Warum sind Menschen böse?

Eine Wegscheide des Denkens und des Glaubens

In den letzten Wochen habe ich mich zum einen mit dem Theologen Eugen Drewermann befasst. Zum anderen habe ich im Buch Jeremia gelesen. Der Kontrast und der Widerspruch zwischen diesen beiden theologischen Welten könnte drastischer und grundsätzlicher kaum sein. Tatsächlich scheint mir, dass genau dieser Widerspruch eine grundlegende Wegscheide darstellt, aus der sich völlig unterschiedliche Denksysteme entwickeln mit völlig unterschiedlichen, ja gegensätzlichen weltanschaulichen Konsequenzen, die sich unvereinbar gegenüberstehen. Die zentrale Grundfrage, die in diesen beiden Denksystemen unterschiedlich beantwortet wird, lautet:

Warum sind Menschen böse?

Die unterschiedlichen Antworten sowie die daraus resultierenden gegensätzlichen Konsequenzen für das Denken und den Glauben zeigt die nachfolgende Tabelle:

Menschen handeln böse, weil sie…

… böse sind. … Opfer sind.
Der Mensch trägt selbst Verantwortung für seine bösen Handlungen. Der Mensch kann letztlich nichts für seine bösen Handlungen.
Der Mensch braucht Erlösung von seinem inneren Hang zum Bösen. Der Mensch braucht Erlösung von bösen Umständen.
Der Mensch ist das Problem. Er muss mit seinem falschen Verhalten und seiner Schuld konfrontiert werden: „Tut Buße!“ Die bösen Umstände sind das Problem. Die Verursacher dieser bösen Umstände müssen konfrontiert werden. Die Menschen dürfen die Umstände nicht länger akzeptieren: „Erhebt euch!“
Der Mensch muss sich seiner Schuld und seinem Versagen stellen und sich demütigen. Der Mensch muss sich lösen von dem demütigenden Gedanken, dass er selbst schuld wäre.
Es ist berechtigt, dass Gott auf Menschen zornig ist und dass er sie bestraft. Menschlicher Zorn auf die Umstände lenkt nur vom eigentlichen Problem ab, das im Herzen des Menschen liegt. Zorn über menschliches Verhalten und Strafe wäre unberechtigt und ungerecht. Ein gerechter Gott denkt ausschließlich gut über die Menschen und muss deshalb auch nicht versöhnt werden.
Die Botschaft des Alten Testaments entlarvt das Grundproblem der Menschheit, die sich trotz Gottes Geduld, Segensverheißungen, seinen Wundern und Strafandrohungen immer wieder für das Böse entscheidet. Das Alte Testament ist eine menschliche Fehlinterpretation Gottes und zudem Teil eines menschlichen Unterdrückungssystems, weil es Menschen durch angeblichen göttlichen Zorn und Strafandrohung einschüchtert, klein und gefügig hält.
Gesellschaftstransformation gelingt durch individuelle Umkehr und Erneuerung. Gesellschaftstransformation gelingt durch Schaffung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse.
Es braucht eine strafende Staatsmacht mit Gewaltmonopol, Justiz und Polizei, um das Böse einzudämmen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine strafende, drohende Ordnungsmacht ist kontraproduktiv, weil sie das eigentliche Problem nicht löst, Menschen ungerecht bestraft und die Unterdrückung verstärkt.
Es braucht Militär, um böse, aggressive Gesellschaftssysteme in Schach zu halten und notfalls aktiv zu bekämpfen. Militärische Bedrohungsszenarien verstärken nur die Ursachen des bösen Handelns. Militär ist deshalb grundsätzlich vom Übel.
Verheißungsvoll ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeder kontrolliert wird (weil jeder dazu neigt, seine Macht zu missbrauchen), in dem individuelle Leistung belohnt wird (weil Menschen nun einmal zur Faulheit und zum Egoismus neigen) und in dem zugleich der Schwache geschützt wird (weil sonst die Starken die Schwachen ausbeuten) – also eine Demokratie als Herrschaft des Gesetzes mit Gewaltenteilung, gegenseitiger Kontrolle und sozialer Marktwirtschaft. Verheißungsvoll ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeglicher Zwang und (Leistungs-)Druck entfernt wird, alle Ungerechtigkeit durch Umverteilung oder Vergesellschaftung beseitigt wird und Leistung allein aus Freiwilligkeit heraus erwächst – also alle Formen von Sozialismus, Kommunismus, Anarchie, bedingungsloses Grundeinkommen…

Wie sieht das die Bibel?

Die Antwort der Bibel erscheint mir durchgängig vollkommen eindeutig: Ja, der Mensch ist ein gutes Geschöpf Gottes mit einer unveräußerlichen Würde. Aber er ist zugleich unheilbar in Sünde verstrickt – von Jugend auf (1. Mose 8, 21). Auf diesem pessimistischen Menschenbild baut das ganze theologische System von Paulus im Römerbrief grundlegend auf (Römer 3, 9-18). Ausführlich legt er dar, dass wir Menschen Erlösung von unserem inneren Hang zum Bösen brauchen (Römer 6-8). Entsprechend sieht Paulus auch die Notwendigkeit zu einer staatlichen, strafenden Ordnungsmacht (Römer 13, 1-7). Besonders bemerkenswert ist bei diesem Thema zudem, was NICHT im Neuen Testament steht. Der Theologe Dr. Berthold Schwarz schrieb dazu auf Facebook:

„Wie viele Predigten, klare Hinweise in den Evangelien und in den Briefen haben wir von Jesus, den Aposteln oder apostolischen Mitarbeitern vorliegen, die z.B. gegen die politischen und gesetzlichen Maßnahmen und die oft desaströsen sozialen Missstände unter Kaiser Claudius, Kaiser Caligula, Kaiser Nero samt deren Bevollmächtigten gerichtet waren? Wie viele Briefe und Petitionen und Beschwerden von Christen gegen das soziale Chaos im Königshaus des Herodes für die Bevölkerung in Jerusalem oder gegen Pontius Pilatus und dessen Nachfolger als Statthalter finden wir als „Vorbild“ im NT?! Welche Despoten in Kreta, Italien, in Ephesus, Perge oder Galatien werden im NT wegen ihrer ungerechten und schrecklichen Lokalregierungsweise von christlichen Evangelisten, Aposteln und Predigern öffentlich gemahnt und zurechtgewiesen?!“

Der Befund ist eindeutig: Obwohl gerade die ersten Christen unter den damaligen staatlichen Systemen schwer zu leiden hatten, finden wir im gesamten Neuen Testament praktisch an keiner Stelle Kritik an den staatlichen Mächten, am System oder an den Umständen. Es geht stattdessen fast ausschließlich um den individuellen Ruf zur Buße, zur Umkehr, zur Annahme von Gottes Erlösung und zur Pflege des neuen Lebens, das aus Gottes Wort und dem Heiligen Geist erwächst. Und trotzdem hatte genau dieses Christentum zu allen Zeiten eine enorme gesellschaftstransformierende Kraft, weil es anders als alle politischen Maßnahmen bei der tatsächlichen Wurzel der gesellschaftlcihen Probleme ansetzt. Denn das Herz der Probleme ist das Problem des Herzens!

Im Buch Jeremia wird die biblische Sichtweise auf den Menschen besonders deutlich. Ausführlich und düster beschreibt der Prophet das böse Verhalten der Israeliten:

„Sie sind allesamt Ehebrecher und Betrüger. Sie spannen ihre Zunge wie die Sehne eines Bogens und feuern Lügen ab wie Pfeile. Sie herrschen über das Land, indem sie betrügen. Die Wahrheit bedeutet ihnen nichts. … Jeder belügt und betrügt seinen Bruder, wo er kann. Selbst der beste Freund wird ohne Skrupel verleumdet. Sie überlisten sich gegenseitig, und nicht einer spricht die Wahrheit. Mit geübter Zunge verbreiten sie Lügen. Sie können schon gar nicht anders handeln als böse. Einer Gewalttat folgt die nächste, und eine Lüge bringt neue Lügen hervor. Aber von mir wollt ihr nichts wissen, spricht der HERR.“ (Jeremia 9, 1-5)

Was ist die Konsequenz, wenn Menschen in eine derartige gesamtgesellschaftlich gewachsene Verstrickung mit bösem Verhalten geraten sind, dass sie gar nicht mehr anders können, als böse zu handeln? Muss man diese Menschen bedauern? Gott stellt eine grundlegend andere Frage:

„Sollte ich so ein Verhalten nicht bestrafen?“ spricht der HERR. … „Sie wollten mein Gesetz nicht kennen und schon gar nicht danach leben. Lieber taten sie, was ihnen in den Sinn kam, und rannten den Baalsgötzen hinterher, genauso, wie ihre Vorfahren es schon getan hatten. Deshalb hört zu, was der HERR, der Allmächtige, der Gott Israels, spricht: Sie sollen bittere Speise essen und giftiges Wasser trinken. Ich will sie über die ganze Welt zerstreuen. Sie sollen unter Völkern leben, die ihnen und ihren Vorfahren bislang unbekannt waren. Mit dem Schwert will ich sie verfolgen, bis sie vollständig vernichtet sind.“ (Jeremia 9, 8a+12-15)

Die prophetischen Bücher sind randvoll mit vergleichbaren Aussagen. Gott sieht offenkundig allen Grund, zornig zu sein und Menschen für ihr Verhalten zur Verantwortung zu ziehen. Wer das abstreiten möchte, müsste wohl den größten Teil des Alten Testaments und viele Passagen im Neuen Testament für eine menschliche Fehldeutung oder gar eine bewusste Unterdrückungsmasche religiöser Herrscher halten. Genau so sieht es zumindest Eugen Drewermann. Und er zieht aus seiner Grundannahme, dass selbst Mörder letztlich nur Opfer sind, genau alle die Konsequenzen, die auf der rechten Seite der Tabelle aufgeführt werden.

Wie urteilt die Geschichte?

Neben dem klaren biblischen Befund spricht meines Erachtens auch die Geschichte ein eindeutiges Urteil: Alle Träume von sozialistischen, kommunistischen, anarchischen, radikalpazifistischen Systemen waren bislang nicht nur zum Scheitern verurteilt, sie haben dazu noch vielfach unfassbares Leid erzeugt. Die Träume von Marx und Lenin haben auf einen Pfad geführt, der am Ende die größten Massenmörder der Weltgeschichte hervorgebracht hat. Heute stehen wir vor den Trümmern Venezuelas, eines der rohstoffreichsten Länder der Erde. Wo immer Mauern aufgebaut wurden zwischen kommunistischen und „kapitalistischen“ Ländern, haben bislang die Menschen aus den kommunistischen Ländern zu fliehen versucht, nicht umgekehrt. Und nicht zuletzt: Der Umweltschutz war in den kommunistischen Systemen deutlich schlechter als im „kapitalistischen“ Westen. Ich stehe deshalb einigermaßen fassungslos davor, dass selbst im reichen Deutschland, das mit Hilfe von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft mehr allgemeinen Wohlstand hervorgebracht hat als jedes andere System der Geschichte, heute wieder bis mitten in die SPD hinein offen vom Sozialismus geträumt wird und dass einige FFF-Aktivisten meinen, mit linksradikalen Ideen könnte man das Klima retten. Auf welcher geschichtlichen Erfahrung gründen sich diese Hoffnungen nur?

Und nicht zuletzt sollten wir Christen auch nicht übersehen, dass die Prophetie Jeremias in beeindruckender Weise in Erfüllung gegangen ist: Die Juden wurden tatsächlich über die ganze Welt zerstreut. Der jüdische Staat wurde für lange Zeit tatsächlich vollständig vernichtet. Schon deshalb halte ich es für höchst gefährlich, die Theologie Jeremias für einen überkommenen menschlichen Irrweg zu halten. Denn schließlich zählt am Ende nicht, wie unser Wunschgott aussieht. Es zählt allein, was die Wahrheit ist. Es zählt allein, wie Gott tatsächlich ist und handelt. Und da sehe ich jede Menge Gründe, den biblischen Beschreibungen über Gott mehr zu vertrauen als zeitgeistigen Vorstellungen, die die biblischen Schilderungen ins theologiegeschichtliche Museum stellen wollen.

Eine Grundentscheidung für jeden Menschen und jeden Verkündiger

Die biblische Botschaft stellt ausnahmslos jeden Menschen vor eine persönliche Grundentscheidung: Willst Du Dir eingestehen, dass Du selbst das zentrale Problem bist und nicht die Umstände? Kannst Du Gott um Erlösung bitten von Deinem eigenen, in Sünde verstrickten Wesen? Kannst Du Deinen alten Menschen mit Christus am Kreuz in den Tod geben? Dann öffnet sich für Dich die Tür zu Gottes unverdienter Gnade und zu neuem Leben aus dem Heiligen Geist. Dann kannst Du einen Gott erleben, der Dir nicht gibt, was Du verdient hast sondern der Dich überreich beschenkt, obwohl Du es nicht verdient hast. Dann kannst Du ausbrechen aus allem religiösen Leistungsdenken, aus allem Moralismus und allen Selbsterlösungsversuchen. Dann kannst Du Gott getrost die Zügel Deines Lebens überlassen, weil Du vertrauen kannst, dass er besser weiß als Du selbst, was gut für Dich ist. Ich muss offen sagen: Nur diese Art des Glaubens, des Beschenktwerdens aus unverdienter Gnade, des Erneuertwerdens durch den Heiligen Geist, des Unterordnens unter Gottes Herrschaft, empfinde ich als kraftvoll und attraktiv. Alles andere erscheint mir wie ein Trostpflaster auf einer Wunde mit Blutvergiftung: Es sieht tröstlich aus, hält uns aber nur davon ab, wirksam gegen die schleichende Krankheit vorzugehen. Und wenn ich meine siechende Kirche sehe, dann wächst in mir der Eindruck, dass die meisten Menschen spüren: Eine Botschaft der billigen Gnade, der Vergebung ohne Buße, ist ein nettes Trostpflaster, das aber kaum jemand wirklich hilft und das deshalb auch kaum jemand wirklich braucht, für das gleich gar niemand Opfer bringt, leidenschaftlich missioniert und Gemeinde baut.

Allerdings war es auch noch nie populär, die Menschen damit zu konfrontieren, dass sie selbst das Problem sind, ganz im Gegenteil: Diese Botschaft wurde zu allen Zeiten bekämpft, ausgegrenzt und verfolgt, so wie Jesus es in der Rückschau auf die Propheten festgestellt (Matth. 5, 12) und für seine Nachfolger vorausgesagt hat (Johannes 15, 18-20). Aber wenn wir der Bibel glauben, dann ist diese unattraktive, provozierende Botschaft nun einmal die einzig wahre Diagnose, die zur einzig wirksamen Therapie führt. Und die Kirchengeschichte zeigt: Diese raue, kantige Botschaft war schon immer so kraftvoll und attraktiv, dass die Kirche Jesu sogar inmitten übelster Verfolgung bestehen, wachsen und gedeihen konnte.

Die große Frage ist deshalb an jeden von uns persönlich: Werden wir uns dieser Botschaft stellen, uns am Kreuz demütigen und uns dort mit Gottes Vergebung und unverdienter Gnade beschenken lassen? Oder bleiben wir auf unserem hohen Ross der Selbstgerechtigkeit sitzen und erregen uns lieber über die Umstände, die angeblich an unseren Problemen schuld sind?

Und die große Frage an die kirchlichen Verkündiger ist: Werden wir die Menschen darin beruhigen, dass in Gottes Augen alles gut ist und wir uns einfach nur geliebt und bestätigt fühlen dürfen? Oder werden wir sie neben der Botschaft der Liebe Gottes auch mit der unangenehmen Wahrheit konfrontieren, dass wir alle schuldig sind, dass wir Sünder sind, dass wir Vergebung, Erlösung und Erneuerung brauchen? Werden wir am Ärgernis des Kreuzes (1. Korinther 1, 23) festhalten?

Das erscheint mir eine grundlegende Wegscheide des Denkens und des Glaubens zu sein, an der sich für uns persönlich und für die Kirche Jesu viel mehr entscheidet, als vielen Christen bewusst ist.


Zum besseren Verständnis dieses Artikels empfehle ich den Worthausvortrag von Dr. Eugen Drewermann „Jesus aus Nazareth – Von Krieg zu Frieden“: https://worthaus.org/worthausmedien/jesus-aus-nazareth-von-krieg-zu-frieden-10-1-2/

Im Blog Daniel-Option habe ich diesen Vortrag ausführlich kommentiert: https://danieloption.ch/weltanschauuung/ist-angst-das-grundproblem-der-menschheit/

Weiterführend dazu:

  • Das 2-Reiche-Missverständnis – Warum man die Bibel grundsätzlich missverstanden hat, wenn man vom Staat Pazifismus nach den Regeln der Bergpredigt verlangt.

Biblische Stolperstellen: Krieg im Namen Gottes?

Der Gott der Bibel ist ein Gott der Liebe. Nicht nur das: Gott IST Liebe in Person, sagt Johannes. Der Tod Jesu am Kreuz ist der ultimative Beweis dafür, denn „die größte Liebe beweist der, der sein Leben für die Freunde hingibt“ (Joh. 15, 13). Trotzdem ist unübersehbar, dass die Bibel vor allem im Alten Testament auch ein kriegerisches Buch ist. Was für unsere Ohren besonders fremdartig klingt: Es ist immer wieder Gott selbst, der Kriege anordnet und aktiv unterstützt. Wer kennt nicht die Geschichten von Josuas Eroberung Jerichos oder von Davids Eroberung Jerusalems? In der Kinderkirche haben wir sie oft erzählt. Dabei haben wir großzügig übergangen, dass diese Eroberungen oft einhergingen mit der vollständigen Vernichtung der Bevölkerung dieser Städte. Das wirkt auf uns zurecht schockierend und verstörend. Und es stellt sich die große Frage: Wie passen solche von Gott verordnete Blutbäder zur Liebe Gottes und zu Jesu Rede von der Feindesliebe? Enthält die Bibel etwa widersprüchliche Gottesbilder?

Zunächst einmal müssen wir feststellen: Jesus, Paulus und Petrus haben sich 100%ig zur Gültigkeit des Alten Testaments bekannt und ihr Gottesbild daraus bezogen. Altes und Neues Testament sind eine unauflösliche Einheit. Wer sperrige Texte des Alten Testaments mit veralteten Gottesbildern wegerklärt oder gar das AT für nicht mehr gültig hält nimmt auch das Neue Testament nicht ernst und macht es sich viel zu einfach.

Aber wie ist dieser Widerspruch dann zu verstehen? Monatelang hat mich diese Frage intensiv beschäftigt. Nur langsam hat sich in mir ein Bild wie ein Puzzle schrittweise zusammengesetzt. Fangen wir an mit dem 1. Puzzleteil:

1. Krieg wird im Neuen Testament ausschließlich geistlich gedeutet

Für Jesus und Paulus ist Gewalt definitiv keine Option, auch wenn ihre Sprache manchmal durchaus militärisch klingt. Aber Jesus hat uns befohlen, das Böse mit Gutem zu überwinden und sogar unsere Feinde zu lieben. Und Paulus hat klar gemacht: Die Waffen und die Rüstung der Christen sind geistlicher Natur, nicht aus Metall. Sie sind nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut gerichtet sondern gegen unsichtbare Mächte sowie gegen Festungen aus Gedanken.

Die Kriegsgeschichten des Alten Testaments sind für Christen äußerst lehrreich, wenn sie auf diesen geistlichen Kampf übertragen werden. Aber für physische oder psychische Gewalt gegen Menschen bietet die Bibel für Christen und die Kirche nicht den Hauch eines Rechtfertigungsansatzes. Das Drama der Kreuzzüge war nur möglich, weil die Kirche sich von Gottes Wort entfernt hat und weil sie in unbiblischer Weise staatliche und kirchliche Macht miteinander verbunden hat. Damit hat sie sich selbst in eine Zwickmühle gebracht, denn für die Kirche ist Gewalt keine Option, aber…

2. Staatliche Gewalt ist und bleibt notwendig

In Römer 13, 1-7 macht Paulus klar: Gott selbst setzt staatliche Autoritäten ein, um die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Dass gerade Paulus die Notwendigkeit der staatlichen Gewalt so betont ist erstaunlich. Schließlich wurden die Christen damals vom Staat massiv verfolgt und die Juden wurden von den Römern in übler Weise unterdrückt. Umso klarer ist, dass es hier um ein grundsätzliches Prinzip geht, das man vielleicht so zusammenfassen kann: Der Mensch ist im Kern böse. Das Böse muss eingedämmt werden, notfalls mit Gewalt. Dazu braucht es einen funktionierenden Staat mit Polizei und auch mit Militär für den Fall, dass destruktive Mächte in anderen Staaten ans Ruder kommen. Sonst würde ein Chaos ausbrechen, das für Paulus offenbar noch schlimmer wäre als das, was er erlebt hat.

Gerade wir Deutschen sollten wissen, wovon die Bibel spricht. Schließlich konnte das Böse, das von unserem Land in die Welt hinausgetragen wurde, nur mit militärischen Mitteln gestoppt werden. Eine Beschwichtigungspolitik („Appeasement“) hätte nicht geholfen und sie wird auch gegen IS, Boko Haram und andere Chaosmächte nicht helfen. Zwar ist Gewalt oft auch keine Lösung. Falsch eingesetzt macht sie alles schlimmer statt besser. Aber es bleibt dabei: Der Gott der Bibel ist kein Pazifist, weder im Alten noch im Neuen Testament. Das Buch Offenbarung sagt voraus, dass das Böse der Welt nicht freiwillig umdenken wird. Gott wird es eines Tages im Kampf besiegen.

3. Die Welt des Alten Testaments war extrem kriegerisch

Fast permanent war Israel durch aggressive Nachbarvölker existenziell bedroht. Immer wieder wurde es überfallen, unterdrückt, ausgebeutet oder gar deportiert und scheinbar ausgelöscht. Kriege waren für den israelischen Staat deshalb schlicht unausweichlich, wenn er leben und überleben wollte. Allerdings fällt in der Bibel auf:

4. Die Kriege Israels waren anders!

Oft wird behauptet, die Kriege Israels im Alten Testament seien keinen Deut besser als islamische und andere Eroberungsfeldzüge. Doch das ist schlicht falsch. Die Kriege Israels unterscheiden sich grundlegend davon:

  • Kein Krieg zur Ausbreitung der Religion: Niemals lesen wir in der Bibel, dass andere Völker erobert werden sollten, um ihnen die jüdische Religion aufzuzwingen. Bis heute ist dem Judentum eine solche Gesinnung, wie sie weltweit z.B. im Islam häufig anzutreffen ist, vollkommen fremd.
    d
  • Kein imperialistischer Krieg: Die großen Welteroberer wie z.B. Alexander der Große, Caesar, Dschingis Khan, die Osmanen bis hin zu Napoleon, Hitler oder Mao werden z.T. immer noch als Helden verehrt, obwohl sie unfassbares Leid über die Welt gebracht haben. Gott hingegen wies Israel ein klar umrissenes Gebiet als Lebensraum zu. Nirgends lesen wir in der Bibel von der Idee, sich darüber hinaus Nachbarländer einzuverleiben oder gar ein Weltreich anzustreben, auch nicht als es z.B. unter Salomo durchaus die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Israel hatte zwar selbst unter dem Eroberungsdrang seiner Nachbarländer massiv zu leiden, aber der in der Weltgeschichte allgegenwärtige Imperialismus war ihnen fremd.
    x
  • Kein eigenmächtiger Krieg: Die Bibel macht durchgängig deutlich, dass Israel ausschließlich dann Krieg führen durfte, wenn es von Gott selbst angeordnet war und wenn Gott selbst mitkämpfte. In vielen der Kriegsgeschichten spielen Wunder eine große, wenn nicht die entscheidende Rolle (man denke nur an die übernatürlich einstürzenden Mauern Jerichos). Die Bibel unternimmt immer wieder alles, um deutlich zu machen, dass Gottes Wegweisung und Segen absolut entscheidend war im Krieg (besonders plastisch bei Israels Kampf gegen Amalekiter, der nur solange erfolgreich lief, wie Mose seine Arme betend erhoben hatte). Auch Gideon musste lernen, dass es im Kampf nicht auf die Truppengröße ankommt sondern auf Gottes Segen. Die großen biblischen Kämpfer wie David oder sein Freund Jonathan hatten dieses Prinzip tief verinnerlicht. Umgekehrt endeten alle Versuche Israels, ohne Gottes klare Anweisung auf eigene Faust loszukämpfen, immer katastrophal, weil Gott in diesem Fall zu Israels Gegner wurde.

Einen Freibrief für eigenmächtige Kriegsführung hatte Gott also nie gegeben. Kriege waren nur möglich, wenn Gott selbst war der Handelnde war, denn…

5. Die Kriege des Alten Testaments waren Teil des Gerichtshandeln Gottes

Im Alten Testament kam es manchmal vor, dass Gott in seinem Gerichtshandeln teils große Mengen von Menschen kollektiv bestraft oder sogar ausgelöscht hat. Das größte Beispiel dafür ist die Sintflut. Gleiches gilt aber auch für Sodom und Gomorra. In den Prophetenbüchern wird häufig der Untergang von Kulturen und Gesellschaften angekündigt und als Gerichtshandeln Gottes gedeutet (Jer. 46-51). Die Androhung derartiger Gerichte und Kollektivstrafen galt genauso auch Israel (5. Mose 28, 15 ff.).

Die Auslöschung von Städten oder Volksstämmen im Zuge der israelischen Landnahmekriege reiht sich also ein in dieses im Alten Testament immer wieder vorkommende Gerichtshandeln Gottes über Völkern und Nationen. Letztlich geht es deshalb gar nicht um die Frage: Warum hat Gott Kriege befohlen? Die Frage ist vielmehr: Warum ließ Gott, der gerechte Richter, im Alten Testament manchmal Kollektivstrafen zu, in denen auch Unschuldige mit umkamen, obwohl schon im Alten und erst recht im Neuen Testament das Prinzip der individuellen Strafe für individuelle Schuld betont wird?

Ich glaube, dass wir diese Frage nicht komplett beantworten können. Letztlich müssen wir das Gott überlassen in dem Wissen und Vertrauen, dass er sich auch schon im Alten Testament an vielen Stellen als liebevoller, gnädiger, barmherziger und unendlich geduldiger Gott offenbart. Aber was uns der Antwort vielleicht ein wenig näher bringen könnte ist ein…

6. Perspektivwechsel: Wie sieht die Welt aus Gottes Perspektive aus?

Ich liebe ja die Krimiserie Tatort. Aber je expliziter die Vergewaltigungen, Morde und sonstigen Verbrechen dargestellt werden, je mehr kann das Anschauen schnell auch zur Qual werden. Das Gute ist: Ich kann meine Augen zumachen. Oder vorspulen, wenn ich den Krimi auf Band habe.

Gott kann das nicht. Er muss sich den ganzen Dreck ungefiltert anschauen, den wir Menschen produzieren. Er sieht live und hautnah, wie Boko Haram Dörfer überfällt, Eltern vor den Augen der Kinder niedermetzelt, Mädchen entführt, reihenweise vergewaltigt und schwängert und kleine Jungs durch Gehirnwäsche in Tötungsmaschinen verwandelt. Er spürt die Schmerzen der Menschen in allen Teilen der Welt, wenn sie beraubt, unterdrückt, verlassen, betrogen, geschlagen, verleumdet, übergangen, gemobbt, vernachlässigt, manipuliert und ausgebeutet werden. Und wenn Gott wirklich Liebe ist, dann können wir sicher sein: Er leidet massiv darunter! Ist es da ein Wunder, dass Gott in der Bibel immer wieder äußerst zornig wird?

Und Gott weiß: Eine Welt ohne Gott, in der nur noch Menschen und dunkle Mächte das Sagen haben, kann buchstäblich zur Hölle werden. Die Berichte aus der Nazizeit oder aus den Ländern, in denen der IS das Ruder übernommen hat, führen uns das in verstörender Art und Weise vor Augen. Im Alten Testament war Israel das einzige Volk, das mit Gott in Verbindung stand. Alle anderen Völker waren Gott los, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir wissen nicht viel darüber, wie es in diesen Gesellschaften zugegangen ist. Aber wenn ich lese, wie z.B. in Sodom offenbar ALLE Männer Spaß daran hatten, wahllos unschuldige Männer zu vergewaltigen, zeigt mir das: Auch damals gab es offensichtlich Gesellschaften mit wahrhaft höllischen Zügen. Vor der Sintflut hat es offenbar genau so ausgesehen: „Die Menschen waren böse und gewalttätig, … die Erde … war voller Verbrechen“ sagt die Bibel (1. Mose 6,11-12). Könnte es in Jericho vielleicht ebenso gewesen sein? Oder in Jerusalem zur Zeit der Jebusiter?

Gott hatte Israel geboten, den Bewohnern einer Stadt zunächst ein Friedensangebot zu machen, bevor es zum Krieg kommt. Im Kriegsfall sollten ausschließlich die Männer getötet werden. Das Gebot, die gesamte Bevölkerung auszulöschen, galt speziell nur 6 Volksstämmen, die vor der Landnahme das verheißene Land bewohnten. Bei ihnen wollte Gott nicht, dass sie den Israeliten ihre „verabscheuungswürdigen religiösen Bräuche lehren“ (5. Mose 20, 16-18). Diese Bräuche beinhalteten unter anderem auch Kinderopfer. So etwas grauenhaftes habe ich nicht einmal aus den menschenverachtenden IS-Hochburgen gehört. Das legt nahe, dass diese Kulturen vielleicht tatsächlich keinesfalls besser waren als das, was uns heute beim IS und bei anderen grauenvollen Terrorstaaten so schockiert.

Wer heute sieht, wie erfolgreich die IS-Religionspropaganda sogar im Westen reihenweise junge Menschen zu grauenvollen Taten verführt, kann sich durchaus vorstellen, dass auch der damalige Götzendienst dieser Völker verführerische Ausstrahlung auf die Israeliten hatte. Und Gott wusste: Wenn auch noch Israel Gott verlässt, dann macht das letzte Volk der Erde das Licht der Wahrheit aus. Dann ist die dunkle Hölle der Gottesferne auf Erden nicht mehr aufzuhalten.

Bei schwer leidenden, gequälten Menschen sagen wir oft: Sein Tod war eine Erlösung. Könnte das vielleicht auch für bestimmte durch und durch verdorbene Gesellschaften des Alten Testaments gegolten haben, in denen die Menschen sich nur noch gegenseitig gequält haben und die – genau wie der IS heute – ihr teuflisches Gift durch Krieg und Verführung auch noch in die Welt hinaus verbreitet haben? Natürlich dürften wir Menschen uns solch ein Urteil niemals und auf gar keinen Fall anmaßen! Das kann einzig und allein Gott. Aber wer sind wir Menschen, dass wir meinen, wir wüssten besser als Gott, ob damals vielleicht wirklich manchmal ein Ende mit Schrecken insgesamt weniger leidvoll war als ein Schrecken ohne Ende?

Die große Frage ist deshalb am Ende: Können wir Gott vertrauen, dass er die größere Perspektive hat als wir? Dass er, der die Liebe in Person ist, mehr als wir davon versteht, wie das Böse in die Schranken gewiesen muss und auf welchem Weg mehr Menschen vor Leid und Tod bewahrt werden können? Könnte es sein, dass er am Ende noch viel gnädiger und geduldiger ist als wir es wären, wenn wir uns an seiner Stelle all die unvorstellbaren Grausamkeiten hätten mit ansehen müssen? Schließlich hätte er sogar all die Gewalt und das Leid im durch und durch verdorbenen Sodom und Gomorra weiter ertragen, wenn es unter den Tausenden Bewohnern auch nur 10 Gerechte gegeben hätte!

Jedenfalls lehrt uns die Gesamtheit der Bibel: Gott liebte jeden einzelnen Menschen, der in diesen Kriegen umkam. Er litt und leidet mit unter den furchtbaren Folgen, die Gottlosigkeit anrichtet. Und so spürt man auch förmlich das Aufatmen Gottes, als die Landnahmekriege vorbei waren und wir in Josua 11, 23 schließlich lesen: „Und so hatte das Land endlich Ruhe vom Krieg.“ Und schon im Alten Testament versprach Gott: Wenn eines Tages sein zukünftiges Reich anbricht… „dann werden sie ihre Schwerter in Pflugscharen umschmieden und ihre Speere in Winzermesser. Kein Volk wird mehr ein anderes Volk angreifen, und keiner wird mehr lernen, wie man Krieg führt“ (Micha 4, 3). DAS ist Gottes Ziel für unsere Welt!

Hier noch einmal das ganze Bild kurz zusammengefasst:

  • Christen werden von der Bibel zu absoluter Gewaltfreiheit angehalten.
  • Die Notwendigkeit staatlicher Gewalt zur Eindämmung des Bösen wird von der Bibel aber klar bestätigt.
  • Kriege waren für den Staat Israel im damaligen kriegerischen Umfeld unausweichlich, um leben und überleben zu können.
  • Die alttestamentlichen Kriege Israels unterscheiden sich aber grundlegend von anderen Religions- und Expansionskriegen: Sie konnten nur auf Gottes Weisung und mit seiner übernatürlichen Bestätigung geführt werden. Sie waren nur für Israels (Über-)Leben im zugewiesenen Territorium erlaubt. Für selbstherrliche Feldherren mit Welteroberungsphantasien gab es keinen Platz.
  • Kriege waren ein Teil von Gottes Gerichtshandeln, das im Alten Testament (z.B. bei der Sintflut) manchmal auch ganze Kollektive, Stämme, Völker und Nationen betraf.
  • Wir dürfen und sollten dem gerechten und liebevollen Gott vertrauen, dass er besser weiß als wir, wie das Böse in der Welt begrenzt werden kann und muss, um Leid zu minimieren.
  • Sicher ist: Gott hat jeden dieser im Krieg getöteten Menschen geliebt und leidet mit unter dem Grauen, das Gottlosigkeit und das Böse unter uns Menschen anrichtet.
  • Gottes Ziel ist eine Welt ohne Krieg! Das hat er uns fest versprochen.

Siehe auch:

Vielen Dank an Prof. Thomas Hieke (Alttestamentler der Universität Mainz) für die Anregungen und konstruktiv kritischen Anmerkungen zum Entwurf dieses Artikels.