Wie bleiben wir Menschen mit Mission? 10 Fragen – und ein persönliches Fazit

„Schon der griechische Philosoph Platon wusste, dass den Geschichtenerzählern die Welt gehört“, schreibt Markus Spieker in Übermorgenland. Thorsten Dietz ist ohne Zweifel ein Meister darin, historische Puzzlestücke zu einem Bild zusammenzufügen und daraus ein „Narrativ“, d.h. eine Geschichtsdeutung zu entwickeln. Einige dieser Bilder sind ihm m.E. gut gelungen. Sie können dazu beitragen, dass Menschen, die von außen auf die Evangelikalen schauen, ein sehr viel differenzierteres und positiveres Bild bekommen als die platt evangelikalenfeindlichen Bilder, die man immer wieder in den Medien findet. Dafür bin ich Thorsten Dietz dankbar. Andere Geschichten hingegen empfinde ich eher als misslungen. Schiefe Narrative können leider selbst wieder ein Grund für Polarisierung sein.

Bei der Frage, wie gelungen die Dietz’sche Landkarte eigentlich ist, war für mich am Ende eine Frage von besonderer Bedeutung: Wo verorte ich mich eigentlich selbst auf dieser Landkarte der Evangelikalen, die Thorsten Dietz gezeichnet hat? Die Antwort fällt mir nicht leicht. Ich habe starke Wurzeln im Pietismus, die mir sehr kostbar sind. Ich habe mich zugleich viele Jahre im charismatischen Umfeld bewegt und die „Lobpreisszene“ mit meinen Liedern mit beleben dürfen. Ich bin Landeskirchler und schätze unser evangelisches Erbe bis heute sehr. Ich habe aber auch eine freikirchliche Phase hinter mir und bin nach wie vor oft und gerne im freikirchlichen Bereich unterwegs. In den letzten Jahren habe ich mich stark im Umfeld bekenntnisorientierter Christen bewegt und dort viele kostbare Geschwister kennen gelernt. Zugleich bin ich ein leidenschaftlicher Allianz-Evangelikaler geblieben. Es hat mich schon immer begeistert, wenn Christen unterschiedlichster Prägung und Herkunft zusammenkommen, um Jesus gemeinsam anzubeten und dieses eine Evangelium zu bezeugen. Wenn ich den Text der Lausanner Verpflichtung von 1974 lese, geht mir das Herz auf. Da mein ältester Bruder und seine Frau seit vielen Jahren in der Mission tätig sind, hat mich dieser Fokus auf Mission durch Wort und Tat stark geprägt. Zugleich verstehe und teile ich die Sorge, dass die auf Bekehrung zielende Mission aus dem Fokus gerät, wenn sozialpolitische Themen immer mehr in den Vordergrund rücken. Ich teile eine eher pessimistische Sicht auf die Entwicklung unserer Gesellschaft und bin überzeugt, dass vor allem der zunehmende Verlust des Leitbilds der traditionellen Familie bittere Konsequenzen haben wird. Zugleich bin ich aber auch sehr hoffnungsvoll und zuversichtlich in Bezug auf die weitere Entwicklung der Kirche Jesu. Gott hat immer wieder neue Aufbrüche geschenkt. Ich glaube, dass er das wieder tun kann.

Mir scheint: Mit dieser Merkmalskombination passe ich zu keiner Region auf der Dietz’schen Landkarte so richtig. In meinem Umfeld kenne ich viele Christen, die über sich ganz Ähnliches berichten könnten. Mein Eindruck ist deshalb, dass insbesondere dieser angebliche Gegensatz zwischen einheitsgesinnten Allianz-Evangelikalen und streitbaren „Bekenntnisevangelikalen“ so nicht existiert. Viele Christen sind der Tradition von Allianz und Lausanne völlig treu geblieben. Sie spüren aber zugleich, dass entscheidende Grundlagen dieser gesunden Mischung aus bibelorientierter Verkündigung und praktischer Nächstenliebe wegzubrechen drohen. Gerade aus Liebe zur Allianz und aufgrund ihrer Leidenschaft für Mission in Wort und Tat engagieren sie sich für die Bewahrung der gemeinsamen, verbindenden Glaubensgrundlagen.

Im Verlauf dieser Artikelserie habe ich 10 Fragen gestellt, über die wir uns dringend gemeinsam klar werden sollten. Ich möchte sie hier noch einmal etwas zugespitzt formulieren:

  1. Stehen wir weiter fröhlich zu den Kernmerkmalen, die uns als Evangelikale verbunden haben?
  2. Sehen wir weiterhin unser „Erfolgsgeheimnis“ darin, dass wir in erster Linie eine Bibel- und Gebetsbewegung sind?
  3. Halten wir daran fest, dass die Bibel nicht nur Menschenwort, sondern auch ganz offenbartes Wort Gottes ist?
  4. Betreiben wir Wissenschaft weiterhin bewusst auf der Basis eines biblischen Weltbilds, auch wenn uns das die eine oder andere akademische Türe verschließt?
  5. Wollen wir widersprechende Lehren integrieren oder sprechen wir es offen an, wenn eine Lehre zentralen biblischen Aussagen und Bekenntnissen widerspricht?
  6. Versuchen wir, unsere Gesellschaft durch Anpassung zu gewinnen oder durch die Kombination aus profilierter Eigenständigkeit und aufopferungsvoller Liebe?
  7. Wollen wir uns trotz politischer Differenzen um Jesus und das Evangelium sammeln und dabei eine respektvolle Debattenkultur vorleben?
  8. Wollen wir Mission und Evangelisation in Wort und Tat als zentralen Auftrag der Kirche Jesu im Fokus behalten?
  9. Lassen wir es zu, dass die neuen bekenntnisorientierten Sammlungsbewegungen die evangelikale Welt befruchten dürfen?
  10. Wollen wir Einheit durch immer mehr Pluralität gewinnen oder halten wir gerade um der Einheit willen an unseren zentralen Bekenntnissen fest?

Ich hoffe, dass sich die Gespräche über diese Fragen weiter intensivieren. Denn ich glaube tatsächlich: Wir Evangelikale stehen hier vor echten Weichenstellungen, deren Bedeutung wir kaum überschätzen können.

Das letzte Wort will ich aber Thorsten Dietz überlassen. Ein Zitat aus diesem Buch hat mich so ermutigt, dass ich damit diese Artikelserie gerne beschließen möchte. Ich werde dieses Zitat auch zukünftig gerne all denen vorhalten, die heute ein Ende der evangelikalen Bewegung prognostizieren, weil sie angeblich zu weltfremd, zu naiv und zu eng ist:

Warum handelt es sich bei den Evangelikalen heute um die weltweit zweitgrößte christliche Strömung nach dem Katholizismus? Niemand hätte sich das vor 50 oder 60 Jahren träumen lassen. Der Lausanner Kongress wurde in der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande registriert. Die meisten (gerade auch in den Kirchen) waren sich sicher: Zukunft kann nur eine Christenheit haben, die sich für die Moderne öffnet, die das aufgeklärte Wahrheitsbewusstsein der Wissenschaften respektiert und eine politisch-gesellschaftliche Kraft für eine bessere Welt wird. Welche Zukunft sollten da schon Grüppchen haben, denen Evangelisation und Mission über alles geht, die im Zweifelsfall lieber der Bibel glauben als der historischen Forschung? Wer wird schon Ewiggestrige ernst nehmen, die sich radikal der sexuellen Liberalisierung der 1960er-Jahre verweigern? Aber entgegen allen Erwartungen ist keine religiöse Gruppe im letzten halben Jahrhundert dynamischer gewachsen als diese. (S. 92)

Wie ermutigend! Eine Kirche, die auf Gott und sein Wort vertraut und sich von ihm zu den Menschen senden lässt, hat immer Zukunft!

————————————————————————————

Diese Artikelserie kann hier auch als PDF heruntergeladen werden!

⇒ Hier geht’s zur Übersicht über die gesamte Artikelserie.

1 Gedanke zu „Wie bleiben wir Menschen mit Mission? 10 Fragen – und ein persönliches Fazit“

Schreibe einen Kommentar zu Paul-Martin Walter Antworten abbrechen