Jesus starb für mich: Der unaufgebbare Kern unseres Glaubens

Dieser Text ist das Skript des Vortrags von Martin P. Grünholz, Dozent für Dogmatik, Ethik, Gemeindepraxis und Kirchengeschichte an der Biblisch Theologischen Akademie am Forum Wiedenest. Der Vortrag wurde gehalten beim Allianz Symposium “Verbindende Glaubensschätze – Wie gelingt Einheit in Vielfalt?” am 09.12.2022 in Bad Blankenburg.

Der Titel des Vortrags macht es deutlich: Bei diesem Thema geht es um den innersten Kern des Evangeliums. Bei der Frage nach der Schrift und bei der Frage nach dem Kreuz geht es um die wichtigsten Elemente und die Grundstruktur der christlichen Theologie. Wenn wir hier abweichen, stellt sich die Frage, ob wir die christliche Theologie nicht aufs Spiel setzen und verlieren.

Die Lehre von der Stellvertretung: Die umstrittene Grundlage der Kreuzestheologie

Paulus schreibt in Römer 5, 8-10: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Um wie viel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind! Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.“ Ebenso zieht er in 1. Thessalonicher 5, 9-10 eine klare Verbindungslinie zwischen der Sünde, der Feindschaft gegen Gott, Gottes gerechtem Zorn und der Sühne durch das stellvertretende Opfer des Sohnes Jesus Christus, der sich aus verschenkender Liebe für uns hingibt, um uns zu versöhnen. Liebe – Sünde – Feindschaft – Gericht – Zorn: Um alle diese hochemotionalen Begriffe geht es in der Lehre der Stellvertretung. Und das alles gilt: Für mich! Jesus für Dich!

Die überarbeiteten Fassung der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz aus dem Jahr 2018 stellt dazu fest:

„Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, ist stellvertretend für alle Menschen gestorben. Sein Opfertod allein ist die Grundlage für die Vergebung von Schuld, für die Befreiung von der Macht der Sünde und für den Freispruch in Gottes Gericht. Jesus Christus, durch Gott von den Toten auferweckt, ist der einzige Weg zu Gott. Der Mensch wird allein durch den Glauben an ihn durch Gottes Gnade gerecht gesprochen.”

Jetzt könnte man meinen: Mit dem Schriftzeugnis und der Glaubensbasis der evangelischen Allianz sind alle Fragen geklärt. Dem ist aber leider nicht so. So stellt der bekannte Neutestamentler der Universität Zürich, Prof. Jörg Frey, ernüchternd fest: „In der neutestamentlichen Diskussion um den Begriff der ‚Stellvertretung‘ ist fast alles strittig.“[1] Als Systematiker muss ich ergänzen: Nicht nur in der Diskussion um biblische Begriffe sondern auch in der Dogmatik wird alles auf den Prüfstand gestellt. In der Erlösungslehre („Soteriologie“) ist ebenso fast alles strittig. Die Aussage „Jesus starb für mich“ bzw. „Jesus Christus starb für dich“ wird heute zunehmend als hochproblematisch empfunden. Sie gilt teilweise sogar eher als Affront statt als tröstender Zuspruch des Glaubens und des Evangeliums. Das gilt zunehmend auch in evangelikalen Kreisen. Deshalb tun wir uns auch mit der Evangelisation so schwer. Die Krise der Evangelisation hat auch damit zu tun, dass wir uns so schwer tun mit diesem Zeugnis.

Doch wie konnte es dazu kommen?

Zwei Grundtypen der Soteriologie

In der Lehre von der Erlösung („Soteriologie“) gibt es ein komplexes Zusammenspiel der Lehre von Gott, vom Menschen („Anthropologie“), von Christus („Christologie“), vom Heiligen Geist („Pneumatologie“) und möglicherweise auch von der Gesellschaft („Soziologie“). Alle treffen in der Soteriologie aufeinander und ringen miteinander. So hält der Würzburger Systematiker Prof. Matthias Reményi in seinen spannenden Überlegungen zur Soteriologie im Jahr 2017 fest:

„Aber insbesondere der Gedanke, dass Gott nicht einfach so die Sünden nachlassen kann, sondern um der Freiheit und Würde des Menschen willen eine Genugtuung (satisfactio) fordern muss, zieht sich in Zustimmung und Widerspruch wie ein roter Faden auch durch gegenwärtige deutschsprachige Soteriologien.“[2]

Wo liegt das Problem? In der Soteriologie gibt es zwei Grundvarianten, wie Christi Heilshandeln verstanden werden kann. Es gibt zum einen den Grundtypus der Solidaritätschristologie: Das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu wird als exemplarisch und solidarisch gedeutet. Alles, was Jesus tut, hat einen Vorbildcharakter für uns: Der neue Adam, das erneuerte Geschöpf, das den Willen Gottes befolgt und als befreites Subjekt agiert. Es geht um die sich verschenkende Art, wie Jesus auf Menschen zugeht, seine Liebe für die Benachteiligten und Unterdrückten. Es geht darum, wie er die Feindseligkeit erleidet und den Hass der Menschen lieber erträgt und erduldet, statt mit Hass und Gewalt zu antworten. In all dem solidarisiert er sich mit uns und lebt exemplarisch vor, wie wir leben sollen (siehe auch Johannes 14, 12[3]).

Der zweite Grundtypus ist die Stellvertreterchristologie. Das Wirken Jesu wird hier ganz stark vom Kreuz her gedacht und von seinem Versöhnungshandeln durch seinen Tod. Der menschgewordene Gott stirbt „für uns“, an „unserer statt“ und bewirkt eine wirkliche Stellvertretung dadurch, dass seine Lebenshingabe ein Opfer ist, einen Loskauf bewirkt, Sühne ermöglicht und uns Menschen in eine neue Gemeinschaft mit dem Vater überführt. Der Opferkult des AT vom großen Versöhnungstag (Yom Kippur, 3. Mose 16) bis hin zu Jesaja 53 (der leidende Gottesknecht) bilden hier die biblischen Analogien (siehe auch Markus 10, 45[4]).

Vier Ebenen der Kritik an der Stellvertretung

Das Problem liegt darin, dass diese beiden Grundtypen der Kreuzesdeutung immer zusammengedacht und sich als gegenseitig bedingend betrachtet wurden, inzwischen aber voneinander losgelöst werden und gegeneinander ausgespielt werden, ganz nach dem Motto der Schlange: Sollte Gott tatsächlich gesagt haben, dass… Das heißt konkret: Die Stellvertreterchristologie wird kritisiert, abgelehnt und geleugnet, dagegen wird die Solidaritätschristologie hochgehalten. Dadurch meint man, dass man das Ärgernis des Kreuzes überwinden könnte, ohne die heilsvermittelnde Wirkung Jesu aufzuheben.

Dieser Prozess ist nicht neu und findet in konzentrierter Form seit der sogenannten Aufklärung statt. Immanuel Kant kritisierte die Stellvertreterchristologie auf einer Ebene der Subjektivität. Für ihn war klar, dass die Sünde eine moralische Verfehlung des individuellen Subjekts ist, und daher keine, wie er es beschrieb, „transmissible Verbindlichkeit“[5], keine delegierbare und auf andere autonome Subjekte übertragbare Sache sei. In moralischen Dingen sei der Mensch schlicht unvertretbar.

Der Regionalbischof des Sprengels Lüneburg, Dr. Stephan Schaede, hat bei einem interdisziplinären Symposion 2004 in Tübingen dazu herausgearbeitet: „Viel faszinierender ist, dass Kant bei aller Kritik an der Schuldogmatik selber Stellvertretungsstrukturen benötigt. Er hat der Sache nach die Stellvertretung nach innen verlegt. Es gibt bei ihm eine komplexe, dreifache Stellvertretung im menschlichen Subjekt.“[6] Und auch der EDK Grundlagentext „Für uns gestorben“ über die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi aus dem Jahr 2015 stellt die Anfrage, ob Kants Versuch der Überwindung des Stellvertreter-konzeptes auf die Ebene der Innerlichkeit des menschlichen Subjekts nicht letztlich eine „raffinierte Konzeption“ ist, die letztlich nichts anderes als das Münchhausen-Konzept des Menschen sei, der versucht sich selbst am Zopf aus dem Sumpf heraus zu ziehen.[7]

Auf einer zweiten Ebene wird die Stellvertreterchristologie mit dem Vorwurf des Gottesbildes angegriffen: Die Lehre der Stellvertretung und Sühne sei unvereinbar mit dem biblischen Versöhnungsgedanken, dass Gott sich grundlos neu dem Sünder zuwendet und ihm die Versöhnung schenkt. Friedrich Nietzsche hat diesen Einwand eindrücklich vorgebracht und geschrieben: „Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden […]. Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum!“[8]

Nietzsche greift vor allem die Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury an und wirft der Theologie insgesamt vor, hier ein blutrünstiges Zerrbild von Gott zu vertreten. Gerade dieses Argument begegnet mir immer häufiger auch in neueren Diskussionen, gerade auch inmitten von evangelikalen Gemeinden, Verbänden, Bünden und Ausbildungsstätten immer häufiger, leider auch zunehmend in unseren eigenen Publikationen. Die Frage dabei ist jedoch, wer hier ein Zerrbild von wem aufbaut und ob die Kritik nicht gerade ein Strohmannargument ist. Maßgeblich wird Anselm kritisiert, dass er ein solch falsches Gottesbild in die Theologie hineingepflanzt habe. Wenn man sich aber mit Anselm beschäftigt, entdeckt man, dass dieser durchgehend die Freiwilligkeit und die Selbsthingabe des Sohnes betont und exegetisch belegt. Es ist gerade die Liebe Gottes, die den Sohn, antreibt, sich selbst hinzugeben und zu retten, was verloren ist, wie Jesus in Lukas 19, 10 und Markus 10, 45 betont. Dazu nochmal Prof. Reményi:

„Die Kernintuition Anselms ist und bleibt, dass der stellver­tretende Tod des Gott-Menschen deshalb heilsnotwendig ist, weil nur er die Gott geschuldete Genugtuung für unsere Sünden leisten kann. Nur weil er als der einzig Sündlose in freiwilligem Gehorsam gegenüber dem Versöhnungswillen des Vaters sein Leben für die Sünder hingibt.“ [9]

In freiwilligem Gehorsam, aus Liebe!

Eine dritte Ebene der Kritik ist, dass wir doch nicht mehr von Gericht und Schuld sprechen könnten. Dies wäre eine unberechtigte Drohbotschaft, durch die wir mit mittelalterlichen Methoden die Hölle an die Wand malen würden, um dann Menschen zu manipulieren und vom Glauben zu überzeugen. Es ginge in unserer Zeit nicht mehr um die Frage der Schuld, sondern vielmehr um Scham. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hält dazu fest:

„In diesem anthropozentrischen Klima muss die Vorstellung vom Spirituellen, sofern überhaupt noch vorhanden, völlig konstruktiv und positiv sein. Sie […] ist immer weniger dazu imstande, einen strafenden Gott in Betracht zu ziehen. Der Zorn Gottes verschwindet, und zurück bleibt nur seine Liebe. Nach älterer Auffassung musste der Zorn mit zum Gesamtpaket gehören. Das Gefühl der Erlösung war vom Eindruck der Sündigkeit und Niedrigkeit nicht zu trennen vom Begriff der verdienten Strafe“.[10]

In diesem anthropozentrischen Klima unserer westlichen Zivilisation, haben wir aber nicht mehr das Gefühl, der Sündhaftigkeit und Niedrigkeit. Daher sprechen wir lieber von der Scham statt von Schuld, da es den Fokus auf den Menschen, seine Emotionen und seinen Lifestyle legt.

Was dabei aber passiert ist, dass wir die postmoderne Anthropologie über die Theologie setzen. Wir begehen den alten Fehlschluss des „homo incuvatus in se ipsum“, des in sich selbst verkrümmten Menschen, der sich um sich selbst dreht und gerade durch die Selbstdrehung gefangen ist in sich selbst, vielleicht sogar mit der Illusion der Freiheit. Aber die Ohnmacht des Menschen ist real, sie wird erlebt und erfahren. Sie wird nur häufig mit anderen Worten und Beschreibungen bezeichnet. Die postmoderne Anthropologie läuft auf die Ohnmacht des Menschen und den Nihilismus hinaus, wie sich an der Entwicklung der Philosophiegeschichte seit dem 2. Weltkrieg gut nachzeichnen lässt.

Solidarität und Stellvertretung gehören zusammen

Wie Sie eben schon bemerkt haben, habe ich die Linie der Kreuzeskritik schon von der philosophischen Infragestellung weitergezogen auf heutige Debatten. Wir haben in unseren Kreisen und Bewegungen die gleichen Gefährdungen. Wir haben die kleinen Reduzierungen und Nivellierungen auch in unserer Theologie. Und in der Folge wundern wir uns, dass wir nicht mehr sprachfähig sind über das Evangelium und dass die Verteidigung des Glaubens, die Apologetik, verloren ging.

Das erschreckende dabei aber ist, dass die Evangelische Allianz, die konservativen Christen, die Evangelikalen oder wie auch immer Sie unsere Bewegung nun fassen möchten, durchgehend die Verteidiger der Kreuzestheologie waren in der Kombination von Stellvertretungschristologie und Solidaritätschristologie. Wir haben um die Einheit von beidem immer gerungen und gekämpft. Unsere Glaubensbasis hält beides zusammen: Jesus Christus starb für uns. Und der Freispruch durch seinen Tod lässt uns leben durch den Glauben. Deshalb ist auch im nächsten Satz das neue Leben durch den Glauben im Heiligen Geist beschrieben, der uns in den Dienst nimmt. Wenn wir diese Verbindung aufgeben, weil wir meinen, den Anstoß des Kreuzes wegnehmen zu wollen, um dadurch besser das Evangelium verkündigen zu können, dann sind wir die törichtesten Toren von allen (1. Korinther 1, 18-25). Die Botschaft des Evangeliums ist untrennbar mit der Lehre der Stellvertretung verbunden: „Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.“ (1Kor 15,3b-5).

Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus für uns starb?

Ich fasse zusammen. Warum müssen wir festhalten an der Lehre, dass Jesus Christus für uns starb, als dem unaufgebbaren Kern des Glaubens?

Es geht um Gott. Um Gottes Heiligkeit. Und in der Konsequenz erst um uns.  Arthur W. Pink stellt in seiner Studie über die Eigenschaften Gottes erstaunt fest, dass: „Wenn man den Vergleich zieht, wird man feststellen, dass in der Bibel weit mehr von Gottes Zorn die Rede ist, als von Seiner Liebe und Freundlichkeit.“[11] Wie sehr haben wir die Theologie schon verschoben auf die Anthropologie und auf die Soziologie? Wir schauen auf uns, auf unsere Bedürfnisse, unsere Sorgen und Anliegen und sind uns viel zu wenig bewusst, dass wir es mit einem lebendigen, gerechten und heiligen Gott zu tun haben. „Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen.“ (Römer 1, 18) So beginnt der Römerbrief! Diese Ausgangslage dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren!

Damit zusammen hängt die Sündenlehre. Der Münchener Systematiker Prof. Wolfhart Pannenberg stellt in seiner Anthropologie fest:

„Die Verkehrung des Verhältnisses von Ichzentrum und exzentrischer Bestimmung des Menschen bedeutet Selbstverfehlung des Menschen, weil er durch sein Streben, sich selbst zu gewinnen, seine exzentrische Bestimmung versäumt.[12]

Wir Menschen sind eine entfremdete Kreatur, die von ihrer exzentrischen Bestimmung abgewichen ist und die sich selbst versucht zu gewinnen. Das ist die fassbare und erfahrbare Entfremdung des Menschen. Doch zugleich schreibt Pannenberg: „Sünde ist nicht ein Schicksal, das als eine fremde Macht über den Menschen kommt, der gegenüber er ohnmächtig wäre. Ihr Begriff ist untrennbar von Verantwortung und Schuld.“[13] Beides müssen wir zugleich festhalten: Die Entfremdung des Menschen von sich selbst und zugleich die bleibende Schuld und Verantwortung. Das ist, was Edmund Schlink als das „Elend des Sünders“ beschreibt.[14]

Und gerade aus diesem Grund können wir Menschen uns nicht selbst retten. Jeder Versuch einer pelagianistischen Selbsterlösung scheitert an der Entfremdung und Schuld des Menschen durch die Sünde. Und auch die Fokussierung auf Scham, wo die Schuld außer Acht gelassen wird und nicht als Wurzel und Ursache der Scham angesehen wird, läuft ins Leere.

Die Erlösung kann nur „extra nos“, also außerhalb von uns selbst erwirkt werden. Es braucht die Ebene der Transzendenz und nicht den abgeschlossenen, selbstgenügsamen, immanenten Humanismus, von dem Taylor spricht. Es braucht die Lehre, dass „… wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird.“ (Augsburger Bekenntnis Artikel 4) Das ist der Kern! Denn es ist „schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebräer 10, 31) ohne einen Mittler, ohne Jesus Christus, der für uns gestorben ist zur Vergebung der Sünden. Denn, wie John Stott ausführlich beschreibt: Am Kreuz geschieht beides, Solidarität und Stellvertretung. Der Sohn Gottes wird ganz Mensch, nimmt unsere Natur an, solidarisiert sich mit uns und zeigt, wie wir leben sollten und sollen, doch zugleich stirbt er stellvertretend für uns, um uns mit dem Vater im Himmel zu versöhnen und Frieden zu machen zwischen Gott und uns, wie Paulus in Römer 5, 1 und Epheser 2, 13f. ausführt.

John Stott sagt deshalb zurecht:

„Stellvertretung ist also keine ‚Sühnetheorie‘. Sie ist auch kein zusätzliches Bild, das als weitere Option neben die anderen gestellt werden könnte. Sondern sie ist die Essenz jedes Bildes und das Herz des Sühnegeschehens selbst.“[15]

In der Lehre vom Kreuz, an dem Christus für uns starb, geht es um Sühnung, Solidarität, Erlösung, Rechtfertigung, Versöhnung. Und all das kommt zusammen in der Aussage: Jesus Christus starb für dich. Das ist das Evangelium, welches wir zu verkündigen haben in dieser Welt: „So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ (2Kor 5,20-21)

Das ist unser tiefster Glaubensschatz. Das ist der unaufgebbare Kern des Evangeliums und unseres Glaubens. Und das ist die Botschaft, die wir zu verkündigen und zu leben haben. Wo wir diese Botschaft in den Hintergrund drängen, wo wir daran herumdoktern oder sie sogar aufgeben, da verlieren wir unsere Einheit, da verlieren wir unsere Tradition, wir verlieren wir unseren geistlichen Auftrag und unsere Vollmacht. Denn wir sind Botschafter an Christi statt. Wenn wir das aufgeben, werden wir zu Moralisten und zu Gesetzlichen.

Wir sind eine Bewegung des Kreuzes. Wir sind eine Bewegung von Christus, dem Gekreuzigten, die ihn proklamiert. Und gerade deshalb können und sollen wir voller Hoffnung das Evangelium verkündigen: Jesus Christus starb für dich! Das ist die einzige Hoffnung für diese Welt.

 

Literaturverzeichnis:

Agamben, Giorgio: Pilatus und Jesus, Berlin 2014.

EKD: Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.

Frey, Jörg: Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 87–124.

Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden Bd. 8, Frankfurt a. M. 1977.

Lubahn, Erich: Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung. Mit Beiträgen von Otto Michel, Stuttgart 61993.

Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. NIetzsche contra Wagner: Sämtliche Werke. KSA 6, 15 Bde., hg. v. Colli, Giogio, Montinari, Mazzino, München 122017.

Packer, J. I.: Gott erkennen, Bad Liebenzell 1977.

Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983.

Reményi, Matthias: Stellvertretung, nicht Äquivalenz. Überlegungen zur Soteriologie im Anschluss an Cur Deus homo, in: Gasser u.a. (Hg.): Handbuch für analytische Theologie. STEP Bd. 11, Münster 2017, 695–719.

Schaede, Stephan: Jes 53, 2 Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden, in: Janowski, J. Christine u.a. (Hg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004 Bd. Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 125–148.

Schlink, Edmund: Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Schriften zu Ökumene und Bekenntnis Bd. 2, Göttingen 32005.

Stott, John: Das Kreuz. Zentrum des christlichen Glaubens, Marburg 22019.

Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Berlin 22020.

Fußnoten:

[1] Frey, Die Deutung des Todes Jesu (2006), 87.

[2] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 696.

[3] Johannes 14,12: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun; denn ich gehe zum Vater.“

[4] Markus 10,45: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.“

[5] 1. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 95 A 88. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen (1977), 725.

[6] Schaede, Die Aufgabe systematischer Theologie (2006), 127. Kant spricht davon, dass die gute Gesinnung die verderbte Gesinnung vertritt. Dann, dass die gute Gesinnung die noch zu tätigen, guten Taten vor der intellektuellen Anschauung Gottes vertritt. Und dass eine heilige Gesinnung eine Ohnmächtige vertritt. Die Qualität der Gesinnung tritt also für den mangelnden Grad der Realisierungskraft ein.

[7] Vgl. EKD, Für uns gestorben (2015), III. 5.2; 98-100.

[8] Nietzsche, Der Antichrist (KSA 6) (2017), KSA 6, Nr. 41. S. 214f.

[9] Reményi, Stellvertretung nicht Äquivalenz (2017), 698.

[10] Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2020), 1078f.

[11] A.W. Pink, Die Eigenschaften Gottes, Seite 75, zitiert nach: Packer, Gott erkennen (1977), 136.

[12] Pannenberg, Anthropologie (1983), 103.

[13] A.a.O., 107.

[14] Schlink, Ökumenische Dogmatik (2005), 124.

[15] Stott, Das Kreuz (2019), 260. Und ebenso: Lubahn, Heilsgeschichtliche Theologie und Verkündigung (1993), 62f.

Die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz

Dieser Artikel entspricht in weiten Teilen dem gleichnamigen Vortrag, der am 15.10.2022 bei der Pfarrerarbeitsgemeinschaft Confessio gehalten wurde, und der hier auf YouTube angesehen werden kann:

Kürzlich hatte ich im Internet eine kleine Diskussion mit einem Pfarrer. Ich hatte die These vertreten, dass wir in der Kirche keine Einigkeit haben zu der Frage, was denn eigentlich das Evangelium ist. Der Pfarrer war empört. Seine Meinung war: Selbstverständlich sind wir beim Evangelium beieinander. Und natürlich verkünden wir dieses Evangelium gemeinsam. Auf meine Frage, was denn aus seiner Sicht diese gemeinsame Evangeliumsbotschaft ist, antwortete er:

Das Evangelium ist, dass Gott in Christus Mensch wurde, um der Welt seine Liebe zu zeigen.

Nach kurzem Nachdenken habe ich geantwortet: Diese Aussage stimmt zwar. Aber das Problem beginnt schon bei der Frage: Sind wir uns denn wirklich einig darin, dass Gott in Christus Mensch wurde? War Jesus von Nazareth wirklich der präexistente, menschgewordene Gott, wie das Johannes 1 so eindrücklich bezeugt? Meine Wahrnehmung ist, dass das in der evangelischen Theologie bestenfalls eine Minderheitenmeinung darstellt. Von Konsens kann keine Rede sein.

Zudem bin ich der Meinung: Ein Evangelium, das sich nur auf die Liebe Gottes beschränkt, aber nichts sagt über Sünde, Schuld, Trennung von Gott, Vergebung, Rechtfertigung, Erlösung, das ist höchstens die halbe Botschaft. Das ist bei weitem nicht das Evangelium der Bibel, das der Kirche aufgetragen ist.

Es geht um den innersten Kern unseres Glaubens

Die kurze Diskussion macht deutlich: Das Evangelium und die Kreuzestheologie ist kein Sonderthema für nerdige Theologen. Bei der Kreuzestheologie geht es ans Eingemachte. Es geht um den innersten Kern unseres Glaubens, um den Kern des Evangeliums, um das Zentrum der Kirche Jesu. Wer die Kreuzestheologie ändert, der verpasst dem Christentum keinen neuen Haarschnitt, sondern der nimmt am Christentum eine Herztransplantation vor. Die Frage, warum Jesus am Kreuz gestorben ist, hat für unseren Glauben und für unsere Kirche extrem weitreichende und sehr praktische Konsequenzen.

Persönlich habe ich erst relativ spät angefangen, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Jahrzehntelang war für mich die Antwort eigentlich simpel und sonnenklar. Warum ist Jesus am Kreuz gestorben? Logisch: Für mich! Um meiner Vergehen willen! Die Strafe, die ich verdient hätte, lag auf ihm, damit ich Frieden habe mit Gott. Sein Opfer hat meine Schuld bezahlt (oder „gesühnt“). Mein Schuldschein hängt am Kreuz. Deshalb habe ich freien Zugang zu Gott und deshalb steht mein Name im Buch des Lebens. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es bei diesen allerzentralsten Aussagen unseres Glaubens etwas zu diskutieren gäbe.

Ein Wust von Deutungen

Es ist erst ein paar Jahre her, dass ich einsehen musste: In der theologischen Welt ist bei diesem Thema überhaupt nichts klar ist, im Gegenteil: Zur Frage, warum Jesus am Kreuz gestorben ist, ist mir ein ganzer Wust an „Deutungen“ entgegengeschwappt. Klar war für diese Theologen eigentlich nur eines: Meine simple Sühneopfererklärung sei jedenfalls grundverkehrt.

In der Mediathek Worthaus fiel mir auf, dass gleich zwei Referenten (Thomas Breuer und Wilfried Härle) wortgleich sagten: „Gott braucht kein Opfer und schon gar kein Blut.“ Thomas Breuer legt zudem nach mit den Worten: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

Sehr beschäftigt hat mich auch der Worthausvortrag von Thorsten Dietz zu diesem Thema. Darin äußert er: „Diese stellvertretende Strafleidungstheorie, wo ist das im neuen Testament? Das ist nicht zu finden!“ „Nicht Menschen versöhnen Gott, sondern Gott versöhnt Menschen. … Das ist ein Versöhnungshandeln Gottes, ein Befreiungshandeln, es ist ein Heilshandeln. Und da ist 0,0 bei: Ja, jetzt musst Du Gott wieder versöhnen, der ist sauer, der kocht vor Wut, du musst den beschwichtigen. Das ist überhaupt nicht. … Die Botschaft ist: Gott für uns! Jesus für uns! Jesus zu unserem Heil! … Es geht um eine Botschaft der Liebe. Es geht um eine Botschaft der radikalen Barmherzigkeit. Es geht um eine Liebeserklärung. Es geht darum, was man manchmal mit einem Blumenstrauß ausdrückt: Ein  großes »Für Dich«! Ein großes „Ja“!“

Und im freikirchlich geprägten SCM-Buch „glauben lieben hoffen“ schreibt der Baptistenpastor Matthias Drodofsky: „So wurde und wird häufig argumentiert: Infolge des Sündenfalls ist der Mensch getrennt von Gott, und nur ein vollkommenes Opfer kann die Beziehung zwischen Gott und Mensch wieder in Ordnung bringen. … Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung  … dies erreichen können soll? … Gott vergibt, weil er ein gnädiger Gott ist, ohne dass Gott durch Töten und Blutvergießen milde gestimmt werden müsste. … um die Sünde der Menschen hinweg zu nehmen, braucht es eigentlich kein Opfer und keinen Geopferten.“

Ist das Kreuz nur für die Menschen da?

Immer wieder wird da also gesagt: Das Kreuzesgeschehen ist für die Menschen da. Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht kein Opfer. Bei Gott ist alles in Ordnung. Er ist nicht gekränkt oder sauer. Und da möchte man spontan natürlich am liebsten sagen: Ja, natürlich. Bestimmt ist Gott nicht launisch. Er hat sich emotional vermutlich sehr viel besser im Griff als wir. Aber trotzdem frage ich mich: Geht es beim Kreuzesgeschehen wirklich nur um uns Menschen? Geht es nur darum, dass wir Menschen uns mit Gott, mit uns selbst und mit anderen Menschen versöhnen können? Wäre für Gott denn auch ohne das Kreuz schon alles in Ordnung gewesen?

Eine Fülle von Bildern und Vergleichen

Richtig ist: Im Neuen Testament werden sehr verschiedene Bilder und Begriffe gebraucht, um die Bedeutung des Kreuzestodes zu beschreiben. Da gibt es Bilder aus der Welt des Tempelkults, aus dem Bereich der Justiz, aus der Welt des Sklavenmarkts, aus dem Umfeld der Familie. Da ist die Rede von Sühnung, von Rechtfertigung, von Erlösung, von Versöhnung. Aber was folgt daraus? Heißt das, dass sich das Neue Testament gar nicht einig darüber ist, was der Tod Jesu am Kreuz zu bedeuten hat? Sind das alles nur Deutungsversuche der ersten Christen, die darum gerungen haben, diesem grauenvollen Geschehen irgendwie einen Sinn zu geben? So wird das ja manchmal dargestellt.

Genau mit dieser Frage habe ich mich intensiv beschäftigt. Im Neuen Testament ist mir dabei aufgefallen: Man kann viele Bibelverse finden, in denen mehrere dieser Bilder und Vergleiche in einem Satz miteinander verbunden und aufeinander bezogen werden. Das heißt: Diese Bilder wirken zusammen! Man kann sie nicht gegeneinander ausspielen oder als alternative Varianten betrachten. Sie beschreiben alle gemeinsam dieses große Heilsgeschehen am Kreuz.

Das stellvertretende Opfer: Ein roter Faden quer durch die ganze Bibel

Was mich aber am meisten beeindruckt hat, sind diese großen roten Fäden zum stellvertretenden Sühneopfer, die sich quer durch die ganze Bibel ziehen. Ich denke zum Beispiel an die Geschichte von Abraham und Isaak, bei dem ein Schaf stirbt anstelle von Isaak, und zwar genau an dem Ort, an dem später der Sohn Gottes tatsächlich diesen Opfertod stirbt. Ich denke an das geschlachtete Lamm beim Auszug Israels aus Ägypten, das die Israeliten vor dem todbringenden Gericht Gottes rettet. Ich denke an die Evangelien, in denen Jesus als das Lamm Gottes bezeichnet wird, das die Sünde der Welt trägt. Und nach der Chronologie des Johannes starb Jesus genau in dem Moment am Kreuz, in dem im Tempel die Passalämmer geschlachtet wurden. Ich denke an die Offenbarung, in der es vielfach heißt, dass die Heiligen ihre Gewänder im Blut des Lammes gewaschen haben. Und was mich persönlich am meisten beeindruckt ist dieses unfassbare Kapitel Jesaja 53! Da lesen wir, dass dieser Gottesknecht um unserer Sünde willen zerschlagen wird, dass die Strafe auf ihm liegt, dass er wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird, dass er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, dass er unsere Sünden trägt.

Das bedeutet: Die gesamte Bibel ist in Bezug auf das Motiv des stellvertretenden Opfertods absolut klar. Und es ist dieser stellvertretende Opfertod, der auch im Zentrum all dieser neutestamentlichen Bilder steht. Der Theologe John Stott schrieb dazu:

„Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“

„Für uns“ gestorben – was bedeutet das?

Dass das so ist, weiß die Kirche nicht erst seit Anselm von Canterbury, wie manche Leute meinen. Schon im Nicäno-Konstantinopolitanum, dem großen Glaubensbekenntnis aus dem 5. Jahrhundert, das bis heute weltweit die christlichen Kirchen verbindet, heißt es: Er ist „FÜR UNS“ gestorben („PRO NOBIS“). Was bedeutet das? Ist dieses „für uns“ wirklich nur als Liebesbeweis gemeint? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie sollte denn eine grauenvolle Hinrichtung ein Liebesbeweis sein? Meine Frau freut sich, wenn ich ihr Blumen bringe, aber nicht, wenn ich ihr schreibe: Heute sterbe ich für Dich. Das macht keinen Sinn. Ein Liebesbeweis wäre das nur dann, wenn meine Frau dadurch gerettet wird. Wenn nur noch 1 Platz im Rettungsboot frei ist und ich sage zu meiner Frau: Du gehst rein und ich bleibe hier. Ich sterbe, damit Du leben kannst. DAS wäre ein Liebesbeweis.

Der Theologe Gerhard Barth hat deshalb zurecht geschrieben:

„Das ‚für′ … muss … nicht immer und überall den Gedanken der Stellvertretung einschließen, sondern kann auch einfach besagen: ‚zugunsten von′. Wird freilich weiter darüber reflektiert, inwiefern sein Tod zu unseren Gunsten geschehen sei, kommt man doch auf den Stellvertretungsgedanken.“

Wovor werden wir gerettet?

Die Frage ist natürlich: Wovor werden wir denn durch den Kreuzestod Jesu gerettet? Im Römerbrief schreibt Paulus:

„Das Blut von Christus wurde für uns vergossen. Umso gewisser können wir sein, dass wir dann auch vor Gottes Zorn gerettet werden.“ (Römer 5,9)

Demnach ist es also der Zorn Gottes, vor dem wir gerettet werden müssen. Tatsächlich sehen wir im Römerbrief: Die Sündhaftigkeit der Menschen, die den Zorn Gottes hervorruft, ist die Grundlage, auf der Paulus das Evangelium entfaltet.

Mit dem Zorn Gottes tun wir uns heute allerdings ungeheuer schwer. Ist Gott nicht die Liebe? Wie passt das zu einem zornigen, richtenden Gott? Tatsache ist: Wer die Bibel liest, kommt am Zorn und am Gericht Gottes nicht vorbei. Auch wenn uns das vielleicht nicht schmeckt: Die Bibel ist voll davon! Denken wir an die Sintflut. Denken wir an Sodom und Gomorra. Denken wir an Gottes Gericht über Israel, an ihre Vertreibung in die ganze Welt. Und so geht es ja weiter im Neuen Testament: Jesus selbst hat immer wieder Gericht angekündigt. Und die Gerichtsankündigungen in der Offenbarung sind nicht weniger erschreckend als die Gerichtsankündigungen der Propheten im Alten Testament.

Natürlich ist Gott die Liebe. Aber die Bibel macht zugleich immer und immer wieder deutlich, dass unser Gott eben auch ein Richter ist. Er ist zwar langsam zum Zorn. Aber er ist auch kein Schwamm-Drüber-Gott, der endlos zusieht, wie wir Menschen uns gegenseitig quälen, berauben, belügen, mobben und zerstören. Gerade weil Gott die Menschen liebt ruft es seinen Zorn hervor, wenn wir so grausam und brutal mit seinen geliebten Menschenkindern umgehen.

Gott kann nicht wegschauen

Schauen Sie gerne Tatort? Ich und meine Frau sehen uns das immer wieder gerne an. Aber ich mag es nicht, wenn die Gewalt allzu explizit wird. Dann mache ich lieber die Augen zu und rufe mir ins Gedächtnis: Das ist alles nur Film. Das Blut ist nicht echt. Der ist nicht wirklich tot. Aber bei Gott ist das anders: Er kann nicht wegsehen. Da schwenkt die Kamera nicht weg. Die Grausamkeit ist echt. Er ist gerade jetzt live dabei in der Ukraine. Im Iran. Und in so vielen Häusern mitten in Deutschland, wo der Menschenhandel blüht. Wo Frauen und Kinder missbraucht werden. Wo Ungeborene abgetrieben werden. Er muss sich das alles live und in Farbe mit ansehen, was wir da tun. Er spürt die ganze Grausamkeit.

Glauben wir ernsthaft, dass ein Gott, der die Menschen liebt, da nicht zornig wird? Glauben wir ernsthaft, dass Gott da einfach sagt: Nicht so schlimm… Ich finde: Ein Gott, der angesichts der Gewalt auf der Erde nicht zornig werden würde, das wäre auch kein Gott der Liebe. Das wäre ein kalter, abgebrühter, gleichgültiger Gott. Aber beim Gott der Bibel ist das anders. Der Gott der Bibel ist kein netter Opa im Himmel, der unsere Verbrechen einfach weglächelt. Er ist ein heiliger Gott, ein verzehrendes Feuer. Er liebt die Menschen – und gerade deshalb hasst er die Sünde!

Deshalb geht es beim Tod Jesu am Kreuz eben nicht nur um den Menschen, sondern eben auch um Gott. Um seinen Zorn. Um seine Heiligkeit. Um seine Gerechtigkeit. Denn das macht die Bibel ja immer wieder klar: Das Unrecht, das auf dieser Welt geschieht, wird nicht einfach vergessen. Am Ende kommt alles noch einmal auf den Tisch. Der Tag des Gerichts ist real. Gott wird für Gerechtigkeit sorgen. Was für eine gute Nachricht für all die unterdrückten und bedrängten Menschen auf dieser Welt!

Wir hätten es allesamt verdient, verurteilt zu werden

Aber Gott wusste eben auch: Wenn er für völlige Gerechtigkeit sorgt, dann wird er am Ende jeden Menschen verurteilen müssen. Denn jeder Mensch ist verstrickt in Sünde, ausnahmslos. Jeder Mensch tut böse Dinge. Jeder Mensch schädigt andere Menschen. Das gilt nicht nur für schlimme Verbrecher. Das gilt auch für Dich und für mich. Deshalb musste Gott einen Weg zum Umgang mit unserer Sünde finden, der sowohl seiner Liebe und Gnade wie auch seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit entspricht. Er musste einen Weg finden, durch den wir leben können, ohne dass die Ungerechtigkeit unserer Sünde und seine Gerechtigkeit übergangen wird.

Und deshalb geht es beim Kreuz auf keinen Fall nur darum, dass unser menschliches Gewissen entlastet wird. Nein, das Kreuz hat auch etwas mit der Heiligkeit und mit dem gerechten Zorn Gottes zu tun, der hier am Kreuz in ein schreckliches Gerichtshandeln, in eine schreckliche Strafe mündet. Eine Strafe, die Jesus, der Sohn Gottes, selbst an unserer Stelle trägt. Jesus, und somit Gott selbst, erleidet die Strafe, die wir verdient hätten. Er stirbt den Tod, den wir hätten sterben müssen, damit wir das Leben haben. Oder um es noch einmal mit John Stott zu sagen:

„Das biblische Evangelium der Sühne ist, dass Gott sich selbst Genüge tat, indem er selbst an unsere Stelle trat.“Es ist ein und derselbe Gott, der uns durch Christus vor sich selbst rettet.“

DAS ist in wenigen Worten zusammengefasst die gute Nachricht vom erlösenden Kreuz.

Warum Jesu Kreuzestod kein Menschenopfer ist

Und damit ist übrigens auch klar: Natürlich ist dieser Tod am Kreuz kein Menschenopfer, wie manche behaupten. Denn Jesus von Nazareth war ja nun einmal nicht nur ein Mensch. Die Bibel macht klar: Er war zugleich auch ganz Gott. Gott opfert sich selbst am Kreuz. Und wer das versteht, der kann eigentlich nur noch anbetend auf die Knie fallen vor diesem unglaublichen Gott.

Warum ist das so wichtig? Was steht auf dem Spiel?

Warum brauchen wir diese Lehre von der Stellvertretung, vom Zorn und vom Gericht Gottes? Ist das nicht alles nur Streit um Worte? Verschrecken wir damit die Menschen nicht eher, als dass wir sie gewinnen? Warum kann das nicht jeder so sehen, wie er möchte? Sollten wir uns nicht lieber gemeinsam darauf konzentrieren, uns zu engagieren für die Menschen und für eine bessere Gesellschaft?

Das höre ich so oft: Lasst uns doch nicht um solche theologischen Fragen streiten. Wir wollen uns doch lieber engagieren für die Bewahrung der Schöpfung, für Flüchtlinge, für den Klimaschutz, für soziale Gerechtigkeit. Und ja, ich finde ja auch: Natürlich muss die Kirche einen Beitrag dazu leisten, dass diese Welt ein besserer Ort wird. Da sind wir uns völlig einig. Die Frage ist nur: Wie geht das? Wie können wir diese Welt wirklich nachhaltig verbessern?

Die erneuernde Kraft des Evangeliums steht auf dem Spiel

Und auf diese Frage hat das biblische Evangelium eine sehr radikale Antwort. Dieses Evangelium sagt: Das Herz der Probleme dieser Welt sind nicht die ungerechten Umstände, wie Karl Marx das fälschlicherweise angenommen hat. Das Herz der Probleme ist nicht das System. Es ist nicht der Kapitalismus, der Ungerechtigkeit hervorbringt. Das biblische Evangelium sagt: Das Herz des Problems ist das Problem unseres Herzens, das hoffnungslos in Sünde verstrickt ist. Es ist unser menschliches Herz, das alle diese Ungerechtigkeiten hervorbringt. Und genau damit konfrontiert uns das Kreuz! Es zeigt uns, dass wir Menschen so tief in Sünde verstrickt sind, dass ein anderer unsere Strafe erleiden muss, um uns zu retten. Das ist demütigend. Das holt uns herunter vom hohen Ross unserer Selbstgerechtigkeit. Und genau das ist so wichtig für uns! Denn wer noch auf dem hohen Ross sitzt, der braucht keine Umkehr. Der braucht keine Gnade. Der braucht keine Erneuerung des Herzens durch das Kreuz und durch den Heiligen Geist.

Genau in dieser Demütigung liegt das Geheimnis und die Kraft des Evangeliums! Ja, das Christentum hat eine weltverbessernde Kraft. Das kann man gerade in der Geschichte Europas sehr eindrucksvoll nachweisen. Aber diese Kraft des Evangeliums liegt eben nicht in moralischen Aufrufen, die Welt zu verbessern. Das Evangelium geht tiefer. Es geht an die Wurzel unserer Probleme. Das Evangelium tut das, was kein Politiker kann. Es zielt im Kern auf eine Erneuerung der Herzen. Und genau deshalb bleibt Theologie so fruchtlos, wenn sie nur auf moralische Weltverbesserung zielt. Was die Welt wirklich verändert, das ist dieses Evangelium, das die Sündhaftigkeit und die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen in den Blick nimmt. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich dringend zum Beispiel die Lektüre des „Buchs der Mitte“ von Vishal Mangalwadi. Echte Veränderung unserer Kultur und unserer Gesellschaft, echte Verbesserung der Lebensverhältnisse geschieht immer dort, wo das ganze biblische Evangelium ernst genommen und verkündigt wird.

Die Rechtfertigung aus Gnade steht auf dem Spiel

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum mir dieses Thema so wichtig ist. Erst vor kurzem schrieb mir ein Pfarrer: Das sei doch Unsinn, dass Gott ein stellvertretendes Opfer braucht, um vergeben zu können. Gott kann doch einfach so vergeben. Er hat das doch auch immer wieder getan! Denk an Ninive! Die Menschen haben Buße getan, und das hat genügt. Da hat es kein Opfer gebraucht, um das Gericht Gottes über Ninive abzuwenden. Und das stimmt! In Hesekiel Kapitel 18 entfaltet der Prophet diese Wahrheit ganz ausführlich. Hesekiel sagt da: Wer Böses tut, wird gerichtet und muss sterben. Aber wer sich an Gottes Gebote hält, der wird leben. Und wer umkehrt und Buße tut und Gottes Gebote hält, der wird leben und nicht sterben. Da ist weit und breit nicht von Opfer und Sühne die Rede. Es stimmt also: Gott kann auch so vergeben, wenn wir Buße tun und uns an seine Gebote halten.

Das Problem ist nur: Wo landen wir, wenn wir das Evangelium auf diese Botschaft reduzieren und das Sühneopfer weglassen? Auch im Neuen Testament ist ja von Umkehr die Rede, von guten Werken, vom Halten der Gebote. „Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe“, sagt Jesus. Und: „Wer mich liebt, der wird meine Gebote halten.“ Aber wie gut, dass das nicht die ganze Botschaft ist! Wie gut, dass die Forderung nach dem Halten der Gebote im Neuen Testament auf dem Fundament der Rechtfertigung allein aus Gnade steht. Wie gut, dass ich im Gericht nicht auf mein bußfertiges Herz und auf meine guten Werke zeigen muss, um bestehen zu können. Denn da wäre ich mir sicher: Meine guten Werke reichen nicht. Wie oft schon habe ich diese Gebote übertreten. Wie oft schon war ich eben nicht so bußbereit, wie ich hätte sein sollen! Und deshalb ist es so gut, dass ich stattdessen auf den zeigen kann, der meine Schuld und mein Versagen getragen hat. Und die ganze Bibel zeigt ja: Ich bin da nicht allein! Ninive war eine seltene Ausnahme. Die Regel ist: Wir Menschen scheitern an diesem Anspruch des Gesetzes.

Deshalb ist es so gut, dass ich nicht in meiner Gerechtigkeit vor den Richterstuhl treten muss, sondern dass ich die Gerechtigkeit anziehen darf, die Jesus durch sein stellvertretendes Opfer am Kreuz für mich erworben hat, weil er meine Schuld und meine gerechte Strafe getragen hat! „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Damit will ich vor Gott besteh‘n, wenn ich zum Himmel wird eingehn.“ Das steht auf der Todesanzeige meiner Mutter. An diesem Vers will auch ich mich festhalten – im Leben und im Sterben. Was ein wundervolles, was für ein kostbares Evangelium!

Aber ich beobachte an so vielen Stellen: Genau dieses Evangelium geht verloren, wo das stellvertretende Sühneopfer verloren geht. Stattdessen kriecht die Werkgerechtigkeit wieder durch die Hintertür hinein in unsere Kirche. Da wird das Christentum wieder moralinsauer. Da wird der Glaube wieder zur Leistungsreligion. Und ich hoffe, es wird spätestens hier deutlich, wie entscheidend wichtig dieses Thema ist. Denn ohne die Rechtfertigung aus Gnade durch den stellvertretenden Opfertod Jesu landen wir bei einem therapeutischen und einem moralischen Evangelium, das die Menschen verbessern will, ohne die Herzen zu erneuern. Aber dann verpassen wir genau das, was auch Martin Luther schon so begeistert hat. Dann verpassen wir die Gnade. Und damit meine ich nicht diese billige Gnade, die heute überall umsonst verschleudert wird. Nein, ich meine die teure Gnade, die Jesus alles gekostet hat, und die in uns echten Jubel über unsere Erlösung auslöst. Wenn wir diese teure Gnade nicht mehr kennen, dann ist es kein Wunder, wenn in unseren Gottesdiensten zwar bei der Psalmlesung von Jauchzen und Jubel die Rede ist, aber die Atmosphäre eher zu einer Beerdigung passt. Wenn wir dieses biblische Evangelium verlieren, dann verliert die Kirche ihren allergrößten Schatz.

Die Einheit und die missionarische Dynamik steht auf dem Spiel

Und noch einen letzten Grund möchte ich nennen, warum dieses Thema so unglaublich wichtig ist: Die gemeinsame Botschaft geht uns verloren. Und damit auch die missionarische Dynamik. Ich will das am Ende noch einmal klarstellen, dass es hier nicht um theologische Feinheiten geht. Es ist nun einmal ein grundlegender Unterschied, ob…

… Gott uns einfach so vergibt oder ob er uns verurteilt, dann aber selbst die Strafe übernimmt.

… wir uns nur subjektiv schuldig fühlen oder ob wir objektiv schuldig sind und von Gott eigentlich im Gericht verurteilt werden müssten.

… Jesu Tod nur ein Akt der Solidarität und Hingabe war oder ein wirksames Opfer zur Vergebung unserer Schuld.

… wir nur belastete Menschen sind, die Zuspruch und Ermutigung bekommen sollen oder ob wir ohne das Kreuz verloren sind und Rettung brauchen.

Wir müssen es so deutlich sagen: Diese Differenz ist so grundlegend, dass es hier letztlich um ein anderes Evangelium geht. Und das ist dramatisch. Denn wenn wir uns beim Evangelium nicht einig sind, dann gibt es auch nichts mehr, was wir in der Kirche ganz selbstverständlich miteinander feiern, besingen und bezeugen können. Dann geht die Einheit und die Leidenschaft in unserer Kirche verloren. Dann hat die Kirche kein Profil. Dann wissen die Leute nicht, wofür die Kirche eigentlich steht. Und dann marginalisiert sich die Kirche. Genau das ist das riesengroße Problem, unter dem unsere Kirche heute leidet.

Dieses Problem gibt es nicht nur in den Landeskirchen. Ansgar Hörsting, der Präses des Bundes der Freien Evangelischen Gemeinden, sagt aus seiner reichen Erfahrung mit vielen Gemeinden im ganzen Land:

„Ich kenne keine missionarisch wirksame Gemeinde, in der es nicht Leute gibt, die klar auf dem Schirm haben: Ohne Jesus Christus sind Menschen verloren.“

Anders gesagt: Wenn unser Evangelium nicht mehr die Botschaft beinhaltet, dass wir ohne den Tod Jesu am Kreuz rettungslos verloren sind, dann ist ein entscheidender Teil unserer Evangeliumsbotschaft verloren gegangen. Und ich bin genau wie Ansgar Hörsting überzeugt: Die Kirchen leeren sich nicht, weil dieses Evangelium provokant, kantig und anstößig ist, sondern im Gegenteil: Die Kirchen leeren sich immer dann, wenn wir uns von diesem kantigen, rauen und anstoßerregenden Evangelium entfernen!

Das Evangelium: Die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten

Dieses Evangelium hat noch nie dem Zeitgeist entsprochen. Schon Paulus selbst hat geschrieben: Dieses Evangelium ist den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Und trotzdem war dieses Evangelium die erfolgreichste Botschaft aller Zeiten. Es war dieses Evangelium, das damals das menschenverachtende römische Reich trotz massivster Widerstände überwunden hat. Es ist dieses Evangelium, das alle Kulturen erreicht, durchdringt und verändert, obwohl es bis heute weltweit verfolgt und unterdrückt wird. Ganz offenkundig stimmt es, was Paulus geschrieben hat: Wir brauchen uns dieses Evangeliums nicht zu schämen, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben. Dieses Evangelium hat rettende, heilende, befreiende und erneuernde Kraft. Dieses Evangelium ist der größte Schatz, den die Kirche Jesu hat. Wir sollten alles tun, um diesen Schatz zu hüten. Und wir sollten es gemeinsam mit Leidenschaft und Freude der Welt präsentieren.

Mehr zu diesem Thema inklusive vieler Quellenangaben:

Waren die Opfer nur für die Menschen da?

Eine Wegscheide der Kreuzestheologie im Faktencheck

Was bewirkten die Rituale, die in der Tora (also den 5 Büchern Mose) beschrieben werden? Oder allgemein gefragt: Wozu dienten die Opfer in der Bibel? Zur Vergebung der Sünden? Zur Versöhnung zwischen Gott und Menschen?

Für viele heutige Theologen steht fest: Gott brauchte keine Opfer, um besänftigt und versöhnt zu werden! Versöhnung braucht allenfalls der Mensch! Die mosaischen Opfer hätten deshalb nicht die Funktion gehabt, eine Sühnung der Sünden Israels zu bewirken. Sie sollten lediglich veranschaulichen, dass Gott gnädig ist und Sünden vergibt. So schreibt zum Beispiel der Theologe Georg Plasger: Das Opfer „ist sozusagen ein Angebot, sich das göttliche Geschehen zu veranschaulichen, es mitzuerleben.“ Es „bewirkt nicht die Versöhnung, sondern bekennt sie.“[1] Gott hat demnach schon immer vergeben – auch ohne Opfer. Die Opfer halfen den Israeliten nur, Gottes Vergebung zu verstehen und anzunehmen.

Ganz ähnlich schreibt Matthias Drodofsky: „Gott wird nicht dadurch gnädig gestimmt, dass ein unschuldiges Tier zerstückelt wird, sondern durch die Opferhandlung soll der Mensch daran erinnert werden, dass Gott dem Menschen immer schon gnädig begegnet.“[2]

Wären die Opfer für Gott also gar nicht nötig gewesen? Waren sie nur für die Menschen da? Diese Frage hängt eng zusammen mit der Bedeutung des Kreuzestodes Jesu. War Jesu Tod notwendig, um Gott und Mensch zu versöhnen? War sein Tod ein wirksames Opfer, das für die Vergebung unserer Schuld bedeutsam ist? Oder vergibt Gott einfach so? Muss Gott gar nicht versöhnt werden, gleich gar nicht durch ein Opfer?

Dieser Frage widmet sich der nachfolgende Faktencheck:

Der Faktencheck

Wer sich in die 5 Bücher Mose und dort vor allem in das 3. Buch (Levitikus) einliest, macht rasch die folgenden Beobachtungen:

Ein durchgängiges Motiv im 3. Buch Mose ist die Realität, dass Menschen sündigen und Schuld auf sich laden: 3. Mose 4,13; 4,22; 4,27; 5,1; 5,15; 7,18; 20,17; 20,19; 22,16; 24,15

Sünde und Schuld haben negative, von Gott selbst verursachte Konsequenzen: So wird in 3. Mose 26 und in 5. Mose 28 überdeutlich, dass aus falschem Handeln ein negatives „Ergehen“ folgt, das die Bibel als „Fluch“ oder „Strafe“ bezeichnet. Die Konsequenzen sind dabei nicht nur die Folgen der schlechten Tat. Sie werden vielmehr ganz eindeutig von Gott selbst verursacht: Dann werde ich euch Schlimmes antun.Ich werde euch wegen eurer Sünden bestrafen.Ich werde euch wegen eurer Sünden schlagen. … Ich schicke euch die Pest und gebe euch in die Gewalt des Feindes.” (3. Mose 26, 16,18,25) “Der Herr wird dich mit Fluch strafen: Verwirrung und Unglück wird er schicken bei allem, was du tust. Er wird es so lange tun, bis du ganz am Ende bist und zerstört. … Der Herr wird dich mit Schwindsucht strafen … Der Herr wird dich strafen mit Geschwüren … Der Herr wird dich strafen mit Wahnsinn, Blindheit und geistiger Verwirrung. … Der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker, von einem Ende der Erde bis zum anderen.” (5. Mose 28, 20,22,27,28,64)Ohne zu zögern bestraft er jeden, der ihm untreu wird.” (5. Mose 7,10)

Schuld und Sünde sind somit zentrale Probleme der Tora. Denn Gott möchte ja in der Mitte seines Volkes wohnen, ohne es richten zu müssen. Freiheit von Schuld, Reinigung und Heiligung ist deshalb das große Ziel. Um das zu ermöglichen, spielt der Opferkult eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Bibelstellen machen dabei deutlich: Die Opfer sind eben gerade nicht nur für die Menschen da. Sie sind auch für Gott von Bedeutung:

  • Das Opfer soll den Herrn gnädig stimmen (2. Mose 29,18; 29,41; 3. Mose 1,13; 1,17; 2,2; 2,9; 3,5; 3,16; 4,31; 6,8; 6,14; 8,21; 8,28; 17,6; 23,13; 23,18; 26,31; 4.Mose 15,3; 15,7;15,10; 15,14; 15,24; 18,17; 28,2; 28.6; 28,8; 28,13; 28,24; 28,27; 29,6; 29,8; 28,13; s.a. Hesekiel 20,41; Sacharja 7,2; 8,22). Dabei ist keinesfalls von vornherein klar, dass Gott die Menschen annimmt: „Wenn ihr dem Herrn ein Schlachtopfer darbringt, dann macht es richtig. Dann wird er euer Opfer und euch annehmen.“ (3. Mose 19,5; s.a. 3. Mose 22,20)
  • Das Opfer führt dazu, dass der schuldigen Person, die eine Sünde begangen hat, seine Sünde vergeben wird (3. Mose 4,3; 4,35; 5,6; 5,10; 5,13; 19,22; s.a. 2.Chronik 7,14; Jeremia 31,34; 50,20).
  • Mit der Durchführung der Opferhandlung sorgt der Priester für Versöhnung (3. Mose 4,20; 4,26; 4,31; 4,35; 5,6; 5,10; 5,13; 4.Mose 15,25). Was damit gemeint ist, zeigt eine eindrückliche Geschichte in 4. Mose 17,6ff.: Gott bringt Gericht über das rebellierende Volk in Form einer tödlichen Pest. Da sagte Mose zu Aaron: “Nimm eine Räucherpfanne, gib Kohlen vom Altar hinein und zünde Weihrauch darin an. Geh damit schnell zur Gemeinde und sorge für Versöhnung mit Gott!” (4.Mose 17,11) Die Versöhnung hat zur Folge, dass Gottes Gericht gestoppt wird. Das Opfer richtet sich also nicht an den Menschen, sondern an Gott. Dazu passt die Übersetzung der Basis Bibel: “So bittet ihr Gott um Versöhnung mit euch.” (4.Mose 28,30)
  • Versöhnung hängt unmittelbar mit der Vergebung der Schuld zusammen: „Der Priester sorgt für Versöhnung, indem er den Widder als Schuldopfer darbringt. Und Gott wird dem Schuldigen vergeben.“ (3. Mose, 5,16) Dazu setzt Gott ein spezielles Fest zur Versöhnung, Reinigung und Vergebung der Sünden ein: „Denn dieser Tag ist der große Versöhnungstag. Gott schenkt euch Vergebung und reinigt euch. Ihr seid vor dem Herrn frei von allen euren Sünden.“ (3. Mose 16,30, vgl. auch Apg. 5,31; Epheser 1,7; Kolosser 1,14)
  • Gott selbst ermöglicht und schenkt die Vergebung und Heiligung: „Ich bin der Herr, der euch heilig macht.“ (3. Mose 20,8; s.a. 21,15;21,23; 22,9;22,16;22,32; s.a. Jesaja 43,25) Das Opfer und die resultierende Vergebung ist somit keine menschliche Leistung sondern ein freies Geschenk aus der Gnade Gottes.
  • Die Tieropfer haben einen stellvertretende Charakter. Dies wird in eindrucksvollen Zeichenhandlungen verdeutlicht: „Er soll seine Hand auf den Kopf des Opfertieres legen. Das Tier steht dann stellvertretend für den Menschen, der das Opfer darbringt. Das Opfer wird angenommen, und dem Menschen wird Vergebung geschenkt.“ (3. Mose 1,4) „Aaron soll seine Hände auf den Kopf des Tieres legen. Dabei soll er alle Schuld der Israeliten bekennen und all ihre Verbrechen und Sünden nennen. So überträgt er all diese Schuld auf das Tier. Neben Aaron soll ein Mann bereitstehen, um den Ziegenbock anschließend in die Wüste zu treiben. Das Tier wird all ihre Schuld mit sich nehmen und ins unbewohnte Land forttragen.“ (3.Mose 16,21/22, siehe auch 3.Mose 1,12; 3,2; 3,8; 3,13; 4,4; 4,15; 4,24; 4,29; 4,33; 8,14; 8,18; 8,22)
  • Reinigende und versöhnende Kraft hat insbesondere das Blut der Opfertiere: „Denn im Blut ist die Lebenskraft. Deshalb habe ich das Blut dazu bestimmt, dass ihr es am Altar verwendet. Dort sorgt es für Versöhnung zwischen mir und euch. Denn das Blut mit seiner Lebenskraft ist es, das für Versöhnung sorgen kann.“ (3. Mose 17,11)

Auf das Blut beruft sich auch das Neue Testament: „Durch dessen Blut hat Gott ihn als Zeichen der endgültigen Versöhnung eingesetzt.“ (Römer 3,25) „Und er wollte, dass alles durch ihn Versöhnung erfährt. In ihm sollte alles zum Ziel kommen. Denn er hat Frieden gestiftet durch das Blut, das er am Kreuz vergossen hat. Ja, durch ihn wurde alles versöhnt – auf der Erde wie im Himmel.“ (Kolosser 1, 20) Die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament wird hier besonders offenkundig.

Aber haben nicht schon die Propheten die Opferpraxis kritisiert?

Ja, das haben sie, siehe Amos 5,21+22 und Jesaja 1, 10-17. Sie haben sich damit jedoch keinesfalls gegen das mosaische Gesetz gewandt, sondern gegen die Vorstellung, dass der pure Ritus ohne ein gottesfürchtiges Leben irgendetwas bewirken könnte. Das praktische Befolgen der Gebote ist Gott wichtiger als der Ritus. Aber das stellt den Ritus natürlich nicht grundsätzlich in Frage.

Und wie bitte soll ein Tieropfer Vergebung bewirken können?

Sündenvergebung, Reinigung und Versöhnung sollen durch Tieropfer möglich sein? Dazu fragt Matthias Drodofsky: „Hat eigentlich mal jemand gefragt, warum eine Opferhandlung … dies erreichen können soll?“[3] Die Frage ist berechtigt. Schließlich heißt es im Hebräerbrief sogar: Es ist unmöglich, Sünden wegzunehmen durch das Blut von Stieren und Ziegenböcken.“ (Hebr. 10, 4, s.a. 10,11) Wie passen also die eindeutigen Schilderungen der Tora über die Wirksamkeit von Tieropfern zur Aussage des Hebräerbriefschreibers, dass Tieropfer gar nichts bewirken können?

Der Hebräerbrief gibt selbst die Antwort, indem er sagt: „Das Gesetz (d.h. die Tora) lässt nur einen Schatten dessen erkennen, was uns rettet, nicht die eigentliche Gestalt der Dinge.“ (Hebr. 10,1) Die Opferpraxis der Tora war also nur ein vorauslaufender Schatten des eigentlich rettenden Ereignisses: Dem Tod Jesu am Kreuz. Die Wirksamkeit der Opfer lag demnach in der Vorausschau auf den wirksamen Opfertod Jesu – genau wie heute für uns Christen das Abendmahl wirksam ist in der Rückschau und in der Erinnerung an das von Jesus vergossene Blut.

Fazit

Die Opfer in der Bibel sind gemäß dem eindeutigen biblischen Zeugnis keinesfalls nur zur Versöhnung der Menschen da. Sie wurden eingesetzt, um eine Lösung für das objektive Schuldproblem der Menschen zu finden: Sünde und Schuld trennt uns von Gott und mündet letztlich in ein schreckliches Gericht Gottes – würde Gott nicht eingreifen und durch sein stellvertretendes Opfer einen Weg zu Vergebung und Versöhnung eröffnen, der seiner Liebe und Gnade ebenso entspricht wie seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit. Gott nimmt unsere Sünde nicht auf die leichte Schulter. Wir haben keinen Schwamm-drüber-Gott. Wir haben einen Gott, der uns mit der ganzen Ernsthaftigkeit und Tragweite unserer Sünde konfrontiert – und uns zugleich beschenkt mit einem Weg, die Sünde loszuwerden:

“Ihr wisst ja: Ihr seid freigekauft worden von dem sinnlosen Leben, wie es eure Vorfahren geführt haben. Das ist nicht geschehen durch vergängliche Dinge wie Silber oder Gold. Es geschah aber durch das kostbare Blut von Christus, dem fehlerfreien und makellosen Lamm.” (1. Petrus 1,18+19)


[1] Georg Plasger: Für uns gestorben?, Vortrag von 2010, Siegen, https://www.reformiert-info.de/5655-0-56-3.html

[2] Matthias Drodofsky in: „glauben lieben hoffen – Grundfragen des christlichen Glaubens verständlich erklärt“. SCM R. Brockhaus, 2021, S. 69

[3] Matthias Drodofsky in: „glauben lieben hoffen – Grundfragen des christlichen Glaubens verständlich erklärt“. SCM R. Brockhaus, 2021, S. 69

Das Kreuz – Stolperstein der Theologie

Der stellvertretende Opfertod Jesu ist der innerste Kern des Evangeliums. Die theologische Verwirrung um die Bedeutung des Kreuzes zeigt, wie sehr das vorherrschende Schriftverständnis der Kirche schadet.

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„Heute geht’s ans Eingemachte.“ Mit diesen Worten beginnt Dr. Thomas Breuer seinen Worthaus-Vortrag über die Bedeutung des Kreuzestodes.1 Auch der ehemalige Präses der EKD, Nikolaus Schneider, sieht in der Kreuzestheologie den „Eckstein und Stolperstein“ der Theologie- und Kirchengeschichte.2 Der Theologe Werner Thiede spricht gar vom „Kernbestand“ und „innersten Heiligtum aller großen Konfessionen“.3 Ihnen allen ist also klar: Beim Kreuz geht es um den innersten Kern des Evangeliums. Wer die Kreuzestheologie ändert, verpasst dem Christentum keinen neuen Haarschnitt –  er nimmt eine Herztransplantation vor.

Umso seltsamer wirkt es auf mich, wenn immer wieder behauptet wird: Ein liberales Schriftverständnis ändere doch gar nichts an den Kernaussagen des Evangeliums. In den wesentlichen Dingen seien sich doch alle einig.4 Nirgendwo wird diese Behauptung deutlicher widerlegt als bei der Frage nach der Bedeutung des Kreuzestodes.

Weshalb ist Jesus am Kreuz gestorben?

Jahrzehntelang war für mich die Antwort auf diese Frage simpel und sonnenklar: Für mich! Um meiner Vergehen willen! Die Strafe liegt auf ihm, damit ich Frieden habe. Sein Opfer hat meine Schuld bezahlt („gesühnt“). Mein Schuldschein hängt am Kreuz. Deshalb habe ich freien Zugang zu Gott und mein Name steht im Buch des Lebens.

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es bei diesen allerzentralsten Aussagen des Christentums irgendetwas zu diskutieren gäbe. Weit gefehlt! Vor einigen Jahren wurde ich erstmals mit einer theologischen Welt konfrontiert, in der bei dieser Frage überhaupt gar nichts klar ist, im Gegenteil: Ein ganzer Wust an „Deutungen“ des Kreuzestodes schwappte mir entgegen.5 Nur eines war für einige dieser Theologen ganz sicher: Meine simple Sühneopfererklärung sei jedenfalls grundverkehrt6, denn:

„Gott braucht kein Opfer und schon gar kein Blut“

So formuliert es sowohl der Theologieprofessor Wilfried Härle7 als auch Dr. Breuer in seinem Worthaus-Vortrag1. Prof. Härle ergänzt: „Wird diese Einsicht verloren wird alles vom Ansatz her falsch.“ Und Dr. Breuer legt in seiner vernichtenden Kritik der Sühneopfertheologie nach: „Ein Gott der Menschenopfer braucht ist nicht der gütige Vater, es ist nicht Jahwe, es ist der Gott Moloch. Es ist kein Gott dem man vertrauen kann.“ „Jesu Tod an sich ist sinnlos.“ „Erlösend ist nicht der Tod am Kreuz, erlösend ist allein die Liebe Gottes.“

Bei solchen Sätzen atme ich tief durch. Worthaus ist schließlich kein ultraliberales Skeptikerportal, sondern wird von Christen quer durch alle Denominationen und Prägungen gehört und geschätzt. Und Dr. Breuer ist mit dieser Sichtweise ja nicht allein. Gebahnt wurde diese Entwicklung schon lange vor ihm von prägenden protestantischen Theologen wie Friedrich Schleiermacher8 oder Rudolf Bultmann9, die sich damit deutlich von der reformatorischen Kreuzestheologie10 absetzten. 1986 erklärte der Theologe Christoph Blank, dass keine Lehre des Christentums größeren Schwierigkeiten begegne als die Lehre vom stellvertretenden Sühnetod.11 Inzwischen hält Christoph Wiesing die Sühneopfertheologie im protestantischen Raum „aus guten Gründen für weitgehend abgelöst.“ Selbst engagierte Pfarrer würden ihm sagen: „Das glaubt bei uns keiner mehr.“ 12 In der Tat berichtete ‚Die Welt‘ schon 2009 darüber, wie auch führende Theologen und Kirchenleiter die Sühnetheologie verworfen haben. Was ist da nur passiert?

Was spricht gegen die Lehre vom stellver­tre­tenden Sühneopfer?

Die Argumente, die von verschiedensten Seiten vorgebracht werden, sind vielfältig. Die geläufigsten lauten in etwa wie folgt:

  1. Die Bibel selbst kenne eine Reihe von „Deutungen“ für Jesu Kreuzestod. Die Deutung als Sühneopfer bzw. als stellvertretender Opfertod sei nicht einmal die wichtigste. Insbesondere in den Evangelien komme sie kaum vor, ebenso wenig in den altkirchlichen Bekenntnissen.
  2. Jesus selbst habe seinen Tod nicht als stellvertretendes Opfer gesehen. Seine Aussagen beim Abend­mahl seien ihm erst nachträglich in den Mund gelegt worden.
  3. Die Sühneopfertheologie hätte sich letztlich erst durch die „Satisfaktionslehre“ des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury (1033 bis 1109) durchgesetzt. Sie beruhe auf einem mittelalterlichen Rechtsverständnis.
  4. Dass das Leben eines Anderen (egal ob Tier oder Mensch) für unsere Vergehen sühnen könne, sei für heutige Menschen nicht nachvollziehbar. Ein großer Prozentsatz heutiger Christen könne damit nichts mehr anfangen.
  5. Sowohl das Alte wie das Neue Testament zeuge davon: Gott brauche das Kreuz nicht, um Sünden zu vergeben. Jesus konnte z.B. dem Gelähmten auch vor seinem Kreuzestod Sündenvergebung zusprechen (Matth. 9,2). Es wäre ja auch seltsam, wenn Gott einen Opfertod benötigen würde, während wir Menschen einander einfach so vergeben können (und sollen!). Dann könnten wir Menschen ja mehr als Gott.
  6. Die Sühneopfertheologie führe zu einem sehr problematischen Gottesbild von einem gewalttätigen Gott, der Blut sehen will, um seinen Zorn stillen zu können. Das stünde im klaren Widerspruch zu Jesu Lehre von der Feindesliebe. Ein Gott, der gleichzeitig seinen Feinden vergibt (Luk.23,34) und Menschenopfer für die Vergebung braucht, wäre schizophren. Dr. Breuer kommentiert: „Das ist kein Gottesbild, das ich heute akzeptieren kann.“ 1

Schon diese Aufzählung zeigt: Die Argumente gegen das Sühneopfer sind nicht primär eine Folge von intensivem Bibelstudium, sondern im Wesentlichen intellektueller und philosophischer Natur.13 Das ist auch nicht verwunderlich. Denn kaum eine Lehre in der Bibel ist so vielfältig, eindeutig und klar belegt wie die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer Jesu:

Das stellvertretende Sühneopfer: Eine der bestbezeugten Lehren der Bibel

Riesige Stapel von Bibelstellen

War der Tod Jesu sinnlos, wie Dr. Breuer behauptet? In der Tat gibt es einige Verse im Neuen Testament, die Parallelen nahelegen zwischen dem Tod Jesu und dem Tod der alttestamentlichen Propheten14. Die meisten Theologen räumen aber ein, dass dem Tod Jesu im Neuen Testament darüber hinaus eine einzigartige Heilsbedeutung zugeschrieben wird. Walter Klaiber äußert sogar: Wer die Heilsbedeutung des Todes Jesu „streichen wollte, bekäme ein dünnes neues Testament“.15

Dass er damit recht hat lässt sich leicht beweisen. Als „Bibelstellenstapler“ werden ja heute gerne diejenigen verspottet, die ihre Meinung mit Bibelstellen beweisen wollen. Bei der Frage nach der Heilsbedeutung des Kreuzestodes nehmen diese Stapel geradezu schwindelerregende Höhen an. So spricht das Neue Testament im Blick auf das Kreuz vielfach von Sühne16 und Versöhnung17, vom Opfer18, vom (geschlachteten) Opferlamm19 und vom für uns vergossenen Blut20. Darüber hinaus lesen wir, dass wir mit Jesu Leben als „Lösegeld“ und mit seinem Blut „erkauft“, „losgekauft“ bzw. „teuer erkauft“ wurden21. Wir lesen, dass er „für uns“ stellvertretend starb und hingegeben wurde, ja dass er für uns zur Sünde und zum Fluch gemacht wurde22. Das Neue Testament macht außerdem vielfach deutlich, dass der Tod Jesu kein Zufall oder Unfall war. Jesus musste sterben. Der Kreuzestod war ein aktiver Hingabeakt, den Gott vorausgesagt und von langer Hand geplant hatte23 (was klar gegen die von Dr. Breuer und Prof. Zimmer vertretene Überzeugung spricht, dass Jesus bis zuletzt nicht klar gewesen sei, ob er stirbt24). Und schließlich dürfen wir nicht vergessen: Es gibt nicht nur einzelne Verse sondern ganze Kapitel im Neuen Testament, in denen die Heilsbedeutung des Kreuzes ausführlich entwickelt und entfaltet wird, vor allem in Römer 3 sowie im Hebräerbrief in den Kapiteln 2 bis 10.


Heilsbedeutung des Kreuzestodes im NT: Riesige Stapel von Bibelstellen

Ein engmaschiges Netz

Die Frage ist allerdings: Warum enthält das Neue Testament zur Deutung des Kreuzestodes so viele verschiedene Bilder, Begriffe und Metaphern aus völlig unterschiedlichen Bildwelten?  Haben die Apostel und die ersten Christen womöglich wild herumgerätselt, um Jesu Tod zu verdauen? Hat jeder seine eigene Theorie zur Bedeutung des Kreuzestods entwickelt? Können wir uns somit heute aussuchen, welche uns am ehesten zusagt?

Wenn man das Neue Testament genauer analysiert fällt auf: Viele Bibelverse enthalten mehrere dieser Bilder und Begriffe gleichzeitig! Sie beziehen diese Metaphern ganz direkt aufeinander! Grafisch aufbereitet zeigt sich: Die unterschiedlichen Begriffe und Metaphern sind so engmaschig und vielfältig miteinander vernetzt, dass man sie unmöglich isoliert betrachten kann, im Gegenteil: Sie hängen alle mit­ein­ander zusammen! Sie ergänzen und erläutern sich gegenseitig.26 Der Theologe John Stott schreibt dazu: Auch wenn die Bilder teils ganz verschiedene Bildwelten von Recht und Handel heraufbeschwören, sind sie trotzdem „nicht alternative Erklärungen für das Kreuz, die uns eine Bandbreite liefern, aus der wir auswählen können, sondern sie ergänzen einander, indem jedes einen entscheidenden Teil zum Ganzen beiträgt.“ John Stott weist außerdem nach: Das stellvertretende Blutvergießen Jesu ist die gemeinsame Basis aller dieser Begriffe: „Wenn Gott in Christus nicht an unserer Stelle gestorben wäre, könnte es weder Sühnung noch Erlösung, weder Rechtfertigung noch Versöhnung geben.“ 25 (siehe auch Tabelle oben) Somit ist auch klar, dass die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer tatsächlich zentral ist im Neuen Testament, wie der Theologe Thomas Knöppler bestätigt: „Es ist kaum zu bestreiten, dass die Sühneaussagen eine enorme Verbreitung und in fast allen neutestamentlichen Schriften ihren Niederschlag gefunden haben.“ 27


Die „Deutungen“ des Kreuzestodes hängen eng miteinander zusammen

Tatsächlich finden wir das stellvertretende Sühneopfer nicht erst im Neuen Testament. Es zieht sich vielmehr wie ein roter Faden durch die ganze Bibel:

Endlose rote Fäden

Das zeigt sich z.B. am Motiv des Lammes, das stellvertretend für Menschen stirbt. Als Abraham beinahe seinen Sohn geopfert hätte, starb ein Schaf an Isaaks Stelle (1.Mo.22,1-14). Erstaunlich: Abraham wurde extra nach „Moriah“ geschickt, dem späteren Ort des Tempelbergs, an dem der himmlische Vater tatsächlich seinen Sohn blutig sterben sah. Ist es überhaupt möglich, hier keinen Zusammenhang zu sehen?

Noch prägnanter ist die Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten, in der Gott gleichzeitig als Richter und als Erlöser auftritt, der die Kinder Israels durch das Blut eines geschlachteten Lammes vor seinem tödlichen Gericht bewahrt (2.Mos. 12). Israel feiert dieses Ereignis bis heute mit dem Passafest. Und bezeichnend ist: Nach der Chronologie des Johannes hing Jesus genau in dem Moment am Kreuz, als die Lämmer für das Passafest geschlachtet wurden. Ganz ehrlich: Kann das überhaupt Zufall sein?

Und natürlich sind die vielen alttestamentlichen Opferrituale (beginnend bereits bei Kain und Abel) klare Motive für das im Neuen Testament aufgenommene Bild des stellvertretenden Blutvergießens.28 Genau wie im alten Bund, in dem das Volk mit dem Blut der Opfertiere gereinigt wurde, so stehen in der Offenbarung Menschen vor dem Thron Gottes, die „ihre Kleider im Blut des Lammes gewaschen und weiß gemacht haben“ (Offb.7,14). Besonders eindrücklich ist der Bezug zum großen jährlichen jüdischen Versöhnungsfest (Jom Kippur)29, an dem der Hohepriester den Deckel der Bundeslade („Sühnedeckel“) mit Opferblut bespritzte, um stellvertretend Sühne für die Sünden des Volkes zu erwirken.30 Das Neue Testament bezeichnet Jesus als Hohepriester, der die Sühnung der Sünden durch das Vergießen seines eigenen Bluts bewirkt.31 Das Kreuz ist für Paulus der „Sühnedeckel“ (Röm.3,25), also der neue Ort, an dem unsere Sünden gesühnt werden. Dass Jesus dort für uns auch den Fluch des Gesetzes auf sich genommen hat (Gal 3,13) basiert auf der alttestamentlichen Lehre, dass ein „am Holz“ aufgehängter Verbrecher ein Fluch Gottes ist (5.Mo.21,22-23).

Das Lamm, das Blut, die Opfer, der Fluch, der Sühnedeckel, der Hohepriester, das Fluchholz: So unglaublich viele Bilder ziehen sich wie rote Fäden quer durch die ganze Bibel! Allesamt unterstreichen und illustrieren sie die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer.


Von Mose bis zur Offenbarung: Das stellvertretend geschlachtete Lamm

Aber das ist immer noch nicht alles. Das vielleicht stärkste Argument für die Lehre vom stellvertretenden Opfertod stammt vom Propheten Jesaja:

Lange schon vorhergesagt

Eine „Deutung“ ist immer etwas Nachträgliches. Die Sühneopferlehre kann aber schon deshalb keine „Deutung“ sein, weil sie schon hunderte Jahre vor Jesus aufgeschrieben wurde! In dem unglaublichen Kapitel Jesaja 53 werden nicht nur viele Details der Kreuzigung vorhergesagt, auch der stellvertretende Opfercharakter dieses Todes wird vielfach und eindeutig beschrieben:

„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“

„Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Auch hier taucht das Bild des geschlachteten Lammes auf, das stellvertretend unsere Sünden trägt:

„Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird…“

„Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat…“

„…denn er trägt ihre Sünden.“ 

„… dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat…“

Deutlicher kann man die Lehre vom stellvertretenden Opfertod nicht vortragen – und das lange vor Jesus!

Zu allen Zeiten von der Kirche gelehrt und bekannt

Angesichts dieser Fülle an biblischen Belegen ist es kein Wunder, dass die Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer natürlich auch bereits in den altkirchlichen Bekenntnissen32 und bei den ersten Kirchenvätern33 erscheint. Der Theologe Ron Kubsch stellt fest: „Das Verständnis von Jesu Tod als stellvertretende Sühne war seit jeher in der Kirchengeschichte das allgemeine Verständnis der biblischen Texte.“ 34

Ein (theologisches) Unglück kommt selten allein

Die Lehre vom stellvertretenden Opfertod Jesu am Kreuz ist somit ein gutes Beispiel für die „Klarheit der Schrift“, also die reformatorische Erkenntnis, dass die wesentlichen biblischen Lehren so eindeutig sind, dass jeder sie verstehen kann.35 Aber warum ist sie dann so umkämpft? Wenn man sich die Argumente anschaut merkt man: Die Sühneopferlehre liegt auch deshalb in Trümmern, weil weitere wichtige theologischen Fundamente vernachlässigt oder vernebelt worden sind:

Verdrängt: Der Zorn und das Gerichtshandeln Gottes

Immer wieder wird behauptet: Nicht Gott, sondern allein der Mensch brauche Versöhnung.36 Die Sühne sei dazu da, dass WIR unsere Schuld nicht mehr auf andere Menschen verschieben müssen und damit WIR UNSER schlechtes Gewissen mit Gottes Hilfe verarbeiten könnten. Aber für Gott wäre dieses Opfer nicht nötig gewesen.

Da frage ich mich: Vergessen diese Theologen denn ganz, dass Gott quer durch die Bibel als Richter auftritt, der die Sünde und Rebellion des Menschen mit hartem Gerichtshandeln bestraft? Denken wir nur an die Sintflut, an Sodom und Gomorra, an die weltweite Zerstreuung Israels bis hin zu den schrecklichen Weltgerichtsbeschreibungen in der Offenbarung! Nein, Gott ist wahrlich kein netter Opa im Himmel, dem es nur darum geht, dass die Kinder sich gut fühlen und nicht miteinander streiten. Er ist ein heiliger Gott, ein verzehrendes Feuer. Er hasst die Sünde. Sein Zorn ist eine Realität, die sich quer durch die ganze Bibel zieht.

Und das sollte eigentlich auch niemand überraschen. Denn Liebe und Zorn gehören nun einmal untrennbar zusammen. Welcher liebende Vater würde denn nicht zornig werden, wenn er sich ungefiltert anschauen muss, wie seine geliebten Geschöpfe vernachlässigt, betrogen, gemobbt, beraubt, vergewaltigt, getötet, vertrieben, beschimpft und gedemütigt werden. Ein Vater, der da nicht zornig werden würde, wäre dumpf, gleichgültig und zynisch. Fehlender Zorn würde fehlende Liebe beweisen.

Und natürlich gehört auch Gerechtigkeit zur Liebe. Kein Vater, der seine Kinder liebt, würde ihr Grundbedürfnis  nach Gerechtigkeit missachten. Im Kreuz kommt deshalb zusammen, was sich gar nicht voneinander trennen lässt: Gottes Zorn, Gerechtigkeit und Liebe.37

Verharmlost: Das Ausmaß unserer Sünde

Aber warum „braucht“ Gott ein Sühneopfer? Warum kann er nicht einfach so vergeben, so wie auch wir unseren Kindern einfach so vergeben und „Schwamm drüber“ sagen können? Wer so fragt, scheint ein unterentwickeltes Verständnis vom Ausmaß unserer Sünde zu haben. Wir dürfen ja z.B. nicht vergessen, dass Sünde ja auch Geschädigte erzeugt!38 Wenn mein Sohn die Tochter des Nachbarn vergewaltigt hätte: Was würde mein Nachbar sagen, wenn ich ihm berichte, dass ich meinem Sohn vergeben habe und die Sache deshalb ruhen lasse? Er wäre zu Recht unfassbar wütend. Und ein Richter würde sich sogar vor dem Gesetz schuldig machen, wenn er meinem Sohn einfach so die Schuld erlässt.

Die Bibel sagt zwar: Gott IST Liebe. Aber auch seine Ehre, sein vollkommenes Gesetz und seine absolute Gerechtigkeit sind Teil seines Wesens. Weil Gott sich nicht selbst verleugnen kann (2.Tim.2,13) wird sein Handeln immer auch diesen Aspekten seines Wesens Genüge tun.39 Deshalb musste Gott einen Weg zum Umgang mit unserer Sünde finden, der sowohl seiner Liebe und Gnade wie auch seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit entspricht. Er musste einen Weg finden, durch den wir leben können, ohne dass die tödliche Konsequenzen unserer Sünde ignoriert werden.

Vernebelt: Die Göttlichkeit Jesu

Aber musste es denn gleich ein Menschenopfer sein? Dazu noch der eigene Sohn? Wird nicht im ganzen Alten Testament jegliches Menschenopfer als Greuel strikt verurteilt? John Stott schreibt dazu: „An der Wurzel jeder Karikatur des Kreuzes steckt eine verzerrte Christologie“ (S. 205), also ein falsches Bild davon, wer Jesus eigentlich war. Gott opferte ja gerade nicht irgendeinen Menschen. Jesus war zwar ganz Mensch, aber zugleich auch voll und ganz Gott! Im Kreuzesgeschehen handelt Gott als Richter, der die gerechte Strafe für unsere Sünde vollstreckt, aber gleichzeitig auch als gnädiger Erlöser, der selbst diese gerechte Strafe auf sich nimmt! „Es ist ein und derselbe Gott, der uns durch Christus vor sich selbst rettet“.40 Nur wenn die Göttlichkeit Jesu vernebelt wird41, wird aus diesem unglaublichen Liebesakt der Selbstaufopferung ein grausamer Racheakt eines blutrünstigen Gottes.

Die Probleme mit dem stellvertretenden Opfertod resultieren also oft aus einem falschen Verständnis von Christus, von der Heiligkeit und Majestät Gottes und vom Ausmaß unserer Sünde. Ein Unglück kommt selten allein – das gilt gerade auch in der Theologie.

Fehlende Demut und die Suche nach Anerkennung

Natürlich ist und bleibt beim Kreuzesgeschehen Einiges schwer zu verstehen. Schließlich wimmelt es nur so von scheinbar paradoxen Gegensätzen: Gott ist Vater und Sohn zugleich. Jesus ist zugleich ganz Gott und ganz Mensch. Gott ist allmächtig und zugleich am Kreuz scheinbar ohnmächtig. Der Gott des Lebens stirbt einen furchtbaren Tod. Da kann man schon einen Knoten im Hirn bekommen. Kein Wunder, dass Paulus sagt: Das Wort vom Kreuz ist und bleibt eine Torheit und ein Ärgernis (1.Kor. 1,23).  Es lag mit dem intellektuellen Mainstream schon immer über Kreuz. Aber ist es deshalb falsch?

Es zeugt von Anmaßung und menschlicher Selbstüberschätzung, wenn wir schwierige biblische Lehren nur deshalb ablehnen, weil unser menschlicher Verstand sie nicht begreifen kann. Wenn unser Kopf mit der Bibel kollidiert und es hohl klingt, dann muss das ja nicht an der Bibel liegen! Gute Theologie akzeptiert, dass Gott größer ist als unser Verstand. Der massive intellektuelle Zweifel am stellvertretenden Sühneopfer ist eben auch ein Beleg dafür, dass die Sehnsucht nach Anerkennung durch die säkularen intellektuellen Eliten eine reale Triebkraft der modernen Theologie darstellt (wie Prof. Werner Thiede mit drastischen Worten beklagt42), die für die  Preisgabe so mancher biblischer Sichtweisen verantwortlich ist.

Das Sühneopfer: Heute noch vermittelbar?

Die auch damals schon schwer verständlichen Paradoxe und das Ärgernis des verfluchten Kreuzestodes haben die ersten Christen nicht davon abgehalten, das Wort vom Kreuz mit gewaltigem Erfolg weiterzugeben. Warum also sollte das heute nicht mehr gelingen? Ulrich Parzany schildert eine eindrückliche Geschichte, mit der er die Lehre vom stellvertretenden Opfertod gerne veranschaulicht43:

Ein Ehepaar muss miterleben, wie ihre Tochter an Leukämie sterben muss. Welch unendlicher Schmerz! Wie groß wäre der Wunsch der Eltern, dem Kind den Schmerz und den Tod abnehmen zu können. Sie würden lieber selber sterben, wenn dadurch das Kind weiterleben könnte. So etwas möchte menschliche Liebe. Aber wir sind einfach nicht in der Lage dazu. Wir sterben alle unseren eigenen Tod. Gott allein ist dieser Begrenzung nicht ausgesetzt. Als er unsere tödliche Krankheit sah, unsere Sünde, die zum Tod führt (Röm.6,23), zog er sich unser Leben an und starb stellvertretend für uns, damit wir das Leben haben. Ist das nicht wundervoll?

Das ist nur ein Beispiel, das zeigt: Wir brauchen uns dieser Botschaft auch heute nicht zu schämen. Sie ist Gottes Kraft, die alle selig macht, die daran glauben (Röm. 1, 16). Es ist die Aufgabe der Theologie, die Kirche gerade auch bei solchen anspruchsvollen Themen sprachfähig zu machen. Umso schlimmer ist es, wenn sie genau das Gegenteil tut.

Es geht um weit mehr als um einen Theologenstreit!

In einer christlichen Buchhandlung fiel mir neulich etwas auf: Da gab es Regale zu „Lebensberatung“, „gelebtes Christsein“, „Autobio­gra­fien“, „Erzählungen“ und einiges mehr. Nur ein Regal fehlte: „Theologie“! Ist das für uns Christen denn nicht mehr interessant? Denken wir, dass theologische Auseinandersetzungen nichts mit unserem christlichen Alltag und der Entwicklung der Kirche zu tun hätten?

Nichts könnte verkehrter sein als das. In Wahrheit werden genau hier die Schlachten geschlagen, die am langen Ende über das Wohl und Wehe der Kirche und somit auch über das Schicksal unzähliger Menschen entscheiden. Nicht umsonst konnte Paulus unglaublich scharf werden, wenn es um den Inhalt des Evangeliums geht. Gerade beim Streit um die Kreuzestheologie steht unglaublich viel auf dem Spiel:

Sinnentleertes Abendmahl: Ohne die Sühneopferlehre wird diese zentrale Handlung, die eigentlich alle Christen verbinden sollte, weitgehend sinnentleert.44

Verlorene Autorität und Klarheit der Bibel: Wenn selbst derart eindeutige und klare biblische Lehren nicht stimmen, dann ist nichts mehr klar in der Bibel. Tatsächlich gibt es an den Universitäten praktisch keine Lehre mehr, die nicht irgendjemand bestreiten würde.

Verlorene Einheit: Wenn Alles in Frage gestellt ist, dann gibt es auch keine gemeinsamen Glaubensgrundlagen und -gewissheiten mehr. Dann wird die Einheit der Kirche von innen ausgehöhlt. Dann bleibt  nur noch die äußere Organisation als notdürftiges Bindemittel, das immer schlechter funktioniert und bald zerbricht.

Bibelentfremdung: Wenn selbst Bibelwissenschaftler sich über nichts mehr in der Bibel einig sind, dann ist es kein Wunder, dass Laien das Interesse an der Bibel verlieren, weil sie aus ihr ohnehin keine verlässlichen Botschaften entnehmen können.

Austrocknung von Mission und Evangelisation: Wenn selbst über so zentrale Lehren keine Einigkeit besteht ist es kein Wunder, wenn Kirchenleiter bei der Frage nach der zentralen Botschaft der Kirche oft nur noch mit verschwurbelten Gutmenschensätzen antworten45. Dann ist es auch kein Wunder, dass die Kirche sich auf Dialog beschränkt statt zu evangelisieren. Kein Wunder ist es dann auch, dass die nächste Generation keinerlei Bindung mehr an die Kirche hat.

Eine oberflächliche Kirche: John Stott stellt fest, dass die weit verbreitete Seichtigkeit und fehlende Gottesfurcht in der westlichen Kirche die direkte Folge einer Theologie ist, die Gottes Zorn und seinen Hass auf das Böse ignoriert.46 Das Glattbügeln der Kreuzestheologie und unseres Gottesbilds raubt dem Evangelium zwar den Anstoß, aber auch seine erneuernde Kraft.

Zeit für eine theologische Erneuerung

Gesunde Theologie muss deshalb in aller Deutlichkeit auf der biblischen Lehre bestehen, dass das Kreuz nicht nur für uns Menschen notwendig war, sondern auch, um dem heiligen Charakter Gottes Genüge zu tun. James Denney schreibt dazu: „Es ist die Erkenntnis dieser göttlichen Notwendigkeit, oder das Versäumnis, sie zu erkennen, welche die Ausleger des Christentums letzten Endes in Evangelikale und Nichtevangelikale scheidet, solche die dem Neuen Testament treu sind, und solche die es nicht verdauen können.“ 47

Die Wirren um die Kreuzestheologie und die verheerenden Folgen für die Kirche belegen, wie berechtigt die Diagnose von Ulrich Parzany ist: Die Bibelkritik ist der Krebsschaden der Kirche!48 Solange unsere theologischen Ausbildungsstätten selbst bei Kernaussagen des Evangeliums mehr Verwirrung statt Klarheit stiften, kann es für die Kirche nur weiter bergab gehen. Ohne eine grundlegende theologische Erneuerung bleiben alle sonstigen Reformbemühungen der Kirche zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.


Danke an Ron Kubsch, Dr. Gerrit Hohage und Martin Till  für wichtige Anregungen zu diesem Artikel. Um die Länge zu begrenzen wurden viele wichtige Erläuterungen in die nachfolgenden Anhänge und Quellenhinweise ausgelagert. Ich möchte sie allen Lesern deshalb ausdrücklich ans Herz legen. Am wichtigsten ist mir jedoch eine Buchempfehlung: In „Das Kreuz: Zentrum des christlichen Glaubens“ erläutert John Stott das Kreuzesgeschehen in einer Tiefe, die ich sonst nirgends gefunden habe. Trotz der theologischen Präzision ist der Text auch für Laien gut und verständlich zu lesen.


Anmerkungen und Quellenangaben:

1:   Dr. Thomas Breuer: Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu aus heutiger Perspektive

2:   Im Vortrag „Was bedeutet der Kreuzestod Jesu“ vom damaligen Präses Nikolaus Schneider, gehalten am 10.6.2009 (Seite 1)

3:   In Werner Thiedes Artikel „Widerwärtiger Dünkel“ in Zeitzeichen 2010 Seite 1

4:   In Prof. S. Zimmer: Warum das fundamentalistische Bibelverständnis nicht überzeugen kann

5:   Der Theologe Tobias Faix präsentiert in seinem Blog ein „Kleines Karfreitagsmedley: Von Banks bis Schrupp und immer dieselbe Frage: Warum ist Jesus gestorben?“ mit zahlreichen unterschiedlichen Deutungen des Kreuzestodes. Zwar gibt es dort mit Holger Lahayne auch einen Befürworter des Sühneopfers, die Sühneopferkritik ist jedoch klar in der Mehrheit.

6:  So meint Dr. Breuer in seinem Vortrag: Angesichts der unterschiedlichen Deutungen des Kreuzestodes im NT gäbe es auch heute noch eine legitime Bandbreite. Zwei Aussagen seien jedoch „dem Glauben nicht förderlich“ „nicht angemessen“, ja sogar „völlig absurd“ und „tun dem Menschen nicht gut“, weil sie der Lehre Jesu völlig widersprechen würden: 1. Die Lehre, dass das Kreuz das Ende der Tieropfer bedeute, weil Jesus das perfekte Opfer war („Welchen religiösen Sinn sollte das haben? War Jesus denn der erste Märtyrer der Tierrechtsbewegung? Diese Vorstellung können wir beruhigt ad acta legen.“). 2. „Gefährlicher“ noch sei der „relativ weit verbreitete“ „Gedanke, dass Gott der Vater erst durch den blutigen Opfertod seines Sohnes mit der schuldbeladenen Menschheit versöhnt werden könnte.“ Breuer antwortet darauf mit Anselm Grün: „Was ist das für ein Gott, der den Tod des Sohnes nötig hat, um uns vergeben zu können?“

7:   Prof. Wilfried Härle in „…gestorben für unsere Sünden – Die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi“ S. 11 unten

8:   Nikolaus Schneider fasst in seinem Vortrag die Kreuzestheologie von Fridrich Schleiermacher wie folgt zusammen: „Für Schleiermacher liegt Sünde darin, dass die Reifung der Persönlichkeit zur sittlichen und religiösen Vollkommenheit gehemmt wird. Erlösung ist dementsprechend für ihn der Prozess wachsender Befreiung von dieser Hemmung. Jesus ist in seiner Lehre und seinem Leben das Vorbild derartiger Reifung zur Vollkommenheit. In seinem Leiden und Sterben wächst und reift er zur Vollkommenheit. In beidem bewährt er sein Gottesbewusstsein und damit das, was er gelehrt hat. Und dafür stirbt er. Das ist „Vorbild‐Christologie“.“ (Seite 5)

9:   Rudolf Bultmann: „Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff? Soll die Anschauung vom sündentilgenden Tode Christi aus der Opfervorstellung verstanden werden: Welch primitive Mythologie, dass ein Mensch gewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt! Oder aus der Rechtsanschauung, so dass also in dem Rechtshandel zwischen Gott und Mensch durch den Tod Christi den Forderungen Gottes Genugtuung geleistet wäre: dann könnte die Sünde ja nur juristisch als äußerliche Gebotsübertretung verstanden sein, und die ethischen Maßstäbe wären ausgeschaltet!“  (RUDOLF BULTMANN, Neues Testament und Mythologie: das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, 3. Aufl., München 1988, Beiträge zur ev. Theologie 96, 19)

10: Die Reformatoren bekannten sich eindeutig zur Sühneopfertheologie. So schreibt Martin Luther in seinem „Kleinen Katechismus“: „Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott … und auch wahrhaftiger Mensch … , sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei…“
Der reformatorische „Heidelberger Katechismus“ bekennt: „Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst. … Er hat uns mit Leib und Seele von der Sünde und aus aller Gewalt des Teufels sich zum Eigentum erlöst und erkauft, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem teuren Blut, indem er sein Leben für uns gab.“

11: „Wahrscheinlich begegnet heute keine Lehre des Christentums größeren Schwierigkeiten als die traditionelle Lehre, dass uns Jesus Christus durch seinen stellvertretenden Sühnetod am Kreuz von unseren Sünden erlöst hat.“, in Josef Blank „Weißt Du, was Versöhnung heißt? Der Kreuzestod Jesu als Sühne“, in: Josef Blank u. Jürgen Werbick (Hg.), Sühne und Versöhnung, Düsseldorf 1986, 21‐91: 21.

12: Christoph Wiesing in Hossa Talk #34 Das Kreuz: Wofür starb Jesus? (Teil 1) ab 36:12: „Ich hab einen Vortrag bei Pfarrern gehalten, sehr engagierten Pfarrern (also das wo andere sagen würden: Das sind die gläubigen Pfarrer) über die Frage Satisfaktion und Anselm von Canterbury, und als ich das so vorgestellt habe haben die alle gesagt: Nee, also das glaubt ja bei uns keiner mehr. Deswegen, ich glaube: In der protestantischen Welt ist dieses Modell schon aus guten Gründen weitgehend abgelöst.“

13: Das unterstreicht der Theologe Ron Kubsch: „Es ist eben nicht ein tieferes Textverständnis, das den modernen Theologen dazu bringt, die bisherige Vorstellung der Sühnetheologie abzulehnen; es sind vielmehr Vorurteile, die die klaren Texte nicht stehenlassen können und sie zum Schweigen bringen wollen.“ (aus dem Artikel „Jesu Tod als stellvertretendes Sühneopfer“)

14: So wird Jesu Leiden als „Vorbild“ (z.B. 1.Petr.2,21), als „Prophetengeschick“ (z.B. Apg.7,52) oder als das „Leiden eines Gerechten“ dargestellt (ein Motiv, das oft in Psalmen erscheint, z.B. Ps.34,20)

15: In Walter Klaiber „Jesu Tod und unser Leben“; Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2. korr. Auflage 2014, S. 188

16: Der Kreuzestod als Sühne und Erlass für unsere Schuld: Röm.3,25; Kol.2,14; Hebr.2,17; 1.Joh.2,2; 1.Joh.4,10

17: Der Kreuzestod dient zur Versöhnung: Röm.5,10+11; 2.Kor.5,18-20; Eph.2,16; Kol.1,20+22;

18: Der Kreuzestod als Opfer: Eph 5,2; Hebr.9,12+14; Hebr 9,26+28; Hebr 10,10+12+14

19: Er ist das (geschlachtete) Opfer- bzw. Passalamm: Joh.1,29; Joh.1,36; Apg.8,32; 1.Kor.5,7, 1.Petr. 1,19; Offb.5,6; Offb.5,12+13; Offb.6,1+16; Offb.7,9+10+14+17; Offb.12,11; Offb.13,8; Offb.14,4+10; Offb 15,3; Offb 17,14; Offb 19,7+9; Offb.21,9+14+22+23+27; Offb 22,1

20: Sein Blut wurde für uns vergossen: Mt.26,28; Mk.14,24; Lk.22,20; Joh.6,53-56; Röm.3,25; Röm.5,9; 1.Kor.11,25; Eph.1,7; Eph.2,13; Kol 1,20; Hebr.9,12+14+20; Hebr.10,19+29; Hebr.12,24; Hebr.13,12+20; 1.Petr.1,2+19; 1.Joh 1,7; Offb.1,5; Offb.5,9; Offb.7,14; Offb.12,11

21: Wir sind mit Jesu Leben als „Lösegeld“ und mit seinem Blut „erkauft“, „losgekauft“ bzw. „teuer erkauft“: Mt.20,28; Mk.10,45; 1.Kor 6,20; 1.Kor.7,23; Gal.3,13; Gal.4,5; 1.Tim 2,6; 1.Petr 1,18-19; Offb.5,9; Offb.14,3+4

22: Jesus wurde (stellvertretend) „für uns“ (bzw. für die Menschen) und unsere Sünde hingegeben, ja zur Sünde und zum Fluch gemacht: Joh.3,16; Joh.11,50-52; Joh.18,14; Röm.5,6+8; Röm 8,32; Röm.14,15; 1.Kor.1,13; 1.Kor.8,11; 1.Kor.11,24; 1.Kor.15,3; 2.Kor.5,14+15+21; Gal.1,4; Gal.2,20; Gal.3,13; Eph.5,2; 1.Thess.5,10; Tit.2,14; 1.Petr.2,21; 1.Joh.3,16

23: Der Tod Jesu war von Jesus und dem AT vorausgesagt, von Gott geplant, Jesus „musste“ sterben, sein Tod war ein aktiver Hingabeakt: Mt.26,24; Mt.26,54; Mk 8,31; Lk 17,25; Lk 24,7+26; Joh 3,13-15; Joh.10,15+17; Joh.12,32-33; Röm.8,32; Apg.2,23; Apg.17,3; Apg.4,28; 1.Kor 15,3; Gal.1,4

24: In seinem Vortrag äußert Dr. Breuer (ab 1:09:15), dass er sich mit Prof. Zimmer darin einig sei, dass Jesus frühestens in Jerusalem zu der Überzeugung gelangte, dass sein Tod offenbar unausweichlich sei.

25: In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 259

26: Walter Klaiber schreibt zu den vielfältigen Verknüpfungen und Verbindungen zwischen den verschiedenen neutestamentlichen Metaphern zur Deutung des Kreuzes: „Paulus kann also verschiedene Vorstellungsebenen kombinieren, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erklären, auch wenn diese aus unterschiedlichen Zusammenhängen stammen“ (in „Jesu Tod und unser Leben“ S. 65). Prof. Dormeyer schreibt in seiner Abhandlung über den Tod Jesu, dass in Römer 3, 24-25 sowohl der rechtlich/juristische „Loskauf“ als auch der kultische Sühnebegriff auf Jesu Blut angewendet wird: „Die Erlösung umschreiben zwei Begriffe: rechtlich Loskauf (gr. apolýtrosis) (Röm 3,24) und kultisch Sühnopfer (gr. hilastérion) (Röm.3,25)“ Auch im AT sei die rechtliche und kultische Dimension der Sühne eng verknüpft, wenn ein Schuldiger von der Todesstrafe durch ein „Sühnegeld“ losgekauft werden kann (2.Mos.21,30). Nikolaus Schneider berichtet in seinem Vortrag von einer „Fülle von Begriffen, Bildern und Zugängen zum Versöhnungswerk von Jesus Christus“, räumt dazu jedoch ein, dass diese „Zugänge“ und „Erklärungen“ alle „in einem inneren Zusammenhang zueinander stehen.“ (Seite 11)

27: Weiter schreibt Pfr. PD Dr. Thomas Knöppler in seiner Abhandlung „Sühne (NT)“: „Trotz der seltenen Verwendung des für explizite Sühneaussagen charakteristischen Wortes „sühnen etc.“ (ἱλάσκεσθαι κτλ) ist unter Heranziehung weiterer, Begriff und Sache der Sühne in den Blick nehmender Wörter und Wendungen eine gewichtige Rolle der Sühnethematik im Rahmen der neutestamentlichen Soteriologie festzustellen. Insofern das Geschehen des Kreuzestodes Jesu in der Regel als Ausgangspunkt der neutestamentlichen Soteriologie und durchweg als Bezugspunkt der neutestamentlichen Rede von der Sühne fungiert, ist die Sühnethematik im Zentrum der Christologie und Soteriologie verankert.“

28: Gut erläutert im Artikel von Ron Kubsch: „Das Opfer Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Opfer“

29:  Der Theologe Stefan Meißner spricht deshalb in seinem Beitrag „Warum musste Jesus sterben“ vom Karfreitag als dem „eschatologischen Jom Kippur“.

30: T.J. Crawford bekräftigt den stellvertretenden Charakter des Opferrituals: „Der Text lehrt also seinem klaren und offensichtlichen Sinn nach den stellvertretenden Charakter des Opferrituals. Leben wurde für Leben gegeben“, „das Leben des unschuldigen Opfers für das Leben des sündigen Opfernden.“ In: „Doctrine of Holy Scripture“, S. 237, 241; zitiert in John Stott „Das Kreuz“ S. 175/176. John Stott ergänzt: „Wenn wir all dieses alttestamentliche Material (das Vergießen und Versprengen des Blutes, das Sündenopfer, das Passa, die Bedeutung des „Sündentragens“, den Sündenbock und Jesaja 53) betrachten und bedenken, dass all dies im Neuen Testament auf den Tod Christi bezogen wird, können wir uns dem Schluss nicht entziehen, dass das Kreuz ein stellvertretendes Opfer war.“ (S. 190)

31: Siehe Hebräer Kapitel 5 bis 7. Bezeichnend ist, dass der Priester Melchisedek, der im Hebäerbrief als Urbild für die Priesterschaft Jesu dargestellt wird, Abraham direkt am Ort des späteren Tempelbergs in Jerusalems entgegentritt (1.Mos.14,17-18). Also kommt auch hier genau wie beim Opfer Isaaks zu den vielen inhaltlichen Parallelen auch noch die geographische hinzu!

32: Während das Apostolische Glaubensbekenntnis auf jegliche Deutung des Kreuzestodes verzichtet heißt es im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (325 n.Chr.): „Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus.“ Im Athanasianischen Glaubensbekenntnis (7. Jahrhundert) lesen wir: „Der gelitten hat für unser Heil…“

33: So schrieb beispielsweise Athanasius (298–373 n. Chr.): „Er wurde um unsertwillen Fleisch, damit er sich an unserer statt opfern und uns durch seine Hingabe und Opferung erlösen konnte“ (Athanasius „Festbrief X“).  Der Kirchenvater Augustinus (354–430 n. Chr.) schreibt: „Indem er durch seinen Tod ein einmaliges, ganz wahrhaftiges Opfer für uns darbrachte, hat er alles, was Schuld hieß … getilgt, fortgewischt, ausgelöscht.“ (A. Augustinus, „Über den Dreieinigen Gott, München, 1951, S. 61), zitiert bei Ron Kubsch „Die Strafe liegt auf ihm…“ Das stellvertretende Sühneopfer, Martin Bucer Seminar 2017)

34: in Ron Kubsch: „Jesu Tod als stellvertretendes Sühneopfer“

35: Zum wichtigen Thema der „Klarheit der Schrift“ ist der Vortrag von Kevin deYoung vom März 2016 sehr zu empfehlen.

36: Ein typisches und sehr lesenswertes Beispiel dazu ist Holger Lahaynes Analyse des Vortrags von Prof. Georg Plasger „Für uns gestorben?“: „Plasger schwenkt um auf ein subjektives Verständnis des Sühnehandelns: „Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden.“ […] Dies sei „die zentrale Aussage des Neuen Testaments, wenn es den Kreuzestod Jesu Christi als ‘für uns geschehen’ interpretiert. … Jesus starb nicht, um Gottes Haltung zu mir, sondern um unsere Haltung zu Gott zu ändern. Dem ist zu entgegnen, dass sich der Sünder natürlich ändern muss und auch von Gott verändert wird. Doch die objektive Versöhnung Gottes ist Grundlage dieses subjektiven Geschehens!“

37: John Stott erläutert dazu: „Die Bibel enthält eine Reihe weiterer Formulierungen, die auf unterschiedliche Weise diese „Dualität“ im Innern Gottes ausdrücken. Er ist „Gott, barmherzig und gnädig“, der aber „Schuld, Vergehen und Sünde … keineswegs ungestraft lässt“; in ihm sind sich „Gnade und Wahrheit … begegnet“, haben sich „Gerechtigkeit und Frieden … geküsst“; er nennt sich selbst „einen gerechten und rettenden Gott“; … und im Zorn erinnert er sich seiner Barmherzigkeit. Johannes beschreibt … den Sohn des Vaters als „voller Gnade und Wahrheit“; und Paulus lädt uns … dazu ein, „die Güte und Strenge“ Gottes zu bedenken.“ In John Stott „Das Kreuz“, S. 165

38: Auf dieses Problem weist auch der ehem. Bischof Dr. Walter Klaiber hin: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen böser Tat und unheilvoller Folge, der verhindert, dass geschehenes Unrecht einfach ungeschehen gemacht werden kann.“ In: Walter Klaiber „Jesu Tod und unser Leben“; Ev. Verlagsanstalt Leipzig, 2. korr. Auflage 2014, S. 42

39: Kaum ein Begriff ist in der Kreuzestheologie so angegriffen worden wie der Begriff „genüge tun“ oder „Genugtuung“. John Stott geht in seinem Buch „Das Kreuz“ ausführlich darauf ein. Er distanziert sich dabei von einem Genugtuungs-Verständnis, wie Anselm von Canterbury es verbreitet hat und „an einen Feudalherrn erinnert, der Ehre fordert und Unehrerbietigkeit bestraft“. (S. 152) Trotzdem verteidigt er den Begriff „Genugtuung“ intensiv. Ich zitiere dies hier ausführlich, weil John Stott hier eine Reihe von Missverständnissen und Karikaturen des stellvertretenden Sühneopfers abräumt: „Darum weisen wir jede Erklärung für den Tod Christi entschieden zurück, in deren Mittelpunkt nicht das Prinzip der „Genugtuung durch Stellvertretung“ steht, ja der göttlichen Genugtuung seiner selbst durch die göttliche Stellvertretung durch ihn selbst. Das Kreuz war kein Tauschhandel mit dem Teufel … ebenso wenig ein exaktes Äquivalent, … um einen Ehrenkodex oder einer juristischen Spitzfindigkeit Genüge zu tun; ebenso wenig eine notgedrungene Unterordnung Gottes unter eine moralische Autorität über ihm, den er auf andere Weise nicht hätte entkommen können; ebenso wenig die Bestrafung eines sanftmütigen Christus durch einen strengen und rachsüchtigen Vater; ebenso  wenig ein Abringen des Heils von einem gemeinen und widerwilligen Vater durch einen liebenden Christus; ebenso wenig ein Handeln des Vaters, das Christus als den Mittler aussparte. Stattdessen erniedrigte sich der gerechte, liebende Vater selbst, indem er in … und durch seinen einzigen Sohn Fleisch, Sünde und Fluch für uns wurde, um uns zu erlösen, ohne seinen eigenen Charakter zu kompromittieren. Die theologischen Begriffe „Genugtuung“ und „Stellvertretung“ müssen sorgfältig definiert und gehütet werden, denn sie können unter keinen Umständen aufgegeben werden. Das biblische Evangelium der Sühne ist, dass Gott sich selbst Genüge tat, indem er selbst an unsere Stelle trat.“ (S. 204)

40: In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 205

41: So vertreten es die verschiedenen Strömungen des „Adoptianismus“: Jesus sei nicht wesenhaft Gott, sondern nur ein zum Gottessohn adoptierter Mensch gewesen. Nicht zuletzt die weit verbreitete Ablehnung der Jungfrauengeburt deutet darauf hin, dass diese theologische Fehlentwicklung auch heute verbreitet ist.

42: „Offen gestanden: Er widert mich inzwischen nur noch an – dieser zeitgeistbeflissene Dünkel all jener Theologinnen und Theologen, die dem Kreuzestod Jesu den überlieferten Tiefensinn rationalistisch absprechen. Dieses arrogante Kaputtreden der überkommenen Heilsbotschaft, das sich über den Glauben der Väter und Mütter der letzten beiden Jahrtausende so erhaben dünkt, dass es ihn nur noch verabschieden möchte. Dieses Kokettieren mit der intellektuellen Redlichkeit, die Andersdenkenden in Theologie und Kirche zumindest indirekt abgesprochen wird, aber mit merkwürdigen Alternativen zum Ganz- und Heilwerden des Menschen oft kompatibel genug zu sein scheint.“ Prof. Werner Thiede in seinem Artikel „Widerwärtiger Dünkel“ veröffentlicht in „Zeitzeichen“ 2010

43: Nachzuhören in Ulrich Parzanys Vortrag: „Den Säkularen ein Säkularer“, gehalten am 24.11.2017 in der STH Basel (ab 53:30)

44: So erwähnt Prof. Zimmer in seinem Vortrag „Vom Sinn des Abendmahls“ die sühnende Wirkung des stellvertretenden Opfertods mit keinem Wort. Stattdessen lehrt er, dass wir im Abendmahl die „Kontaktfreudigkeit“ und „Zuwendungslust“ Jesu feiern würden.

45: Ein trauriges Beispiel ist das ZDF-heute-Journal-Interview mit Bischof Markus Dröge anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums. Auf die Kritik, im Reformationsjahr habe es viel Event und wenig Botschaft gegeben, antwortet er: Die zentrale Botschaft der Reformation sei deutlich geworden, nämlich die „Doppelheit von Vertrauen zu finden und sich zu engagieren für das Allgemeinwohl“.

46: In John Stott „Das Kreuz“, SMD Edition, S. 137-139, siehe Artikel im AiGG-Blog https://blog.aigg.de/?p=3836

47: James Denney, Atonement, S. 82, zitiert von John Stott in „Das Kreuz“, S. 169

48: In Ulrich Parzany „Was nun, Kirche?“, SCM-Hänssler, S. 49