Dieser Text ist das Skript des Vortrags von Martin P. Grünholz, Dozent für Dogmatik, Ethik, Gemeindepraxis und Kirchengeschichte an der Biblisch Theologischen Akademie am Forum Wiedenest. Der Vortrag wurde gehalten beim Allianz Symposium “Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt?” am 09.12.2022 in Bad Blankenburg.
Der Titel des Vortrags macht es deutlich: Bei diesem Thema geht es um den innersten Kern des Evangeliums. Bei der Frage nach der Schrift und bei der Frage nach dem Kreuz geht es um die wichtigsten Elemente und die Grundstruktur der christlichen Theologie. Wenn wir hier abweichen, stellt sich die Frage, ob wir die christliche Theologie nicht aufs Spiel setzen und verlieren.
Die Lehre von der Stellvertretung: Die umstrittene Grundlage der Kreuzestheologie
Paulus schreibt in Römer 5, 8-10: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind! Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.“ Ebenso zieht er in 1. Thessalonicher 5, 9-10 eine klare Verbindungslinie zwischen der Sünde, der Feindschaft gegen Gott, Gottes gerechtem Zorn und der Sühne durch das stellvertretende Opfer des Sohnes Jesus Christus, der sich aus verschenkender Liebe für uns hingibt, um uns zu versöhnen. Liebe – Sünde – Feindschaft – Gericht – Zorn: Um alle diese hochemotionalen Begriffe geht es in der Lehre der Stellvertretung. Und das alles gilt: Für mich! Jesus für Dich!
Die überarbeiteten Fassung der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz aus dem Jahr 2018 stellt dazu fest:
„Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht. Jesus Christus, durch Gott von den Toten auferweckt, ist der einzige Weg zu Gott. Der Mensch wird allein durch den Glauben an ihn durch Gottes Gnade gerecht gesprochen.”
Jetzt könnte man meinen: Mit dem Schriftzeugnis und der Glaubensbasis der evangelischen Allianz sind alle Fragen geklärt. Dem ist aber leider nicht so. So stellt der bekannte Neutestamentler der Universität Zürich, Prof. Jörg Frey, ernüchternd fest: „In der neutestamentlichen Diskussion um den Begriff der ‚Stellvertretung‘ ist fast alles strittig.“[1] Als Systematiker muss ich ergänzen: Nicht nur in der Diskussion um biblische Begriffe sondern auch in der Dogmatik wird alles auf den Prüfstand gestellt. In der Erlösungslehre („Soteriologie“) ist ebenso fast alles strittig. Die Aussage „Jesus starb für mich“ bzw. „Jesus Christus starb für dich“ wird heute zunehmend als hochproblematisch empfunden. Sie gilt teilweise sogar eher als Affront statt als tröstender Zuspruch des Glaubens und des Evangeliums. Das gilt zunehmend auch in evangelikalen Kreisen. Deshalb tun wir uns auch mit der Evangelisation so schwer. Die Krise der Evangelisation hat auch damit zu tun, dass wir uns so schwer tun mit diesem Zeugnis.
Doch wie konnte es dazu kommen?
Zwei Grundtypen der Soteriologie
In der Lehre von der Erlösung („Soteriologie“) gibt es ein komplexes Zusammenspiel der Lehre von Gott, vom Menschen („Anthropologie“), von Christus („Christologie“), vom Heiligen Geist („Pneumatologie“) und möglicherweise auch von der Gesellschaft („Soziologie“). Alle treffen in der Soteriologie aufeinander und ringen miteinander. So hält der Würzburger Systematiker Prof. Matthias Reményi in seinen spannenden Überlegungen zur Soteriologie im Jahr 2017 fest:
„Aber insbesondere der Gedanke, dass Gott nicht einfach so die Sünden nachlassen kann, sondern um der Freiheit und Würde des Menschen willen eine Genugtuung (satisfactio) fordern muss, zieht sich in Zustimmung und Widerspruch wie ein roter Faden auch durch gegenwärtige deutschsprachige Soteriologien.“[2]
Wo liegt das Problem? In der Soteriologie gibt es zwei Grundvarianten, wie Christi Heilshandeln verstanden werden kann. Es gibt zum einen den Grundtypus der Solidaritätschristologie: Das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu wird als exemplarisch und solidarisch gedeutet. Alles, was Jesus tut, hat einen Vorbildcharakter für uns: Der neue Adam, das erneuerte Geschöpf, das den Willen Gottes befolgt und als befreites Subjekt agiert. Es geht um die sich verschenkende Art, wie Jesus auf Menschen zugeht, seine Liebe für die Benachteiligten und Unterdrückten. Es geht darum, wie er die Feindseligkeit erleidet und den Hass der Menschen lieber erträgt und erduldet, statt mit Hass und Gewalt zu antworten. In all dem solidarisiert er sich mit uns und lebt exemplarisch vor, wie wir leben sollen (siehe auch Johannes 14, 12[3]).
Der zweite Grundtypus ist die Stellvertreterchristologie. Das Wirken Jesu wird hier ganz stark vom Kreuz her gedacht und von seinem Versöhnungshandeln durch seinen Tod. Der menschgewordene Gott stirbt „für uns“, an „unserer statt“ und bewirkt eine wirkliche Stellvertretung dadurch, dass seine Lebenshingabe ein Opfer ist, einen Loskauf bewirkt, Sühne ermöglicht und uns Menschen in eine neue Gemeinschaft mit dem Vater überführt. Der Opferkult des AT vom großen Versöhnungstag (Yom Kippur, 3. Mose 16) bis hin zu Jesaja 53 (der leidende Gottesknecht) bilden hier die biblischen Analogien (siehe auch Markus 10, 45[4]).
Vier Ebenen der Kritik an der Stellvertretung
Das Problem liegt darin, dass diese beiden Grundtypen der Kreuzesdeutung immer zusammengedacht und sich als gegenseitig bedingend betrachtet wurden, inzwischen aber voneinander losgelöst werden und gegeneinander ausgespielt werden, ganz nach dem Motto der Schlange: Sollte Gott tatsächlich gesagt haben, dass… Das heißt konkret: Die Stellvertreterchristologie wird kritisiert, abgelehnt und geleugnet, dagegen wird die Solidaritätschristologie hochgehalten. Dadurch meint man, dass man das Ärgernis des Kreuzes überwinden könnte, ohne die heilsvermittelnde Wirkung Jesu aufzuheben.
Dieser Prozess ist nicht neu und findet in konzentrierter Form seit der sogenannten Aufklärung statt. Immanuel Kant kritisierte die Stellvertreterchristologie auf einer Ebene der Subjektivität. Für ihn war klar, dass die Sünde eine moralische Verfehlung des individuellen Subjekts ist, und daher keine, wie er es beschrieb, „transmissible Verbindlichkeit“[5], keine delegierbare und auf andere autonome Subjekte übertragbare Sache sei. In moralischen Dingen sei der Mensch schlicht unvertretbar.
Der Regionalbischof des Sprengels Lüneburg, Dr. Stephan Schaede, hat bei einem interdisziplinären Symposion 2004 in Tübingen dazu herausgearbeitet: „Viel faszinierender ist, dass Kant bei aller Kritik an der Schuldogmatik selber Stellvertretungsstrukturen benötigt. Er hat der Sache nach die Stellvertretung nach innen verlegt. Es gibt bei ihm eine komplexe, dreifache Stellvertretung im menschlichen Subjekt.“[6] Und auch der EDK Grundlagentext „Für uns gestorben“ über die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi aus dem Jahr 2015 stellt die Anfrage, ob Kants Versuch der Überwindung des Stellvertreter-konzeptes auf die Ebene der Innerlichkeit des menschlichen Subjekts nicht letztlich eine „raffinierte Konzeption“ ist, die letztlich nichts anderes als das Münchhausen-Konzept des Menschen sei, der versucht sich selbst am Zopf aus dem Sumpf heraus zu ziehen.[7]
Auf einer zweiten Ebene wird die Stellvertreterchristologie mit dem Vorwurf des Gottesbildes angegriffen: Die Lehre der Stellvertretung und Sühne sei unvereinbar mit dem biblischen Versöhnungsgedanken, dass Gott sich grundlos neu dem Sünder zuwendet und ihm die Versöhnung schenkt. Friedrich Nietzsche hat diesen Einwand eindrücklich vorgebracht und geschrieben: „Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden […]. Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum!“[8]
Nietzsche greift vor allem die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury an und wirft der Theologie insgesamt vor, hier ein blutrünstiges Zerrbild von Gott zu vertreten. Gerade dieses Argument begegnet mir immer häufiger auch in neueren Diskussionen, gerade auch inmitten von evangelikalen Gemeinden, Verbänden, Bünden und Ausbildungsstätten immer häufiger, leider auch zunehmend in unseren eigenen Publikationen. Die Frage dabei ist jedoch, wer hier ein Zerrbild von wem aufbaut und ob die Kritik nicht gerade ein Strohmannargument ist. Maßgeblich wird Anselm kritisiert, dass er ein solch falsches Gottesbild in die Theologie hineingepflanzt habe. Wenn man sich aber mit Anselm beschäftigt, entdeckt man, dass dieser durchgehend die Freiwilligkeit und die Selbsthingabe des Sohnes betont und exegetisch belegt. Es ist gerade die Liebe Gottes, die den Sohn, antreibt, sich selbst hinzugeben und zu retten, was verloren ist, wie Jesus in Lukas 19, 10 und Markus 10, 45 betont. Dazu nochmal Prof. Reményi:
„Die Kernintuition Anselms ist und bleibt, dass der stellvertretende Tod des Gott-Menschen deshalb heilsnotwendig ist, weil nur er die Gott geschuldete Genugtuung für unsere Sünden leisten kann. Nur weil er als der einzig Sündlose in freiwilligem Gehorsam gegenüber dem Versöhnungswillen des Vaters sein Leben für die Sünder hingibt.“ [9]
In freiwilligem Gehorsam, aus Liebe!
Eine dritte Ebene der Kritik ist, dass wir doch nicht mehr von Gericht und Schuld sprechen könnten. Dies wäre eine unberechtigte Drohbotschaft, durch die wir mit mittelalterlichen Methoden die Hölle an die Wand malen würden, um dann Menschen zu manipulieren und vom Glauben zu überzeugen. Es ginge in unserer Zeit nicht mehr um die Frage der Schuld, sondern vielmehr um Scham. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hält dazu fest:
„In diesem anthropozentrischen Klima muss die Vorstellung vom Spirituellen, sofern überhaupt noch vorhanden, völlig konstruktiv und positiv sein. Sie […] ist immer weniger dazu imstande, einen strafenden Gott in Betracht zu ziehen. Der Zorn Gottes verschwindet, und zurück bleibt nur seine Liebe. Nach älterer Auffassung musste der Zorn mit zum Gesamtpaket gehören. Das Gefühl der Erlösung war vom Eindruck der Sündigkeit und Niedrigkeit nicht zu trennen vom Begriff der verdienten Strafe“.[10]
In diesem anthropozentrischen Klima unserer westlichen Zivilisation, haben wir aber nicht mehr das Gefühl, der Sündhaftigkeit und Niedrigkeit. Daher sprechen wir lieber von der Scham statt von Schuld, da es den Fokus auf den Menschen, seine Emotionen und seinen Lifestyle legt.
Was dabei aber passiert ist, dass wir die postmoderne Anthropologie über die Theologie setzen. Wir begehen den alten Fehlschluss des „homo incuvatus in se ipsum“, des in sich selbst verkrümmten Menschen, der sich um sich selbst dreht und gerade durch die Selbstdrehung gefangen ist in sich selbst, vielleicht sogar mit der Illusion der Freiheit. Aber die Ohnmacht des Menschen ist real, sie wird erlebt und erfahren. Sie wird nur häufig mit anderen Worten und Beschreibungen bezeichnet. Die postmoderne Anthropologie läuft auf die Ohnmacht des Menschen und den Nihilismus hinaus, wie sich an der Entwicklung der Philosophiegeschichte seit dem 2. Weltkrieg gut nachzeichnen lässt.
Solidarität und Stellvertretung gehören zusammen
Wie Sie eben schon bemerkt haben, habe ich die Linie der Kreuzeskritik schon von der philosophischen Infragestellung weitergezogen auf heutige Debatten. Wir haben in unseren Kreisen und Bewegungen die gleichen Gefährdungen. Wir haben die kleinen Reduzierungen und Nivellierungen auch in unserer Theologie. Und in der Folge wundern wir uns, dass wir nicht mehr sprachfähig sind über das Evangelium und dass die Verteidigung des Glaubens, die Apologetik, verloren ging.
Das erschreckende dabei aber ist, dass die Evangelische Allianz, die konservativen Christen, die Evangelikalen oder wie auch immer Sie unsere Bewegung nun fassen möchten, durchgehend die Verteidiger der Kreuzestheologie waren in der Kombination von Stellvertretungschristologie und Solidaritätschristologie. Wir haben um die Einheit von beidem immer gerungen und gekämpft. Unsere Glaubensbasis hält beides zusammen: Jesus Christus starb für uns. Und der Freispruch durch seinen Tod lässt uns leben durch den Glauben. Deshalb ist auch im nächsten Satz das neue Leben durch den Glauben im Heiligen Geist beschrieben, der uns in den Dienst nimmt. Wenn wir diese Verbindung aufgeben, weil wir meinen, den Anstoß des Kreuzes wegnehmen zu wollen, um dadurch besser das Evangelium verkündigen zu können, dann sind wir die törichtesten Toren von allen (1. Korinther 1, 18-25). Die Botschaft des Evangeliums ist untrennbar mit der Lehre der Stellvertretung verbunden: „Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.“ (1Kor 15,3b-5).
Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus für uns starb?
Ich fasse zusammen. Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus Christus für uns starb, als dem unaufgebbaren Kern des Glaubens?
Es geht um Gott. Um Gottes Heiligkeit. Und in der Konsequenz erst um uns. Arthur W. Pink stellt in seiner Studie über die Eigenschaften Gottes erstaunt fest, dass: „Wenn man den Vergleich zieht, wird man feststellen, dass in der Bibel weit mehr von Gottes Zorn die Rede ist, als von Seiner Liebe und Freundlichkeit.“[11] Wie sehr haben wir die Theologie schon verschoben auf die Anthropologie und auf die Soziologie? Wir schauen auf uns, auf unsere Bedürfnisse, unsere Sorgen und Anliegen und sind uns viel zu wenig bewusst, dass wir es mit einem lebendigen, gerechten und heiligen Gott zu tun haben. „Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen.“ (Römer 1, 18) So beginnt der Römerbrief! Diese Ausgangslage dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren!
Damit zusammen hängt die Sündenlehre. Der Münchener Systematiker Prof. Wolfhart Pannenberg stellt in seiner Anthropologie fest:
„Die Verkehrung des Verhältnisses von Ichzentrum und exzentrischer Bestimmung des Menschen bedeutet Selbstverfehlung des Menschen, weil er durch sein Streben, sich selbst zu gewinnen, seine exzentrische Bestimmung versäumt.“[12]
Wir Menschen sind eine entfremdete Kreatur, die von ihrer exzentrischen Bestimmung abgewichen ist und die sich selbst versucht zu gewinnen. Das ist die fassbare und erfahrbare Entfremdung des Menschen. Doch zugleich schreibt Pannenberg: „Sünde ist nicht ein Schicksal, das als eine fremde Macht über den Menschen kommt, der gegenüber er ohnmächtig wäre. Ihr Begriff ist untrennbar von Verantwortung und Schuld.“[13] Beides müssen wir zugleich festhalten: Die Entfremdung des Menschen von sich selbst und zugleich die bleibende Schuld und Verantwortung. Das ist, was Edmund Schlink als das „Elend des Sünders“ beschreibt.[14]
Und gerade aus diesem Grund können wir Menschen uns nicht selbst retten. Jeder Versuch einer pelagianistischen Selbsterlösung scheitert an der Entfremdung und Schuld des Menschen durch die Sünde. Und auch die Fokussierung auf Scham, wo die Schuld außer Acht gelassen wird und nicht als Wurzel und Ursache der Scham angesehen wird, läuft ins Leere.
Die Erlösung kann nur „extra nos“, also außerhalb von uns selbst erwirkt werden. Es braucht die Ebene der Transzendenz und nicht den abgeschlossenen, selbstgenügsamen, immanenten Humanismus, von dem Taylor spricht. Es braucht die Lehre, dass „… wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird.“ (Augsburger Bekenntnis Artikel 4) Das ist der Kern! Denn es ist „schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebräer 10, 31) ohne einen Mittler, ohne Jesus Christus, der für uns gestorben ist zur Vergebung der Sünden. Denn, wie John Stott ausführlich beschreibt: Am Kreuz geschieht beides, Solidarität und Stellvertretung. Der Sohn Gottes wird ganz Mensch, nimmt unsere Natur an, solidarisiert sich mit uns und zeigt, wie wir leben sollten und sollen, doch zugleich stirbt er stellvertretend für uns, um uns mit dem Vater im Himmel zu versöhnen und Frieden zu machen zwischen Gott und uns, wie Paulus in Römer 5, 1 und Epheser 2, 13f. ausführt.
John Stott sagt deshalb zurecht:
„Stellvertretung ist also keine ‚Sühnetheorie‘. Sie ist auch kein zusätzliches Bild, das als weitere Option neben die anderen gestellt werden könnte. Sondern sie ist die Essenz jedes Bildes und das Herz des Sühnegeschehens selbst.“[15]
In der Lehre vom Kreuz, an dem Christus für uns starb, geht es um Sühnung, Solidarität, Erlösung, Rechtfertigung, Versöhnung. Und all das kommt zusammen in der Aussage: Jesus Christus starb für dich. Das ist das Evangelium, welches wir zu verkündigen haben in dieser Welt: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ (2Kor 5,20-21)
Das ist unser tiefster Glaubensschatz. Das ist der unaufgebbare Kern des Evangeliums und unseres Glaubens. Und das ist die Botschaft, die wir zu verkündigen und zu leben haben. Wo wir diese Botschaft in den Hintergrund drängen, wo wir daran herumdoktern oder sie sogar aufgeben, da verlieren wir unsere Einheit, da verlieren wir unsere Tradition, wir verlieren wir unseren geistlichen Auftrag und unsere Vollmacht. Denn wir sind Botschafter an Christi statt. Wenn wir das aufgeben, werden wir zu Moralisten und zu Gesetzlichen.
Wir sind eine Bewegung des Kreuzes. Wir sind eine Bewegung von Christus, dem Gekreuzigten, die ihn proklamiert. Und gerade deshalb können und sollen wir voller Hoffnung das Evangelium verkündigen: Jesus Christus starb für dich! Das ist die einzige Hoffnung für diese Welt.
Literaturverzeichnis:
Agamben, Giorgio: Pilatus und Jesus, Berlin 2014.
EKD: Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.
Frey, Jörg: Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 87–124.
Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden Bd. 8, Frankfurt a. M. 1977.
Lubahn, Erich: Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung. Mit Beiträgen von Otto Michel, Stuttgart 61993.
Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. NIetzsche contra Wagner: Sämtliche Werke. KSA 6, 15 Bde., hg. v. Colli, Giogio, Montinari, Mazzino, München 122017.
Packer, J. I.: Gott erkennen, Bad Liebenzell 1977.
Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.
Reményi, Matthias: Stellvertretung, nicht Äquivalenz. Überlegungen zur Soteriologie im Anschluss an Cur Deus homo, in: Gasser u.a. (Hg.): Handbuch für analytische Theologie. STEP Bd. 11, Münster 2017, 695–719.
Schaede, Stephan: Jes 53, 2 Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 125–148.
Schlink, Edmund: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Schriften zu Ökumene und Bekenntnis Bd. 2, Göttingen 32005.
Stott, John: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 22019.
Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Berlin 22020.
Fußnoten:
[1] Frey, Die Deutung des Todes Jesu (2006), 87.
[2] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 696.
[3] Johannes 14,12: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“
[4] Markus 10,45: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.“
[5] 1. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 95 A 88. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen (1977), 725.
[6] Schaede, Die Aufgabe systematischer Theologie (2006), 127. Kant spricht davon, dass die gute Gesinnung die verderbte Gesinnung vertritt. Dann, dass die gute Gesinnung die noch zu tätigen, guten Taten vor der intellektuellen Anschauung Gottes vertritt. Und dass eine heilige Gesinnung eine Ohnmächtige vertritt. Die Qualität der Gesinnung tritt also für den mangelnden Grad der Realisierungskraft ein.
[7] Vgl. EKD, Für uns gestorben (2015), III. 5.2; 98-100.
[8] Nietzsche, Der Antichrist (KSA 6) (2017), KSA 6, Nr. 41. S. 214f.
[9] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 698.
[10] Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2020), 1078f.
[11] A.W. Pink, Die Eigenschaften Gottes, Seite 75, zitiert nach: Packer, Gott erkennen (1977), 136.
[12] Pannenberg, Anthropologie (1983), 103.
[13] A.a.O., 107.
[14] Schlink, Ökumenische Dogmatik (2005), 124.
[15] Stott, Das Kreuz (2019), 260. Und ebenso: Lubahn, Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung (1993), 62f.