Die Bibel ist nicht irrtumslos…

Die “Irrtumslosigkeit der Schrift” ist hoch umstritten. Das liegt zum Teil auch daran, dass Begriffe wie “Irrtumslosigkeit” oder “Unfehlbarkeit” nicht sauber definiert werden. Dieser Artikel fasst die wesentlichen Aspekte kurz zusammen:

Die Bibel, wie sie uns heute vorliegt, ist nicht irrtumslos…

… in Bezug auf den richtigen Urtext.

Die überlieferten Abschriften der biblischen Texte unterscheiden sich immer wieder in Details, so dass der Urtext nicht in allen Teilen hundertprozentig sicher rekonstruiert werden kann.

… in Bezug auf die Ränder des Kanons.

Bei einigen wenigen Texte der Bibel ist nicht abschließend geklärt, ob sie zu den „kanonischen“ Schriften gehören (das heißt die allgemein als apostolisch oder prophetisch anerkannt werden). Dazu gehört zum Beispiel der „lange Markussschluss“ in Markus 16, 9-20.

… in Bezug auf die richtige Übersetzung.

Aufgrund der großen zeitlichen und kulturellen Distanz zu den biblischen Sprachen, die heute nicht mehr gesprochen werden, ist die Übersetzungsarbeit des Öfteren komplex und lässt immer wieder auch unterschiedliche Optionen zu.

… wenn ihr Wahrheitsmaßstäbe unterstellt werden, die von den Autoren nicht beabsichtigt waren.

Die Bibel kann Stilmittel wie gerundete Zahlen, Bild- und Symbolsprache verwenden. Sie kann die Welt poetisch und aus der Beobachterperspektive heraus beschreiben. Sie kann Zitate als korrekt ansehen, wenn sie zwar inhaltlich stimmen, aber nicht den exakten Wortlaut wiedergeben. Sie kann Stoffe thematisch statt chronologisch ordnen.

Irrtumslos ist vor allem nicht unsere Auslegung der Bibel.

Beim Ringen um die richtige Auslegung gab es quer durch die Kirchengeschichte hindurch immer wieder Meinungsverschiedenheiten – auch unter solchen Theologen, die der Autorität der Bibel vollständig vertrauen.

Aber: Die Bibel ist irrtumslos…

… in Bezug auf die Aussageabsicht der biblischen Autoren in den kanonischen Texten!

Augustinus, Luther und die Unterzeichner der Lausanner Verpflichtung sind sich einig: Die Irrtumslosigkeit der biblischen Autoren ist keine fundamentalistische Randposition, sondern christlicher Mainstream quer durch die Kirchengeschichte hindurch. Sie passt zum durchgängigen Selbstanspruch der Bibel, inspiriertes Wort Gottes zu sein. Gott macht keine Fehler!

Die Unklarheiten in Bezug auf den Urtext sind kaum relevant!

Kein antikes Dokument ist auch nur annähernd so gut überliefert wie das Neue Testament. Die wenigen Unsicherheiten in Bezug auf den Urtext sind heute in vielen Übersetzungen dargestellt. Ein Experte schreibt: “Insgesamt ist die Überlieferung der Bibel sehr gut und sehr treu. In den theologischen Punkten gibt es unter den Abertausenden Handschriften kaum Abweichungen.“

Die Unschärfen an den Kanonrändern fallen kaum ins Gewicht!

Rund 85% des neutestamentlichen Textbestandes waren von Beginn an vollkommen unumstritten. Über die 27 neutestamentlichen Bücher besteht heute weltweiter Konsens. Der Umfang umstrittener Textabschnitte ist also so gering, dass der Umgang mit ihnen praktisch keine theologischen Konsequenzen hat.

Die Verfügbarkeit vieler Übersetzungen garantiert heute mehr denn je, dass wir einen soliden Zugang zur Botschaft der biblischen Autoren haben!

Auch wenn es knifflige Fälle gibt: Durch den leichten Zugang zu verschiedenen professionellen Übersetzungen können wir uns heute mehr denn je ein gutes Bild von den biblischen Aussagen machen – selbst wenn wir weder griechisch noch hebräisch beherrschen.

Die zentralen und heilsrelevanten Aussagen der Bibel sind so klar und deutlich, dass Jeder sie verstehen kann!

Trotz aller Differenzen in Auslegungsfragen zeigt sich weltweit und kulturübergreifend: Wenn Christen der Autorität der Bibel vertrauen, sie möglichst unvoreingenommen lesen und vom Prinzip ausgehen, dass die Schrift sich selbst auslegen muss, dann kommen sie vor allem bei den zentralen, heilsrelevanten Fragen immer wieder zu vergleichbaren Auslegungsergebnissen. Es gibt also eine „Klarheit der Schrift“. Das heißt: Die Bibel ist in den wichtigen Fragen aus sich selbst heraus ausreichend verständlich und jedermann zugänglich.

Fazit: In welcher Hinsicht ist die Bibel irrtumslos?

Ist die Bibel nun in allen ihren Aussagen irrtumslos? Oder nur in ihren theologischen und heilsrelevanten Aussagen? Ich würde sagen: Die Bibel ist in allen Aussagen irrtumslos, die sie machen möchte! Wenn sie historische oder wissenschaftliche Aussagen machen möchte, dann ist sie auch darin irrtumslos. Wenn sie exakte Daten liefern möchte, dann ist sie irrtumslos exakt. Wenn hingegen ein Bibeltext poetisch gemeint ist oder nur grobe, gerundete Mengengaben machen möchte, dann ist er irrtumslos in seiner poetischen Aussage bzw. in seiner groben, gerundeten Mengenangabe. Die Kunst liegt darin, im einzelnen herauszufinden, was denn die Aussageabsicht der biblischen Autoren war. Lukas macht es uns hier leicht, weil er extra seinen Selbstanspruch betont, historisch exakte Angaben zu machen (Lukas 1,1-4). Bei manchen anderen Texten fällt diese Entscheidung nicht so leicht. Der letzte Maßstab, um die Aussageabsicht herauszufinden, muss immer die Bibel selbst sein. Der gesamtbiblische Kontext ist entscheidend! Wenn ein Bibeltext einem anderen Bibeltext eine realhistorische Aussageabsicht beimisst, dann sollten wir ihn nicht nur symbolisch deuten, sondern vielmehr dabei bleiben, dass die Schrift sich selbst auslegt. Aber trotz dem Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift werden bei der Frage nach der biblischen Aussageabsicht nicht alle Christen bei allen Texten zu gleichen Schlussfolgerungen kommen. Hier können wir auch mal respektvoll streiten und um die Wahrheit ringen. Aber niemals sollten Christen darüber streiten, dass die biblischen Autoren in dem, was sie in ihren kanonischen Texten sagen wollten, absolut verlässliche Autoritäten sind. Luther hat dieses Prinzip so zusammengefasst und sich dabei auf den Kirchenvater Augustinus bezogen:

Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst?  Wie oft weichen sie voneinander ab? […] Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt […] Ich will […], dass allein die Schrift regiert […] Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, […] [der] in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: ‚Ich habe gelernt, allein diesen Büchern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat.“ (Aus „Assertio omnium articulorum“, 1520)

Vertiefend zu diesem Thema:

2 Gedanken zu „Die Bibel ist nicht irrtumslos…“

  1. Lieber Markus Till,
    dieser mehr verbindende Ansatz zum Thema gefällt mir sehr. Er ergänzt eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema sehr gut.
    MfG
    ThE

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