphantasien?“ Siegfried Zimmer im Worthaus-Vortrag „Jesus und die blutende Frau“ (37:00)

Weiterführend:

⇒ Weiter geht’s mit Frage 6: Ziehen sich die Evangelikalen zunehmend von der Gesellschaft zurück?

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

3 Gedanken zu „Wie bleiben wir Menschen mit Mission 5: Was bedeutet das Phänomen der „Postevangelikalen“ für die evangelikale Bewegung?“

  1. Hallo!
    Gofi Müller würde ich anhand seiner Selbstbeschreibung aus dem letzten Hossa Talk https://hossa-talk.de/191-glaube-nach-der-dekonstruktion-gibt-es-eine-zweite-naivitaet-m-365-grad/ eher als ex-evangelikal einstufen. Möglicherweise hat Thorsten Dietz hier eine Fehlwahrnehmung, weil die beiden seine Kumpels sind.
    Post-Evangelikale sind eigentlich nicht so wichtig, da sie ja kaum Strukturen bilden, wie z.B. Missionswerk, diakonisches Werk, Gemeindeverbund, Bibelschule, Worship-Band, Veranstaltungszentrum, usw. Es gibt auch keine gemeinsame Platform, Erklärung, Bekenntnisse oder so.
    Alles Gute!

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  2. Lieber Markus Danke für die sehr differenzierte Darlegung des Problems. Wenn Postevangelikale das Fundament der Bibel verlassen, stellt sich wirklich die Frage, welchem GOTT haben sie sich zugewandt? Ist es noch der Gott den die Bibel uns vorstellt, oder ein vermenschlichter Gott gemäß der eigenen Wunschvorstellung?

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  3. Danke Markus für deine Ausführungen

    Meine Wahrnehmung ist, das die evangelikale Bewegung zwei grosse Stärken hat. Einerseits eine solide Glaubensbasis (Man lese sich Beispielsweise in die Lausanner Erklärung ein…). Andererseits die Fähigkeit, über die Grenzen von Denominationen hinweg Allianzen aufzubauen um der weiteren Verbreitung des Evangeliums willen.

    Dazu kommt auch ein Richtungsvektor. War bei den Fundamentalisten der ersten Jahrzehnte des 20. Jh. Rückzug und Abgrenzung der Richtungsvektor gegenüber Gesellschaft und anderen Kirchen (Mainline Churches), so war bei den Evangelikalen Anschlussfähigkeit einer der obersten Maximen, also eine Bewegung hin zur Gesellschaft und anderen kirchlichen Verbänden. Man verfolgte quasi eine missionarische Strategie der ‘Infiltration’.

    Paradebeispiel dafür war Billy Graham mit seinen Grossevangelisationen. Die durch ihn geschmiedeten Allianzen förderten die christliche Einheit und ermöglichen dynamische Massenevents mit zweifellos grosser Wirkung. Aber der Vektor war klar. Lieber verzichtete Graham mal auf das Endorsement der Fundamentalisten (auf deren Nährboden die Evangelikale Bewegung entstanden war), wenn es dafür z.B. eine Zusammenarbeit mit Katholiken zu gewinnen gab.

    Ich glaube damit ist auch ein inneres Dilemma der evangelikalen Bewegung beschrieben. Ihr starker Drang nach Anschlussfähigkeit, gefährdet gleichzeitig immer wieder ihre Glaubensbasis. Denn das Mittel zur Allianzfähigkeit ist oft einfach das Arbeiten mit kleinsten gemeinsamen Nenner oder ganz grundsätzlich das Vermeiden oder Herunterspielen von potentiell kontroversen oder spaltenden Themen.

    All diese Vorgänge sieht man sich wieder abspielen in den heissen Diskussionen unserer Tage. Darauf spekulieren meine ich auch unsere postevangelikale Leitfiguren – das die auf Allianzfähigkeit ausgerichtete und von Vermeidungsstrategien geprägte Kultur der Evangelikalen letztendlich stärker sein wird als ihre Glaubensbasis. Wenn sie uns nur länger, lauter und öfter als alle anderen mit ihren unbiblischen Positionen (z.B. aktuell in der Sexualethik) bombardieren, werden die Herren an den Hebeln der Macht in evangelikalen Verbänden letztendlich ‘anschlussfähige Kompromisse’ anstreben und Widersprüche zur Glaubensbasis ausblenden oder herunterspielen. So ist wohl die Annahme und deshalb bleibt man wohl auch um der Wirkung wegen möglichst im evangelikalen ‘System’ drin.

    Du stellst zurecht in Frage, lieber Markus, ob die vier evangelikalen Grundmerkmale nach Bebbington (Bekehrung, Aktivismus, Biblizismus, Kreuzeszentrierung) denn noch in irgendeiner Form auf die Postevangelikalen zutreffen. Ich meine nein, ausser beim Aktivismus, wo zumindest ihre Leiter mehr denn je ‘Menschen mit Mission’ sind. Nur ist diese Mission jetzt darauf ausgerichtet, den Glauben, wie er uns ‘ein für alle Male anvertraut worden ist’ (Jud 1,3), in Frage zu stellen und möglicherweise letztendlich durch neue Lehren und Bekenntnisse – durch ein ‘anderes Evangelium’ – zu ersetzen. Ja, in unterschiedlichen Schattierungen trifft es meine ich doch immer wieder zu: sie ‘verkehren die Gnade unseres Gottes ins Gegenteil, in Ausschweifung, und verleugnen unsern alleinigen Herrscher und Herrn Jesus Christus.’ (Jud 1,4). Und sie tun das aus unserer Mitte heraus.

    Thorsten Dietz mag vielleicht die ‘Beliebigkeit’ gewisser Postevangelikaler im Umgang mit der Bibel kritisieren. Dann frage ich mich aber: warum gibt er genau solchen Protagonisten seine volle Unterstützung (Bsp: Sebastian Rink)? Warum greift er gar selbst zur theologischen Beliebigkeit wenn es seiner Sache dient (Röm 12,14 als Begründung für die Segnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen – echt jetzt?). Wenn er tatsächlich eine Beliebigkeit in gewissen postevangelikalen Kreisen im Umgang mit der Bibel feststellt – dann soll er doch bitteschön konkret werden. Bringt er denn im Buch konkrete Beispiele aus Deutschland? Sonst ist dies doch nichts anderes als eine Nebelpetarde.

    Steffen Kern beobachtet richtig wenn er sagt, das wir aufgrund der immer pluraleren Aufstellung unserer Kirchen und Gemeinden über Frömmigkeitsgrenzen hinweg ‘ins Schweigen verfallen’. Nun sage ich dies aus der Distanz – aber müssten nicht gerade Leute er, Leute in Leitungspositionen deshalb mal deutlichere Signale setzen? Laufen nicht gerade unsere Leiter Gefahr, sich in kirchenpolitischem Pragmatismus oder gar persönlichem Opportunismus an den ihnen anvertrauten Menschen und am Herrn selbst schuldig zu machen, wenn sie nicht Aufsprechen, da wo es nötig wäre?

    Die Alternative ist das unser Herr neue Hirten schickt. Es wäre nicht das erste Mal dass dies in der evangelikalen Bewegung geschieht. So war es in den 70ern, als die evangelikalen Platzhirsche faktisch den süssen Lockrufen der Abtreibungslobbisten erlagen. Aber unser Herr rief neue Kräfte auf den Platz, welche die evangelikale Bewegung wieder zurückriefen aus diesem Irrweg. Möge dies auch heute wieder geschehen, da wo es nötig ist. Möge der Herr uns den Geist der Unterscheidung schenken und uns davor bewahren, das wir selbst straucheln. Möge er uns die Freude und die Kraft geben, Ihm auch in diesen Tagen treu zu bleiben und uns in Liebe unseren Mitmenschen zuzuwenden. Ohne billige Anbiederung oder schädliche Kompromisse. Auch denen die ehrlich Zweifeln (Jud 1:22), verwirrt von den vielen Stimmen unserer Zeit, die sogar in unseren Gemeinschaften ihr ‘Sollte Gott gesagt haben’ uns ins Ohr flüstern.

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